Isolde Kurz
Meine Mutter
Isolde Kurz

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Marie Kurz hat sich auch mehrfach in der Prosaerzählung versucht. Da sie aber die Wege dieser Welt so wenig kannte, war es ihr nicht gegeben, sich in verwickeltere Naturen und in verschlungene Seelenvorgänge zu versetzen, und die plastische Gabe des Gestaltenerschaffens fehlte ihr. Nur Kindermärchen sind ihr rein gelungen, denn nur in das Innenleben der Kleinen konnte sie sich wahrhaft einfühlen. Im Jahre 1867 überwand sie ihre Scheu vor dem kritischen Auge meines Vaters und ließ bei Carl Schober in Stuttgart einen kleinen Märchenband erscheinen, nicht um sich gedruckt zu sehen – solcher Ehrgeiz lag ihr ferne –, sondern um durch den Erlös zum Haushalt beizusteuern. Da die Prosa eine größere Erdnähe bedingt als die gebundene Rede, ist ihr der Ton nicht bei allen gleichmäßig geglückt: gelegentlich spielen abstrakte Gedankengänge, aus wissenschaftlichen oder politischen Strömungen geflossen, störend herein. Zwei von den schlichtesten und kleinsten Stücken, anspruchslos, wie ihre mündlich hinerzählten, wähle ich als Proben aus, die ihre echte Kindlichkeit, ihren 83 Natursinn und ihre Tierliebe ganz ungetrübt widerspiegeln. Den Prosastücken überlegen sind die in Versen, die sie dazwischen gestreut hat, sie sprudeln von Laune und von Frische des sprachlichen Ausdrucks. Es wäre schade, nicht wenigstens »Die Nachtigall«, die sie Andersen nacherzählt hat, der Vergessenheit zu entreißen. Das Versmaß ist für den Stoff mit so glücklichem Instinkt getroffen, der häufig angewandte Parallelismus, den ja die chinesische Poesie liebt, ist ihr gewiß ganz von selber in die Feder geschlüpft. Der Leser fühlt es diesen Versen, die mit dem Glanz und Frohsinn hüpfender Wasser einherrauschen, ordentlich an, wie die Dichterin, den Banden der Prosa entronnen, mit Jubel in ihr Element zurückgesprungen ist. 84

 

Die lebende Puppe

Weihnachten, das holde Kinderfest, auf das sich die Kleinen so lange im voraus freuen und von nichts mehr träumen als von den vielen güldenen Nüssen, den rotbackigen Äpfelein und den schimmernden Lichtlein, war vor der Türe. Hunderte von größeren und kleineren Tannenbäumen wurden auf Holzschlitten von den benachbarten waldigen Höhen auf den Jahrmarkt der Stadt gebracht und zum Verkauf ausgestellt. Auch die Landleute strömten von den naheliegenden Dörfern herbei, um ein solches Tannenbäumchen aus der Stadt zu holen und mit den aufgesparten Äpfeln und den großen Weihnachtsbrezeln stattlich herauszuputzen. Nur eine Witwe, Frau Martha, die in dem letzten Häuschen eines Dorfes wohnte, war so arm, daß sie ihrem einzigen Töchterlein nicht einmal ein solches Christbäumchen kaufen konnte. Sie grämte sich recht bitter darüber, denn sie hatte ihr Kind so lieb wie die reichen Eltern die ihrigen, und tat alles, was in ihren Kräften stand, der kleinen Elsbeth, die schön wie der Tag war, eine Freude zu machen. Sie besann sich hin und her, wer ihr wohl ein paar Kreuzer leihen würde, bis ein neuer Schneller gesponnen sei; da fiel ihr ein, daß sie ja selbst ein Bäumchen im nahen Wald abhauen könne. Sie nahm daher ihr Beil und Regentuch und rief ihre Kleine herbei. »Elsbeth«, sagte sie, »sei recht brav 85 und bleibe mir fein in der warmen Stube, bis ich wiederkomme, dann soll dir auch heut abend noch das Christkindlein sein goldenes Wägelein ausleeren.«

