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Er wollte nicht gleich mit der Sprache heraus, denn es hatte ihn verdrossen, daß der Liebende der Natur unter Benzingedüfte und Hupenzeichen in seine mittelalterlichen Straßen eingefahren war, obwohl seine eigenen Landsleute ihn längst an solchen Ehrfurchtsmangel gewohnt hatten. Allmählich ließ er sich aber doch gewinnen und sagte:
Nein, die Galiana war keine Phantasiegeburt, sie hat gelebt, sonst hätten nicht acht Jahrhunderte nach ihrem Tode noch ihr Andenken bewahrt; auf eben den Wegen, wo wir jetzt gehen, ist sie in Fleisch und Bein gegangen. Und wenn auch der Chronist, der nach ihr lebte, Irrtum und Wahrheit durcheinanderwarf, so bleibt doch bestehen, was er berichtet: nämlich daß die Stadt Viterbo sie unter ihre fünf Kleinodien oder »Nobilitäten«, wie man damals sagte, gezählt hat. Unter diesen waren die drei vornehmsten: erstens ein freies Gemeinwesen zu sein, keinem Oberherrn weder im Krieg noch im Frieden dienst- oder zinspflichtig, allein den Kaiser ausgenommen. Zweitens einen wundertätigen tragbaren Altar zu besitzen – wo man den aufstellte, da verlieh er den Waffen von Viterbo den Sieg –, und drittens das schönste Mädchen der ganzen Erde in ihren Mauern zu haben. Dieses Mädchen war die Galiana.
Wenn ich sagen würde, sie sei schön wie ein Engel gewesen, so hätte ich mich falsch ausgedrückt, denn die Engel haben kein Geschlecht, können also auch im natürlichen Menschen keine Liebesbrunst entzünden. Die Galiana aber erweckte in jedem jüngeren Mann, der ihrer ansichtig ward, das heftigste Verlangen sie zu besitzen, 22 und ein Blick ihrer Augen hat manchem auf lange Zeit den Schlaf geraubt. Wenn sich nicht die ganze männliche Jugend von Viterbo um ihretwillen die Hälse brach, so war es nur, weil nicht allzuviele das Glück oder Unglück hatten, ihr Angesicht zu sehen, denn die Mädchen jener Tage konnten sich nicht ungehindert bewegen, und die Galiana wurde von Eltern und Brüdern ganz besonders streng gehütet. Übrigens war sie seit den Windeln einem edlen Jüngling von Viterbo verlobt und die beiderseitigen Eltern warteten mit der Vermählung nur, bis ihre Kinder das heiratsfähige Alter erreicht hätten.
Du hast bei deiner Einfahrt über dem Römischen Tor die Ghibellinenzinnen gesehen, weißt also, daß Viterbo zeitweilig hohenstaufisch gesinnt war. Als Friedrich Barbarossa auf seiner schicksalsvollen vierten Romfahrt in Viterbo rastete, bereitete die Stadt ihm den feierlichsten Empfang. Triumphbögen, kostbare Teppiche an allen Fenstern, Glockengeläute und das Pflaster mit Blumen bestreut, worüber die Rosse des Weltbeherrschers und seiner Reisigen hingingen: es war ein schöner Tag und ganz Viterbo wollte ihn mitgenießen. Deshalb wurde der erhabene Gast mit seinem Gefolge nicht den kürzesten Weg zum Rathaus geführt, wo ein erlesenes Festmahl seiner harrte, sondern die Lenker der Stadt hatten es mit Bedacht so eingerichtet, daß der Zug auch die entlegenen Winkel berühren mußte, damit alle das Angesicht des Kaisers sähen. Auch die enge Gasse, die noch heut nach der schönen Galiana heißt, war in die Strecke einbezogen, denn der reiche Galiani gehörte zu den feurigsten Ghibellinen und hätte es übel vermerkt, wenn sein Palast, der mit am glänzendsten geschmückt war, nicht von dem kaiserlichen Augenstrahl getroffen worden wäre. Ein Triumphbogen gerade unterhalb der Gasse, der sich durch 23 Pracht vor der andern hervortat, wies die Einziehenden von selber auf diesen Weg.
