Isolde Kurz
Aus meinem Jugendland
Isolde Kurz

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Letzte Tage in der Heimat

Während meiner letzten Münchner Wochen rüstete sich Tübingen zur Vierhundertjahrfeier der Gründung seiner Universität durch den Herzog Eberhard von Württemberg, und die akademische Bürgerschaft plante einen großen historischen Festzug, bei dem von vornherein auf meine Teilnahme gerechnet war. Auf dem prunkvollsten der Wagen, der den Stifter der Universität samt seinen Räten trug, sollte ganz vorn die Muse als Lenkerin des Gespannes stehen, und dieser Teil des Festplans, der bei den steilen, holprigen Gassen Tübingens zu anderen Eignungen auch sportliche Sicherheit erforderte, war in der Tat ohne meine Mitwirkung nicht auszuführen. Meine Mutter übermittelte mir brieflich die Bitte der Professoren- und Studentenschaft, daß ich zu der Feier nach Tübingen komme und die Rolle der Muse übernehme. Ich verspürte zuerst wenig Neigung dazu, denn ich betrachtete meinen Abgang aus Tübingen infolge der mißlungenen Werbearbeit für das Damenschwimmen doch als eine Art Scherbengericht, und es wurde mir einigermaßen coriolanisch zumute, daß mich nun die Vaterstadt in der Not durch meine Volumnia zurückrief. Der plötzliche Entschluß, mit nach Italien zu übersiedeln, machte jedoch meine vorherige Rückkehr nach Hause notwendig. Und kaum war ich in Tübingen, so erschien im Auftrag des Ausschusses Professor Leibniz, der akademische Zeichenlehrer, der, wie ich glaube, die künstlerischen Entwürfe für den Festzug gemacht hatte, und stellte mir vor, daß ich doch nicht die Unschuldigen mit den Schuldigen bestrafen und um weniger Übelgesinnter willen den schönsten Teil des Festzuges zunichte machen dürfe, bis ich mich umstimmen ließ und Ja sagte. Die Gewandung 254 lieferte das Stuttgarter Hoftheater, das auch an dem großen Tage eine Garderobiere herüberschickte, um mich anzukleiden. Ihre Auffassung von einem griechischen Gewand war allerdings von der meinigen so verschieden, daß mir die weiße Tunika noch am Leibe völlig aufgetrennt und umgeheftet werden mußte. Der breite Messinggürtel mit den künstlichen Edelsteinen hatte zu meinem bleichen Schrecken eine lange Schnebbe! Da blieb nichts übrig, als ihn umzukehren und die Schnebbe nach oben zu richten, was, wenn auch nicht einer antiken, doch allenfalls einer Renaissancemuse ähnlich sah. Das geschah unter dem Widerspruch der Garderobiere, die versicherte, alle Iphigenien trügen einen Schnebbenleib. Ein langer blauer Peplos, der an den Schultern befestigt wurde, verdeckte, was noch stilwidrig war, und die Haare schmückte ein Kranz von Lorbeer. So angetan, erstieg die Muse ihren Vorderplatz auf dem hochgetürmten Wagen und ergriff die Rosenzügel. Vier gewaltige Grauschimmel, von Pagen geführt, zogen das schwere Fuhrwerk. Auf dem Hochsitz hinter mir thronte der Fürst mit seinem Gefolge, eine jugendliche Schülergruppe kauerte zu meinen Füßen. Die Muse war die einzige, die völlig frei stand, und es bedurfte in der Tat aller Aufmerksamkeit, in der hügligen Stadt das Gleichgewicht zu bewahren, besonders als es die damals noch jäh abfallende Neckarstraße hinunterging. So kam es, daß ich am Ende von dem berühmten Festzug, an dem mir eine Hauptrolle zugefallen war, nichts gesehen hatte als die Rücken meiner Apfelschimmel und die herzoglichen Herolde und Bannerträger, die vor meinem Wagen ritten. Den Rest des Zuges mit der Gruppe der drei Flüsse Tübingens und mit all den geschichtlichen Persönlichkeiten, den Gelehrten, Schülern, Rittern, Pagen, Mönchen, Landleuten, Flößern und so weiter lernte ich erst später aus Beschreibungen und einer rohen Zeichnung kennen; Momentaufnahmen gab es damals noch keine. Auch mitten im Festjubel blieb das Philisterium sich 255 selber gleich, denn kaum hatte ich den Fuß auf den Boden gesetzt, so beeilten sich schon geschäftige Zungen, mir neue Bosheiten zuzutragen. Aber am Nachmittag erschien die Ästhetik selbst in Gestalt Friedrich Vischers, um mir ihren warmen Glückwunsch und Beifall zu überbringen. Während draußen die Festfreude weiterlärmte, die gegen Abend in laute Trunkenheit ausartete, saß er bei Mutter und Tochter und erzählte als guter Kenner Italiens mit Begeisterung von den Dingen, die uns dort erwarteten.

