Isolde Kurz
Meine Mutter
Isolde Kurz

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Heldin, als wir dich hatten,
Waren die Tage reich,
Wir gingen durch Glut und Schatten
Und lächelten beidem gleich.

Wohl bleichte das Leid dir die Wangen,
Doch dein Aug hat nimmer geweint,
Winter, die hingegangen,
Hast du lächelnd verneint.

Wer hat tapfrer gestritten?
Wer hat treuer gesät?
Deinen geflügelten Schritten
Kam die Jugend zu spät.

Heldin, auf deinen Auen
Blühten der Blumen viel,
Selber des Todes Grauen
Wurde zu Scherz und Spiel.

Von deinen eilenden Füßen
Verlor sich ins Dunkel die Spur,
Deine Blumengefilde, die süßen,
Erstarrten zur Winterflur.

 

7 Von der Persönlichkeit meiner Mutter habe ich schon mehrmals erzählt: ihre Herkunft und Frühzeit in der Lebensgeschichte meines Vaters und ihre mittleren Jahre in meinen eigenen Jugenderinnerungen (Aus meinem Jugendland). Die Leser haben es mir gedankt, sie sahen ein Menschengesicht, wie sie noch keines gesehen hatten. Allein für ihr vollendetes Wesen war in jenen Darstellungen nicht der Platz. Sonst pflegt die Bedeutung einer Dichtergattin mit dem Tode des Dichters zu enden. Bei ihr begann die eigentliche Entwicklung als Erweiterung und Klärung erst später: sie hatte an dem fertigen Manne, zu dem sie mit gläubiger Ehrfurcht emporsah, noch nicht reifen können, sie reifte erst allmählich mit dem nachgewachsenen Geschlecht. Und was bei dem Alltagsmenschen Greisenalter und Niedergang bedeutet, das war für sie die Wandlung in eine letzte geläutertste Jugend. Es war vorgesehene Notwendigkeit, daß sie das Alter von nahezu fünfundachtzig Jahren erreichen mußte, denn früher konnte sie mit sich selbst nicht fertig werden. Und noch immer war sie im 8 Schreiten, war ferne davon, sich zu verkapseln, als ihre Stunde schlug. Wiederum, wie die beiden früheren Male, stehe ich vor der Frage: Wie soll ich von der sprechen, deren Außerordentlichkeit unbefangener Seelen bedarf, sie richtig aufzufassen, verwandter, um ihr auf ihrem Wege zu folgen? Soll ich sie aus Furcht vor dem Mißverstehen der Alltäglichen ins Konventionelle zeichnen, sie, die alle Konvention von klein auf haßte und eben durch die einmalige, nie wiederkehrende Mischung so köstlich war, deren Kindlichkeit, ja gelegentliche Kinderei zum Gesamtbild mit gehört und nie den hohen Ernst ihrer Gedankenwelt, ihren reinen und heroischen Spiritualismus beeinträchtigt hat? Soll ich angesichts der Dutzendmenschen zögern, der Welt, die so viel Schablonenhaftes, Einreihbares hat, dieses einzigartige Bild ganz zu schenken, das ohne seine Seltsamkeiten nicht vollständig wäre? Seltsamkeiten waren es ja nur, weil ihre Trägerin aus einem reineren, feurigeren Planeten herkam und die Bedingungen des unsrigen nie verstehen lernte. Ich werde sie zeichnen, wie ich sie gekannt habe, und es dem Leser überlassen, sich daraus zu holen, so viel ihm seine eigene Auffassungskraft gestattet. Eine Reihe Kardinaltugenden auf zwei Füße gestellt und mit einem Personennamen benannt, können nicht leben. Leben, im Dasein bleiben und weiterwirken, kann nur die Persönlichkeit mit der besonderen Mischung ihrer Elemente. Je vielfacher, 9 je inniger diese Mischung, umso größer die Möglichkeit der Dauer. Goethe nannte das mit dem Aristotelischen Ausdruck eine »Entelechie«. Was ich aber niemals werde schildern können, ist das unbeschreibliche natürliche Wohlgefühl, das von ihrer körperlichen Nähe ausging und das alle, wenn auch unbewußt, spürten, am meisten Kinder und Tiere. Noch heute strömt dieses Unbeschreibliche wie magnetische Körperwärme aus ihren hinterlassenen Papieren, vor allem aus ihren Gedichten, die die Kronzeugen ihres Lebens sind. In einem tiefgeheimen poetischen Tagebuch hat dieses leidenschaftliche Herz fortlaufend sein Ringen und Siegen, seine unendlichen Schmerzen, die es sich in unendliche Freuden umschuf, niedergelegt. Heft um Heft hat sie im Lauf der Jahre damit angefüllt, ganz in der Stille, ohne den geringsten Drang, sie andern zu zeigen. Wenn sie in ihrer politisch erregten Frühzeit gelegentlich ein paar Verse hatte drucken lassen, so war es um der Sache willen geschehen. Später war ihr Dichten nur wie der einsame Gesang eines Wanderers, womit er sich die Sorgen von der Seele singt und die Mühsal des Weges erleichtert. Das Sonett war ihr Lieblingsversmaß, sie handhabte es mit Sicherheit, aber persönlicher, unmittelbarer äußerte sie sich in den freieren Formen, daher ich die Proben ihres Dichtens zumeist unter den letzteren wählen will. Sie selber hat ihrer Begabung keinen Wert beigelegt 10 – auch hierin ein Unikum – und hat diese ungenügende Einschätzung, so lange sie lebte, auch der Umgebung beigebracht, die ja nur gelegentlich ein paar Reime zu sehen bekam.