Hierauf ging sie fort in den Wald und hieb ein recht niedliches Tannenbäumchen aus. Als sie es aufheben wollte, sah sie im tiefen Schnee eine Puppe liegen. Mit einem Ausrufe der Freude hob sie den kostbaren Fund auf und packte ihn samt der kleinen Tanne in ihre Schürze. Sie lief ihrer Hütte zu. Unterwegs betrachtete sie staunend die Puppe. »Ei, was sie schöne Flachshaare hat, und wenn sie nicht so kalt und leblos wäre, würde man glauben, sie sei aus Fleisch und Blut wie unsereins. Sie wird wohl von Wachs sein, die mag ihr Geld gekostet haben.« Ganz glücklich kommt sie zuhause an, heißt das Kind einstweilen zu den Nachbarsleuten gehen und schickt sich an, das Bäumchen zu verzieren. Da gab's freilich keine Springerle und Lebkuchen, wie für die Kinder der Reichen, aber sehr schöne Äpfel holte sie hervor, faßte eine Handvoll Zwetschgen an lange Fäden und band sie an dem Baume fest. Dann zündete sie etliche spärliche Talglichtlein an und legte die Puppe gar sanft und vorsichtig in das Moosgärtchen, das sie um den Baum herum bereitet hatte.

Das Entzücken des Kindes war groß, als es die Bescherung betrachtete, auch wollte es sich gar nicht von der Herrlichkeit trennen und mußte fast mit 86 Gewalt in sein Bett gebracht werden. Die Mutter schlief schon fest, als sich das kleine Mädchen aus dem Kissen stahl und beim Mondlicht an ihr Bäumchen schlich. Aber o Wunder! Was mußte sie da erblicken. Das Püppchen hatte sich aufgerichtet und war gerade beschäftigt, das kleinste Äpfelchen vom Baume herabzulangen. Das Kind wollte schnell davonspringen aus Angst und Schrecken, aber die Puppe winkte ihm freundlich her: »Du darfst dich nicht fürchten, Menschenkindlein«, sprach sie mit einem ganz feinen Stimmlein, »ich habe die Menschen lieb und tu ihnen keinen Schabernack an, wollte mir gerade da nur ein Äpfelchen holen, weil ich hungrig bin, und wenn ich das gegessen habe, will ich dir sagen, wer ich bin und woher ich komme.«

Die Kleine hatte sich bald von ihrem Schrecken erholt und stand der vermeintlichen Puppe getreulich im Äpfelessen bei. Endlich sagte das kleine Wesen: »Ich weiß nicht, ob dir deine Mutter schon von uns erzählt hat. Die Leute nennen uns Wichtelmännchen, auch Erdmännlein und Erdweiblein. Vor langer, langer Zeit waren wir die Herren der Erde, als es noch nicht so viele Menschen gab und diese noch gut und friedfertig waren. Wir waren weiser und geschickter als sie, lehrten sie das Feld bebauen und das Gold und die Edelsteine in den tiefen Schächten der Berge suchen. Bald aber wurden die Menschen zahlreicher und da wurden sie 87 auch schlimmer, Geldgier, Neid und Krieg wüteten unter ihnen, unsere milden Lehren wurden verlacht, da verbannten wir uns selbst von der Erde und zogen uns in das Innere der Berge zurück, das wir nun dem bösen Menschengeschlechte sorgfältig verschlossen halten. Nur wenigen ist es vergönnt, hie und da einen Fund in unserem Reiche zu tun. Immer aber lieben wir noch die undankbaren Menschen, und die alten Leute deines Dorfes können dir gewiß davon erzählen, wie manchmal dem einen oder andern über Nacht die Wiese gemäht wurde, wie beim Kornschneiden oft ein ganzer Acker unversehens geschnitten war, und das hat niemand anders getan als wir Erdleutchen. Im Winter aber halten wir uns sorgfältig unter der Erde und in den Bergen versteckt, weil es da zu kalt für unsereins auf eurer schneeigen Erde ist, denn als unser Volk noch auf der Erde lebte, war der Unterschied der Jahreszeiten noch nicht so groß und eine milde warme Luft fast über alle Gegenden verbreitet. Mich trieb die Neugier aus unsern unterirdischen Wohnungen hervor, ich dachte es mir so schön, mit den Kindern der Menschen Schneeballen zu machen und Schlitten zu fahren, und da habe ich gegen die Warnung meiner Eltern die Erdoberfläche betreten. Kaum aber hat euer Schneewind mich angeweht, so bin ich halberstarrt in den Schnee gesunken und wäre wohl bald gestorben, wenn nicht deine Mutter mich aufgehoben und 88 mich ins warme Zimmer hieher gebracht hätte. Jetzt aber muß ich zu meinen Eltern zurück, die mich weinend suchen werden; du komm mit mir, ich will dir die Pracht und die Herrlichkeit des Erdinnern zeigen, auch bin ich dir für den Apfel, den ich dir genommen, noch besondern Dank schuldig, denn niemand soll sagen können, daß je eins aus unserem Volke sich undankbar bewiesen hat, komm also und mach mir die Türe auf.«

