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Bei meiner Heimkehr hatte Lil die Stube mit Zweigen und Grün geschmückt. Sie kam mir entgegengelaufen über die Wiese. »Ask,« sagte sie, »o Ask!«
Ich vergaß, daß es ein Draußen gab, hinter dem Walde. Ich vergaß den Ring an ihrem Finger. Ich legte meine Arme um Lil. Wir küßten uns.
»Ja«, sagte Lil, als ich sie aus den Armen ließ. »Ja, ja!« Ihr Gesicht war wie beschienen. Wir gingen Hand in Hand zu unserm Hause.
Nachdem ich den Koffer geöffnet hatte, schickte Lil mich wieder fort. Bald danach stand sie ganz neu auf der Türschwelle. Sie hatte ein weißes, weiches Kleid an, kurzes, festes Leibchen und einen fließenden Rock. Hals und Arme waren frei. Einen schmalen Kranz aus Siebenstern trug sie tief in die Stirn gesetzt. Sie sah aus wie die Seele des Waldes.
Das Fest unserer Mahlzeit sollte draußen stattfinden. Wir speisten kalt, außer sehr vielen Tassen glühheißen Tees. Morgen früh würde ich irgendeinen Vogel heimbringen oder einen Hasen oder einen Fisch.
Ich zeigte Lil mein Boot. Ich hatte es aus einem Pappelstamm gehöhlt, nachdem mir die Gedinger-Leute den Stamm mürbe gekocht hatten. Sie waren geübt in solchem Geschäft. Lil geriet wieder außer sich vor Entzücken. Sie mußte wieder tanzen. Wie ein tauberauschtes Waldfräulein wirbelte sie über die Wiese. Plötzlich stand sie still, mitten auf der Wiese, die wie ein See wirkte. Die Dolden des Schierlings, Grasrispen und große bläuliche Glockenblumen brandeten um ihre Knie wie erregte Wasser. Sie hatte sich leicht zurückgeworfen, Kopf in den Nacken gedrückt, Oberarme und Körper wie verwachsen, Unterarme gelöst und gedehnt. Die aufwärtsgekehrten, zusammengefalteten Handflächen mit den gestreckten Fingern erweckten den Eindruck von Schalen, die sich verschütten. Ganz streng war die Haltung, fast starr. Als ob sie zerbrechen müßte unter einem Höchstmaß der Empfindung, wenn sie sich nur im geringsten nachgäbe. Es war Abgeschlossenheit und Hingabe in einem. Man konnte nicht sagen, wurde Gott empfangen oder unermeßlich verschenkt. In dieser eigentümlichen Haltung und Gebärde stand Lil, wie ich sie später der schenkenden Mutter Gottes gab.
Ich sah ihr zu. Ich trieb dahin auf funkelnden Strömen ohne Namen . . .
* * *
Wie ich mich an jeden Augenblick erinnere, den wir lebten! Einmal – die folgende Nacht war zur Wanderung nach St. Olai festgesetzt – sagte ich wie im Traum: »So ward aus Abend und Morgen der dritte Tag. In sieben Tagen schuf Gott Himmel und Erde.«
Lil erblaßte. Sie hatte ein so tiefes Erblassen, wie ich es sonst bei niemand gesehen habe. »Himmel und Erde«, wiederholte sie träumerisch. »Und selbst Gott brauchte sieben Tage! Ich legte den Arm um ihre Schulter. »Lil, glaubst du, glaubst du wirklich, du könntest in Riga Mittsommernacht allein erleben?«
Sie stand eine Weile wie erstarrt in meinen Armen, dann wandte sie sich hastig herum: »Nein, oh nein!« rief sie laut und klagend.
Ich trug sie zu der Moosbank, die ich ihr am Fuße der Birken gegenüber dem Hause bereitet hatte. Dann kniete ich neben ihr nieder. »Sollen wir geringer sein als unser Schicksal, Lil?«
Sie herzte mein Gesicht, das ich an ihre Brust gelehnt hatte. Sie erwiderte nichts. Sie weinte und lachte. Ich wußte, sie blieb, und ich sollte sie nach Riga begleiten.
* * *
Ein andermal gingen wir vor Sonnenaufgang an die Stelle des Moors, wo die Horste der Fischreiher sind. Nicht wie die der Silberreiher oder der Steppenreiher im Schilf, sondern hoch auf den Bäumen. Schon aus der Ferne zeigte ich sie Lil durch den Zeiß, etliche am Rande des Moors, wie ihre Mütter sie zu schlafen gelehrt hatten seit Jahrtausenden: auf einem Bein, das andere leicht angezogen, Brust herausgeplustert, Kopf ins Genick gedrückt, den Schnabel aufgestellt wie eine Lanze. Lil geriet wieder außer sich über diese bequeme Art, sich der Ruhe hinzugeben. Ein paar andere waren bereits beim Fischfang. Sie standen gleichfalls unbeweglich und warteten. Als ob sie einen geheimen und dunklen Naturritus ausübten. Bald darauf überglühte Sonnenlicht beide, die Schlafenden und die Arbeitenden.
Einmal sahen wir die Tiere und einmal die Pflanzen und einmal das Geheimnis der Sterne. Ganz matt schimmernd, kaum sichtbar standen sie in dem rosenfarbenen Himmel. Aber ich hatte eine zerbrochene Glasscherbe leicht geschwärzt, und ich holte den Sextanten Rottmanns und die Sternkarte, und wir wurden nicht müde, unserm mangelhaften Stadtwissen nachzuhelfen. Wir wählten uns jeder einen Stern, der uns gehörte. Lil wählte den Arktur im Bärenhüter, und ich die Spica in der Jungfrau. Aber wir hatten noch viele Lieblinge außerdem.