Ein belgischer Freund sagte mir nach ihrem Tode: »Sie war der schönste Mensch, den ich gekannt habe.« Daß es ein Ausländer war, der diesen Eindruck von ihr empfing, zeugt von ihrer umfassenden Menschlichkeit, die wie unsichtbare Strahlen durch alle Wände drang. Das Wort über sie war gut gewählt. Zum besten, zum stärksten Menschen kann man sich erziehen, selbst das Prädikat »edel« kann erworben werden, als schönster Mensch wird man geboren. Eine innere Reinheit und Wahrheit, die Unwahres oder Halbwahres nicht einmal denken konnte, die sich niemals in günstige Beleuchtung rückte, geschweige einen irdischen Vorteil suchte, nicht einmal für ihre heißgeliebten Kinder. Ein Geist, der seinen Abstand von andern gar nicht maß – sie war erstaunt, wenn jemand sie eine bedeutende Frau nannte, und pflegte kopfschüttelnd zu sagen: »Ich weiß gar nicht, was die Leute an mir finden wollen.« Eine ethische Höhe, der das ethische Pathos, die ethische Feierlichkeit meilenfern lagen, die niemals auf Stelzen ging und nichts sein wollte als Mensch. Ein goldener Humor, der immer bereit war, auch über sich selbst zu lachen. Eine Gebelust, die weder Dank noch Gegendienst wollte und nur glücklich war im Geben. Von 11 solcher Seelenschönheit trug ihr Tun und Lassen lebenslang den Stempel.

Die Natur hatte wie in einer übermütigen Jugendlaune die seltensten Widersprüche zusammengesucht, um das Menschenwesen zu bilden, das am 6. August 1826 zu Ulm a. D. als Tochter des Obersten und Kammerherrn von Brunnow zur Welt kam. Mit aller Urkraft der Frühen wuchs die kleine Marie aus der verfeinerten aristokratischen Umgebung hervor und war von der ersten Stunde an ganz sie selber. Von sechs Geschwistern allein lebensfähig, hatte sie nichts von der Verzärtelung und Altklugheit einziger Kinder an sich, sondern schien geradezu die Kräfte aller vorher Dagewesenen in sich genommen zu haben; sie strebte frei empor wie ein alleinstehendes Bäumchen auf der Wiese, dem von keiner Seite der Wuchs gehemmt wird. Wie feurig sie an den Ihrigen hing, sie konnte nicht anders als ihre eigenen Wege gehen, ihre Einstellung zum Leben hatte sie mit zur Welt gebracht. Wie sie Kleidungsstücke, die ihr überflüssig schienen, einfach vom Leibe riß, um der Luft desto mehr Zutritt zu verschaffen, so ließ sie auch keine überkommenen Meinungen und Gewohnheiten an sich heran. Von beiden Seiten blaublütig und ausschließlich in adligen Kreisen aufgewachsen, verneinte sie rundweg die Standesunterschiede und verlachte den Geburtsadel, beugte sich aber tief vor dem des Geistes. Wo es ein Vorurteil 12 einzurennen galt, war Marie von Brunnow beim Sturmtrupp und fragte nicht, ob nicht vielleicht etwas Nützliches mit umfiel. Sie war eine Kommunistin von besonderer Art: Besitz war Frevel, aber nur der eigene. Schon als Kind verschenkte sie, was sie hatte, Spielsachen und Puppen, und holte die feinsten Weine aus dem Keller, um sie Bettlern zu geben. Aber sie selber wollte von anderen nichts, wer ihr gab, beleidigte sie. Ihre vielgeliebte Josephine, die Wirtschafterin, konnte das unruhige Kind nur aus der Küche entfernen, wenn sie ihr einen Silberkreuzer hinhielt: voll Grausen lief die kleine Marie davon, so früh erkannte sie den Schmutz und die teuflische Natur des Geldes. Den Leidenden, den Machtlosen zu helfen, ohne Rücksicht auf Gesetz und Brauch, war ihr das natürliche Pflichtgebot. Wenn sie auf Spaziergängen den »Gallioten« – so nannte man die Militärsträflinge in ihren grauen Zwilchkitteln – begegnete, so ließ das Kind die Äpfel aus Josephinens mitgenommenem Korb vor die Füße der Unglücklichen rollen, die sich schnell danach bückten; der Aufseher hatte jedesmal seine Augen anderswo. Ebenso schmuggelte sie aus ihrem elterlichen Garten in Ludwigsburg Würste und Kuchen in das anstoßende Militärgefängnis, wobei der Herr Oberst von Brunnow seiner angebeteten Einzigen ebenso durch die Finger sah wie seine Untergebenen. Daß ein Bedienter hinter ihr ging, duldete sie nicht, denn es 13 verletzte ihr Gefühl von Menschenwürde. Übrigens war auch mein Großvater selber schon ein Urstück, dem Standesdünkel so ferne lag, daß er in Allerhöchster Gegenwart von »Hofschranzen« und »Gamaschendienst« zu reden liebte. Der Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit war also unbewußt mit ihr geboren. Als dann das Jahr Achtundvierzig kam, glaubte sie das Messianische Reich angebrochen und ergab sich mit der ganzen Glut ihrer Apostelnatur der Sache des Volkes. Auch nach dem großen Rückschlag, wo das Ausharren gefährlich wurde, blieb sie unerschüttert bei ihrer schwarzrotgoldenen Fahne stehen, opferte ihr, was sie an irdischen Gütern besaß. Freilich war sie alles eher als eine richtige Politikerin, sie hat gewiß keine der großen Völkerfragen jemals von allen Seiten beleuchtet und bis zum Grunde durchgedacht. »Gefühl ist alles«, hieß es bei ihr, sie dachte wie die Heiligen in Ekstasen. Sie wollte nur helfen, Menschen und Tieren, so oder so, im großen, im kleinen, wie sich's eben gab, sich aller leiblichen Bedürfnisse entschlagen, um anderen wohl zu tun, das Schwerste auf die eigenen Schultern laden. Das Schwerste – nein, der Ausdruck will mir nicht stimmen, er ist auf die stoischen Naturen zugeschnitten. Marie von Brunnow war keine Stoikerin, ihr war das Schwerste gar nicht schwer; indem sie sich hingab, lebte sie sich aus, im Tragen und Entbehren für andere genoß sie ihre höchsten 14 Daseinswonnen. Bei aller Liebe zu den Schwachen und Enterbten war ihr jedoch die Sucht gewisser Humanitätsapostel nach ungelüfteten Stuben und dem dumpfen Dunstkreis der geistig Armen und Verwahrlosten völlig unbekannt. Diese hatten wohl jeden Anspruch an ihr tatglühendes Herz, aber zum eigenen seelischen Gegenüber wollte sie nur die höchste Auslese der Menschheit; die Geistesgrößen aller Zeiten holte sie sich zum vertrauten täglichen Umgang heran, und diese waren es, die sie so jung und lebenquellend erhielten.

