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Für Franz Herwig
Dies ist einer der stillsten Tage des Jahres. Wir schreiben den 22. September. Ich sitze vor dem weitgeöffneten Fenster meiner Werkstatt. Drüben auf der Wiese liegt die Sonne wie eine große rote Frucht. Zum erstenmal auf der lächelnden Insel meiner Gelassenheit kommt mir der Gedanke, welche Leidenschaft sich hinter Tagen verbirgt, an denen bereits der Geruch des modernden Laubes sich mit dem von Korn und Äpfeln und Rosen vermengt. Ein immer Verhaltenes und Ungelöstes will nicht Ruhe geben. Denn ehe es nicht zum Austrag gelangte, kann der große Abschied nicht die große Verklärung werden.
Solcherlei Gedanken hängen wohl mit dem kleinen silbernen Herzen zusammen, das vor ein paar Tagen zu mir zurückkam. Seit ich es aus dem verblichenen Samtkästchen herausnahm, ist auf dem Grunde meines Gehörs fortwährend ein gleichförmiges, schweres Rauschen.
Wie von einem mächtigen Regen, der zwischen den struppigen Ästen märchenalter Föhren niedergeht. Gerade so rauschte er damals, als das Gewitter den Wald überfiel und Lil mit einem Male in meiner Türe stand. Ich hatte ihr Klopfen nicht gehört über dem Toben. Jetzt stand sie auf der Schwelle des Buschwächterhauses. Wie ein kleiner entsetzter und durchnäßter Vogel stand sie dort. Sie kehrte sich gleich wieder um, weil ihr der Sturm die Tür aus der Hand riß. Nie hatte ich einen so schmalen Hinterkopf gesehen. Daß es etwas geben könnte, so ergreifend wie die leichte Rückwärts- und zugleich Aufwärtsbiegung der Halslinie, hatte ich bis dahin garnicht für möglich gehalten. Eine ganz bestimmte seelische Haltung liegt in dieser Wendung. Auch ein Schicksal zuweilen. Außer bei Maida, meiner weißen Bärenhündin, die ich später in Riga kaufte und mit mir ins Buschwächterhaus nahm, bin ich dieser Linie im Leben nicht wieder begegnet. In der Kunst – meine eigenen Plastiken ausgenommen – überraschte sie mich neulich bei Franz Marcs Tieren. Er muß einmal ebenso stark wie ich diese bestimmte Erschütterung empfunden haben.
Ich hätte übrigens Lust, dieses alles der Reihe nach niederzuschreiben. Wiewohl ich es mit dem Stil nicht gerade leicht habe. Aber seit das Kästchen mit dem kleinen silbernen Herzen für mich abgegeben wurde, habe ich nicht arbeiten können. Ich spiele oft mit dem Gedanken, es aufzumachen. Ein Druck auf die Feder unter den zwei gekreuzten Fackeln genügte. Und vielleicht käme dann alles wieder ins Lot.
Aber – dies ist auch ein Geheimnis. Wie das des sterbenden Jahres: Man steht vor verschlossener Tür. Atemlos. Und trotzdem wagt man es nicht, den Schlüssel umzudrehen.
Vielleicht, wenn ich alles noch einmal durchlebte – jene Zeit, die ich bei mir das Jahr der Wandlung benenne – vielleicht, dann . . .
Das silberne Herz gehörte ursprünglich meiner Mutter. Ich habe es neben die Schale der zartlila Herbstzeitlosen gelegt. Zwischen die schenkende Mutter Gottes und Lilith.
Wie merkwürdig ist das, was mir eben einfällt: Niemals hat Lil mir Modell gestanden! Aber ich habe kaum eine Gebärde der Inbrunst plastisch ausgedrückt, die ich ihr nicht irgendwie verdankte. Jenes bestimmte Jahr – der Kalender vermerkt es ganz einfach unter 1890 – war übrigens das Todesjahr van Goghs. Aber nur vereinzelte Menschen wurden damals von dem tragischen Ausgang dieses Künstlerdaseins erschüttert. Ebensowenig wie sie ahnten, daß zehn Jahre später Rodin mit seiner Ausstellung auf der Place d'Alma vor sie hintreten würde als Titan und vollendet. Nun – wenn ich jenes Jahr noch einmal durchleben will, müßte ich allerdings viel weiter rückwärts gehen mit meiner Erinnerung. Mit meinen Kinderjahren müßte ich anfangen. Sie standen unter dem Brausen der vielen dunklen und hellen Glocken. Der Atem der nahen sarmatischen Ebene strich herüber. Die Hufe Tausender von kleinen Steppenpferden durchzucken sie wie Herzschläge. Da, wo sie herkommt, steht Asien, fremd, uralt, mysterienhaft.
Vielleicht auch sollte ich von dem kühlen, sachlich gerichteten Geist des Elternhauses etwas sagen. Meine Mutter hatte ich kaum gekannt. Aber jeden Herbst hängte ich einen neuen Immortellenkranz um ein blasses Pastellbildchen mit rätselhaften und traurigen Augen. Dann pflegte die gute Agathe mir ein Kreuz auf die Stirne zu machen.
Die gute Agathe erschien mir immer wie ein biblisches Bild. Sie bevorzugte eine bestimmte Art von primitivem Grün, Blau und Karmesin. Diese starken Farben gaben einen schönen Kontrast zu dem glänzenden Schwarz ihrer Zöpfe und den gesunden Farben ihres Gesichts mit den hohen slawischen Backenknochen. Wenn ich beim beschränkten Aufräumen des Kinderzimmers ihr im Wege stand, hieß sie mich in irgendeiner Ecke hinknien und beten. Wenn es der Sturm einmal gar zu unverantwortlich trieb, gaben wir ihm Mehl zu essen, und das Feuer bekam in den zwölf Rauchnächten eine Scheibe Speck.
Die gute Agathe stammte von dem großelterlichen Gut. Sie war meiner Mutter Kindheitsgespielin, hatte sie als Jungfer in die Ehe begleitet, betreute mich nach deren Tod als Kindermuhme und blieb später im Hause als unentbehrliches Faktotum.
Sie war der einzige Mensch auf viele Jahre hinaus, durch den ich vom Fanatismus des Herzens erfuhr.