An dieser Stelle sei es mir gestattet, den Manen dieses außerordentlichen Mannes für das herzliche Wohlwollen zu danken, das er mir schon von meiner frühesten Jugend zuwandte. Was er seinen Deutschen war, braucht von mir nicht gesagt zu werden. Was er mir war, kann ich ohne Ruhmredigkeit aussprechen, denn es war seine Güte, nicht mein Verdienst, wenn er mich schon als Kind zu sich heranzog. Er lud mich als Zwölfjährige mit der Mutter zum Kaffee, den er selbst braute und einschenkte, ich mußte dann neben ihm auf dem Kanapee sitzen, er ließ sich meine Zöpfe aufflechten und erzählte mir Geschichten, unter andern das ganze Märchen von den Pfahlbauern, das er später dem »Auch Einer« einverleibt hat. Wäre er länger in Tübingen geblieben, so hätte ich im Heranwachsen gegen die Anfeindungen des Philistertums einen Halt und Trost gehabt. Aber ihn selber trieb die Kleinstädterei von dannen, und er zog den Lehrstuhl an der Stuttgarter Technischen Hochschule dem der Tübinger Universität vor, weil er dort freiere Menschen, die sich in der Welt umgesehen hatten, fand. – Als ich dann in den frühen achtziger Jahren zum erstenmal aus Italien wiederkam und ihn in Stuttgart besuchen wollte, stieß mir das peinliche Versehen zu, daß ich mir die Vormittagsstunde desjenigen Wochentags, wo er ganz ungestört bleiben wollte, um sein Kolleg vorzubereiten, in der Eile als die für Besuche willkommenste aufschrieb. Erst als ich 256 die Klingel gezogen hatte und er selbst im Schlafrock mit einem Blatt Papier in der Hand mir öffnete, erkannte ich mit jähem Schrecken den Mißgriff. Er ließ mich aber durchaus nicht mehr entwischen, ich mußte sogar viel länger, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte, in der bei solchem Ruhme wahrhaft ergreifenden Einfachheit seiner Gelehrtenstube ihm gegenübersitzen, und es schien ihn gar nichts zu stören als sein Schlafrock, der ihm nicht schön genug war, denn er klagte wiederholt, daß er einen viel schöneren bestellt habe und nun zu seinem Ärger vom Schneider im Stich gelassen sei, wo er ihn doch so nötig hätte, um »einen anständigen Eindruck zu machen«. – Und jetzt reisen Sie ab, wo der neue Rock fertig ist? sagte er ein paar Tage später vorwurfsvoll. So rührend jugendlich im kleinsten wie im größten war und blieb er bis ans Ende. Ein paar Jahre später hielt ich mich abermals einige Winterwochen in Stuttgart auf, da ließ er sich in seiner ritterlichen Zuvorkommenheit nicht abhalten, mich fast täglich, trotz Wind und Wetter und trotz der nassen Füße, die der fast Achtzigjährige zu scheuen hatte, in meiner Pension zu besuchen. Wenn man die kleine, zarte, obschon zähe Gestalt sah, das geistig verfeinerte Gesicht mit der übermächtigen Stirn und dem abgeblaßten Veilchenblau der Augen, die noch gar nicht vertrocknete, fast rosige Haut, die sich fest um die abgezehrten Wangen legte, so mahnte das ganze Bild des Mannes ergreifend und beängstigend, daß dieses ausdauernde Gehäuse allmählich doch zu dünnwandig wurde für den Geist, der es bewohnte. Ich wurde schließlich so besorgt, daß ich ihm einen früheren Tag der Abreise nannte und mich selber um die mir noch zugedachte Zeit brachte, die nie mehr vergütet werden konnte, denn es war das letztemal, daß ich ihn mit Augen sah.