»Es war einmal ein frommer Held,
Der sich Aeneas nannte,
Aus Troja nahm er 's Fersengeld,
Als man die Stadt verbrannte –«

Wer sollte glauben, daß diese Verse in einem empfänglichen Kinderherzen eine heilige Andacht für das Griechentum zu erwecken vermochten, die sich später auf die Nachkommenschaft vererbte! Großvater Brunnow, der nicht schwer mit klassischem Gepäck belastet war, ergötzte sich höchlich an der Blumauerschen Aeneis und führte sie beständig im Munde. Die heranwachsende Tochter spitzte die Ohren und hinter der Trivialität, die uns heute nicht einmal mehr ergötzlich anmutet, ahnte sie die Erhabenheit des Gegenstandes. Auf diesem Wege kam sie zu der Ilias, die sie uns Kindern schon mit 15 ihrer mütterlichen Milch eingegeben hat. Der Fall beweist, welch leiser Berührung es nur bedarf, um Verwandtes Verwandtem zuzuführen.

Jedoch so weit sind wir noch nicht. Ich muß noch einmal auf einen Zug in ihrer Mädchenzeit zurückkommen, der mehr von ihr aussagt als jedes Prädikat, das sich für sie erdenken läßt. Sie liebte ihren Vater herzlich, und es tat ihr in der Seele leid, daß er ein Geheimnis vor ihr verbarg, das für sie keines war. Der alte, seit lange verwitwete Herr ließ irgendwo in der Nähe einen kleinen unehelichen Sprößling aufziehen. Liebend gerne hätte sie das Brüderchen, das eine ehemalige Magd des Hauses geboren hatte, bei sich gehabt, aber Ehrfurcht vor dem Vater hinderte sie, den Wunsch auszusprechen, und das war gut, denn der alte Baron hätte das Kind trotz seiner Weitherzigkeit schwerlich anerkannt. Nach seinem Tode ging sie und holte sich den Knaben, pflegte ihn mit Josephinens Hilfe und erklärte ihn vor aller Welt als ihren Halbbruder. Daß man dem plötzlichen Auftauchen eines Kindes im Hause des elternlosen Freifräuleins auch eine andere Deutung hätte geben können, fiel ihr gar nicht ein. Daß es nicht geschah, weil niemand ihr eine Verstellung zutraute, war vielleicht ebenso merkwürdig. Sie brachte das Brüderchen noch mit in die Ehe und betrübte sich, als sie es schließlich seiner Mutter überlassen mußte, die sich nach Amerika verheiratete und den Knaben mitnahm.

16 Was ich von ihren Ehejahren wußte und von allen Kämpfen und Leiden, die sie unerschütterlich tapfer mit ihrem Dichter, der ja auch ihr politischer Glaubensgenosse war, getragen hat, habe ich schon mehrfach erzählt. Statt aller Wiederholungen stehe hier ein Auszug aus einem Brief, den sie in der überschweren Kirchheimer Zeit der Pfarrerin Mohr de Silva, einer Mutterschwester meines Vaters, geschrieben hat und der mir von einem Urenkel der Empfängerin zur Verfügung gestellt worden ist. Nach einem Klagelied, daß wieder einmal alle ihre Kinder schwer krank gewesen, fährt sie fort: »Du bist gar zu freundlich, daß Du mein bißchen poetisches Talent, meine Liebe zur Schulmeisterei bei meinen Kindern so hoch anschlägst, was ist das im Vergleich zu dem, was mir vom Schicksal geworden. Es ist wenig, was ich dagegen bieten kann, daß mir der genialste Mann geworden, aus dessen reichem Geist ich ewig schöpfen kann, ohne ihn auszuschöpfen, der mich selbst emporhebt, von dem ich das Licht empfange wie der Planet von der Sonne. Was sind alle Nahrungssorgen im Vergleich zu diesem Bewußtsein? Ich würde nicht gegen das glänzendste Los einer andern meine stolze Armut tauschen. Nicht weniger glücklich bin ich in meinen Kindern. Die beiden Ältesten befriedigen das ehrgeizigste Mutterherz. Edgar ist ganz sein Vater, er studiert den ganzen Tag für sich selbst. Bis zum Herbst hatte ich ihn noch in keine 17 Schule geschickt – sein Eifer kam meiner geringen Kenntnis in der lateinischen Sprache zu Hilfe, wir lernten beide miteinander, und als ich ihn in die hiesige Schule tat, weil ich doch fürchtete, daß er zurückbleiben könnte, mußte er in eine Klasse zu zwei und drei Jahre älteren Knaben getan werden. Inzwischen hat er für sich allein, oder unter ganz geringer Nachhilfe von Hermann, der natürlich keine Zeit dazu hat, das Griechische begonnen und liest bereits alles viel besser als ich, obgleich ich mir auch Mühe gebe, diese schwere Sprache noch ein wenig verstehen zu lernen. Auch Isolde ist schon sehr weit im Lateinischen, ebenso im Französischen und Italienischen. Ihr Haupttalent ist das Zeichnen. Von Alfred, dem drittältesten Kind, kann ich nicht so viel rühmen. Er ist ein wilder unartiger Bube, aber unendlich gutmütig und hat einen sehr geraden, edlen Charakter. Er lernt leicht, aber es ist nicht seine Passion. Dagegen scheint Erwin ganz seinem älteren Bruder ähnlich zu werden. Von GaribaldiIhr 1860 geborener Jüngster, dem sie den Namen ihres Lieblingshelden gegeben hatte, mit Einwilligung des Vaters, der den Namen für einen langobardischen (von Ger = Wurfspieß und bald = kühn) erklärte. läßt sich natürlich bis jetzt bloß sagen, daß er ein herzliebes Kind ist. – – – – Uhlands Tod hat Hermann natürlich tief 18 geschmerzt. – Was aus uns wird, wenn die Parze den Faden abgeschnitten, wer vermag's zu sagen? Die Wissenschaft kann es nicht mit absolut mathematischer Gewißheit behaupten, daß mit dem Tode alles aus sei, aber der überlieferte Glaube vermag noch viel weniger Gewähr von dem Gegenteil zu geben. Gewiß ist nur eins, daß in dem großen Haushalt der Natur nichts verlorengeht; wo jedes Atom unseres Körpers und des großen Weltkörpers seine Verwendung findet, wird auch jenes geistige Fluidum, das in uns ist, nicht spurlos verduften. –«