Das Mädchen ließ sich das nicht zweimal sagen, drückte einen leisen Kuß auf den Mund der Mutter und machte sich mit dem Erdfräulein auf den Weg. Das Erdgeistchen führte es in eine tiefe Waldschlucht und an einer Felsenspalte klopfte es an, diese dehnte sich aus und ließ die beiden in einen tiefen Schacht hinuntersteigen. Hier waren ganze Städte aus Edelsteinen erbaut und die niedlichen Erdmännlein stiegen in ihrer Bergmannstracht, eine Laterne in der Hand, in der als Leuchte ein Glühwürmlein war, in den Felsenritzen umher.

Elsbeth wagte kaum zu atmen und hielt alles für einen schönen Traum. Sie mußte sich oft in die Lippen beißen, um zu sehen, ob sie wirklich wache. Als sie sich satt gesehen, schüttete ihre kleine Begleiterin ihr einen Korb voll Kohlen in die Schürze und empfahl ihr, sie wohl zu verwahren, führte sie wieder an den Ausgang des unterirdischen Reichs und ließ sie dort stehen. Halb betäubt rannte das Kind nach Hause, denn es war inzwischen auf der 89 Erde Tag geworden. Frau Martha war eben aufgestanden und hatte zu ihrem Entsetzen das Bett ihres Kindes leer gefunden. Händeringend und schluchzend stand sie vor demselben, als die Türe aufging und Elsbeth mit aufgehobener Schürze hereinsprang. Sie warf die Kohlen auf den Boden; hei, wie funkelte, glitzerte und glänzte es da mit Rubinen, Smaragden und Diamanten; dazwischen lagen kleine Goldklümpchen im bunten Durcheinander.

Mit kurzen Worten erzählte das Kind das Vorgefallene und Frau Martha nahm dankbar den Schatz der wohltätigen Erdmännlein hin und hat ihr Lebtag daran genug gehabt, auch gerne geholfen, wo sie gekonnt. Nachmals ist ein schöner junger Mann gekommen und hat das kleine Mädchen, das nun ein reiches Fräulein geworden war, heimgeführt, und als sie ein Kindlein bekamen, haben sie die Wichtelmännchen zu Gevattern gebeten.

 

Die Schmetterlinge

An einem heißen Sommernachmittage gingen einige Knaben mit Schmetterlingsnetzen bewaffnet und die grünen Kapseln auf dem Rücken leichten Schritts auf der staubigen Landstraße dahin. Sie achteten der versengenden Strahlen der Julisonne nicht und glaubten ihre »Hitzvakanz« nicht besser anwenden zu können, als daß sie Jagd auf die 90 niedlichen Schmetterlinge, jene holden fliegenden Blumen des Sommers, machten, deren alljährlich Tausende der Mordlust der rohen Knabenwelt zur Beute fallen. An ihren Kappen steckten die Stecknadeln, jene mörderischen Spieße, an denen die armen unglücklichen Geschöpfe oft noch stundenlang zappeln müssen, bis sie endlich ihr junges Leben ausgehaucht; denn nicht jeder der kleinen Unholde übt wenigstens soviel Menschlichkeit, ihnen die zarten Köpfchen einzudrücken oder sie mit einer todbringenden Flüssigkeit zu bestreichen. Bald hatte die kleine Schar die Landstraße verlassen und einen blumigen Wiesengrund betreten, der sich weit ausdehnte und zuletzt von der waldbewachsenen Gebirgskette umschlossen wurde. Die leichten Jacken wurden abgeworfen und die Jagd hatte begonnen.