Die gute Agathe hätte jeden, der mir zu nah kam, kurzerhand erdrosselt, obwohl sie selber mit Katzenköpfen gegen mich nicht geizte. Aber dafür sperrte sie dann sogleich den wunderbaren, mit Rosen und Aurikeln bemalten Schrank auf. Sein geheimnisvoller, etwas dumpfer und unbeschreiblicher Geruch von Kampfer, wächsernen Engeln und Anisplätzchen erschien mir immer wie die Atmosphäre der Heimat zwischen den hohen, kühlen und kostbaren Zimmern des alten Patrizierhauses. Die Anisplätzchen sollten die Katzenköpfe wieder ausgleichen. Aber nur bis zu meinem fünften Geburtstag. An diesem Tage erwachte über einem Säbel und Tschako, die mir eine Patin verehrte, urplötzlich meine Mannheit, und ich bedrohte die gute Agathe mit flammenden Augen.
Übrigens stammt aus jenen Tagen auch meine Annahme, daß des Menschen Gewissen blau sei. In dem Geheimnisschrank befand sich unter anderem ein Buch aus der Jugend meiner Großeltern. Es enthielt lauter Geschichten tugendhaften Benehmens meistens historischer Personen. Irgendwie war ein armer Philosoph in diese erlauchte Gesellschaft geraten. Der hatte sich ein Paar Schuhe auf Kredit gekauft. Als er sie später bezahlen wollte, war der Schuster verstorben, und der Käufer empfand eine heimliche Freude darüber. Aber hinterher reute ihn die Empfindung. Er eilte zurück und schob das Geld durch den Türspalt. Er war abgebildet in dieser Situation. Sein Mantel war von herrlichstem Blau. Darunter stand: Das Gewissen.
Nun, ich kann über dieses jetzt kurz hinweggehen. Auch über die weißen Mäuse der guten Agathe. Sie fingen an, zu tanzen wie berauscht, wenn ich ihnen pfiff. Nichtsdestoweniger vertilgten sie schamlos meine erste Plastik, ein wächsernes Jesulein.
Vielleicht sollte ich einen bestimmten Wintertag erwähnen, der, zur Zeit völlig unerfaßt, wohl doch in meinem Unterbewußtsein weiter arbeitete.
Wir hatten damals noch diese alten tüchtigen und östlichen Winter. Wenn man auf den Schnee trat, gab er eine Musik, wie wenn man den feuchten Finger um ein Weinglas zieht. Meine gute Agathe – sie war damals gewiß noch stattlich und in erregten Frauenjahren – ging vor Weihnachten gern mit mir auf den Christmarkt. In langen Budenreihen baute er sich um das alte, schöne Rathaus. Diese Buden beherbergten gewissermaßen das Patriziat der Verkäufer, die, fabelhafte Dinge feilbietend, einen festen Boden unter den Füßen und ein Dach über dem Kopfe hatten. Draußen, mitten im Schnee – o wieviel mehr zu beneiden – hielten sich die Kleinen ihres Stammes zwischen Äpfel- und Nußkörben, ein messingnes Kohlenbecken unter den Füßen, von pechschwarzen Zwetschenkerls flankiert, von Waldteufeln umbraust. Wenn man so schritt, jede Bude und jeder Stand in einen geheimnisvollen Lichthof eingegrenzt, Jubel und Gedräng und Erwartung um einen her, über einem die sternüberfunkelte Tiefe des Adventhimmels – hatte man dann nicht Flügel an den Schultern, wie die sich drehenden Lichterengel? »In dulce jubilo«, weißer Samt lag unter den Füßen. Man war völlig verzaubert.
Aber nachher hieß es: Heimgehen! Durch endlose Straßen! Hatte der singende Schnee sich auch in ein böses Tier verwandelt? Er schrie doch plötzlich und biß in die Füße, die man schon sowieso nicht mehr bewegen konnte. Sie waren Eisklumpen geworden, groß wie Füße von Elefanten. Ja, nun, da Sehnsucht nicht länger das inwendige Feuer schürte . . . Aber vielleicht kurz vor dem Tode, wie Moses das gelobte Land, erblickte man von ferne noch einmal die Stube mit den Bratäpfeln und dem Geheimnisschrank.
Um mir neuen Lebensmut zu entfachen, erzählte die gute Agathe dann jedesmal die Geschichte vom heiligen Martin, der nicht allein tapfer dreinschlug, sondern mitten im Winter seinen halben Mantel verschenkte. Das half dann allerdings. Denn tapfer und gut wollte man doch gewiß werden, wenn auch nicht geradezu heilig.
Einmal, ich mochte schon zwölf Jahre zählen und war ein großer magerer Junge, als ich wieder aus dem weißsamtenen Traumlande zu der beißenden Wirklichkeit von 12 Grad Réaumur unter Null erwachte. Ich dünkte mich schon zu männlich damals, um eisige Füße zu erwähnen. Aber gerade als wir an dem dunklen Eckpfeiler einer der vielen alten Kirchen vorüberkamen, stand die gute Agathe plötzlich still. »Gelt, frierst wieder, Peterle, gelt?« Sie bückte sich über mich, und ohne des heiligen Martins zu erwähnen, riß sie ihren eigenen dicken Düffelmantel auf, vom Halse herunter, nahm meinen Kopf in die Hände und versteckte ihn zwischen Mantel und Bluse. »Sollst warm haben bei mir. Ganz warm!« Sie sprach sonderbar. Ich fühlte das heftige Wogen ihrer Brust, und von einem dunklen süßen Angstgefühl wurde ich wie von Feuer übergossen.
Als Agathe meinen Kopf aus dieser weichen und warmen Haft wieder entließ, hob sie mein Gesicht zu dem ihren. Ich war noch daran gewöhnt, von ihr geküßt zu werden. Aber diesmal kam es mir anders vor. Durch ihre Handschuh hindurch fühlte ich, wie ihre Hände brannten. Die Tränen traten mir in die Augen.
Agathe stieß einen leisen Schrei aus. Sie bekreuzte sich: »Komm,« sagte sie atemlos, »Peterle, komm! Eben hat der Leibhaftige hier gestanden. Gerade neben mir. Hast ihn gesehen? Schnell, komm, eins beten!« –
Sie zog mich in die Kirche, und wir knieten unter dem flammenden Herzen der ewigen Lampe.
Agathe brauchte eine rechte Weile, bis sie den Leibhaftigen wirklich abgeschlagen hatte. Ihr Atem stieß noch immer. Als sie sich beruhigte, sah sie mich zum erstenmal wieder an, schmerzhaft verklärt. Ich rückte näher zu ihr hin. Ich liebte sie wieder sehr. Aber eine heimliche Angst ging mit mir nach Hause.