Zu der Gefolgschaft des Kaisers gehörte der Graf von Vico, der bei dem Rotbart in hohen Ehren stand, denn er hatte sich überall in seinen Diensten mannhaft hervorgetan und ihm noch kürzlich Tortona und Mailand zerstören helfen. Er war einer der stolzesten und mächtigsten römischen Barone und sein Stammschloß stand an dem einst schönen See von Vico, von dem das Geschlecht den Namen führte. Dieser Herr von Vico ritt mit dem Kaiser durch besagte Triumphpforte und durch die schmale Gasse, wo die Galiana festlich geschmückt auf dem Söller stand. Ihre Schönheit heute strahlend vor aller Augen zu zeigen, das war ein hoher Stolz nicht nur für die Sippe, sondern für die ganze Stadt. Und so geschah es, daß der von Vico und die schöne Galiana sich aus nächster Nähe in die Augen blickten.
Der Graf von Vico war von kühnem Wuchs und stolzer Haltung, wie er so zu Pferde saß, aber er hatte ein ausnehmend häßliches, ja abstoßendes Gesicht mit finsteren, dunkelumbuschten Augen. Man sagte, daß sein Blick den Feind in der Schlacht verzaubere und wehrlos mache wie der Blick des Basilisken, doch vielleicht hat man ihm diese Eigenschaft nachträglich angehängt. Merkwürdig war, daß wenn er einmal lächelte, was nicht häufig geschah, dieses häßliche Gesicht sich in eigener Weise verschönte und geradezu etwas Anziehendes bekam. Deshalb gefiel er den Frauen trotz dem häßlichen Gesicht, ja sie fanden, wenn solch ein Lächeln wie ein plötzlicher Sonnendurchbruch es erhellte, daß seine Häßlichkeit ein Vorzug sei. Und er gefiel auch der Galiana, denn als er sie anschaute, brach der Sonnenblick auf seinen Zügen durch und machte, daß die Liebliche zurücklächelte. Da war es um den Grafen geschehen. Jäh und unwiderstehlich flammte 24 in seinem Blute das Verlangen auf, diese einzige Gestalt zu umfassen und festzuhalten und sie mit sich in sein Haus zu führen, koste es was es wolle. Er enthüllte dem kaiserlichen Freunde die Gluten, die ihn verzehrten, und bat um seinen Beistand. Friedrich sagte ihm die Erfüllung seiner Wünsche zu und übernahm es selbst für ihn zu werben. Allein der Vater der Galiana besorgte von einer solchen Verwandtschaft Gefahren für den Frieden der Sippe und der ganzen Stadt, denn der Graf stand im Rufe, ein Händelsucher und Unterdrücker zu sein, der wo er einmal Fuß faßte, sich alsbald zum Oberherrn aufzuwerfen suchte. Deshalb berief er sich auf das frühere Verlöbnis, um dem kaiserlichen Antrag auszuweichen. Nun erbot sich der Herrscher, der seines Schützlings Sache mit Eifer führte, den ersten Verlobten durch ein Lehensgut zu entschädigen, wenn er seinem Anspruch an die Braut entsage. Die Frage wurde den Weisesten der Stadt zur Beratung vorgelegt, worauf alle einmütig antworteten:
Wir Männer von Viterbo stehen zu dem Kaiser mit Gut und Leben. Er hat uns in allem zu gebieten. Nur über unsre Töchter hat er keine Gewalt. Wenn Gott uns ein Schönheitswunder verliehen hat, dessengleichen keine andere Stadt besitzt, so wollen wir es in unsern Mauern behalten. Denn wie sollten wir vor Mit- und Nachwelt bestehen, wenn es heißen würde, daß kein Jüngling von Viterbo würdig befunden worden sei, die Galiana heimzuführen, und daß zu unserm Schimpf ein Auswärtiger sie weggeholt habe. Der großmächtigste Caesar möge begreifen, daß die Ehre von Viterbo geschmälert wäre, wenn wir auf solche Art eines von unseren fünf Kleinodien einbüßten.