Er hatte den höchsten faustischen Lebensgipfel erstiegen, von dem aus sich die Verworrenheit der Dinge zu großen, übersichtlichen Gruppen gliederte. Dabei wehte aber keine 257 eisige Altersluft um ihn her, es gab kein Versteifen ins Gewohnte, kein Wiederholen des längst Gedachten. Seine Gedanken entstanden im Augenblick, wo er sie aussprach, das Neueste war ihm ebenso lieb wie das Alte, wenn es einen tüchtigen Boden hatte. Bisher war ein wundervolles Beispiel des ganz großen Deutschen, der mit leidenschaftlicher Inbrunst an der Muttererde haftet und zugleich mit dem Geist durch alle Länder schreitet. Und da er alle Register in der Gewalt hatte, so quoll er auch bei den ernstesten Gegenständen von Anekdoten, Witzen, Schnurren nur so über. Seine feinhörige Sprachmeisterschaft fühlte man in jedem Wort. Er erklärte mir auch seinen dritten Teil Faust als aus dem unwiderstehlichen Zwang entstanden, in den hüpfenden, gleitenden Reimen des zweiten Teils weiterzuwirbeln; ein warnender Wink für solche, die den Urkeim eines Gedichts immer in der Idee suchen. Er wollte jedoch nicht nur geistreich sein, er wollte helfen, wirken. Er brachte Bücher, die er liebte, beriet in literarischen Angelegenheiten. Und war dabei so menschlich-vertraulich, als ob man ihm gar keine Ehrfurcht schulde.

Zu seinem achtzigsten Geburtstag sandte ich aus Florenz einen Lorbeerkranz und eine eben aufgegangene Magnolienblüte aus dem eigenen Garten, diese nach italienischer Sitte zusammengeschnürt, damit der Duft nicht vor der Zeit entweiche. In einigen begleitenden Strophen wurde der Kranz als Sinnbild der langen Ruhmesbahn, die Blume mit den stark strömenden und verströmenden Düften als Ausdruck des höchsten ausgeschöpften Augenblicks gedeutet. Er antwortete noch mit einem Gedicht, das kurz vor seinem Tode geschrieben wurde und jedenfalls zu seinen letzten gehört, wenn es nicht das allerletzte ist. Ich weiß nicht, was ich mehr darin bewundern soll, die edle, in unserer Zeit sagenhaft anmutende Bescheidenheit oder das Selbstgefühl des seltenen Mannes, der sich bewußt ist, noch am äußersten Lebensziel alle Möglichkeiten der Weiterentwicklung in sich zu tragen: 258

Zur Blume, die des Duftes feinste Geister
Im Kelche sammelt, spendend sie entläßt,
Zum Kranze, der, ein Schmuck für größre Meister,
Den Strebenden begrüßt am Greisesfest,
Läßt du aus Dichterworten mich ersehen,
In welche Tiefen deine Blicke gehen.Für den Druck schöner verändert: Wie ganz wir uns aus Lebensgrund verstehen.

Die dumpfen Seelen, die gedankenschiefen,
Was wissen die von Ewigkeit und Zeit?
Den Zeitmoment zur Ewigkeit vertiefen,
Das ist es, ja, das gibt Unsterblichkeit.
Dazu ward Leben, das bringt Rat und Licht,
Bringt Reim ins ungereimte Weltgedicht.

Die letzte Zeile ist eine Anspielung auf den Schluß meines Gedichtes »Weltgericht«:

Das ungereimte Weltgedicht,
Nehmt's, wie es ist, und krittelt nicht.