In diesem Brief ist jede Zeile bezeichnend für die Schreiberin, eine jede belichtet eine besondere Seite ihres Wesens. Zuerst die Schilderung der Unpäßlichkeiten in der Kinderstube, die ihrer übertriebenen Mutterangst wie lauter schwere, lebenbedrohende Krankheiten erscheinen – die näheren Freunde pflegten drei Viertel von solchen Mitteilungen abzuziehen. Dann die große Bescheidenheit, mit der sie von ihren eigenen Gaben spricht und die ihr durchaus ernst war, im Gegensatz zu dem maßlosen Mutterehrgeiz, der bei jeder Gelegenheit in Jubelhymnen ausbrach. Was die Schreiberin als Gattin war, zeigt sich in der fast religiösen Andacht, mit der sie zu ihrem Dichter emporsah, und in dem tiefen Dankgefühl, einen solchen Mann zu besitzen. Und was könnte die niemals klagende Hausfrau besser bezeichnen als die Leichtigkeit, mit der sie über materielle Sorgen 19 weggleitet, die eine andere völlig zu Boden gezogen hätten. Was sie über die Fortschritte ihrer Kinder berichtet, muß natürlich mit einem Körnchen Salz genossen werden. Wenn ein zehnjähriger Knabe, der seit ein paar Wochen das Griechische auf eigene Hand betreibt, bereits »alles« lesen kann, so bedeutet »alles« die Übungsstückchen der Grammatik. Nicht viel anders war es mit den fremdsprachlichen Leistungen des neunjährigen Töchterleins bestellt. Mein Unterricht, von dem sie in dem angezogenen Brief erzählt, hatte übrigens nichts mit dem gemein, was man sonst unter diesem Worte begreift. Sie übermittelte nichts Fertiges, Durchgearbeitetes, keine errungenen Überblicke, denn solche hatte sie zur Zeit noch nicht. Sie öffnete nur Türen ins Reich des Geistes, wo wir alsdann gemeinsam unsre Entdeckungen machten, denn wir waren beide Kinder. Und wie drollig ging es oft in diesen Stunden zu. Wie sie mir dabei in endloser Bemühung die allzuüppigen Haare kämmte, habe ich schon anderwärts erzählt. Jetzt aber steigt eine geweißte Kammer in Kirchheim in meiner Erinnerung auf, wo wir in den Morgenstunden über der lateinischen Grammatik zu sitzen pflegten. Wir kamen eben an die große Lehre vom Akkusativ cum Infinitiv, wofür als Beispiel das Sätzchen aufgegeben war: »Als Hannibal neun Jahre alt war, ließ ihn sein Vater Hamilkar schwören, daß er die Römer ewig hassen wolle.« Da sagte der 20 große Kindskopf in plötzlicher Begeisterung zu dem kleinen: »Kind, du bist jetzt gerade so alt wie damals Hannibal. Schwöre mir, daß du die Preußen ewig hassen willst.« Das fiel mir leicht, denn sie hatte mir von den Preußen, in denen sie nur die Werkzeuge der Unterdrückung ihrer Achtundvierziger Ideale sah, ein wenig schmeichelhaftes Bild entworfen. Dann aber mußte ich den ganzen Schwur ins Lateinische übersetzen, eine kitzliche Sache, von der sie mir kein Jota erließ. Wenn ich ihr in späteren Jahren einmal scherzweise den lateinischen Satz von dazumal wieder vorsagte, so behauptete sie stets, ich hätte diese Geschichte erfunden, um sie zu necken; ein Beweis, wie sie mit mir zusammen darüber hinausgewachsen war. Denn sie war niemals älter als ich, deshalb wechselte die Rolle von Mutter und Kind beständig zwischen uns hin und her.

Dasselbe Wesen aber, dessen Kindersinn sich auf den Pfaden der Erde oft so seltsam ausnahm, wandelte sicheren Fußes auf den Wolkenstegen der Philosophie. Die Frage, die sie bei Uhlands Sterben aufwarf, beschäftigte unablässig ihr Denken und ihr Dichten:

Wir sind Gedanken Gottes, Fleisch geworden,
Um den zu denken, dem wir sind entsprossen,
Sind Strahlen ewigen Lichtes, ausgegossen,
Um einzudringen durch verschlossene Pforten. 21

Sein Denken machte uns zu Lebewesen,
Und unsres wäre unfruchtbar gewesen?
Und hinterm dunklen Schleier der Natur,
Da wirkte ewig Unbewußtes nur?