In diesen Bescheid mußte der große Friedrich sich fügen. Als er danach aufbrach, um dem vor Tusculum kämpfenden Ghibellinenheer Zuzug zu bringen und den 25 Gegenpapst im Lateran einzusetzen, blieb dem Grafen von Vico nichts übrig, als seinem Lehnsherrn zu folgen. Aber am Stadttor wandte er sich noch einmal zurück und tat einen lauten Schwur, den alle vernehmen konnten, daß er wiederkommen und sich die Braut mit Gewalt holen wolle, sollte auch darüber die Stadt in Flammen aufgehen.
Der Galiani erschrak, und um der wilden Drohung einen Riegel vorzuschieben, den auch der Kaiser nicht mehr öffnen konnte, stellte er gleich nach dem Auszug des Barbarossa die Vermählung seiner Tochter an. Es war noch einmal ein Freuden- und Ehrentag für Viterbo, als die Galiana im Brautschmuck zur Kirche schritt und alle sich am Anblick des Kleinods weiden konnten, dessen Besitz nunmehr der Stadt gesichert schien. Denn niemals hätte der Kaiser, der ein so strenger Hüter der Sitte war, einem Vasallen gestattet, die eheliche Gattin eines anderen in seine Arme zu reißen.
Nun wirst du als Kind einer neuen Zeit fragen, was denn die Galiana selber bei diesen Vorgängen empfand? Du darfst nicht vergessen, daß zu jener Zeit eine solche Frage von niemand gestellt wurde, und daß die Galiana gar nicht erwarten konnte, man werde sich nach ihrem Seelenzustand erkundigen. Indes konnte man aus ihrem gehaltenen Wesen schließen, daß sie ohne Verlangen noch Widerstreben, ganz wie es der Brauch erforderte, mit ihrem Bräutigam vor den Altar trete.
Aber im Schicksalsbuch von Viterbo stand es geschrieben, daß die Galiana den von Vico dreimal von Angesicht schauen und daß jede der drei Begegnungen ihnen selbst und der Stadt zum Verhängnis werden sollte.
In Rom hatte unterdessen die unheilvolle zweite Krönung des Barbarossa stattgefunden, wobei der Gekrönte an einem Tag durch die Macht des Unbegreiflichen auf die höchste Höhe des Siegs erhoben und in den tiefsten 26 Abgrund des Unglücks hinabgeschmettert wurde. Der von Vico hatte sich, wie zu erwarten, tapfer mit den aufständischen Römern herumgeschlagen, und als die Mächte der Natur sich zugleich mit den Menschen gegen seinen Herrn verschworen, und der Himmel selbst ihrem Bunde beizutreten schien, indem er es zugab, daß die Regenfluten und die giftige römische Luft eine Pestilenz erregten, von der das Heer des Rotbart wie Schnee zerschmolz, da war sein Arm gleichwohl nicht erlahmt, sondern hatte dem bedrängten Kaiser wenigstens den Rettungsweg decken helfen. Dabei aber war er selbst von der Seuche ergriffen worden und hatte sich mit Mühe auf seine feste Burg am See von Vico geschleppt, um dort zu sterben. Unglücklicherweise jedoch war er unter den wenigen, die damals von der mörderischen Pestilenz genasen, und die schwere Prüfung hatte seinen gewalttätigen Willen, der noch immer nach der Galiana stand, nicht gebrochen.
Durch Späher, die er heimlich nach Viterbo sandte, wußte er, daß die Schöne vermählt war, und daß man aus großer Furcht vor ihm und seinem Schwur sie ängstlich innerhalb der Stadtmauern hütete, die sie nie verlassen durfte. Er wußte aber auch, daß Viterbo zu einem Dankfest wegen glücklicher Abwendung der Seuche rüstete, das mit dem Betgang zu einem vor der Stadt im Grünen gelegenen Kapellchen des heiligen Sebastian beginnen und mit einer großen Volksbelustigung auf der Festwiese schließen sollte. Er sandte deshalb einen seiner Knechte mit Trauerabzeichen nach Viterbo und ließ durch diesen unter dem Schein eines Geschäftes für die Erben die Kunde verbreiten, daß der Herr von Vico an der Pest gestorben sei. Mit dieser List hoffte er die Galiana aus dem Stadttor zu locken, was ihm auch in der Tat gelang.