Sie wich auch nicht, als die gute Agathe an demselben Abend, als sie mich schon schlafend glaubte, zwischen unseren Betten einen Vorhang befestigte. Ich wußte nicht, daß diese Handlung als Symbol sich werten ließ: die Scheidewand hinter der Unbewußtheit meiner Kinderjahre wurde errichtet. –
Ein paar Tage später, als ich aus der Schule kam, hatte die gute Agathe ihre ganze Schlafgelegenheit in die Kammer nebenan einquartiert, und Tante Elvira betrachtete mich durch ihre langstielige Schildpattlorgnette, wie sie die Motte betrachtet hatte, die dem Windlicht zu nahe gekommen war. Sie war die älteste unverheiratete Schwester meines Vaters, die seit dem Tode meiner Mutter im Hause deren Stelle vertrat. Sie redete von ihr immer nur als von der »armen Maria«, was allein schon mich im tiefsten verletzte.
Tante Elvira und Agathe waren so vollkommene Gegenstücke, als hätte die Natur sich vorgenommen zu zeigen, wie weit nach zwei Richtungen hin sie ausschlagen könnte. Agathe, begrenzten Verstandes, genial in allem, was Eigenschaften des Herzens voraussetzt. Völlig von sich absehend und darum keusch selbst in der Preisgabe. Außer bei jenem Erlebnis vor der Kirche erschien sie immer tief einheitlich: dunkel, gebunden, gütig wie Erdmitte, sanft, tragend, unbewußt ihrer selbst. Sie war wie ein sonnebeschienener warmer Rasen, aus dem man hervorbrechen konnte wie ein Baum. Wo sein Wipfel schweifte, würde sie nicht wissen. Aber ewig würde sie seine Wurzel speisen und umfangen mit ihrem ganzen Wesen.
Tante Elvira hingegen? Vielleicht war sie nicht durchaus nach Veranlagung kühl, sondern verstandes-, willens- und erziehungsgemäß. Jedenfalls ohne Hingabe oder Opferfähigkeit, weshalb sie auch der starken sozialen Richtung der Frau ihrer Zeit fernblieb. Als Neigung zu einem Mann hätte aufkommen können, erstickte sie sie bei Zeiten, denn es hätte keine standesgemäße Heirat gegeben. So, niemals erlöst vom Manne, zusammengebunden mit erregten, aber niemals beglückten und gestillten Sinnen, ohne eine Arbeit oder Begabung, die sie für solchen Mangel hätte entschädigen können, wurde sie dieser bestimmte Typ der Weltdame eines intellektuellen Zeitalters. Elegant, unruhig, unzufrieden, hart urteilend, konventionell, zerstörerisch. Da ihr jede tiefere Eingründung fehlte, hatte sie keinen besseren als gesellschaftlichen Ehrgeiz. Ihr Salon wurde der Sammelplatz bestimmter Tagesgrößen: Finanziers, Lebemänner, Schauspieler, Künstler und Gelehrte gingen bei uns aus und ein. Aber ich blieb fremd unter ihnen. Es waren Menschen, die, selbst wenn sie vorgaben, ideellen Zwecken zu dienen, doch rein auf Befriedigung der Eitelkeit, auf Verdienst und materiellen Genuß eingestellt waren. Jene Zeit, die nur Sensationen kannte, aber keine Erlebnisse, ohne himmlisches Bedürfen, genügsam mit Wissen und Erkennen, blühend in abwegigen Heimlichkeiten, aber verdammender als das Mittelalter, sobald der ungeschriebene Kodex gesellschaftlicher Konvention überschritten wurde, die ganze Brüchigkeit jener Jahre, ihre seelische Armut drängte sich zusammen in den vorderen Zimmern unserer Wohnung, die auf den schönen, stillen Stadtgraben hinausgingen.
Ich mußte ziemlich bald nach dem Auszug meiner guten Agathe aus dem gemeinschaftlichen Schlafzimmer in tadelloser Aufmachung zu diesen bestimmten Abenden erscheinen, um gesellschaftliche Formen zu üben. Es bedeutete Qualen für mich, und meine Befangenheit unter mir so völlig wesensfremden Elementen wurde nicht geringer, als man anfing, mich darüber zu necken, wie vorsichtig ich in der Tanzstunde mit meinen Damen umginge. Ich hatte bisher nicht gewußt, daß ich sie immer auf Armeslänge von mir entfernt hielt. Es mochte mit dem Erlebnis vor der Kirche zusammenhängen. Denn ich spürte irgendeine fremde, zarte Lockung, die von einem durch den Tanz erregten Mädchenkörper ausging. Aber zugleich konnte ich niemals vergessen, daß die gute Agathe den Leibhaftigen neben sich hatte stehen sehen, damals! Und diese Vorstellung neben der Lockung ergab einen süßen, beunruhigenden Schmerz, den ich ersehnte, und für den ich mich trotzdem schuldig fühlte.
Ich betrachte es als ein großes Glück für mich, daß im folgenden Sommer, kurz vor meinem vierzehnten Geburtstag, das Geheimnis des Lebens vor mir enthüllt wurde. In einer natürlichen, sachlichen Art, ohne besondere Erregungen, einfach durch einen längeren Landaufenthalt.
Mit der Frage, ob Beruhigung durch Wissen geboten sei in den Jahren der Entwicklung, beschäftigten sich damals schon viele Eltern und tiefer blickende Pädagogen. Aber man setzte sich noch nicht öffentlich damit auseinander.
Ich kam damals heim von meinen durch Bleichsucht und zu schnelles Wachstum verlängerten Ferien mit einer ganz bestimmten Willensrichtung. Zu schwer und schmerzhaft hatte ich zwischen den zwei Gegenpolen geschwankt, dem rein triebhaft unbewußten Gefühlsleben der Kinderstube und dem kühlen Intellekt der Gesellschaftszimmer. Mich verlangte nach Einheit, nach Eingliederung in ein Höheres, Geistiges, das ich mir zugleich als unendliche Wärme, Glanz vorstellte. Nach Seelenhaftigkeit in einem physischen Erleben verlangte mich.
Natürlich hätte ich alle Empfindungen und Strebungen und Beobachtungen jener Jahre nicht in Worten ausdrücken können, ebensowenig wie ich Tante Elvira, den Vater oder meine gute Agathe damals schon kritisch bewerten konnte, aber im Unterbewußtsein trug ich dies alles ganz wesenhaft und deutlich.