Manchmal erzählten wir uns auch von unserm »Draußen«. Lil mußte alles wissen; von der guten Agathe und dem Elternhause von der Mona-Lisa-Erscheinung und meinem Gelübde, und wie ich es gebrochen hatte. Von meiner Einsamkeit und dem Kampf um mich selber. »Lieber, ach Lieber!« Wie süß es war, wenn sie meinen Kopf in die Hände nahm und an sich drückte, und ich spürte den Schlag ihres schmerzlich erregten Herzens.
Manchmal fing auch sie an und erzählte von ihrem »Draußen«, in dem Reichtum und dennoch der scharfen Begrenztheit ihres Lebens mit – Eberhard. Aber dieses Draußen schien uns nicht zu betreffen. Es blieb draußen. In unsere Tage und Nächte reichte es nicht hinein.
* * *
Die Nächte! – –
Am ersten Abend, als ich Lil in ihr Haus führen wollte, hatte sie es bereits gesagt: sie wollte nicht drinnen schlafen. Sie wollte nicht in einem Bett schlafen.
Da richtete ich ihr ein Lager aus Laubstreu und Moos mit Laken und Decken und den Birkenkissen der Sofabank, und ich selber lag in meinen Mantel gehüllt mit Sikras zu ihren Füßen.
»Brüderlein und Schwesterlein gingen in den Wald«, sagte Lil beim ersten Niederlegen. Ich erschrak. Ich wußte, es war nicht so. Ich fühlte es in meinem Blut. Da wagte ich es nicht, Lil zu küssen, wie ich es getan hatte, als ich heimkam, im Rausch eines Glückes ohnegleichen und doch sanft.
Als wir eine Weile geruht hatten, hörte ich Lil leise meinen Namen rufen. Ich antwortete nicht, ich wußte nicht warum. Aber später wußte ich es wohl. Lil stand auf. Sehr behutsam. Sie kam zu mir und sah mich an. Ich fühlte es, obgleich ich die Augen fest geschlossen hielt. Ich wartete. »Gute Nacht, Ask!« sagte Lil leise. »Gute Nacht!«
Sie bückte sich über mich, und ich fühlte ihren Kuß auf meinen Augen, zart, als ob ein Schmetterling mich streifte.
Dies war unser »Gute Nachts bis zum letzten Abend.
Bei Tage gingen wir Hand in Hand und saßen aneinandergeschmiegt, und bei Tage küßten wir uns mit vielen zarten und süßen Küssen. Zur Gute Nacht küßten wir uns nicht. Aber immer, wenn Lil dachte, ich sei eingeschlafen, rief sie: »Ask!« Und wenn ich nicht antwortete, kam sie, und ich fühlte ihren Kuß leise wie Schmetterlingsflügel auf meinen Augen.
* * *
Einmal zeigte ich Lil das Bild des kleinen Mädchens mit der blauen Schärpe. »Mama!« schrie Lil. »Meine herzige, kleine Mama! Wie ist es möglich?«
Da erzählte ich ihr von Benjamin Rottmann, was ich von dem Baron Rosen wußte, und ich zeigte ihr die Schriften Rottmanns.
Lil saß auf meinem Schoß, während ich ihr erzählte, und während wir zusammen lasen. Ihr weiches Haar streifte meine Wange, und ihr Atem strich mir über Gesicht und Hände. Sie war wie ein Stück von mir. Ja, wir waren bereits vermählt. Auch ohne – das Letzte!
Als wir zu Ende gelesen, schlang Lil die Arme um meinen Hals. Sie war ganz kalt geworden und ihr Körper zitterte. »Ärmster Mann!« flüsterte sie. »Arme, arme Mama!«
Dann gab sie sich in meine Liebe, wie jemand auf der Flucht sich in den Schutz und die Wärme einer lampenhellen Hütte birgt.
An diesem Abend sah ich Lil noch einmal auf der Wiese stehen in dieser erschütternden Haltung der Empfängnis und der Hingabe.
* * *
Ein paarmal gingen wir zum Moor. Es übte auf Lil dieselbe geheimnisvolle Anziehungskraft aus wie auf mich. Als wir an die Stelle kamen, wo der elende morsche Stamm eine Brücke bildet, »hier war ich schon einmal!« rief Lil. »Ja, hier! Über diesen Stamm bin ich gelaufen an dem schrecklichen Tag. Oh, an dem geliebten Tag! Ask«, sie wandte sich um. Sie lehnte sich zurück an meinen Arm: »Am ersten der sieben geliebten Tage!«
»Ach Herz, mein Herz!« Ich fühlte die Kälte im Genick als ich von ihrem Wege hörte. Wir kamen gerade über eine böse schlammige Stelle. Ich nahm Lil in meine Arme und trug sie hinüber. »Es war schlimm damals«, sagte sie an meinem Ohr. Ich fühlte die Schauder durch ihren feinen Körper gehen. »Es war, als ob die Stille einem das Herz abdrückte. Der Sturm, als alles schwankte und krachte – das war nicht das Schlimmste, das war großartig und herrlich in allem Schrecken, aber diese Stille war grausam. Ich glaube, wenn das ganz Furchtbare über die Menschen kommt, das ganz Unerbittliche – dann kommt es in solcher lautlosen Stille.«
»Ach, Lil!«
Ich ließ sie nicht von den Armen als wir schon wieder festes Land unter den Füßen hatten. Brüderlein und Schwesterlein gingen in den Wald? Konnte sie es noch immer glauben?