»Ei seht dort den großen Perlenmuttervogel, der muß mein sein«, rief der eine, »und dort der Zitronenfalter«, der andere und schwang sein mörderisches Netz, in dem auch alsogleich der arme gelbe Falter zappelte. Auch das Tagpfauenauge und der Admiral steckten bereits gespießt an den Kappen der Knaben. Die kleinen Jäger waren unermüdlich, bald waren die Kapseln gefüllt mit den bunten zierlichen Leichen, und doch sprangen sie weiter die Wiese entlang bis an den Saum des Waldes. Dort flog ein prächtiger Trauermantel und ein Apollo hinter einem Weidengebüsch auf, der 91 Trauermantel flatterte der Wiese zu, der Apollo aber flog in den Wald. Während die ganze Schar dem ersteren nachjagte, verfolgte Berthold den andern Schmetterling. Bald flatterte er hoch über den Wipfeln der Bäume, bald unten am moosigen Waldrand und setzte sich, wenn er seinem Verfolger gar zu weit vorausgekommen war, auf einen Busch nieder. Berthold hatte schon längst seine Torheit bereut, daß er so tief in den Wald gedrungen war, da es aber schon einmal geschehen, so mochte er auch nicht ohne seine Beute zurückkehren, er würde ja das Gespötte seiner Kameraden geworden sein. Der Apollo wollte sich aber durchaus nicht fangen lassen, bald setzte er sich auf seine Schulter, bald auf seinen Kopf, aber sobald der Knabe nach ihm greifen wollte, war er auch schon wieder auf und davon, weit vorausgeflogen.

Plötzlich verschwand er hinter einem hervorstehenden Felsen. Berthold trat schnell hinzu, doch siehe, da tat sich die Felswand auf, und ein wunderschöner Garten zeigte sich seinen Blicken. Er trat ein und sogleich schloß sich das Felsentor wieder hinter ihm, dort prangten die schönsten Rosen von der verschiedensten Art und Größe, von dem kleinen winzigen Maienröslein an bis zur prächtigen Zentifolie, die fast die Größe eines kleinen Busches erreichte, Springbrunnen plätscherten im Marmorbecken, und Gold- und Silberfische blitzerten und leuchteten im Sonnenschein, an den Bäumen aber 92 hingen so lieblich duftende, einladende Früchte, daß es dem guten Berthold im Munde zu wässern begann, er wollte soeben auch seinem Gelüste nachkommen und sich eine solche Frucht abbrechen, als er unter einem Baume eine Schar reizender Feemädchen, die den Feenreigen tanzten, erblickte. Sie waren alle in dünne kurze weiße Kleidchen gehüllt und auf dem Rücken trugen sie ein Paar bunter Schmetterlingsflügel. Berthold stand wie versteinert, seine Eßlust war vergangen, er wagte keinen Schritt weiter zu tun, da schwebte eines dieser holden Kinder auf ihn zu und zog ihn nach sich. Wie erstaunte er, als er in ihren gelblichen Flügeln mit den roten Tupfen seinen Apollo wieder erkannte.

»Komm mit«, sprach die Kleine, »zu unsrer Königin«, und als er nicht gutwillig gehen wollte, umschwebte ihn eine ganze Schar reizender Feenkinder und drängte ihn vorwärts. Auf diese Weise wurde er in einen prächtigen Palast geführt; dort saß die Königin Papillione auf einem Throne, der aus einer großen Purpurrose bestand, die einen köstlichen Duft verbreitete. Der Thronsaal füllte sich bald mit dem ganzen Hofstaat, und kleine häßliche Gnomen, mit langen Spießen bewaffnet, hielten an der Türe Wache.

Die Königin gab ein Zeichen, den Gefangenen vorzuführen, und zwei der schönsten Mädchen erfüllten sogleich den Befehl.

93 »Welcher Schuld klagt ihr das Menschenkind hier an?« frug die Königin die Versammlung.