Er hatte für dieses Gedicht eine besondere Vorliebe und pflegte es gleich nach seinem Erscheinen mit sich in der Tasche zu tragen und in Gesellschaften vorzulesen, wovon auch Ilse Frapan in ihren warmherzigen Vischererinnerungen spricht. Er nahm es in Schutz gegen die heftigen Angriffe der Scheinfrommen, die nicht imstande waren, durch den Scherz hindurch die innere Pietät zu erkennen, und er schrieb mir damals nach Italien lange, launige Episteln im gleichen Versstil und mit spaßhaften Erfindungen im Geiste des »Auch Einer«, die er mir als Zusätze vorschlug. Er sprach auch noch von einer italienischen Reise und dachte an ein Wiedersehen in Venedig, wo mir jetzt ein Bruder, der uns nachgezogene 259 Alfred, lebte. Statt dessen kam so rasch nach dem Altersfeste die erschütternde Todesbotschaft. – Nach seinem Hingang schien die Welt um vieles kälter und leerer geworden, und ich mußte lange dem Rätsel nachstaunen, wohin diese gesammelte, sich immer ergießende und sich immer erneuernde Fülle und Wärme nun mit einem Male gekommen war.

Jetzt noch einmal ins alte Tübingen zurück, wo ich Mama und Josephine beim Packen und Ausräumen half. Alle leichtbewegliche Habe wie Bücher, Bilder, Wäsche usw. sollte uns nach Italien begleiten, die schweren Gegenstände blieben stehen, voran die wertvolle Biedermeiereinrichtung aus dem Brunnowschen Hause, um von den zurückbleibenden Brüdern Alfred und Erwin nach unserer Abreise versteigert zu werden. Meine Mutter trennte sich ohne Schmerz von den alten Erbstücken, weil kein äußerer Besitz ihr das geringste galt, mir aber war es ein Abschied von lieben, unvergeßlichen Freunden meiner Jugend. Die auch in ihren Beschädigungen noch köstliche Empirestanduhr mit dem schwarzen Adler, der einen mit Goldbienen besäten blauen Mantel über dem goldenen Zifferblatt mit dem Schnabel zusammenhielt, konnte ich nie ganz verschmerzen. Wer kann wissen, wohin sie geraten ist? Alles ging zu Schleuderpreisen weg, weil damals der Wert solcher Altertümer noch gar nicht verstanden wurde. Dagegen erzielte ein weggeworfener Hut meiner Mutter (wenn sie einen wegwarf, war wirklich nichts daran zu halten) einen Liebhaberpreis: er wurde von einem »Parteigenossen« erworben und als Andenken im Triumph davongetragen, wie die Brüder später launig nach Florenz berichteten.