»Nicht denken«, sagte Lil plötzlich. Sie bog meinen Kopf zu dem ihren. »Es kann nicht aufhören. Dies kann nicht aufhören!«
»Ich weiß noch nicht, wie«, sagte sie nach einer Weile. Ihre Augenbrauen zogen sich schmerzlich zusammen. »Es wird so großes Leid damit verbunden sein. Aber es gibt etwas, das dauern muß. Alles höchste will Ewigkeit.« Sie atmete tief. Tränen überströmten plötzlich ihre Wangen. Sie küßte mein Gesicht, Augen und Mund. »Du bist bei mir!« Ihre Stimme flog. »Du bist – bei – mir!« –
Dann glitt sie aus meinen Armen nieder. Ehe ich sie halten konnte. »Heute ist heut!« Ihre Augen waren noch immer mit Tränen gefüllt, aber sie strahlten.
Wir waren an eine der schönsten Stellen des Moors gelangt. Eine Eiche steht dort, vermoost und verwittert. Dies ist der steinalte König. Immer noch ist Gottesgnadentum um sie her, dem nicht widersprochen wird. Zu ihren Füßen hält sich seliges Jungvolk; wehende Birken, Faulbaum, rote Föhren, Pihlbeerbäume mit blassen Korallenbüscheln übersät, ein paar Kiefernkrüppel und immer zusammen Eschen und Erlen.
Ich bereitete für Lil einen weichen Sitz. Kranzmoos wuchs hier in dicken, lockigen Polstern. Wettermoos, das den Regen ankündigt, aber auch Frauenhaar mit den zarten, goldgebecherten Fäden.
Lil fing an von den kleinen Moosleuten. Sie hatte eine Amme gehabt aus der Rhön. Man mußte mit der Axt ein Kreuz in die Baumstümpfe schlagen, daß sie sich daraufsetzen konnten und Schutz fanden vor den bösen Geistern, und man mußte ihnen Speise auf den Ofen stellen.
Meine gute Agathe stand plötzlich vor mir. Und alles Geheimnisvolle, Erdhafte, damit sie verbunden war.
Lil hatte von ihrem Sitz aus eine Orchis entdeckt, mit der Unterlippe wie ein goldener Schuh. Die übrigen Blütenteile glichen bepurpurten Bändern. »Sieh, o sieh!« Sie bog mir das Gesicht zu der Blüte.
»Marienschühlein, Lil. Weißt du auch das Geheimnis der Wurzel? Nein?
Sie hat eine Hand an der Wurzel, die Orchis. Manchmal ist sie schwarz und ein andermal weiß. Die schwarze Hand ist Satans, die weiße Christi. Wenn jemand von seiner Liebe verlassen wurde, muß er ausgehen, allein, um Mitternacht am Johannistage und eine solche Wurzel ausgraben. Ist er reinen Herzens geblieben, so findet er die weiße Hand. Er muß sie in fließendes Wasser werfen. Dann verläßt ihn seine Not.«
Lil drückte sich fester an mich.
»Soll ich sie ausgraben, Lil?«
»Dann muß sie sterben. Sie ist so schön.«
Aber ich pflückte die Blüte und steckte sie Lil an die Brust. Die Knolle konnten wir nachher wieder eingraben. In diesem feuchten Erdreich würde sie bald wieder festwurzeln. Mein Taschenmesser tat schnelle Arbeit. »Die weiße Hand!« jubelte Lil. Sie sah die eigentümliche Knolle an, gespannter Frage. Plötzlich küßte sie sie. »Was tust du, Lil?«
»Ich weiß nicht.« Ihre Stimme klang hilflos. »Mir war so heilig«, flüsterte sie. »Seit ich auf deine Wiese kam, greift alles so weit hinüber. Bei uns, bei Eberhard, ist immer alles ganz klar und ganz einfach und fertig. Hier ist mir immer, als ob die Hauptsache erst hinter allem anfinge. Alles Vergängliche . . .«
»Ist nur ein Gleichnis.«
Lil schloß die Augen, wie sie ihren Kopf in meinen Arm zurückbog. Aber ich glaubte, ihren Ausdruck zu erkennen unter der leichten Decke ihrer Lider. Ihr Gesicht war wie fortgenommen in eine ferne Schau.
Ich wollte die Knolle behalten, die Lil geküßt hatte.
»Du brauchst sie nicht«, sagte sie in sanfter Zärtlichkeit.
»So will ich sie der Erde zurückschenken, Lil. So will ich deinen Kuß einpflanzen, daß er wächst und blüht und Sonne und ewig wird.«
»Ewig!« sagte Lil. »Ewigkeit!« Ihre Brust ging auf und nieder. »Früher habe ich immer nur in Worten gedacht. Jetzt kommt mir erst der Sinn der Worte.«
Dann gruben wir die kleine, weiße Hand wieder in die Erde. Es war wie eine heilige Handlung.