»Er gehört zu der kleinen Mörder- und Räuberbande, die den Unsern Tod und Verderben geschworen«, rief eine aus der Menge, »und so werde ihm denn dasselbe Los wie allen jenen, die in unsere Hände fielen: er werde in einen häßlichen Gnomen verwandelt, und erst nach langem Wohlverhalten soll es ihm vergönnt sein, sich wieder zum Menschen zu entpuppen.«

Schon erhob sich die Königin und wollte ihn mit ihrem Szepter berühren, da ließen sich mehrere Stimmen hören:

»Gnade, Gnade für den schönen Knaben, es wäre schade um seine schönen goldenen Locken.«

»Ja und mir hat er das Leben geschenkt, als ich unter der Gestalt eines Schmetterlings mich zu weit ins Menschenreich gewagt«, rief eine andere. »Er hatte mich schon gefangen und fast hätte ich den Todesschmerz des Tieres leiden müssen, um erst wieder in unserem Reich als Fee zu erwachen, da wurde er mitleidig und ließ mich los, und das will ich ihm nimmermehr vergessen.«

Und auch die kleine Fee mit den Apolloflügeln, die reizende Phöbe, trat hervor: »Ich habe ihn in unser Reich gelockt, mir gebührt die erste Stimme, er behalte seine schöne Gestalt; er soll unser Gesellschafter werden und uns die Langeweile vertreiben, wir wollen ihm dafür den Feenreigen tanzen und 94 ihn mit der Sprache der Blumen vertraut machen.«

»Ja, ja, Schwester Phöbe hat recht«, riefen frohlockend die übrigen.

»Nun so stimmt denn ab«, sagte die Königin, die einen sehr konstitutionellen Staat zu regieren hatte und nur die vollstreckende Gewalt war.

Da wurde der schöne Knabe einstimmig zum Gesellschafter im Feengarten ernannt und im Triumph von den kleinen Feen hinausgeführt. Sie wanden ihm die schönsten Blumenkränze, brachen ihm die schönsten Früchte und überhäuften ihn so sehr mit ihren Liebkosungen, daß der arme Berthold sich nur zu wehren hatte gegen die allzugroße Feengunst. Jede wollte ihn für sich allein haben; bald sollte er die eine auf dem kleinen See in dem zierlichen Nachen herumführen, bald wollte ihn die andere beiseite nehmen, um ihm ihre Zauberkünste zu zeigen, was aber die kleine Phöbe durchaus nicht zugab, indem sie behauptete, der Knabe gehöre ihr ganz allein.

Die kleinen Feen, die bisher in ewig ungestörtem Frieden, in der süßesten Eintracht miteinander gelebt hatten, fühlten auf einmal alle menschlichen Leidenschaften, Neid, Eifersucht, Eitelkeit, Zwietracht. Die weise Königin ward dessen mit Schrecken inne.

Wenn sie nicht gerade in Amtsgeschäften war, hatte sie, unähnlich den übrigen Königinnen in den 95 Feenmärchen und auf den Bildern der alten Könige und Kaiser, die mit der Krone sich zu Bette zu legen pflegten, die Zeichen ihrer königlichen Würde abgelegt. So lustwandelte sie auch jetzt leicht geschürzt wie die übrigen durch die duftenden Rosenalleen daher. Als sie in die Nähe des Knaben kam, gab sie ihm ein Zeichen, ihr zu folgen; nur mit Mühe konnte sich Berthold aus den Armen seiner Begleiterin losmachen und der Königin nachfolgen. Sie führte ihn in eine Myrtenlaube und ließ ihn neben sich auf einem weichen Lager von Rosenblättern Platz nehmen.

»Höre, mein guter Knabe«, sagte sie zu ihm, »ich habe eine Bitte an dich. Seit du unser Reich betreten, ist es mit dem Frieden unter meinen lieben Schwestern vorbei, es soll dir das durchaus nicht zum Vorwurf gereichen, aber du wirst einsehen, daß ich, um es unserem Völkchen recht zu machen, dich verteilen oder vervielfältigen müßte, und so weit reicht meine Feenmacht nicht, folglich muß ich wünschen, daß du wieder dahin zurückkehrst, von wannen du gekommen. Das geht nun aber nicht so leicht, ich habe zwar hier einen Ring, der dir zu jeder Zeit die Felsenpforte öffnet, aber du bist von hundert Augen bewacht, und was die eine nicht sieht, das sieht die andere. Es gibt nur ein Mittel und das wäre, sie alle in Schlaf zu bringen. Nun hat aber unsere Feennatur den Schlaf nicht nötig, und es braucht daher eines sehr starken Mittels. 96 Besinne dich auf alle deine Wissenschaften, und statt sie mit losen Knabenstreichen zu unterhalten, teile ihnen etwas von jenen Dingen mit, womit ihr so viele Stunden in eurer Schule zubringt. Ich glaube nicht, daß unsere leichte Feennatur diesem Reizmittel widerstehen könnte, wir müßten sicherlich alle samt und sonders dem Schlaf in die Arme fallen, und du könntest dann unangefochten zu den Deinen zurückkehren.« Dem Knaben schien dieser Vorschlag nicht ganz zu gefallen.