Als die Prozession beim Geläute aller Stadtglocken mit Kreuzen und Fahnen sich auf das Heiligtum zubewegte, 27 begegneten dem Zug zwei Mönche, die mit einem Briefe ihres Abts ein weitentlegenes Kloster aufzusuchen hatten und zu diesem Zweck beritten waren. Die frommen Brüder stiegen alsbald ab, führten ihre Pferde demütig am Zügel nach und schlossen sich den Wallfahrern an. Da vernahm man vor der Pforte der Kapelle plötzlich einen Schrei des Schreckens, einer der Klosterbrüder schwang die schöne Galiana hoch auf den Armen, sprang mit ihr wie ein Blitz in den Sattel und jagte ins Weite, während der andere unter der Kutte ein bloßes Schwert zum Vorschein brachte, mit dem er die jungen Männer, die sich zur Verfolgung des Räubers anschickten, zurücktrieb. Da die Wallfahrer weder Waffen noch Pferde hatten, herrschte einen Augenblick ratloses Entsetzen. Aber der Gatte, die Brüder und Gefreunde der Entführten erinnerten sich zum Glück eines Wunderpferdes, das auch zu den fünf »Nobilitäten« der Stadt gehörte. Es stand außen auf der Wiese zwischen den Buden der Verkäufer und dem aufgerichteten Glücksbaum angebunden, denn es sollte zusamt einem Gaukler, der konnte, was niemand kann und deshalb gleichfalls eine Nobilität von Viterbo war, nach Beendigung des Gottesdienstes das Volk durch seine Künste ergötzen. Wenn dieses Pferd wirklich, wie die Sage ging, von dem edlen Roß Bayard des Ritters Rainald von Montalban stammte, so hat es seinen Vorfahr, der die vier Haimonskinder trug, noch weitaus an Größe, Kraft und Schnelligkeit übertroffen. Denn es sprangen – du magst mir das glauben oder nicht – sieben Bewaffnete von den zwei verschwägerten Familien auf seinen ungesattelten Rücken und jagten den räuberischen Mönchen nach. Den einen, Zurückgebliebenen, überritten sie, bevor sie den Entführer erreichten, der, wie du dir wohl denken kannst, kein anderer als der Graf von Vico war! Dieser wäre ihnen trotz ihrer Windesschnelle 28 entkommen, hätte er der Begierde widerstehen können, sich unterwegs einen Vorschmack der erhofften Wonnen zu verstatten, indem er von Zeit zu Zeit seinen Lauf mäßigte und das Angesicht der Galiana, das an seiner Schulter lag, mit gierigen Küssen bedeckte. Sie wehrte ihm nicht, sei es, daß sie Widerstand für nutzlos hielt, sei es, daß sie die Besinnung verloren hatte. So brachen die Sieben über ihn herein, bevor es ihm gelungen war, seinen Raub auf der Feste von Vico zu bergen. Er hieb verzweifelt um sich, obgleich er nur einen Arm frei hatte, weil er im andern die Galiana hielt. Schließlich bekamen die Angreifer doch die Oberhand, sie rissen ihn aus dem Sattel, aber seine Beute ließ er erst fahren, als er unter ihren Schwerthieben bewußtlos zusammenstürzte. Und sie hätten ihn völlig kaltgemacht, wären nicht die Knechte herbeigeeilt, die der Graf zu seiner Sicherung auf halbem Weg aufgestellt hatte und die nun den Halbtoten mit ihren Leibern schirmten und nach Hause trugen.
Nicht umsonst sagt das Sprichwort, daß üble Kräutlein nicht verderben. Auch von seinen schweren Wunden kam der schlimme Graf davon. Aber von seiner verbohrten höllischen Besessenheit ließ er auch nach dieser Lehre nicht ab. Seitdem er die Galiana vor sich auf dem Sattel gehabt und die Wärme ihres Körpers gegen den seinigen gespürt hatte, brannte die Begier nach ihrem Besitze noch viel stärker in seinem Blut, und was vielleicht bisher noch teilweise hoffärtiger Eigensinn gewesen war, das wurde jetzt zum ruhelosen Stachel einer ungestillten quälenden Leidenschaft. Doch hielt er sich zunächst ruhig, ließ seine Körperwunden ausheilen und einiges Gras über die mißglückte Unternehmung wachsen.