* * *
Sikras war so wunderbar in dieser Zeit. Er war es wohl immer. Aber in diesen sieben Tagen mit Lil übertraf die Feinheit seiner Seele alles bisher Dagewesene. Kein Mensch mit vollkommener Herzenskultur hätte sich taktvoller benehmen können. Seine Beherrschtheit in jägerischer Beziehung war ja immer schon beispiellos. Auch heut. Niemand hatte ihm gesagt, daß er sich setzen sollte, aber er tat genau so, als ob er diesen Befehl erhalten hätte. Keine raschelnde Maus, kein fürwitziges Eichhörnchen, kein abstreichendes Wild konnte ihn aus seiner Stellung bei Fuß fortlocken. Wie ein steinerner Wächter unserer Liebe war er bei uns. Er schien uns nicht zu hören und nicht zu sehen, aber seine ganze Seele war uns schweigend und leidenschaftlich hingegeben.
Dieses Glück, wenn wir ihn riefen! Er wußte alles um uns. Die Größe seines Gefühls überwand nach und nach jede letzte Anwandlung von Eifersucht. Er hatte nur den Drang, uns beide als das gleiche und das eine zu empfinden. Und er gab hundert zarte Beweise dieses Verlangens und Gelingens, bis jeder Zwiespalt in ihm endgültig gelöst war.
Ich sah zufällig einmal zu ihm herüber, wie er, die Nase gegen den Wind, kurz atmete und ein leises Zittern von Zeit zu Zeit durch seine Flanken lief.
»Wilde Enten, Lil! Wahrscheinlich ein ganzer Schoof wilde Enten! Hörst du sie brausen? Wir werden sie nicht sehen können. Sie haben, wie es scheint, nicht diese Stelle des Moors im Sinne. Sie rudern uns querüber hoch in den Bäumen. Aber hörst du das Brausen ihrer Flügel?
Lil, heute bin ich fürstlich im Darbieten. Siehst du dieses? Sieh doch nur! Sieh!« Ein Viertelhundert Trappen strich über das Moor. Wie dunkle Pilger. Wie ihr breiter, beruhigter Flügelschlag die blasse Bläue durchklafterte!
Ja, dies war ein Anblick! Aber nachgerade hieß es doch an die Arbeit gehen. Unsere Speisekammer wurde leer. Ein paar Vögel wären gut zu Mittag und Abend. »Erlaubst du, Lil?«
Lil wußte vom ersten Augenblick, was Ansitzen bedeutet. Das Blut ihrer Ahnen war in ihr lebendig geworden, sobald sie den Fuß in diese Wälder setzte. Obwohl jene Pirschgang und Ansitz kaum geübt hatten, die Art des Jagens, die den letzten Geheimnissen am nächsten bringt. Jetzt blieben wir lautlos und bewegungslos wie Sikras.
Einmal gab ich das Prismenglas an Lil. Große Zeit, war das kostbar! Weitab, jenseits der kleinen Halbinsel gegen das schwärzliche Unterholz ein dunkelkupfriger Bock. Königlich hatte er aufgesetzt.
»Verzeih, Lil! Sikras, was meinst du, Rebhühner?« Der Bock ging auch gerade ab. Irgend etwas hatte ihn aufgeschreckt. »Sieh nach, Sikras, was dort vor sich geht!«
Als Sikras Befehl erhielt, zu revieren, merkte man erst, von welcher ungeheuren Spannung er erlöst wurde. Er war bewunderungswürdig. Kaum zwei Minuten, da liefen sie schon an dem schmalen, dunklen Schilfstreifen entlang. Von der Wiese herüber, ganz langsam, zog Sikras nach. Wie ein Mathematiker berechnete er. Nicht zu weit links, Sikras; dann gehen sie ab ins Unterholz. Ach so, du willst sie über das Moor bringen, da, wo es dich trägt.
Sie sind hartnäckig. Jetzt – ha – Sikras ist vollkommen! Der erste geht hoch, der zweite . . . »Erschrick nicht, Lil!« Ich habe angebackt. Himmel, ein Volk von sechzehn Stück! Sie müssen von Süden hergekommen sein, wo die Wälder sich auftun zum Widelsee. Jetzt wollen sie zurückkehren von ihrem Streifzug. Nun, fahr hin! Bei dem ersten war ich zu hitzig. Aber der andere – wie ein Stein.
Sie verfliegen sich. Ich habe wieder geladen. Das lohnt doch wirklich nicht. »Sikras, könntest du sie nicht noch einmal aufmuntern? Oh weh, das meintest du nicht; auch dieses ist hin, es fiel mitten ins Moor. Aber die beiden andern – und das dritte – und noch eins!« –
Als ich Lil ansah, hatte sie den Kopf tief in den Nacken gedrückt. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen schimmerten.
»Meinst du das, Lil? Da drüben, über den himmelhohen Eschen? Noch höher, immer höher, den glühenden Punkt? Die leidenschaftliche Seele? Direkt in den Himmel schraubt sie sich hinein, direkt ins Jenseitige. Lil, soll sie uns sagen, was sie gesehn hat?
Nein? Du willst, sie soll sich verzücken in die Unendlichkeit? Gut, Lil, gut!« – Es war ein roter Milan. Eine Königsweihe. Ich hätte ihn gern Lil von nahe gezeigt. Jetzt erblickte sie nur den Edelrost des Brustschildes, nicht den weißgefiederten Helm, mit Blut besprenkelt. Nicht der Schwingen düsteres Feuer und den glühenden Rückenharnisch. – »Aber du hast recht! Leben ist heilig! Sehnsucht ist heilig, Lil!« –
Sikras brachte bereits den dritten Vogel angeschleppt. Weich im Maul. Kein Federchen wäre ihm gekrümmt worden von dieser Seite.