»Schöne Königin«, sagte er, »was Ihr da von mir verlangt, würde mir vielleicht nicht so schwer fallen, aber mir behagt es in Eurem Reich. Die Feenliebe ist zwar hie und da etwas ungestüm, aber die kleine Phöbe ist doch ein gar herziges Mädchen, und ich gestehe Euch, daß ich sie liebgewonnen habe.«

»Gerade deswegen«, sagte die Königin, »mußt du machen, daß du fortkommst, denn sie würden dich deinem Schätzchen nicht gönnen. Ich verspreche dir, deine kleine Freundin dir recht oft zuzusenden, auch den Ring, der ein wertvoller Talisman ist, sollst du behalten, er wird dir noch von großem Nutzen sein. Aber jetzt mußt du mir in die Hand versprechen, daß du den Unsern nie mehr ein Leid tun, auch die übrigen Tierlein schonen willst; du hast gesehen, daß unter jeder Hülle ein göttlicher Funken verborgen ist.« – Der Knabe versprach, was verlangt wurde, steckte den Ring an den 97 Finger und mischte sich wieder unter die herumschwärmenden Feenmädchen.

Nachdem er nun alle möglichen Spiele mit ihnen gespielt, sagte er ihnen, er wolle ihnen jetzt auch zeigen, wie es in der Schule zugehe., Die kleinen Mädchen waren sehr begierig darauf, besonders als Berthold den Gnomen befahl, schleunigst einen kleinen Katheder aus Baumrinde zusammenzufügen. Als dieser unter großem Jubel und Lachen endlich fertig war, ließ er ihn auf den grünen Rasen stellen und setzte die Feen alle im Halbkreis um sich her. Hierauf betrat er gravitätisch seinen Ehrenposten. Er ermahnte sie, ja recht aufmerksam zu sein, sonst sei es ihnen nicht möglich, den Geist der Sprache, die er sie lehren wolle, zu verstehen. Und nun begann er mit mensa sie in die Geheimnisse der lateinischen Grammatik einzuführen. Aber kaum hatte er die erste Deklination zu Ende gebracht, so lagen sie alle schlafend im Gras, hielten sogar die dicken Köpfe der Gnomen für schwellende Polster und hatten sich auf ihnen ausgebreitet. Da trat Berthold leise aus dem Stuhle, drückte der kleinen Phöbe einen herzhaften Kuß auf und eilte an das Felsentor. Es fiel ihm aber unterwegs ein, daß seine menschlichen Kameraden doch eigentlich genug gebüßt hätten, er kehrte daher um und versuchte die Kraft seines Ringes an ihnen. Sogleich fiel die häßliche Puppengestalt ab, und von einer Schar entzauberter Knaben umgeben, verließ 98 er den Feengarten. Draußen zerstreuten sich die Knaben nach allen vier Winden, aber Berthold wandelte schnellen Schritts weiter. Träumerisch kehrte er zu den Seinigen zurück, und als er nach einigen Tagen seinen Schulkameraden die Abenteuer, die er erlebt hatte, mitteilte, lachten sie ihn aus und behaupteten, er wolle ihnen einen Bären aufbinden. Er ließ sie lachen, mußte er doch am besten wissen, was er mit eigenen Augen gesehen, und daß der schöne Schmetterling, der ihn so oft an schönen Sommertagen umschwärmte, kein gewöhnlicher Schmetterling war, sondern die Seele seiner kleinen Phöbe, die sich unter dieser Hülle verbarg. Als er groß war, ging er in die weite Welt, durchreiste viele Länder und Meere und kam mit einer so holdseligen Braut nach Hause, daß alle seine Jugendfreunde hoch und teuer schwuren, er müsse sie aus dem Feenreich geholt haben.