Die einzigen Wesen wären wir, die denken?
Die Teile stünden höher als das Ganze?
Und unser Los: nach kurzem Narrentanze
Sich unaufhörlich in die Gruft zu senken?

Wir kennen Zwecke. Zwecklos war das All?
Die Harmonie der Sphären leerer Schall?
Der Drang nach Wissen, edler Geister Streben,
Verwehete mit diesem flüchtigen Leben?

Die Frage: Gibt es ein Fortleben? zieht sich mehr als ein halbes Jahrhundert lang durch fast alle ihre Gedichte. In einem, das sie »Bald so, bald so« betitelt hat, bekennt sie, weder beim Ja noch beim Nein beharren zu können. Dem beruhigten, selbstgefälligen Kirchengänger gegenüber war sie eine Ungläubige und nannte sich auch immer so. In ihrem tiefsten Inneren aber, das nur durch dichterische Ergießung zutage trat, hat sie stets hinter dem flüchtigen Schein ein ewiges Sein gesucht. Unter dem Motto: »Ist Er oder ist Er nicht?« ruft sie einmal verzweifelt aus: »O wenn du bist, warum dich so verstecken / Im Faltenmantel deiner Grausamkeit?« Die Angel, um die ihr 22 philosophisches Denken sich am liebsten drehte, war jedoch seltsamerweise das Warum, eine Frage, die ich nicht recht begreifen konnte, weil es ja selbst für das alleralltäglichste menschliche Warum keine sichere Antwort zu geben pflegt. In einem ihrer Gedichte sagt sie:

Es pocht der Mensch seit Tausenden von Jahren
Vergeblich stets an die verschlossene Tür.
Den Grund des Seienden nie zu erfahren,
Von allen Übeln deucht's das schlimmste mir.

Ein andermal gibt sie sich selber Antwort:

Laß die unlösbare Frage
Über das Warum, Wohin!
Deine Losung: Dulde, trage!
Nimm sie ohne Murren hin.

Ein Trost ist dir ja geblieben
Auf der dornenvollen Bahn:
Dich zu mühn für deine Lieben,
Denn die Arbeit ist kein Wahn.

Balsam ist sie mancher Wunde,
Die nicht heilen kann die Zeit,
Bis dir beut die Todesstunde
Wohlverdientes Feierkleid.

23 Wie ist sie diesem Mahnruf an sich selber nachgekommen in lebenslanger Treue und Gewissenhaftigkeit! Wie hat sie fort und fort neben den Mutterpflichten noch die häuslichen Obliegenheiten, zu denen sie weder geeignet noch erzogen war, verrichtet! Wie geizte sie gegen sich selbst, um gegen die andern freigebig bis zur Verschwendung zu sein. Nicht nur daß sie den Bedürftigen weit über ihre Mittel half, sie suchte auch jedem, der in ihre Nähe kam, irgendein Vergnügen zu verschaffen, während sie sich selber keines gönnte. Wenn sie aber einmal dazu gezwungen war – denn anders ging es nicht –, so schwoll ihre Wonne bis zum Himmel. Die Tübinger Schmiere, »Sommertheater« genannt, besuchte sie ein einziges Mal. Man gab die »Schöne Helena«, sie war außer sich vor Entzücken. Die homerischen Griechen, zwar parodiert, aber immer noch die Griechen! Und dazu diese strahlenden Melodien! Ihr langes Leben hindurch währte der Nachgenuß; immer wieder hörte man sie singen: »Ich bin Menelaus, der gute, laus der gute.« – Gesegnet seien die wenigen, die diese Kinderseele auf ihrer schweren Erdenbahn gelegentlich zu solchen kleinen Freuden genötigt haben! »Sie ist ein Luftballon«, sagte mir einmal Paul Heyse; »was auch sei, gleich steigt sie wieder in die Lüfte.« – Ja, muß ich hinzufügen, und man konnte ihr das Schwerste auflegen, sie nahm alles mit sich zur Höhe.

24 Ihre dienende, demütige Liebe für den Mann, an den sie niemals die kleinste Gegenforderung gestellt hat, wie könnte ich sie besser schildern als mit ihren eigenen Worten? In einem ergreifenden Erinnerungsgedicht, am 30. November (seinem Geburtstag) 1879 in Florenz niedergeschrieben, läßt sie sein Leben noch einmal an sich vorüberziehen und schildert dann sich selbst, wie sie in Tübingen hundertmal die Straße zum Schloß hinaufgestiegen ist:

In der glühend heißen Mittagssonne,
Seine Mahlzeit dem Geliebten bringend,
Glücklich schon, ein kleines Viertelstündchen
Seiner Bücherwelt ihn zu entreißen.
Wieder klopf ich an der hintern Pforte
Schüchtern an und rufe seinen Namen.
Wie, wenn alles nur ein Traum gewesen,
Diese fünf so schweren Trennungsjahre,
Wenn sein liebes Antlitz sich mir zeigte,
Wenn er freundlich mir vom Fenster winkte:
Wart, ich komme schon zum Plauderstündchen –
Und mich durch die langen Säle führte,
Da und dort ein Buch herunterlangend,
Mir zur Einsicht mit der ernsten Mahnung,
Ja ihm keine Unordnung zu machen –
Denn er pflegte jene Geistesschätze
Wie ihm anvertraute liebe Menschen.
Ach, ich höre nicht die liebe Stimme,
Fremde walten hier an seiner Stelle. 25
Wohl erblick ich die geliebten Züge,
Aber ernst und kalt in Geisterblässe,
Wie des Künstlers Hand sie nachgebildet,
Und mein schöner Traum ist nun verflogen.
Angezogen von Erinnerungen,
Die ich als die liebsten und die schönsten
Meines langen Lebens mit mir trage,
Such ich nun das schmale Haus am Markte,
Schleiche leis die dunkle Treppe aufwärts,
Wandle durch die Zimmer, wo so lange
Ich im festgeschloßnen Kreis gewaltet,
Wo emporgewachsen mir die Kinder,
Wo aus Knaben fröhliche Studenten,
Aus dem Kind die holde Jungfrau worden.
Schöne Zeit, du seist im Geist gegrüßet.
Doch nun höher noch, noch ein paar Stufen
Und ich trete in das Dichterstübchen.
Dort der Pult, vor dem er lange Jahre
Bis zur stillen Mitternacht gestanden,
Schätze seines Geistes niederlegend,
Oft auch nach dem alten Rathaus blickend,
Wo der Storch, der traute Frühlingsbote,
Zu dem alten Nest zurückgekehret.
Auch den Stuhl dort darf ich wiederfinden,
Drin er oft geruht in wachen Träumen,
Bis die Mitternacht ihn still beschlichen
Und das Gold, das ihm im Glase perlte,
Bis zum letzten Tropfen ausgetrunken.
Schau mich selber jetzt zu seinen Füßen, 26
Meinen Kopf in seinem Schoße bergend.
Ernste Worte hatten wir gesprochen
Von dem unlösbaren Weltenrätsel
Und der Ahnung, die oft leis sich reget,
Daß der schrille Mißton dieses Lebens
Einst in ewige Harmonie sich löse.
Zagend trifft mein Auge nun die Stelle
– Jenes Bett, den »eignen Grund und Boden«Anspielung auf das Gedicht meines Vaters »Mein Bett«,
Das den letzten seiner Seufzer aufnahm.
Weinend knie ich nieder und umfasse
Mit den Armen die verlassene Stätte,
Drauf der Tote einst so friedlich ruhte,
Als der heiße Kampf war ausgekämpfet
Und das große edle Herz zersprungen.

Nachdem sie noch von seinem Grabe Abschied genommen und die »heilige Erde« geküßt, »Die mit seinem Staub sich nun vermengt hat«, eilt ihr Geist wieder südwärts:

                                    um die kurze
Spanne Zeit, die ich zu leben habe,
In der Kinder Anschaun, für sie sorgend,
Dein gedenkend, friedlich zu vollenden.

Denen, die aus mißverstandenen Stellen meiner Lebenserinnerungen glaubten, dieser edlen Frau den 27 Beruf zur Dichtergattin absprechen zu sollen, möchte ich angesichts der obigen Zeilen und des Briefes an die Pfarrerin Mohr die Frage vorlegen, ob es nach ihrer Meinung für den schaffenden Genius wesentlicher ist, einen behäbig bürgerlichen Alltag um sich zu haben und immer die Pantoffeln am rechten Platze zu finden, oder einer geflügelten Seele gepaart zu sein, die ihn niemals durch Erdenschwere niederzieht und aller Verkennung und Verfolgung ihren nicht zu beirrenden Glauben und eine unzerstörbare Freude entgegengesetzt? Meine Mutter hat ihrem Gatten die Freiheit seiner Junggesellentage und sein tragisches Dichterrecht, ein Einsamer zu sein, gewahrt, ohne daß er in einer kalten Welt allein zu stehen brauchte. Er lebte also gemäß den Gesetzen seiner Natur und seines Schaffens. Dagegen fällt es nicht ins Gewicht, wenn das kleine Pulverfaß an seiner Seite gelegentlich mit ihren etwas kindlichen ultraradikalen Glaubenssätzen gegen seine gemäßigtere Denkart aufflammte. Eine so starke Natur kann sich wohl liebend opfern, ihr Denken und Meinen auslöschen kann sie nicht. Auch war es ja gar nicht Er mit der überverletzlichen Anlage, der die Stöße ihres unberechenbaren Temperaments aufzufangen und abzulenken bekam. Um das zu können und nicht zerrieben zu werden, mußte man jünger sein als sie und einen Gran von ihrem eigenen Stoffe in sich haben. Also fiel dieses Amt der Tochter zu, die schon bei der 28 Geburt den schwierigen Auftrag empfangen und verstanden hatte.

Ebenso verkehrt war es freilich, wenn andere besorgte Leser vielmehr an dem Dichter Ärgernis nahmen, weil er, statt als guter Hausvater ordnungsgemäß die Mahlzeit mit den Seinigen zu teilen, lieber mit den Geburten seines Geistes allein blieb. Der Schaffende, der mit tragischen Stoffen ringt, kann nicht mitten im Sturm seiner Seele mit dem Glockenschlag wie der Bürobeamte die Feder niederlegen und den Suppenlöffel ergreifen, um nach vollendeter Mahlzeit und Verdauung gemütsruhig am angefangenen Satze weiterzuschreiben. Tut er es doch, so wird er gewiß durch solche Regelmäßigkeit die Zahl seiner Werke vermehren, nicht aber deren Wert und Dauer.