Dieser Tod war etwas anderes. Er bedeutete Leben für uns. Und dennoch das Geheimnis? Noch warm, eben noch gebadet in Sonne und Heiterkeit. Und nun – ein winziger, roter Fleck auf den Brustfedern und – gebrochene Augen, die Ständerklauen steif ausgereckt. Bald ist die Wärme entflohen. Tod, Lil, wie wunderbar ist der Tod! Was ist der Tod? Was ist Leben? Tauschen wir nur eine Wirklichkeit gegen eine andere? Es wird wohl so sein, wie sie sagen: wenn unsere Körper aufhören zu sein, kehren sie zurück in die alte Erdheimat, der sie entstammen. Der große Kreislauf wird niemals unterbrochen. Und das ist Ewigkeit.
Nur daß sich die Sehnsucht der Einzelseele damit nicht zufrieden gibt, Lil. Daß sie Ewigkeit verlangt für ihre höchsten Augenblicke! Für ihr letztes Erleben, das so sicher hinübergreift in ein fremdes, unerforschtes und doch so wirkliches Reich. Ja, dieses letzte Erleben! Gebunden an Erde, gebunden an Fleisch und Blut, und dennoch, wie im Sakrament, Erde erhöhend zum Himmel, Fleisch und Blut umwandelnd in das Göttliche, sollte es uns nicht Bürgschaft sein, daß die kleine Einzelflamme, unsere Seele, nicht erlöschen kann? Daß sie nichts anderes ist als ein Atom jener gewaltigen flammenden Seele, die, weil sie alles ist, auch du sein mußt, Lil, auch ich? Ist diese Erkenntnis nicht dasselbe wie die Lehre von der Immanenz und Transzendenz Gottes? – Beschlossen in die Grenzen unserer kleinen Menschlichkeit und zugleich aller Welten und Himmel König und Herr?
So hatten wir viele Stunden, da wir zusammen vor den großen, dunklen Toren standen und von drüben her die gewaltigen Herzschläge spürten.
Einmal zeigte ich Lil zwei Schnecken. Sie waren grau und silberglänzend aus ihren Häusern herausgestiegen, soweit sie es vermochten. Ihre Oberleiber waren aufgerichtet. Die Fühler gestreckt wie Geweihe. Sie sahen aus wie winzige Hirsche. Sie berührten einander fortwährend zärtlich mit den Fühlern. Sie saßen am Rande eines grünen Hanges, in einer kleinen, rotblühenden Bucht, in Sonne gebadet. Und immer wieder berührten sich ihre bebenden Fühler, während die Schmetterlinge durch die goldnen Wellen taumelten, in denen Blumen und Gras ihre Liebe ausströmten.
Ein andermal ruderte ein Zug Kraniche den Himmel entlang. Eine langgestreckte, perlgraue Eins in Türkisen gesetzt. Wenn der Wald im Golde stand, würde der Kranichzug wie die Abschiedsgebärde dieser Zeit erscheinen.
Oh, es geschahen Wunder über Wunder für Lil und mich. Das Heimlichtun einer Birkhenne, die im Erlengebüsch ihr Gelege verbarg, gehörte dazu. Der kleine Hase, dessen possierliche Männchen uns eben noch erheitert hatten, und der in angstvollen Fluchten plötzlich die Wiese nahm. Aber der Habicht blieb dennoch sein Schicksal. Der Terpentingeruch der Kienkerzen gehörte dazu, und das Sieden des Harzes, die Stämme hinauf. Das plötzliche wilde Reden und das ebenso plötzliche Verstummen des Schilfes. Die Wolke von Brachvögeln, deren Silber und Gold vom hohen Himmel durch die Zweige sickerte, mit der Musik ihrer Liebe, wie von englischen Harfen und Zymbeln. Das Geheimnis der roten Pilze gehörte dazu, zwischen dem säuerlichen Altersgeruch vermorschter Stämme. Das Zittern der Luft von tausend Florflügeln und hornigen Flügeln, der millionenfältige Paarungsrausch des Kleinvolks auf der Erde, in Moos und Fallaub, die Lichtungen von roten Beeren besternt; die kleinen Zaunkönige in den Schwarzdornhecken, der berauschende Duft der Porschblüten, die Lichter, lebendig und geheimnisvoll wie Träume, die an den Stämmen hinauf und herunter liefen, und das plötzliche Aufschrecken des Waldes wie vom Nahen des Schicksals.
Wie spukhaft wirkte z. B. der unbegreifliche Wirbeltanz eines einzigen Blattes am Zweig, während alle seine hunderttausend Geschwister wie leblos hingen, oder das Aufbaumen eines Kauzes, der in das hohe Licht des Mittags sein Uh–huh wie einen unheilvollen dunklen Kohlestrich hineinsetzte. Ja, der Mittag überhaupt! Diese undeutbare Stunde, wenn der Bilwitz den Wanderern aufhockt und die Roggenmuhme mit den eisernen Brüsten weit draußen durch die Felder geht, und wenn plötzlich im Röhricht oder auch tief drinnen im Wald die Pansflöte anhebt und »das« steht Auge in Auge mit einem: das Unerhörte!