Aber der Friede war nur ein scheinbarer. Weil der Verwegene den Kaiser, den er scheute, fern und in die deutschen Händel verwickelt wußte, sammelte er in aller Stille 29 auf eigene Hand eine ansehnliche Streitmacht und sandte der Stadt Viterbo den Fehdebrief, worin er sie aufforderte, ihm entweder zur Einlösung des kaiserlichen Wortes wie auch zur Sühne der ihm beigebrachten Verwundungen die schöne Galiana herauszugeben oder auf einen Sturm gefaßt zu sein, wie die Stadt noch keinen erlebt habe.
Die Unsrigen antworteten, sie seien nicht gewohnt, mit ihren Töchtern Kriegssteuer zu zahlen, und im übrigen sei die Galiana, wie er wohl wissen werde, längst ihrem vorbestimmten Gatten angetraut. Wenn der Herr von Vico gleichwohl seinen Heiratsantrag erneuern wolle, so möge er kommen und sich aus den Mäulern ihrer Geschütze die Antwort holen.
So begann die Belagerung.
Der Herr von Vico hatte bei dem Rotbart die Kriegskunst gelernt und war, wie alle wußten, kein träger Schüler gewesen. Er schloß die Stadt von allen Seiten ein und führte seltsame, noch nie gesehene Kriegsmaschinen gegen sie heran. Aus Wurfgeschützen schleuderte er so gewaltige Steine, daß sie beim Niederfallen zerbarsten und gleich drei oder vier Mann von den Verteidigern auf einmal niederstreckten. Die Unsren schützten ihre Mauern durch Säcke von Stroh und Flechtwerk aller Art, aber die Belagerer schossen Brandpfeile darein und setzten die brennbare Schutzwehr in Flammen. Den größten Schrecken erregte ein hoher fahrbarer Turm, den der von Vico anrollte, wo es ihm beliebte, und von dem aus er griechisches Feuer über die Mauern warf, das einen schnöden Geruch verbreitete und mit Wasser gar nicht zu löschen war. Und immer von neuem forderte er Viterbo auf, ihm seine Braut zu senden, wenn nur ein Stein der Stadt auf dem andern bleiben solle. Die Belagerten waren auch nicht auf den Kopf gefallen: sie löschten das unlöschbare 30 Feuer durch Sand und Essig, aber als nun doch, bald da, bald dort, ein Haus zu brennen begann und auch die Lebensmittel in der eingeschlossenen Stadt knapper wurden, da erhoben sich Stimmen unter den Bürgern, die es tadelten, daß man die Freiwerbung des Kaisers abgewiesen und sich die Rache eines Übermächtigen zugezogen habe. Die Galiani und ihre Schwäger, die sich mehr vor der Schwachmütigkeit ihrer Mitbürger als vor dem Feinde fürchteten, erzwangen nun im Kriegsrate den Entschluß, die Not durch einen kühnen Ausfall zu endigen.
Man rückte aus, die Galiani mit Versippten und Anhang als die Nächstbetroffenen in der vordersten Reihe. Den ganzen Tag wurde mit Erbitterung gerungen. Allein die Städter, so tapfer sie fochten, konnten gegen die erprobten ehemaligen Soldaten des Rotbart unter ihrem kriegsgewaltigen Führer die Walstatt nicht behaupten. Als der Abend sank, sahen sie sich mit starken Verlusten in die Stadt zurückgedrängt und wenig fehlte, so wäre der Feind in eiliger Verfolgung miteingedrungen. Des andern Tages erneuerte sich der Kampf mit besserem Glück, denn jetzt versuchten sie die Kraft ihres zweitedelsten Kleinods, von dem der Chronist gesprochen hat, nämlich jenes tragbaren Altares, der wo man ihn aufstellte, den Waffen von Viterbo Sieg verlieh. Sie nahmen den Gottestisch mit in die Schlacht, und es fand sich auch ein frommer und hochgemuter Priester, der nicht zauderte, unter dem Hagel der Pfeile die heilige Messe zu lesen. Da