Als mein Vater am 10. Oktober 1873 ganz plötzlich starb, glaubte ich, daß dieser Schlag auch ihr Leben mitreißen müsse; die bebende Angst, mit der sie an ihren lebenden Geliebten hing, ließ alle, die sie kannten, das gleiche fürchten. Damals erlebte ich die erste große Überraschung an ihr. Mit höchster Fassung stand sie an seiner Leiche. So groß war ihre Ruhe, daß es zunächst schien, sie habe ihren Verlust gar nicht begriffen. Gewiß war es der Zwang, sich zusammenzureißen, gleich vom Totenbette des Gatten weg an das Lager des herzkranken jüngsten Sohnes zu eilen. Aber ihre Stärke verließ sie auch in den Folgetagen nicht. Wenn sonst 29 bei einem plötzlichen Sterben die Übriggebliebenen an Wert zu verlieren scheinen, weil das Herz sich ganz an den Geschiedenen klammert, so verteilte sie die freigewordene Fürsorge augenblicklich auf die Lebenden; nicht einmal der Kanarienvogel wurde vergessen. Damals vollbrachte sie zuerst das Liebeswunder, das sich leider noch dreimal in ihrem leidvollen Leben wiederholen sollte: einen Schmerz in seiner ganzen Größe zu fassen, tief in sich hereinzuziehen und festzuhalten, ihn mit den reinsten Säften ihres Inneren zu entgiften und ihn in eine Schönheit, eine höhere Freude umzuwandeln. Ihre glühende Treue machte den Tod zunichte durch die unbezwingbare Lebenskraft in ihr selbst. Ihr war der geliebte Mann nur körperlich unsichtbar geworden, damit sie ihn sicherer und freudiger lieben durfte, weil ihn kein Leid mehr anhauchen und keine Gefahr mehr erreichen konnte. Nach der Bestattung wurde ihre Liebe zum Gottesdienst. Davon zeugt ihr poetisches Tagebuch, worin für eine Reihe von Jahren Blatt um Blatt ihm gewidmet ist. Ein dichterisches Zwiegespräch mit dem Toten, so innig und so edel, von keinem Auge je gesehen und auch mir, vor der sie kein Geheimnis hatte, nur als Vermächtnis hinterlassen, daß ich mich fast scheue, daran zu rühren. Nur ein paar kleinere Proben sollen hier stehen, um den Weg zu bezeichnen, auf dem sie sich zur Ruhe sang. 30

  Der Winter im Herzen

Mein Winter ist kommen
Mit schauriger Macht,
Mein Licht ist verglommen.
In trauriger Nacht
Erscheinen die Gäste,
Die immer ich rief,
Sie setzen sich feste
Im Herzen so tief.
Wohl sind es Vampyre,
Sie saugen mein Blut,
Nicht weis ich die Türe
Der höllischen Brut.
Ich bin so verlassen,
Sie bleiben mir treu,
Sie greifen und fassen
Mich immer aufs neu.
Ich bin euch verfallen.
Du nagende Pein,
Du sollst mir vor allen
Bald Trösterin sein.
Wohlauf denn, ihr Schmerzen,
Zum täglichen Schmaus!
Wann löscht ihr die Kerzen
Des Lebens mir aus?

Sie rang damals noch mit der Selbstqual, die jeder Bahre folgt, als hätte sie, abgezogen von der Sorge 31 für die Kinder, nicht genug für ihn getan, die nie für sich selber lebte. Und doch hatte sie gerade das Beste für ihn getan, indem sie sich selbst die Stunden des Zusammenseins verkürzte, um alle Last auf die eigenen Schultern zu laden, die sonst von Eltern gemeinsam getragen wird.

Im März 1875 schreibt sie:

            Resignation

Du bist von mir gegangen
Nach dunklem Schicksalsschluß,
Eh ich von dir empfangen
Den letzten Abschiedskuß.
Dies plötzliche Verlassen,
Dies tödliche Erblassen,
Noch kann ich es nicht fassen
Das fürchterliche Muß.

Wo ist ein Trost zu finden
Für ein verblutend Herz,
Das nicht kann überwinden
Den namenlosen Schmerz?
Ich seh in heilige Hallen
Der Gläubigen Scharen wallen
Und fromm dort niederfallen,
Die Blicke himmelwärts.

Aus Himmelsharmonieen
Herab der Friede sinkt,
Die Erdeschmerzen fliehen,
Die ewige Hoffnung winkt.
Mir winkt sie nicht, die Schwelle,
Wo sprudelt jene Quelle,
Die nur dem Herzen helle,
Dem Geiste trübe blinkt.

Denn ahn ich auch ein Walten
Von einer höhren Macht,
Den Stab um mich zu halten
Im Todesgraun der Nacht,
Ihn hab ich nicht gefunden,
Noch haben gute Stunden
Für meine tiefen Wunden
Den Balsam mir gebracht.

Des Daseins bange Fragen
Unlösbar ewig sind,
Des Schmerzes bittre Klagen
Verhallen in dem Wind.
Wen solche Blitze trafen,
Dem winket nur ein Hafen,
Wo alle Müden schlafen,
Gebettet sanft und lind.

Aber schon am 8. des gleichen Monats fallen helle Strahlen in das Dunkel: 33

    Die Lieb ist stärker als der Tod

Nacht ist in mir, kein Stern erhellt
Mit seinen Strahlen meine Welt.
Die Freuden liegen in der Truh,
Ein schwarzes Bahrtuch deckt sie zu.

Wohin ich auch mich wenden will,
Es ist so traurig, öd und still.
Ein Friedhof scheint die Welt zu sein,
Mein Ruhebett ein Leichenstein.

Sonst hört ich manches Freundeswort,
Jetzt sind die Freunde alle fort.
Und mancher, dem ich herzlich bot
Die Hand, ist mir lebendig tot.

Es ist der Schmerz ein Eremit,
Almosen gibt man wohl ihm mit,
Doch spärlich nur, und im Beginn,
Bald ändert sich der Menschen Sinn.

Sie stürzen sich ins Weltgewühl,
Sie schwelgen auf dem weichen Pfühl,
Sie lassen ihn vereinsamt stehn,
Im tiefen Dunkel muß er gehn. 34

Umhülle mich denn, Mitternacht!
Doch sieh, ein Lichtlein ist entfacht
In meines Herzens tiefstem Schrein,
Aufstrahlend jetzt wie Sternenschein!

O flamme fort, du heilige Glut,
In dir mein einzig Hoffen ruht.
Du hast das Dunkel mir erhellt,
Du hast mich auf mich selbst gestellt.

Was brauch ich Welt und Menschen noch?
Die beßre Welt blieb mir ja doch.
Dein Glanz umstrahlt mich aus der Fern,
Erinnerung, du schöner Stern.