* * *
Zu andern Malen erzählte Lil von der Zeit, die sie als Kind bei den Verwandten in Estland verbrachte. Man hatte eins der benachbarten Güter besucht. Als man heimfuhr, war es nach Mitternacht. Aber das Blut ist erregt in diesen rotblühenden Nächten. Auch Kinderblut. »Wir fuhren über eine weite Wiese«, erzählte Lil. »Dort ging das Vieh wie mit Rosen bekränzt. Der Himmel schien unermeßlich und paradiesisch schön, und der kleine Fluß, quer durch die Wiesen, war wie mit geschmolzenem Feuer gefüllt. Hier und da stand eine schmale Rauchsäule in all dem Rosenroten. Da kochten sich die Hirten etwas. Es war alles so jenseitig. Ich hätte es natürlich nicht ausdrücken können. Aber ich spürte irgendeine bange Sehnsucht. Mama und ich wachten zuletzt noch allein in dem großen Wagen. Alle andern schliefen, sogar der Kutscher, glaube ich. Wir fuhren hin wie in einem wunderbaren Traum. Wie in einem Lande jenseits alles Verlangens. Plötzlich merkte ich, wie Mamas Schultern bebten. Sie hatte die Hände vor das Gesicht gedrückt und zwischen ihren schlanken Fingern quollen die Tränen hervor. Ich fing auch an zu zittern. War ich vielleicht gestorben? Und war schon im Paradiese? Und nur noch ein bißchen fremd dort? Mama weinte. Dann mußte die Welt wohl untergegangen sein.
Gerade in dem Augenblick nahm Mama die Hände von den Augen. Sie begriff alles. Sofort. Sie nahm mich ganz nah. Sie lächelte. »Man muß immer gut sein,« flüsterte sie, »dann braucht man nicht zu weinen, wenn es so schön ist wie jetzt eben.«
Ich erschrak. – Mama . . . war Mama nicht – immer? . . . Aber das war unmöglich. Ich drängte mich noch fester an sie und küßte fortwährend ihre schmalen Hände, die von Tränen naß waren. Und dann sagte Mama noch etwas, was ich nicht begriff und was ich Jahre hindurch vergaß: »Schuld und Schmerz und Sehnsucht nach der Vollkommenheit«, sagte Mama. »Oh Benjamin!« sagte sie. Nachher küßte sie mich und lächelte sanft und ergeben. Dies war das Schönste und Schrecklichste, was ich erlebte in meiner Kindheit.«
»Später!« Lil flüsterte wieder, »bei den Bildern des Meister Franke, in Hamburg in der Kunsthalle, wo die Sterne ganz klar in dem völlig rosenfarbenen Himmel stehen . . . Es ist etwas Unmögliches, und doch erscheint es viel wirklicher als die Wirklichkeit. Als ich sie sah, hörte ich zum erstenmal wieder Mamas Worte: ›die Schuld und der Schmerz und die Sehnsucht nach der Vollkommenheit.‹ Ask . . .«
Ich nahm Lil in die Arme. »Warum muß Schuld und Schmerz in der Welt sein?« flüsterte sie, Mund auf Mund.
»Vielleicht um der Sehnsucht willen, Lil. Vielleicht ist die Sehnsucht nach der Vollkommenheit das beste, was wir haben. Oh Liebling!«
»Ja, Lil, und heut, wir haben nur noch heut und morgen und übermorgen. Heut sollst du das Höchste erleben, womit wir dir aufwarten können. Die Wanderung ist ein wenig weit und beschwerlich an dieser Seite des Moors entlang. Aber in der Nacht brauchen wir nicht zurück. Heut sollst du in meiner Höhle schlafen, und beschützt von unserem Lagerfeuer, wie wir vor tausend Jahren so oft zusammengeschlafen haben. Heut sollst du das letzte Mysterium dieser mysterienhaften Landschaft erleben. Denn woher tiefer als aus dem Auge vermöchtest du eine Seele zu deuten? Und hier ist das Auge der ewigen Wälder. Hier sind wir beim Moorteich.
Sieh, hier baue ich dir deinen Thron, am Fuße der jungen Silberbirke. Sie spiegelt ihre Schlankheit und ihr wehendes Haar in der dunklen Bronze des Moorteichs. Wirst du dich auch darin spiegeln, Lil?
Ja, wirklich! Wie du am Rande stehst, sehe ich den perlblassen Schimmer deiner Stirn – die stahlblaue Cyanea hängt sich in dein Haar. Sie nimmt es für die bräunlich goldene Rispe des Schilfs. Du bist schön, Lil! Und du bist geheimnisvoll wie die ewigen Wälder und wie der Moorteich. Bist du auch sein allerletztes Mysterium?«
Ich hatte alles mitgebracht, was wir für einen Tag benötigen mochten. Die Büchse selbstverständlich. Denn so völlig war ich in den fünf Monaten meines Lebens im Walde zum Jäger und Waldmenschen geworden, daß mein guter Drilling mir wie ein Glied meines Leibes erschien.
Aber auch Nelkenöl hatte ich mitgenommen. Das Fläschchen von Rottmann. Für Lil. Der Schnaken wegen vom Moorteich.
Nun saßen wir und träumten über all diesem. Vielleicht war es gar nicht ein Moorteich? Vielleicht war es Frau Isots Zaubertrunk? Dunkelgolden in einer Schale aus Malachit. Das schwere matte Grün seines Randes war geschmückt mit dem herrischen Funkeln der Smaragde, sanften Chrysoprasen und dem ganz unwirklichen Schimmer peruanischer Emeranthen. Ach, so werden wir ihn wohl trinken müssen, den Trank der großen Passion!