Edgar war unterdessen erschienen, uns zu holen und von der Heimat Abschied zu nehmen. In diese letzten Wochen fällt, wenn ich mich recht erinnere, unser tolles Haschischabenteuer, an dem auch Berta Wilhelmi teilnahm. Sie war 260 noch einmal zu Besuch nach Tübingen gekommen, jetzt ganz erwachsen und so bildschön, wie ihre Kindheit versprochen hatte. Sämtliche Brüder verliebten sich bis auf den kranken Jüngsten herunter, der sie in naivem Versgestammel feierte. Aber sie hielten durch Eifersucht einer den andern in Schach, so blieb es bei allseitiger guter Kameradschaft. Edgar war seit lange neugierig, die oft geschilderten Wirkungen des indischen Hanfs kennen zu lernen, und konnte sich als Arzt leicht eine Gabe Canabis indica verschreiben. Aber es war ein Mißstand dabei: man wußte nicht, wie gut oder schlecht das Präparat sich auf der langen Reise gehalten hatte, und davon hing doch die Wirksamkeit ab. Nach ein paar Fehlversuchen bezog er nun eine gewaltige Dosis frisch angekommenes Haschisch aus der Apotheke, und wir bestimmten die folgende Nacht zu unsrem Unternehmen. Edgar hatte ein Zimmer in dem gerade leerstehenden unteren Stockwerk inne. Berta und ich legten uns nur zum Schein schlafen; sobald alles stille war, schlichen wir zu Edgar hinunter. Ich bekam zwei Pillen, Berta eine, Alfred sollte nüchtern bleiben und die andern ärztlich überwachen; da er aber nicht ganz leer ausgehen wollte, schluckte er, was nur einem so jungen Menschen einfallen konnte, dafür eine Opiumpille, die zum Glück gar nicht wirkte. Edgar aber nahm, überkühn, wie er in allem war, die doppelte Höchstgabe Haschisch, um diesmal sicher zu gehen. Ich erwartete, auf dem Teppich hockend, in die Wunder von Tausendundeiner Nacht zu versinken, merkte aber nur, daß mein Denken sich sehr verlangsamte, und dann stiegen mir ganz abstrakte jenseitige Vorstellungen auf, wofür die Sprache keinen Ausdruck hat. Plötzlich rüttelte mich Berta und flüsterte mir zu, daß sich Edgar in einem unheimlichen Zustand befinde. Ich erhob mich völlig gelassen, als ginge mich die Sache gar nichts an, und wunderte mich doch selber über diesen Gleichmut. Edgar blickte seltsam verändert, und auf meine Frage, wie er sich fühle, antwortete er: Ich bin transferiert. Dann 261 ging er an den Tisch und machte auf dem großen Papierbogen, auf dem er seine Symptome verzeichnete, die Eintragung: Transferiert.

Jetzt kommt das Tragische, sagte er nach einer Weile mit hohler Stimme und ganz entgeisterter Miene. Keine persönliche Tragik, erklärte er, es ist das Tragische an sich, das Tragische im Abstrakten. – Sein Gesicht hatte einen bläulichen Schein, und seine braunen Haare bäumten sich über der Stirn, daß es ganz schauerlich anzusehen war. Er aber schrieb eifrig das neue Symptom nieder. Jählings wandelte sich sein Zustand aufs neue, und er rief triumphierend: Die Schwerkraft ist aufgehoben, ich kann mich ebenso leicht durch die Luft aufwärts wie abwärts bewegen. – Zur Bekräftigung sprang er auf einen Stuhl und machte seltsame Arm- und Schulterbewegungen, wie um sich durch Flügelkraft zu erheben. Als es aufwärts doch nicht ging, war er im nächsten Augenblick am offenen Fenster, das hoch auf den Marktplatz heruntersah, um es abwärts zu versuchen. Wir zwei Mädchen hingen uns an seinen einen Rockflügel, der kräftige Alfred an den andern, und als er Miene machte, sich des Rocks samt der Belastung zu entledigen, bemächtigten wir uns seiner Arme. Allmählich beruhigte er sich und bat, ihn freizulassen, da er auf der Straße Erfrischung zu finden hoffe. Alfred wurde ihm zur Begleitung aufgezwungen, der ihn nach einer peinlichen Stunde zurückbrachte; sie waren bis nach Lustnau gerannt. Ich machte inzwischen im oberen Stockwerk Mengen von Kaffee, indem ich die Kaffeemühle unter dicken Bettdecken drehte, um Mama und Balde nicht zu wecken. Haltet mich wach, laßt mich ja nicht einschlafen, war des Patienten wiederholte Mahnung; Schlaf könnte dem Hirn gefährlich werden. – Der Gang durch die Nachtluft hatte jetzt gut getan, ein Kaffee war fertig, der einen Toten erwecken konnte, wir hielten uns alle vier vollständig wach bis zum Morgen. Aber siehe da, nach einer kalten Waschung nahm Edgar seinen 262 Hut und begab sich ohne weiteres ins Klinikum, wo ein merkwürdiger Fall zu beobachten war, während Alfred sich todmüde zum Schlafen niederwarf und auch wir beiden Mädchen uns zur Ruhe legten.