Du gibst mir Ihn, der Augen Licht,
Sein schönes liebes Angesicht.
Ich seh es – ja, der Lippen Hauch,
Den Druck der Hand, ich fühl ihn auch.

Die Lieb ist stärker als der Tod,
Sie schafft aus Nacht ein Morgenrot,
Das Wörtlein Ewig sie erfand
Und übers Grab reicht sie die Hand.

Im April heißt es bereits:

Du bist nicht tot, ich fühle deine Nähe.
Dein Bild taucht vor mir auf; wohin ich sehe,
Trifft mich der blauen Augen milder Strahl. 35
Ich sehe dich des Nachts auf leisen Sohlen
Einhergehn, nach den Lieben spähn verstohlen,
Wie du getan im Leben tausendmal.

Ich breite meine Arme dir entgegen,
Laß an dein Herz mein müdes Haupt mich legen,
Noch einmal den geliebten Leib umfahn.
Du lächelst, doch du deutest im Verschwinden
Dahin, wo du für ewig bist zu finden,
Wo dein Erscheinen nicht ein bloßer Wahn.

Vor mir sind deine Werke aufgeschlagen,
Was wollen mir die toten Lettern sagen?
Wie Geisterflüstern tönt es um mich her.
Sie sind nicht tot! Ich seh sie sich entfalten
Zu lebenden, zu herrlichen Gestalten,
Von Tönen wogt es um mich wie ein Meer.

Ich fühle deine süßen Harmonieen
Trostsäuselnd durch die bange Seele ziehen
Und deinen hohen Geist ins Wort gebannt.
Ob tot die Hand, so ist doch nicht verklungen
Dein Saitenspiel, du sprichst mit tausend Zungen
Und reichst herüber mir die GeisterhandAnspielung auf eine Stelle in dem Gedicht »Widmung« von Hermann Kurz.

Jetzt ist der Sieg errungen. Von nun an werden andere Töne angestimmt »und freudevollere«. Im 36 Herbst desselben Jahres 1875 ist ein anmutiges Gedicht »Am Mummelsee« entstanden im Anschluß an eine Wanderung, die wir gemeinsam dorthin machten. Der beschwingte Rhythmus seiner Strophen klingt bewußt und jubelnd in ein Jugendgedicht meines Vaters ein, und die romantischen Gestalten der »Heimatjahre«, Laura mit ihrem Zigeuner und seinem Nebenbuhler Heinrich Roller, erscheinen ihr im Kahne schaukelnd auf dem dunklen See.

Rätselhaft ist mir, wann und wo diese Gedichte entstanden sind, da die Verfasserin ihre Nächte am Krankenbette des Sohnes und die Tage in tausenderlei Kämpfen und Mühsal verbrachte, dazu auch keinen eigenen Raum, ja nicht einmal ein eigenes Schreibzeug – sie hatte und wollte keinerlei Eigentum! – besaß. Noch viel weniger begreife ich, wo sie bei ihrem Naturell, das in beständigem Auspuff leben mußte, die stille, gleichmäßige Versenkung hernahm, die dazu nötig war. Freilich verfolgte sie mit ihrem Dichten, das ihr wie von selber quoll, keine künstlerische Absicht: über Wortwahl, Versbau, Taktschritt und dergleichen hat sie bei sich und anderen niemals nachgesonnen. Sie sang wie der Vogel singt, unmittelbar ihre Seele in die geprägte Form hinströmend, denn sie hatte nur den Drang, die Wunden ausbluten zu lassen, damit sie rein blieben, und stille, von niemand gesehene Totenopfer anzuzünden. Sie schrieb nieder, was ihr eingegeben wurde, zuweilen mit Absicht in Verse 37 meines Vaters einhakend, später auch in solche von mir, feilte nicht und hat selber in ihrer Unbewußtheit zwischen dem Besten und dem Mindergelungenen wohl keinen Unterschied gemacht. Und auch ich muß, indem ich versuche, sie selbst ihr Leben schildern zu lassen, bei der Auswahl weniger vom künstlerischen als vom menschlichen Gesichtspunkt ausgehen und der Dichterin die Lebensstreiterin und Siegerin voranstellen.

Hier möge noch ein Sonett an Mörike seine Stätte finden, das sie ihm ein halbes Jahr nach meines Vaters Tod mit seinem Bildnis zusandte, um dem überlebenden Freunde den Stachel aus der Seele zu nehmen, daß er dem einst so warm umfaßten Dichtergenossen ein ganzes Menschenleben hindurch ferne geblieben war, eines unwesentlichen Streites wegen, an dessen Anlaß sich später keiner der beiden mehr erinnerte. Vorangegangen war ein Besuch von mir bei Mörike, wo dieser mir in tiefer Ergriffenheit seine Grüße an das frische Grab aufgetragen hatte. Ich habe das Gedicht erst jetzt in den Papieren meiner Mutter entdeckt. Mörikes Antwort ist leider nicht aufgefunden, wahrscheinlich hat der schreibunlustige Dichter, der jeden Brief als eine bedrückende Aufgabe empfand, den Dank auf eine persönliche Begegnung verschoben.

Die Augen, die der Muse Glanz umflossen,
Auf die sie ihren Götterkuß gedrückt 38
Und ihren reichsten Segen ausgegossen,
Der Seele Spiegel, drin du einst erblickt

Und froh geahnt den würdigen Genossen,
Der sich der Hesperiden Frucht gepflückt,
Sie sind auf ewig jetzt im Tod geschlossen,
Sie sind uns in des Grabes Nacht entrückt.

Das Auge brach. Die Lieb kann nicht zerstieben,
Die Dichterseele fühlt ihr leises Wehn.
Sie ist im Liede ewig dir geblieben.

Sie spricht zu dir aus diesem stummen Munde,
Du wirst ihn Geisterworte flüstern sehn.
Er fand Orplid, er bringt dir davon Kunde.

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