Ich erfuhr in jenen Wochen auf dem Lande auch mein erstes Erlebnis mit der Frau. Es war fast traumhaft vorübergleitend, aber darum vielleicht gerade um so tiefer sich beziehend. Eigentlich bestand das Erlebnis nur in einem Anblick. Es handelte sich um eine Freundin der Hausfrau. Sie hatte auf dem Wege zur Stadt einen Unfall mit dem Wagen gehabt. Während der Stellmacher unsres Gutes ihn in Ordnung brachte, saß sie auf einem beliebten Platz des Gartens, am Ende der Lindenallee, vor der umbuschten Koppel. Ich weiß den Grund nicht mehr, aus welchem ich bestimmt wurde, ihr eine Erfrischung herauszubringen. Ich ging langsam wegen meines Tabletts mit Gläsern und Früchten. Aber ich hätte trotzdem beinahe ein Unglück angerichtet, denn meine Augen waren lange vor mir am Ende der Allee, wo wie im Rahmen eines Bildes die fremde Dame vor mir auftauchte. Sie hatte den Hut abgenommen und saß, der damaligen Mode entgegen, in einem dunklen Kleide mit rundem Ausschnitt vor der gestillten Schönheit und dem Geheimnis einer abendlich verblauenden Weite. Ihr Blick und ihr Lächeln waren ebenso zärtlich gestillt und zugleich geheimnisvoll wie diese Stunde des Übergangs. Ich wußte nicht mehr, sah ich das Gesicht oder das Land oder irgendein Unsagbares, was dahinterstand und doch das gleiche war.
Später wußte ich: es war Mona Lisa. So empfand und gestaltete Lionardo einmal das Rätsel der Frau. Damals saß ich lange auf dem Koppelzaun und starrte in die immer tiefer schattende Dämmerung. In mir war die erste Ahnung einer Glückseligkeit und einer Erlösung, die von der Frau kommen mußte. Und ich tat ein Gelübde, ahnungslos, was es bedeutete: ich wollte mich rein erhalten für das Erlebnis der Liebe.
Meine Zurückhaltung hatte natürlich einen besonderen Reiz für die kleinen Mädchen. Aber ich blieb fest, bis die Erfahrung mit Mieze doch fast alles über den Haufen geworfen hätte, denn hier war eine starke seelische Berührung vorhanden. Das feine, zarte Geschöpfchen – Verkäuferin in einem Geschäft mit Herrenartikeln – war mir leidenschaftlich und bedingungslos ergeben. Aber sie starb an einer Blutvergiftung von heute auf morgen, und das Liebesmoment verband sich mir so innig mit der Erschütterung des ersten bewußt erlebten Todes, daß ich in der Folge die beiden lange nicht trennen konnte.
Es wäre mir noch härter angekommen, dieses zu überwinden, hätte nicht in jener Zeit meine Freundschaft mit Wagus ihren Höhepunkt erreicht. Er war der einzige Mensch, auf den meine gute Agathe zornvoll eifersüchtig wurde.
Helmut Wagus war der Sohn einer kleinen Beamtenwitwe. Er war mit der Mutter erst nach seines Vaters Tode in meine Heimatstadt übersiedelt und wurde in der Obertertia mein Schulgefährte. Neben meiner Länge erschien er wohl klein, um so mehr, als er mädchenhaft zierlich gebaut war. Wir müssen überhaupt immer als Gegenstücke gewirkt haben: seine Beweglichkeit und die lebhaften dunklen Augen gegen meine schlafwandlerischen Bewegungen und das verträumte und wechselnde Grau meiner Iris. Ich hatte sehr früh schon eine Art, malerisch zu sehen, und wiewohl mir gänzlich unbewußt, hatte ich mir Gesichter und Hände meiner Lehrer und Mitschüler, auch die Art, wie ihre Nägel gewachsen waren, so genau eingeprägt, daß ich ohne weiteres aus dem Gedächtnis sie alle hätte zeichnen können.
Die Hände von Wagus beschäftigten mich sehr oft. Sie hatten einen zwiespältigen Charakter. Nicht in der Art wie die meinen, die ich später als Künstlerhände und Jägerhände zugleich erkannte. Ihr Doppelsinn lag tiefer. Sie waren nicht klein, aber außerordentlich wohl gebildet und erfaßten alles immer nur mit gestreckten, an den Spitzen zusammengeschobenen Fingern: Briefmarken, Brot, ein Messer, Bilder oder andere Hände. Wenn Wagus mit dieser eigentümlichen Bewegung Geld an sich nahm, schien es mir, daß er es damit seiner Ungeistigkeit und Unsauberkeit entkleide. Seine Hände übten einen besonderen Reiz auf mich aus. Überhaupt geriet ich fast vom ersten Tage an unter seinen Bann. Wahrscheinlich aus den Gegensätzen unserer Naturen heraus.
Er war ein glänzender Schüler, tadellos im Betragen, ohne je den Tugendbold zu spielen.
Tante Elvira war sofort von ihm bezaubert. Dieser junge Mensch, der eben noch an seiner Mutter Tisch, die linke Hand auf dem Knie, mit dem Messer gegessen, hatte in kürzester Zeit alle Klippen umschiffen gelernt, die ihn vom Benehmen eines Gentleman trennten. Er bewegte sich bald mit einer so anmutigen Leichtigkeit, als sei er nie etwas anderes gewohnt gewesen. Von jedem, den er sah, lernte er etwas. Jede Schwäche erkannte er auf den ersten Blick und machte sie sich dienstbar. Ich bemerkte das damals noch nicht, mit meiner Veranlagung zum Abseitigen. Und auch jetzt glaube ich wieder, daß er unsere Freundschaft nicht allein als Sprungbrett zu einer höheren Gesellschaftsschicht betrachtete, sondern daß wirkliche Zuneigung, soweit sie bei ihm möglich war, ihn mir verband. Ich lernte ihn zuletzt werten als jener bestimmten Menschenart zugehörig, ohne Plus und Minus des Charakters, eine wohltemperierte Mischung von Gut und Böse, vollkommen um den eigenen Ichpunkt geballt.
Aber von diesen Dingen ist erst später zu sprechen. Und wie ich es auch nehme: alle meine früheren Jahre, alle Menschen und Verhältnisse, alles Tasten, Irregehen, Verzweifeln, Wiederaufraffen und Neuanstürmen – alles erscheint mir doch immer nur als Hinstreben auf dieses bestimmte Jahr meines Lebens. Von ihm wurde alles, was vorher war, aufgenommen, gedeutet, überwunden und entfaltet. Und für alles, was später in mir wurde, ist dieses eine Jahr das Brunnenhaus.