wankten die Fähnlein des Herrn von Vico, und um die Mittagsstunde sah man das Belagerungsheer in voller Auflösung rückwärts fluten. Die von Viterbo waren nicht stark genug sie zu verfolgen, dagegen ergänzten sie ihre Mund- und Kriegsvorräte aus dem geplünderten Lager des Feindes und kehrten siegblasend in die Stadt zurück. Allein wie eine Bremse, die man wegscheucht, sofort 31 wieder anschwirrt und aufs neue zu stechen sucht, so stand der Herr von Vico mit den wiedergesammelten Fähnlein schon in der nächsten Gottesfrühe abermals vor ihren Mauern. Wohl rückten die Städter wiederum mit ihrem Heiligtum hinaus, und es gelang ihnen, den Feind zum andern Male zurückzutreiben, jedoch der Priester wurde am Altar durch einen Pfeilschuß getötet, und sie vermochten auch diesmal ihren Sieg nicht durchzuführen, weil sie nur in Anlehnung an ihre Mauern kämpfen konnten, in freier Feldschlacht aber dem Gegner unterlegen waren. Durch viele Monde schwankte so das Glück, und es kam zu keiner Entscheidung, denn einerseits machte wohl der Besitz des wunderwirkenden Gottestisches die Stadt uneinnehmbar, andrerseits konnte sie sich aber auch des halsstarrigen Gegners nicht entledigen. Im Verlauf der Zeit begann endlich der von Vico einzusehen, daß auf diese Weise der Gegenstand des Kampfes alt und grau werden konnte, bevor es ihm gelang, die Stadt zu unterwerfen, und daß ihm somit keine Aussicht auf Erreichung seines Zieles blieb. Unterhändler gingen hin und her, und zum guten Ende wurde festgesetzt, daß der Herr von Vico unter beiderseitiger Tragung des erlittenen Kriegsschadens abziehen und gegen die Stadt Viterbo keinen Groll mehr hegen sollte, diese dagegen sich anheischig machte, ihm in Erfüllung seines heißen Herzenswunsches ein letztes Wiedersehen mit der Galiana zu verstatten, damit er von der schönsten Hoffnung seines Lebens Abschied nehmen könne. Um ihr Versprechen zu halten, legte die Stadt drei Zinnen der Mauer nieder, denn neben die Galiana mußte rechts und links ein Gewappneter treten, damit nicht der Feind sie tückischerweise durch eine rasch angelegte Sturmleiter herunterhole. Der von Vico rollte zum letztenmal seinen Turm heran, gerade der Stelle gegenüber, auf der die Schöne 32 in voller Größe sichtbar wurde. Er selbst war waffenlos, wie er versprochen hatte, aber hinter ihm standen zwei Pagen mit Schild und Bogen, denn es schien, daß doch keine der beiden Parteien der anderen trotz des beschworenen Friedens traue.
O Galiana, rief er hinüber, du ewig Geliebte, heute ist es das drittemal, daß der unglückliche Milo – so hieß der Graf mit dem Vornamen – dein Angesicht schauen darf. Soll nun wirklich dieses drittemal auch das letzte in unserem Leben sein?
Edler Herr, so rief die Galiana unter Tränen zurück, wenn das Geschick es gewollt hätte, daß ich die Eure würde, so wäre ich Euch mit Freuden gefolgt, wohin Ihr mich geführt hättet. So aber bitte ich Euch, mich zu vergessen, denn ein armes Weib ist des vielen Blutes nicht wert, das um ihretwillen geflossen ist.
Als der von Vico sie so reden hörte und das himmlische Angesicht so nahe vor sich und doch für immer seiner Sehnsucht verloren sah, da faßte ihn der Verzweiflungsschmerz mit solcher Wut, daß er, hinter sich nach seinem Bogen greifend, sagte:
Galiana, wer dich gekannt hat und gehofft, dich zu besitzen, der kann dich eher tot als in den Armen eines andern wissen.