Wir hatten viele Freunde zu begrüßen: Rohrkolben, Schwertlilien, Vergißmeinnicht, gelbe Mummeln, stark duftende Minze und Weiden, die so sonderbar menschlich riechen. Aber zugleich wußten wir, daß unten im Grundwasser dennoch das Sumpfweib lauerte, mit Schwimmhäuten zwischen den grünen Fußzehen. Es springt den Unvorsichtigen an, drückt ihm mit kalten Fischarmen die Kehle zusammen, daß ihm der Schweiß in kleinen Tropfen aus allen Poren drängt. Es schreit ihm in die Ohren ein Wort, das er nicht versteht, jagt ihn im Kreise, heißt ihn springen und sich flach auf die Erde werfen wie einen tanzenden und schäumenden Derwisch, und es lacht gellend und peitscht ihn mit scharfem Schilf, bis es den Todmatten zuletzt auf den Grund zieht.
Ja, Lil – so dicht beim Sumpfweib bist du gewesen damals. Mein Liebling! –
Komm, wir wollen lieber dorthin schauen, wo die kleinen Dschungeln beginnen. wo der Faulbaum, der im Mai so überschwenglich blühte, festen Fuß fand, der Pihlbeerbaum, die Linden und Weißerlenbüsche. – Die Weißerle, die gilt ein wenig als Unkraut hier. Nein, schilt nicht. Das geht uns nichts an. Du bist eine hohe, schlanke Schwarzerle. Siehst du, dort neben der Esche. Die kann sich schon sehen lassen! Sie überragt die alte, morsche Königseiche um ein Beträchtliches. Und die Schwarzerle reicht ihr fast bis zur Stirn. Du reichst mir fast bis zur Stirn, Lil – Ask und Embla! Sieh, es ist alles in Ordnung. Ja, du hättest freilich im Frühling hier sein müssen, als alles durcheinander konzertierte: die Wein- und Singdrosseln und Sprosser. Die Rohrdommeln, die Meisen und Finken. Und die Singschwäne, Lil.«
Dann beobachteten wir einen Haubentaucher mit gefiedertem Helm, und zwischen den Schilfkolben das lächerliche Sumpfhuhn. Ein Fischadler kam, Lil seine Aufwartung zu machen. Oder ob er vielleicht doch den Blei im Sinne hatte? Wie ein mattsilbernes Messer schlug der Fischschwanz auf und nieder. Daß Fische zur Stummheit verurteilt wurden! Überhaupt Geschöpfe. In Leid und Beglückung ohne Laut . . .
Aber während wir noch staunten über diese unbegreifliche Härte der Natur, schien es, als ob drüben zwischen den Föhrenzweigen Türkisen ausgeschüttet würden, ein rechter Beutel. Ich meinte zuerst, es seien Mandelkrähen, deren es viele hier gibt. Aber es waren Blauracken. – »Hast du sie im Okular. Lil? – Ja, Lil, im Herbst wollen wir wieder hierher kommen, wenn die Brandenten und die Fuchsenten sich in Scharen zusammentun, und die Graugänse und Ringelgänse. Das ist die Zeit, wo der Herbann der Kraniche, Reiher und Störche hindurchreist und zuweilen auch Trappen und Kormorane. Ich erlebte dies alles im Frühling. Lil. Im Herbst wollen wir kommen, wenn die Hirsche röhren. Rothirsch und Elchhirsch, und im Frühling, wenn die Auerhähne singen!«
»Wie du ihn gebildet hast? Wie er der Pansflöte lauscht?« Lils Augen öffneten sich groß.
»Ja, Lil. Ja. Gerade so.«
Überhaupt im Frühling! Dann ist es vollkommen, als tauche man hinab auf den Grund verlorener Legenden. Man wartet immer, ob er nicht endlich heraustreten wird, zwischen den Stämmen heraus auf die Lichtung, der Urmensch mit langen, behaarten Armen und der dumpfen Frage der unerlösten Kreatur in den dunstigen Augen. Erzählte auch einmal jemand, es gäbe so etwas in der Welt, das hieße Berlin?
Aber nun mußte Lil essen. Es war 11 Uhr mitteleuropäisch. Der Normalwaldmensch hat um diese Zeit sein Haupttagwerk verrichtet. Und Lil bekam nicht einmal Bärenschinken. wiewohl das mein Ehrgeiz war. Wo nämlich der Elch zu Hause ist, sind Luchs und Bär nicht allzu fern. Nun, wir würden ihn schon einmal errufen, den starken Zottigen.
Aber dieses Stück Rehkeule war auch nicht so übel. Nur ein Besteck haben wir vergessen. Verzeih doch, Lil. Vielleicht wenn du mein Taschenmesser gebrauchtest? Komm, Lil, gib, denn es schneidet wie Gift. Auf diesem herrlichen Lattichblatt werde ich dir anrichten.
Es gab eine Zeit, Lil, als die Könige von goldenen Schüsseln ihr Fleisch mit den Fingern nahmen. Nicht wahr? Und der Moorteich wird dein schimmerndes Handbecken sein.
Ist dieses das Geheimnis des Moorteichs, daß er sie erlebt hat, die Jahrhunderte? Ein Jahrtausend vielleicht? Irgendeine kleine begrenzte Spanne auf dem uferlosen Zeitmeer?