* * *
Heut möchte ich ganz nach der Reihe folgende Daten aufschreiben.
Trotz inständiger Bitten, mich der Kunst weihen zu dürfen, tat mich mein Vater nach dem Abitur in ein Bankhaus. Zwei Jahre später geschah das mit Mieze. Als ich im nächsten Sommer mündig wurde, konnte ich mich durch meiner Mutter Erbteil als Herrn eines kleinen Vermögens betrachten. Ich gab den kaufmännischen Beruf auf und zerschnitt dadurch den letzten Zusammenhang mit der Familie. In demselben Jahre verlor ich meine gute Agathe. Tante Elvira war von einer Influenza befallen worden. Agathe pflegte sie aufopfernd, steckte sich an, und Lungenentzündung trat hinzu. Agathe starb an ihrem neunundvierzigsten Namenstag in meinen Armen.
Ich kehrte viele Jahre nicht mehr in die Heimat zurück, die für mich innerlich aufgehört hatte, Heimat zu sein. Ohne mich irgendwie in der Fremde umzusehen, studierte ich auf den Akademien verschiedener bedeutender Kunststädte. Ich meinte, es sei gerade Zeit genug durch die Bankjahre verloren.
Vielleicht hatte ich Unglück mit meinen Lehrern. Den mir gemäßen Meister mochte es schon irgendwo geben. Jedenfalls nach Verlauf dieser Studienzeit fand ich mich angewidert von der Nachbetung eines blut- und seelenlos gewordenen Ideals. Nirgendwo konnte ich einen Keim erblicken, der leidenschaftlich zu verheißen schien. Nirgendwo spürte ich den beruhigten Brodem der Ernte oder die deutenden Verklärungen des Herbstes. Immer und überall nur ein Wiederholen leer gewordener Sprüche, die einmal vor Zeiten sinnvoll waren.
Ebensowenig fand ich Befriedigung, als ich später bei einem anerkannten Meister des Naturalismus arbeitete. Mir schien, daß man diese peinlich exakte Wiedergabe des Natürlichen besser der Photographie überließe. Was nutzte es, die Dinge mit der Genauigkeit moderner optischer Instrumente zu erfassen und zurückzugeben, wenn man vergaß, daß hinter den Dingen das Wesentliche erst anfängt.
Ich hätte damals nicht sagen können, was ich wie verlorene uralte Heimat suchte. Ich wußte auch nicht, daß dem einzelnen derselbe Entwicklungsgang bestimmt ist wie einem Volk, um sein künstlerisches Ziel zu erreichen, das vom menschlichen schließlich untrennbar ist, und daß ich mit einer fest bestehenden klassischen Form nichts anzufangen wußte, weil mein eigenes Chaos als Kristallisationspunkt das eigene Erlebnis verlangte. Ich wußte nicht, daß ich nur dasselbe durchmachte, was vor mir das Schicksal so vieler gewesen war und nach mir an andern sich wiederholen würde: nämlich, daß zu Zeiten, wenn das Stoffliche und das Gehirn die Herrschaft antreten, immer einige bemerkt werden, die sich aus der Reihe bewegen. Die großen Unersättlichen und die großen Gläubigen werden in den dürren Jahren der Seele geboren.
Ich ging in jener Zeit nach Paris, um den Impressionismus an seiner Quelle zu studieren. Aber auch diese Ausdrucksform konnte ich nicht als die mir gemäße annehmen. Diese Kunst, die sich scheinbar der Natur und ihrer Stimmungen so völlig bemächtigt hatte, erschien mir irgendwie der Seele der Natur sehr fern. Ich wußte nicht, daß die Hemmung für mich darin lag, daß meine eigne seelische Haltung bereits darüber hinaus war. Durch irgendein Absonderliches und Geheimnisvolles war ich dem Wandel des Weltgefühls eine Spanne vorausgeeilt. Während die andern noch in der Umwelt das Heil suchten, umlagerte ich bereits das Tor der innersten Kammer und rang um die Form, die meine letzte Geistigkeit empfangen und darstellen sollte.
Zu jener Zeit geriet ich an einen eigentümlichen Menschen, dessen Ideen mich aufs stärkste fesselten.
Er war von der Malerei zur Architektur gekommen. Das heißt, er bezweckte im Grunde nichts anderes, als soziale Ideen in ein anderes Gebiet zu übertragen. Er wollte dem Menschen dienen, im besonderen der benachteiligten Menschenklasse. Allen Menschen sollte eine möglichst gleichwertige schöne, nützliche oder erhabene Daseinsform vermittelt werden. Er schaffte ebenso begeistert an den Entwürfen für Fabriken, in denen die Würde der Arbeit dargetan werden sollte, den darin Beschäftigten genügende Bewegungsfreiheit, Licht und Luftzufuhr ermöglicht – als er Stühle erfand, die sich in ein Bett und ein Sofa umwandeln ließen. Er zeichnete kühne Brückenbögen, schwindelnde Eisenbahntunnels ebenso wie lange Zeilen von Arbeiterhäusern, bequem und dennoch in der Uniformierung eine gewisse Eigenart betonend. Er wollte Volksbäder anlegen, Gartenstädte, Lesehallen und Sport- und Spielplätze.
War nicht in all diesem die Grundlage für den neuen großen Stil gegeben, nach dem alle so schmerzhaft verlangten? Der vielfältige Ausdruck, die individuelle Gebärde konnten sich wieder von einem Gedanken speisen, von einem Gefühl, das allen zu eigen werden konnte, mußte: von dem Gefühl der Menschenwürde in jedem einzelnen.
Ich war lange benommen von dieser Idee. Sollte auf diese Weise der Fluch von uns genommen werden? Der über uns verhängt war wie beim Turmbau zu Babel? Als die Menschen im Hochmut der Erkenntnis meinten, Gott wieder einmal erreichen zu können, indem sie in seine Geheimnisse eindrangen? Auch in diesem Jahrhundert der Urzelle und der Entschleierungen verwirrte er, der hoch und lächelnd Entrückte, ihre kleine Sprache so völlig, daß der Bruder dem Bruder ferner trat als der Feind dem Feinde. Ich weiß nicht mehr, ob irgendein Ereignis Anlaß wurde, ich weiß nur, daß ich nach einer dumpfen Nacht plötzlich aufwachte mit dem Wissen: dieses ist es nicht. Auch dieses nicht. Die Einsamkeit der Individuen, das Ausscheiden der einzelnen aus der großen Gesamtheit liegt schon viel weiter rückwärts als ein Jahrhundert. Die soziale Idee – gewaltig und notwendig und menschlich zwingend, wie sie ist – kann für die Kunst nicht die Erlösung bringen. Es fehlt etwas dabei. Was fehlt?