Dies sagend schnellte er, bevor die Gewappneten dazwischentreten konnten, einen seiner nie versagenden Pfeile auf die Brust der Geliebten ab. Die Galiana sank zu Tod getroffen in die Arme ihrer Wächter. Sie richtete einen brechenden Blick auf ihren Mörder, und dieser sah noch jenes unsagbare Lächeln, mit dem der Gott der Liebe selbst beim ersten Aug-in-Auge-schauen seine Sinne für immer umstrickt hatte, sich über das ganze Angesicht der Sterbenden verbreiten. Auch als ihr Herz nicht mehr schlug, blieb noch das zauberhafte Lächeln stehen, das 33 einen immer tieferen und geheimnisvolleren Sinn gewann, als ob erst im Verscheiden ihre Seele sich aus der frühen künstlichen Formung gelöst und ihr wahres Fühlen zu bekennen gewagt habe. Es schien, als wollte sie sagen, daß der Todesschuß des Frevlers ihr süßer gewesen sei als die Umarmungen ihres zärtlichen Gatten. Auch bei denen, die nicht in ihrem Lächeln lesen konnten, blieb doch der Eindruck haften, daß die tote Galiana die lebende noch weit an Schönheit überstrahlt habe. Die Stadt Viterbo, die so jählings ihre schönste Blume hinwelken sah, beschloß der Galiana ein feierliches Ehrengrab zu stiften. Man legte sie in den kostbaren, aus dem Altertum stammenden Sarkophag und stellte diesen in Manneshöhe, so wie du ihn gesehen hast, an der Außenseite der Kirche Sant' Angelo auf, damit die Sonne noch immer das Behältnis, das sie umschließt, bescheinen könne, denn eine so edle Gestalt sollte nicht in der dunklen Erde modern.
Wie sich der von Vico nach seiner Tat mit dem Leben abgefunden hat, möchtest du wissen. Ich kann es dir nicht sagen, meine Kenntnis der Dinge ist an den Bannkreis meiner Stadt gebunden. Im übrigen habe ich deine Wißbegier gestillt. Was du von dem Erzählten glauben willst, was nicht, ist deine Sache. An der Bereitschaft, eine schöne Mär für wahrer zu halten als eine bezeugte trockene Tatsache, unterscheidet man die Seelenfähigkeiten der Menschen.
So schloß der Genius von Viterbo seine Rede.
Dieses Erlebnis, von dem Wanderer seinerzeit unmittelbar dem Reisetagebuch in Stichworten anvertraut, trat beim Anblick des Teppichs mit allen Einzelheiten aus den Winkeln seiner Erinnerung hervor. Gewiß war er unter Lebenden der einzige, der die Geschichte der Galiana aus der sichersten Quelle kannte, vielleicht hatte nicht einmal der Sammler der Teppiche gewußt, wen das Mädchen auf 34 der Mauer unter den kriegerischen Anstalten vorstellte. Diese Erfahrung stärkte ihm den Glauben, daß er auch das Geheimnis des nächsten Teppichs ergründen würde. Hier bedurfte es keines Stadtwappens. Niemand konnte beim Anblick des schiefen Turms, der zweifarbigen Domfassade, des runden, ebenso zebrahaft gestreiften Baptisteriums und des langgestreckten Rechtecks des Camposanto zweifeln, daß er in Pisa war. Auch hier ist außenseits der Stadtmauer ein Lager mit vielen Zelten aufgeschlagen, doch handelt sich's offenbar um keine Belagerung, denn die junge Mannschaft übt sich mehr zum Glimpf als zum Ernst im Waffenspiel. Inseits der Stadt herrscht Friede, die Wachtposten schlummern auf den Wehrgängen, die Straßen, in deren Achsen man blicken kann, liegen leer. Augenscheinlich hat der treuherzige Zeichner vergessen, daß außen Tageswerk vorgenommen wird, während Pisa im schwachen Licht eines abnehmenen Mondes schläft. Niemand wacht in der Stadt als das junge Paar, das unter den weitgebreiteten Ästen eines Riesenbaumes sich ernst und innig bei den Händen hält. Auch ein Rebus, nicht auf den ersten Blick zu deuten. Aber die Lösung kommt dem forschenden Auge aus den Gassen des Lagers. Da steht an erhöhter Stelle vor einem offenen großen Zelt ein aufgeschmückter Fahnenwagen, dem zwei weiße, mit Scharlachtüchern behangene Ochsen vorgespannt sind: der berühmte Carroccio, der Kriegswagen der florentinischen Republik, an dem Banner mit der roten Lilie auf weißem Felde kenntlich. Und dahinter höher noch als schauriges Wahrzeichen strenger Kriegszucht ein Galgen. Bei dieser Entdeckung tritt dem Beschauer augenblicks eine alte Überlieferung vor die Seele, die ihn stets besonders ergriffen hat. 35