 

                  Die Nachtigall

Kennt ihr wohl das große Reich der Mitte,
Von der hohen Mauer rings umgeben,
Wo die kleinsten aller Füße wachsen,
Und die längsten aller Nägel wuchern?
Wo bezopfte Mandarinenköpfe
Ehrfurchtsvoll dem Sohn des Himmels nicken
Und im Staub die heiligen Füße küssen? 99
Waren in dem großen Wunderlande
Wunder aller Arten aufgehäufet,
Peking war das Wunder aller Wunder,
Und das Schloß des Kaisers war das schönste
Aller Wunder auf der ganzen Erde.
Also sagten's selber die Gelehrten,
Und Gelehrte müssen alles wissen.
War ein großer Garten an dem Schlosse,
Reichte bis hinab zum gelben Meere,
Und in diesem großen Wundergarten
War das Herrlichste ein kleiner Vogel,
Der sich auf den Mandelbäumen wiegte
Und mit herzbezauberndem Geflöte
Hain und Flur und Berg und Tal erfüllte.
Kannten ihn wohl alle, die da kamen
Pekings Wunderdinge zu beschauen,
Und in allen fernen Nachbarländern
Rühmte man den kleinen Wundervogel.
Nur der Kaiser auf erhabnem Throne
Wußte nichts vom vielgerühmten Sänger,
Wußte nichts vom Nachtigallenliede,
Bis er's jüngst in einem Buch gelesen.
Fragte da den ersten seiner Kämmrer,
Wo die Nachtigall zu finden wäre,
Ob er sie mit Augen je gesehen,
Ob er sie mit Ohren je gehöret.
»Großer Kaiser«, sprach darauf der Hofmann,
»Nur in einem überschnappten Hirne
Kann ein solcher Wundervogel nisten, 100
Der nur eine Ausgeburt der Dichter.«
»Schuft und Esel, wagst du Kaiserworte
Mit Poetenunsinn zu verwechseln?
Wisse, daß der Kaiser der Tataren
Selber mir die Kunde davon sendet.
Bring mir dieses Wunder aller Wunder,
Sonst zur Trommel werde mir dein Dickbauch
Und dein Kopf noch heut zur Vogelscheuche.«
Also ward in Gnaden er entlassen,
Rannte keuchend durch des Schlosses Gänge,
Fragt die Junker und die Hoflakaien,
Rannte durch des Gartens duftige Beete,
Und die Andern alle rannten mit ihm.
Kam ein Mädchen da des Wegs gegangen,
Wollte Fische nach dem Schlosse tragen:
»Kennst du, Mädchen, nicht den Wundervogel?«
»Ach, wie sollt ich jenen denn nicht kennen,
Der ein Trost uns war in schlimmen Nächten,
Als die Mutter krank im Bett gelegen
Und sein Lied die einzige Erquickung?
Folget mir, ich will Euch zu ihm führen.«
Wackelnd folgten sie des Mädchens Spuren,
Spitzten lauschend ihre langen Ohren,
Plötzlich rief erfreut der erste Sänger:
»Hör ich nicht der Nachtigall Posaune?«
»Nein«, sprach da das kleine Fischermädchen,
»Einer Kuh Gebrüll ist es gewesen.«
»Schweigt«, schreit laut der Hofpfaff nun dazwischen, 101
»Denn vom nahen Teich, will mich bedünken,
Dringt zu uns der Nachtigall Geflöte.«
»Ach Hochwürdiger«, sprach das Fischermädchen,
»Das ist das Gequak der garstigen Frösche,
Die einander Serenaden bringen.«
Weiter gingen sie, da drangen Töne,
Zaubermächtige, aus dem nahen Busche,
Und das Mädchen rief mit holder Freude:
»Seht ihr dort den grauen kleinen Vogel,
Den Gesuchten habt ihr nun gefunden.«
Staunend ob der ärmlichen Gewandung,
Griffen sie den grauen kleinen Vogel,
Trugen triumphierend ihn zum Schlosse,
Wo der ganze Hofstaat seiner harrte.
In dem Halbkreis saßen da die Damen,
Hatten große Spieße in den Haaren,
Hatten kleine Schuhe an den Füßen,
In den Händen ungeheure Fächer.
Auf die schwerste aller goldnen Stangen
Mußte nun die Nachtigall sich setzen.
Doch von seinem hohen Porzellanthron
Gab der Kaiser gnädig ihr ein Zeichen,
Daß sie das Konzert beginnen möge.
Und sie sang, wie immer sie gesungen,
Klagend, schmelzend, triumphierend, jubelnd,
Und der ganze Hofstaat war's zufrieden,
Denn der Kaiser hatte seiner Finger
Einen staunend in die Höh gehoben.
Ward ein Käfig nun herbeigetragen, 102
Der mit Gold und Perlen reich verzieret,
Und hinein die Nachtigall geschlossen.
Mußte jeden Abend, jeden Morgen
Nun dem Kaiser ihre Lieder singen,
Durft dafür aus goldnen Schüsseln essen
Und aus diamantnen Gläsern trinken.
Eines Tages kam ein kleines Kistchen
An des Kaisers Majestät gesendet.
Als er mit den eignen hohen Händen
Es geöffnet, welche Überraschung!
Aus Rubinen, Perlen und Smaragden
War ein Vogel künstlich angefertigt,
Und beim leisen Drucke einer Feder
Konnt er alle Nachtigallenlieder,
Konnt Galopp und Walzer trefflich spielen.
War ein großer Jubel da bei Hofe,
Und der eignen Würde fast vergessend,
Hoben sich die Mandarinenfüße
Um den Takt zur Melodie zu treten.
»Das ist erst der rechte Wundervogel«,
Ruft entzückt der Kaiser, »zwanzigmale
Weiß er mir ein Lied zu wiederholen.
Doch zusammen sollen sie mir singen
Ein Duett nach Art der Hofkonzerte.«
Doch wo ist die Nachtigall geblieben?
Niemand hatte mehr nach ihr gesehen,
Niemand merkte, daß ihr Käfig offen,
Und daß, während alles Ohr und Auge,
Sie durchs offene Fenster sich geschwungen. 103
»Laßt ihn fliehn, den undankbaren Vogel,
Ist uns doch der bessere geblieben.«
Dieser blieb und sang so oft man wollte,
Aber ach, da kracht's, die Räder sprangen,
Und der Vogel hatte ausgesungen.