Am nächsten Tage ging ich nicht zu dem Meister. Ich schrieb ihm keinen Grund, nur daß ich nicht mehr kommen könne.
Ich arbeitete fast nichts. Ich lief herum. Ich suchte, ich schaute, ich horchte. Ich fand nicht, was ich finden mußte. Ich war am Rande des Wahnsinns.
Damals fiel mir ein Band des Meisters Eckhart in die Hände. Ich saß einen Abend und eine ganze Nacht darüber. Am nächsten Tage holte ich mir von der Universitätsbibliothek, worauf ich Hand legen konnte, an Schriften der Mystiker. Den ganzen Eckhart, Seuse, Tauler, Böhme. In den Urgebieten der Seele suchte ich, wo alles das zu Hause ist, was mit den äußeren Sinnen nicht ergriffen zu werden vermag. Dieses Leerwerden seiner selbst, um ganz erfüllt zu werden von einem Größeren, übte eine schmerzhafte Lockung aus. Auch in der darstellenden Kunst mußten ähnliche Vorgänge möglich sein. Und plötzlich stand es vor mir: Die Bauwerke, geboren aus dem Geist jener Jahrhunderte, mußte ich aufsuchen. Die Gotik kennen lernen an Ort und Stelle.
Ich entschloß mich von heute auf morgen, begann mit dem Magdeburger Dom, und ging über Erfurt nach Naumburg. Nachher hielt mich Franken: Bamberg, Würzburg, die kleinen Städte. Die Hauptanziehungspunkte der Fremden, mit dem Stern im Bädecker, durchpilgerte ich nur bei Nacht und Mondschein, heimlich wie ein Dieb. Aber: Ochsenfurt, Marktbreit, Iphofen, Dinkelsbühl!
Heut kann ich lächeln, wenn ich an die Erregungen jener Tage zurückdenke. Ich litt körperlich. Wie unter der peinlichen Frage. Hatte auch meine Seele vor tausend Jahren vielleicht an einem dieser Orte ein Leibesleben gehabt? Vielleicht ging ich als Steinmetzgeselle damals mit Meißel und Hammer und Lederschurz? Und meines Lebens Beseligung war es, einen Teil dieser Fensterrose am Dom zu bilden? Ich könnte auch das zarte Laubgewirr am Kapital eines Pfeilers gemeißelt haben. Oder schnitzte ich diesen hingegebenen Leib eines heiligen Sebastian? Die Madonna im linken Seitenschiff von St. Georg in Dinkelsbühl – nein, diese habe ich nicht gemalt, wiewohl sie mich anschaute von allen Bildern ihres Schreines wie die Liebe meiner Seele! Aber – das wußte ich gewiß: niemals in jenen Zeiten hatte ich meinen Namen unter ein Werk gesetzt. Namenlos hatte ich gedient, Werkzeug, Glied jenes übermenschlich Einen, den ich doch in mir trug, und den zu verkörpern oder zu verherrlichen meines Lebens Inhalt bedeutete. Ja, dies erkannte ich, und es war wie ein scharfer körperlicher Schmerz: damals, als ich das Schurzfell trug, oder den Glaskolben handhabte, damals war ich erfüllt gewesen bis zum Zersprengen von einem ungeheuren Willensansturm, der dennoch gebändigt wurde von dem Wissen um ein Ziel. Der Weg war fremd und voll Mühsal, aber unverrückt über den Wolken leuchtete der Gipfel des Felsens. Und immer gespeist von diesem Anblick, wurde die Mühsal des Weges Glück. Alle wir Namenlosen, Anstürmenden, wurden zueinander gerafft, miteinander emporgerafft in eine letzte abgründige ewige Wesenheit. Damals . . .
Nachdem ich sieben Wochen wie ein Revenant umgegangen war in den verwunschenen Städten jenseits des Mains, packte ich plötzlich und in eben solcher Hast wie bei der Ausreise meinen Koffer und fuhr nordwärts. Ich hätte mir ein Leid angetan, wäre ich noch länger durch die spitzgiebligen Gassen gewandert hin zu den grauen Domportalen. – – –
* * *
Später in Berlin kreuzten sich meine Wege wieder mit Wagus. Er war dort Prokurist an einer Bank. Daß er daneben auf eigene Hand umfassende Börsenspekulationen betrieb, wußte ich damals nicht. Ebenso erfuhr ich erst später, daß er ein ebenso geschätzter als gefürchteter Kritiker war. Er machte seine elegante Wohnung am Kurfürstendamm zu einem kleinen Museum, und seine Bibliothek war erlesen. Obwohl Dokumente jener damaligen, von dem gewissen Arom der Auflösung behafteten Zeitspanne vorherrschten. Seine Freunde waren erlesen in dem gleichen Sinne, ebenso seine kleinen Festmahle. –
Ich stand sehr schnell wieder unter seinem Bann und bewunderte die elegante und lässige Form, deren Kenntnis er einstmals im Salon von Tante Elvira erworben hatte und mit der er mich damals schon in Schatten stellte. Die Sensibilität und das Traumwandlerische meines Wesens hatten sich nicht verringert, wenngleich ich die Merkmale eines Kavaliers nicht nur durch Erziehung im Wissen, sondern durch lange Erbschaft im Blute trug.
Als Wagus zu mir kam, verlangte er sogleich meine Bilder zu sehen. Ich willfahrte zurückhaltend. Bis jetzt war ein höfliches, achselzuckendes Lächeln immer noch das meiste gewesen, was meine Traumlandschaften mit ihren roten Strömen und amethystenen Bergen mir eingetragen hatten. Wagus war der erste, der nicht sofort höhnend darüber ausbrach. Erst später begriff ich, daß er eine wunderbare Witterung für kommende Erscheinungen hatte, so weit sie sich einmal bezahlt machen würden. Ich schenkte Wagus eine Landschaft in hingebender Dankbarkeit für sein Verständnis, und nahm es mit Freuden an, daß er sich zu meinem Mäzen entwickelte und mir verschiedene Sachen zu einem mittleren Freundschaftspreis abkaufte.