Bei diesem letzten Tübinger Abenteuer ging auch Berta zum letztenmal durch unser Leben. Unter den aufständischen Zuckungen, die damals durch Spanien liefen, geschah es bald danach, daß in Granada an Stelle des abgesetzten Gouverneurs das schönste Mädchen der Stadt bei einem großen Stiergefechte den Vorsitz führen sollte. Die Wahl fiel auf Berta. An diesem weithin sichtbaren Platze sah sie ein Angehöriger des ältesten andalusischen Adels und verliebte sich so, daß er augenblicklich um die junge Schönheit warb, die ihm denn auch die Hand zu einem freilich nicht sehr beglückenden Ehebund reichte. Ich besitze noch ihr Bild mit spanischem Schleier und Fächer, wie sie jenes Tages das Los ihres Lebens zog, das sie für immer an Spanien fesselte.

Die letzten Tage in Tübingen rannen mir unaufhaltsam durch die Finger. Die Stadt meiner Jugend war doch tiefer mit mir verwachsen, als ich selber wußte. Sie hatte auch für alle Zeit richtunggebend auf mein Stilgefühl eingewirkt. Noch heute, wenn ich mir eine ideale Stadt in Gedanken baue, mit solchen kühnen Terrassen, solchen überschneidenden Dächern, steinernen Treppen, Durchgängen, hängenden Gärten, steigt sie nach einem stillen Fluß hinunter. Einen schwingenderen Rhythmus als die Straßenzüge Tübingens habe ich nirgends gefunden. Dieses Anschwellen und Absinken der gepflasterten Straßen, für mich sind es die Hebungen und Senkungen und wunderbar gefühlte Zäsuren eines Gedichts. Wie in der Neckarstraße hoch über unseren Häuptern sich der Umgang der Stiftskirche, wo ihm der Raum zu eng wird, mit plötzlichem Entschlusse leicht und frei über die Straße herausschwingt, wie das schmale Mühlgäßchen sich zu jener Zeit noch 263 mit steilem Gefäll zwischen die stürzende Ammer und die hohe, modrige Stadtmauer zwängte, während der Österberg seinem schön bebuschten Fuß bis in die Ammer herabstreckte und ein anderer stiller Garten oben von der Mauer zum Gegengruße heruntersah, das sind Züge, die nie im Geist verlöschen. Von der Mitte der unvergeßlichen alten Neckarbrücke führte eine steile Holzstiege auf den Wöhrd. An ihrem Fuße standen zwei mächtige Linden wie Schildwachen; sie gehörten mit zum Letzten, was ich an Freundschaft zurückließ, und ihnen galt mein letzter Abendgang. Wir hatten allerlei Heimlichkeiten miteinander, die sie zu hüten versprachen, bis ich wiederkäme. Leider konnten sie ihr Wort nicht halten, weil sie unterdessen gefällt worden sind. Unter ihrem Schirmdach stehend, schrieb ich in der zum Schlusse aufgestiegenen Wehmut noch ein paar Verse in mein Taschenbüchlein:

O Heimat, Heimat, vielgescholten,
Doch vielgeliebt und vielbeweint,
Seit heut die letzte Sonne golden
Für mich auf deine Hügel scheint.
Nie wollt' ich scheidend dich betrauern,
So hatt' ich trotzig oft geprahlt,
Wie nun der Schmerz die düstern Mauern
Schon mit der Sehnsucht Farben malt.

—   —   —   —   —   —   —   —

So laß uns denn in Frieden scheiden,
Von Groll bewahr' ich keine Spur.
Dein Bild soll ewig mich begleiten
Und wecke teure Schatten nur.
Und kehr' ich einst mit müdem Flügel,
Wenn meine Bahn ein Ende hat,
Dann gönne bei des Vaters Hügel
Der Tochter eine Ruhestatt.

264 Dann kam der Morgen, wo wir zu Fünfen in der Bahn saßen, Mama, Edgar, Balde, die treue Josephine, die uns nie verließ, und ich, um einem neuen, unbekannten Leben entgegenzufahren. Ich setzte mich rückwärts, und meine Augen saugten sich so lange wie möglich an dem wohlbekannten Stadtprofil fest. Der Kirchturm schwand als letzter um die Ecke. Die Jugendstadt versank, und die Weite der Welt, die langersehnte, tat sich auf.

 


 


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