Monde schwanden und die beiden Vögel
Waren der Vergessenheit verfallen,
Denn im Lande war ein großes Trauern:
Todkrank lag der Kaiser auf dem Lager,
Und der Tod saß schon auf seiner Decke,
Grinst ihn an aus toten Augenhöhlen.
Aus des Vorhangs Falten aber schweben
Hin und her Gestalten mannigfaltig,
Schön und mild die einen, andre häßlich!
Ach, es waren das des Kaisers Taten,
Die jetzt alle still vorüberzogen.
Angstschweiß stand dem Armen auf der Stirne
Und er rief: »Musik, Musik, ihr Diener!«
Ob man gleich die große Trommel rührte,
Wollten die Gespenster doch nicht weichen.
Horch, da dringen durch das offne Fenster
Wieder jene zauberhaften Töne,
Denn vom duftigen nächsten Blütenbaume
Sang die Nachtigall mit heller Stimme.
Und sie sang von allem Hohen, Süßen.
Doch sie sang auch von dem Totengarten,
Wo die weißen Rosen von den Tränen
Der Zurückgebliebenen betaut sind. 104
Sehnsucht überkam nach seinem Garten
Plötzlich da den Tod, und Uhr und Sense
Rasch mit seinen Knochenhänden fassend
Huscht er durch die angelehnte Türe.
Doch der Kaiser hob sich von dem Lager,
Und Genesung strahlt von seinen Blicken.
Süße Lenzluft strömte mit den Tönen
Langsam nun verhallend ihm entgegen.
Tränen, die sein Auge nie geweinet,
Träufeln nun auf seine Wangen nieder.
»Dank dir, Dank, du herrlichster der Sänger,
Der mit seinem Lied den Tod bezwungen,
Der nicht nur das Leben mir gerettet,
Der auch die Erkenntnis mir gegeben
Alles dessen, was sich Hohes, Schönes,
Heiliges auf dieser Erde findet.
Mögen alle Völker, alle Könige
Deinen freien Sängerweisen lauschen
Und begreifen, daß nur in der Freiheit
Diese seligen Himmelstöne wirken.«
War der Sänger auch davongeflogen,
Sollten doch die Zaubermelodieen
Lang in seinem Herzen nicht verhallen.

 


 


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