Ich ertrug es sogar, als er eines Tages die Staffelei mit einem bestimmten Bilde, die sonst abgekehrt in einer dunklen Ecke der Werkstatt stand, ans Licht zog. Es war ein Akt. Frauengestalt. »Hattest du ein Modell hierzu?« fragte Wagus zuletzt.
Ich schob die Staffelei hastig ins Dunkel zurück. »Nein.«
»Du solltest vielleicht doch lieber die Anatomie etwas berücksichtigen«, sagte Wagus. »Du könntest schöne Erfolge haben. Es ist nicht klug, dem Publikum gar zu viel zuzumuten. Zuletzt stellt das Publikum die Käufer.«
Allerdings. Das mußte wohl kommen. Nach der Frage von vorhin gehörte diese bewährte Weisheit. Ich schwieg.
»Nun, ich bin doch wohl nicht nur Publikum«, sagte Wagus schnell und herzlich überredend. »Es ist Hingabe absolut. Diese Inbrünstige besäße ich gern. Verkaufst du sie?«
»Nein.«
* * *
Das folgende ist kurz gesagt. Wagus kam schon am nächsten Tage wieder. Er bat in einer Art, die gar nicht zu seiner sonstigen Überheblichkeit paßte, das Bild nochmals sehen zu dürfen. Er saß lange davor in starker Anteilnahme. Zuletzt kam die geheimnisvolle Andeutung jemandes, der wohl Anregung zu diesem Bilde hätte sein können. Auch zeigte er sich besorgt um meine Gesundheit. Seit der fränkischen Reise hatte ich jeden Abend Fieber. Ein paar Tage darauf war ich auf sein Drängen zu Frau Kleeberg übersiedelt, und Henni trat in mein Leben. Sie und Wagus zusammen vollbrachten den großen Schnitt.
Heut weiß ich, daß ich ihnen zu danken habe. Denn alles sind Stufen. Dies war die Stufe, die zum Bruch meines Gelübdes hinführte. Aber auch dieses mußte sein, ehe ich reif wurde zur Wandlung in jenem Jahre, als Lil zu mir kam. Denn alles Dunkle, Diesseitige in uns muß einmal Wirklichkeit werden, damit es die Dämonie über uns verliert, oder besser: daß seine Dämonie uns ins Jenseitige umbiegt. Und vielleicht gibt es kein endgültiges Diesseits oder Jenseits, solange die Seele wächst, solange sie im Wirken lebt und noch nicht im Zustand des Beruhens oder Schauens.
Die Mutter von Henni war eine Beamtenwitwe. Henni gab Sprachunterricht. Sie stand in Bildung weitaus höher, aber sie erinnerte mich immer an Mieze. Nur daß sie wie unter dem Bann einer zurückgedrängten leidenschaftlichen Bewegtheit ging, die irgendwie zu mir hinübergriff. Ich konnte seelische Einflüsse in dieser Zeit nicht genügend abgrenzen, so daß Henni eine ständige Beunruhigung für mich bedeutete. Und plötzlich wußte ich: Das Bild! Die Aktfigur, von Wagus die Inbrünstige genannt! Ich sah wieder diese eigentümlich gefangennehmende Geste seiner ungerundeten Finger, mit denen er das Bild berührt hatte. Wir waren nicht wieder zusammen gewesen, seit ich bei Kleebergs wohnte. Er mochte stark in der Arbeit sein. Nun – ein paar Tage später kam seine Verlobungsanzeige.
Am nächsten Abend war Hennis Mutter ausgeladen. Henni brachte mir den Tee. Als sie gegen das Licht stand, sah ich, wie ihre schmalen Schultern zuckten. Ich trat zu ihr. – – –
Am nächsten Tage verlobten wir uns. Ich liebte Henni nicht, aber sie erschien mir aufgetragen. Und in mir selber hatte Einsamkeit ein letztes Maß erreicht.
Frau Kleeberg war sehr glücklich über unsern Entschluß. Die Hochzeit sollte nicht lange hinausgeschoben werden. Mit Henni war eine sonderbare Veränderung vorgegangen. Aus leidenschaftlichen Zärtlichkeiten zu mir konnte sie plötzlich aufschrecken, wie im Verbrechen ertappt, um gleich danach sich mir noch rückhaltloser hinzugeben. In solchen Stunden hätte Unwiderrufliches geschehen können. Aber niemals verließ mich eine eigentümliche Hemmung.
Nach acht Tagen fand ich ein loses Briefblatt von Wagus auf dem Teppich vor meinem Schreibtisch. Ich glaubte, es sei von mir verloren. Ich musterte flüchtig die letzte Seite. Danach gebot es sich mir, auch das übrige zu lesen. In dem Brief versuchte Wagus Henni zu erklären, warum er eine reiche Frau heiraten müßte. Es standen Zärtlichkeiten auf dem Blatt, ohne unechten Beigeschmack. Hier schien Wagus mit dem Herzen beteiligt, so weit es ihm möglich war. Er bat Henni, mir den Weg zu ihr nicht gewaltsam zu versperren. Es sei zu ihrem wahren Besten. Aus allem ging unzweifelhaft hervor, daß Henni Wagus gehört hatte.
* * *
Ich wollte eigentlich wieder reisen nach diesem Geschehen. Aber ich wechselte nur meine Wohnung. Ich zog in die Nähe des Schlesischen Bahnhofs und sah das Weltbild von dieser Seite. Ich blieb nicht Beschauer. Ich lebte mein Teil daran. Das Bild der Frau, für deren Art ich mich rein erhalten wollte, war sehr fern gerückt. War es überhaupt vorhanden in der Welt oder nur in der Einbildung eines jungen Narren? Ich erkannte Astarte in diesen Wochen und die Geheimnisse und den Zwang ihres Kults. Ich ging wie ein Schlafwandelnder auf der Todeslinie zwischen den Geschlechtern. Ich mußte wohl auf den Grund aller Zersetzung tauchen. Das zerstörerische Prinzip mußte so unbarmherzig sein Werk an mir vollbringen, daß ich die beiden Tatsächlichkeiten Seele und Leib endlich mit- und gegeneinander werten lernte. Bis jetzt hatte ich immer nur mit der geistigen Seite des Menschen gerechnet, ahnungslos, wie unlöslich Hüben und Drüben ineinander verwurzelt sind. Nun, ich lernte in fieberhafter Hast. Irgendwo – irgendwo – ir–gend–wo . . .