Er weiß von den ungeheuren Wäldern, in denen die unsrigen hier nur eine winzige Insel bedeuten würden. Tausende von Meilen erstreckten sie sich, und der dumpfe Atem, den sie fortwährend ausstießen, klafterte turmhoch als Nebel über ihnen, daß kein Himmelsstrahl ihr schmerzhaftes Dunkel erlösen konnte.
Er hat sie vielleicht noch im Ohr, die Urschreie der Riesenhirsche mit ihren Gebäuden wie Waldbäume, und den schwarzen, zottigen Brunftmähnen. Ob er noch das wilde Schweifschlagen der Brontosaurier gehört hat? Sie waren höher als der höchste Wolkenkratzer der Großstädte, und hatten diese entsetzlichen, winzigen, hirnlosen Köpfe. Jedenfalls weiß er von den gelben Harzflüssen, die den turmhohen Leibern roter Föhren entquollen.
Aber all dieses Gewesene liegt um ihn her wie ein unermeßlicher Friedhof, und die Meere spülen darüber hin, der Rigaische Busen, der Bottnische, der Finnische und die blaue Ostsee, und sie bewahren auf ihrem Grunde das goldgelbe Föhrenblut als Bernstein. Und die Leiber der zusammenstürzenden Recken, das wilde Wachsen, das übermenschliche Keimen und Treiben – es wurde Moorerde. Es wurde Lebensgrund für neue Wälder und Tiere, neues Brodeln und Quellen, Drängen und Kämpfen, Hassen und Lieben.
Erinnerst du dich nicht daran, Lil? Es war lang vor der Zeit, als die Könige von goldenen Tellern und ohne Gabeln ihr Fleisch verspeisten. Aber erinnerst du dich nicht, als ganz dicht beim Pol der große Gletscher sich ablöste?«
»Wir flohen vor ihm«, sagte Lil glücklich und schnell. »Wir zwei. Du und ich im Haufen der andern, Ask und Embla. Ich erinnere mich wohl, wir hatten Mähnen wie rotes Gold oder von der Farbe des reifen Korns. Und wir waren bekleidet mit einem Wildschurz. Oder vielleicht mit einem ersten groben Linnenhemd, von mir gesponnen und gewebt.«
»Vielleicht, Lil. Vielleicht. Aber ich glaube es nicht einmal. Nein. Was wußten wir damals von der Blöße unseres Leibes? Seine Kraft und seine Schönheit war Kleides genug. Noch keine Bewußtheit hatte uns unterrichtet über Böse und Gut. Wir wußten nur, wie die Schwalbe weiß, wenn der Winter kommt. Und wir flohen aus dem blühenden Traum unserer tropenwarmen Heimat vor dem jähen Grauen der Kälte.
Und hinter uns drein zogen die Unerbittlichen: zermalmten Gebirge, zerbarsten Wälder, stürzten sich in Meere und verjagten sie, rissen Schrunde zu neuen Meeren, vertauschten der Erde Antlitz, und wieder und noch einmal und immer wieder. Und in allem Vergehen und jeglicher Wiederkehr, immer wir beide, Ask und Embla, du und ich.
Ja, sieh, wenn man nur lange genug hineinschaut, Lil, in den Moorteich, ist er nicht wie der Zauberspiegel? Siehst du nicht magische Dämpfe sein Blankes stumpf überwallen. Siehst du sie dahinziehen in den Dämpfen: Erdepochen auf Erdepochen: Jahrhunderte, Jahrtausende, Jahrmillionen – Lil, was ist der Mensch? –
Gering ist er in der Zeit, geringer als das winzige schwarze Pünktchen auf deiner Hand, die kleine Gnitze, mit dem unsichtbaren Stachel, die ich eben im Abstreifen tötete, weil sie dich quälen wollte, Lil. Ja, so sehr gering ist der Mensch! Und dennoch in ihm die unstillbare Sehnsucht, etwas hinüber zu retten aus seinem winzigen Einzelsein, in die Ewigkeit hinüber. Sollte unser Glück nicht ewig sein? Unsere Liebe? Und unser Leid? fragst du. Ach, Liebling, laß uns nicht vom Leid sprechen heut, da unsere Liebe blüht und duftet wie der Lindenbaum drüben am Rande des Bruches. und wie der Jelängerjelieber. Aber Lil, wenn du es willst: alles, daran wir wachsen. Ja, dies alles sollte doch unverloren sein!«
»Vielleicht müssen wir noch weiter suchen. Vielleicht ist hier in diesem Umkreis noch nicht die allerletzte Lösung beschlossen. Vielleicht müssen wir noch tiefer dringen als der Grund des Moorteiches? Oder ebensoviel höher? Nur, daß du zu mir gehört hast, Lil, von Anfang, daß wir einander verkettet waren in mystischer Kommunion, in den Ewigkeiten, das weiß ich. Und was aus den Ewigkeiten kam, als das Eine und Ungeschiedene, Lil, könnte es getrennt werden und untergehen in der Zeit?«
In dieser Nacht stiegen wir in unser Boot. das ich aus dem Pappelstamme gehöhlt hatte und das an der anderen Seite des Moorteichs befestigt war, und fischten mit der Harpune. Später schliefen wir in der Höhle unter dem überwachsenen Wurzelballen des Föhrenstammes im Schutze unseres roten Lagerfeuers, und als Lil erwachte, standen Tränen in ihren Augen. Tränen des Glücks.
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