Gab es ein Irgend etwas? Irgendwo? Ja, es gab eines: es gab ein Gefühl der Verantwortung. Wenn ich es heut gekreuzigt hatte, stand es morgen wieder herauf und sah mich an aus blutenden Augen.
Nachher kamen Tage, an denen ich meinem Leben zuschaute wie von einem fernen Stern. Tage, an denen ich mich nicht von der Stelle rührte und nichts tat, als eine Zigarette rauchen nach der andern. Zahllos.
Gut. Es ist gleich überstanden. Dies alles ist sogleich vorüber wie der Alptraum einer Fiebernacht.
Nur noch ein paar Worte, und ich werde versinken in haushohen Schneewehen unter schwarzblauen, funkelnden Nächten. Gleich bin ich so weit, daß ich von diesem wunderbarsten Jahr beginnen darf. Nur daran zu denken brauche ich, und meine Nasenflügel beben. Schnee, Schnee, Schnee! Eis, flaschengrün und klafterdick, das schmale Bett der kurischen Aa auskältend. – Aber Tausturm ist in der Luft. Wie ein Wütender aus Liebe wird er sogleich über das verschnürte und verschmiedete Land herfallen. Die Infrabässe der ewigen Wälder habe ich im Ohr, dunkel und abgründig wie die Falten im Sturmmantel Gottes. Ja, was ist es doch, daß ich wie ein Kranker mich nach meiner Hütte aus mannsdicken Föhrenbalken sehne? Es ist noch Winter, Lil. Noch hat der Auerhahn nicht zu balzen begonnen, und die Schnepfe ist noch fern. Ferner noch ist der Geruch von Wermut und blauem Thymian, sind die Abendhimmel wie brennende Wickingschiffe und die weißen, singenden Nächte. Fern bist du selber noch, Lil – wie fern! Aber, daß ich dich nur erwarte! Daß ich nur da bin, wenn du an die Tür klopfst! –
Der Faschingsabend gab den Ausschlag. Wer nennt mir eine Erfindung, trostloser als Fasching in Berlin! An welchem Abend und an welchem Ort käme die tödliche Krankheit einer sich zersetzenden bürgerlichen Gesellschaft hoffnungsloser zum Ausdruck? Denn hier fehlte sowohl das hinreißende Selbstvergessen heißerer Blutmischung als das ebenso leidenschaftliche carne vale! Wie eine große Grimasse erschien mir diese letzte, wild und zugleich ermattet aufzuckende Woge eines gezeichneten Lebens. Keine dunkel verhüllten Altäre der Fastenzeit standen dahinter und nicht das große Miserere.
An dem erwähnten Fasching war ich den ganzen Tag nicht aus dem Hause gekommen. Außer den üblichen Zigaretten, Tee und einem Glase Absinth hatte ich nichts zu mir genommen. Es war nicht mehr weit von Mitternacht, als mich plötzlich irgend etwas aufzurufen schien.
Ich riß mich zusammen und nahm aus meinem Schrank ein sonderbares Ding von Anzug. Die kleine Mieze hatte es mir einmal nach meiner Angabe mit fliegender Nadel zurechtgeschneidert, als ich in einem lebenden Bilde den traurigen Narren darstellen sollte. Es war ein gewöhnlicher Pyjama aus roher Seide, um Hände, Hals, Hüften und unter den Knien breite plissierte Volants aus schwarzem Chiffon, dazu eine dem Kopf eng anliegende schwarze Kappe. Ich hatte den Anzug als Erinnerung an meine kleine Freundin bewahrt. Es wurde mir schwer, ihn anzuziehen. Ich hatte schon mehr als drei Wochen meine Wohnung des Abends nicht mehr verlassen. Aber ich handelte wie unter einem Zwang.
Ich fuhr quer durch Berlin in eines der überhitzten Lokale am Kurfürstendamm. Es schwoll über von aufregender Musik, kalten, witzlosen und völlig eindeutigen Scherzen, dem Geruch von Puder, grellen Parfüms und halbentblößten und erregten Frauenkörpern. Es war außer in Preisen und Aufmachung nicht sehr viel Unterschied zwischen den Vergnügungsstätten der zwei Himmelsgegenden West und Nord. Nur daß sich der Preisgabe hier durch Raffinement jener Geschmack von haut goût beigesellte, den der primitivere Norden nicht kannte. Als ich mich zufällig in meinem Kostüme in einem Spiegel erblickte, erschrak ich. Die vergangenen Wochen hatten alle Farbe aus meinem Gesicht genommen. Ich sah aus wie der Tod:
Carne vale.
Die Frauen waren dem Pyjama hinterdrein wie die Tollen. Ein Gefühl physischer Übelkeit bemächtigte sich meiner. Ich war keine Stunde dort, als ich den Ausgang suchte.
An der Tür faßte mich Bergfeld am Arme. Wir hatten vor Jahren in demselben Berliner Bankhause gearbeitet. Er war ein ernster, angenehmer Mensch mit künstlerischen Interessen. Der einzige von meinen früheren Bekannten, mit dem ich mich hier und da noch einmal traf. »Dir ist es auch über«, sagte er.
Ich nickte, als er mich unter den Arm faßte. Wir wußten beide, es war nicht nur der Saal und die Maskerade.
Wir schlenderten den Kurfürstendamm herunter. Plötzlich, mitten unter dem wilden Licht eines elektrischen Lampenbogens: »Hör' mal,« sagte er, »hättest du Lust, ich muß morgen nach Riga. Geschäftlich. Ich habe dort einen guten Bekannten, der im Kurländischen einen Besitz hat. Halber Urwald. Ich war früher einmal dort zur Jagd. Ich könnte mich eine Woche freimachen. Es gibt noch Wölfe daherum.«
Ich wußte damals noch nicht, daß ich von einem Vorfahren meiner Mutter die Jagdfieber im Blute habe und eine verborgene Sehnsucht nach dem Brausen der ewigen Wälder. Ich fühlte nur, wie plötzlich etwas in mir nachgab und zugleich sich anspannte. Irgendein ferner Ton schien in der Luft. Ich wußte nicht, ob er harfte oder gellte. Jetzt eben spüre ich sie wieder, die Erschütterung dieses Augenblicks unter den Bogenlampen auf dem schwarzen glitschigen Asphalt.
»Ich komme mit«, sagte ich nur und ließ mir Bahnhof und Zug nennen.
Am nächsten Morgen früh um acht fuhren wir.
* * *