Karl Kraus
Glossen bis 1914
Karl Kraus

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Ich habe gelesen

daß es ein Couplet vom »Drahdiwaberl« gibt. Verhindert hat es keiner von den Freunden, die angeblich für mich durchs Feuer gehen – nur verschwiegen. Feigheit, nicht Rücksicht, die mir das Äußerste ersparen will, nenne ich das Vorgehen, es erst zum Äußersten kommen zu lassen und dann mir die Kenntnis vorzuenthalten. Das Leben ist schwer, aber wenn ich leben soll, um geschont zu werden, hätte ich mirs früher überlegt. Jetzt, wo sich herausstellt, daß es wirklich ein Ding wie ein Drahdiwaberl gibt, bestehe ich unbedingt darauf, es kennen zu lernen. Ich erinnere mich noch, wie es mich gepackt hat bei dem Parlamentsbericht, der den Zwischenruf enthielt: »Rrrtsch – abidraht!« Ich bekam sofort 4o Grad und mußte nach dem Süden geschickt werden. Das jetzt ist ärger. Die Freunde sind zartfühlend, aber die Feinde verstehe ich vollends nicht. Es gibt Worte in Wien, die man mir nur bei gegebener Zeit eingeben muß, um vor mir Ruhe zu haben. Nun aber die Vorstellung, daß ein Radibua ein Drahdiwaberl abidraht – damit kann man mich noch aus der Hölle treiben.

Blutiger Ausgang einer Faschingsunterhaltung

Seit vielen Jahren gehört nebst dem Narrenabend des Männergesangvereins, dem Gschnasfest der Künstlergenossenschaft und dem Narrenabend des Schubertbunds die Verteilung des Bauernfeldpreises zu den Faschingsunterhaltungen, in denen der Humor der Wiener Bevölkerung sich an tollen Kapriolen und ausgelassenen Einfällen nicht genug tun kann. Namentlich die Verteilung des Bauernfeldpreises, bei der sich die Jugend das Tanzrecht erobert und das fröhliche Maskentreiben seinen Höhepunkt erreicht, übt als die traditionelle Gelegenheit zur Entfaltung des Frohsinns und der heiteren Laune eine durch die Jahre unverminderte Anziehungskraft aus. Veranstaltet wird der Ulk von den Herren Minor, Professor der Literaturgeschichte, Ritter von Stadler, Sektionschef im Unterrichtsministerium, Intendant Gregori, Redakteur Kalbeck und Advokat Weissel. Die Preise werden so verteilt, daß immer von jenen, die es nicht nötig haben, und von jenen, die nichts dafür können, die allerbesten ausgesucht und zum allgemeinen Gaudium, sei es als die bedürftigsten oder als die bedeutendsten Dichter des Jahres vorgeführt werden. Armut und Talent werden in einem Sinne geehrt, der den Karnevalsverpflichtungen durchaus gerecht wird, indem die Preisrichter der Vereinfachung halber jene aus der Masse der Teilnehmer herausnehmen, die durch Talentarmut prädestiniert sind. Unter unbeschreiblichem Halloh vollzieht sich jedesmal das Bauernfeldtreiben, und der Rädelsführer Minor muß es sich gefallen lassen, daß die ganze Dorfjugend ihn neckend, unter scherzhaften Verwünschungen und indem sie ihn am Barte zupft, in das Seminar zurücktreibt. Diesmal wäre aus dem Scherze beinahe blutiger Ernst geworden. Ich habe nämlich gegen meine sonstige Gepflogenheit, die mich davon abhält, etwas mitzumachen, dem Jux beigewohnt und geriet in eine derart besinnungslose Wut, daß es erst begütigender Zurufe bedurfte, um mich vom Äußersten abzubringen. Ich kam eben dazu, als die Preisrichter in ihrer Vermummung – Herr Kalbeck trug einen Schlapphut, Herr Minor seinen natürlichen Vollbart – auf die Estrade traten und verkündeten, ein Vertreter der Manufakturbranche namens Salten und ein reicher Seidenfabrikant namens Trebitsch seien die preiswürdigsten Dichter des Jahres. Man sah mir sofort an, daß ich einem Blutsturz oder einer Gewalttat nahe war, und um beides zu verhindern, rief man mir zu, es sei nur zum Spaß. Aber noch ein solcher Spaß und ich kann für nichts gut stehen. Mit solchen Dingen spaßt man nicht. Träume sind auch nur ein Spaß. Aber wenn ich einmal davon träumen sollte, daß Herr Salten, der sich leicht tausend Kronen verschaffen kann, indem er ein Akzept auf eine Renaissancenovelle oder einen Wechsel auf ein Altwiener Libretto gibt, gekrönt wurde, ich wäre bös auf den Tag, der solchen Traum ablöst, und ich verwünschte die Weltordnung, die auch nur als Halluzination die Krönung des Dichters Trebitsch zuließe. Viele leiden Hunger und manche sind begabt. Was ist das für ein satanischer Betrug, auch nur den Gedanken herbeizuführen, geschickte oder reiche Leute könnten als Dichter belohnt werden? Da aber setzte sich der Spaß fort. Trebitsch erkannte, daß er genug habe, und verteilte das Geld unter die armen Leute. Das war sehr anständig von ihm, und die Preisrichter – zum Spaß – machten verdutzte Gesichter. Denn sie hatten nicht gewußt, daß Trebitsch reich sei, sie hatten nur geglaubt, daß er ein Talent sei. Ich ärgerte mich aber sehr, daß er nicht – zum Spaß – auch die Ehre zurückwies, welcher er sich bei einigem Nachdenken nicht für würdig erachten konnte. Ich dachte an Peter Altenberg, der, ein Dreiundfünfzigjähriger, am Vorabend des Festes eine lyrische Skizze veröffentlicht hat, deren letzter Beistrich – im Ernst – alles erledigt, was seit zehn Jahren in Österreich – zum Spaß – den Bauernfeldpreis bekommen hat. Warum, fragte ich mich im Ernst, machen sich die Veranstalter nicht einmal den Spaß, Peter Altenberg, der kein Spaßverderber ist, den Bauernfeldpreis, den ganzen, in der Höhe von fünftausend Kronen, zu verleihen? Sie fürchten, man würde sie ernst nehmen, und das Fest wäre gestört? Dann gibt es aber noch eine Möglichkeit, um in Ehren weiterleben zu können und sich im Alter nicht nachsagen lassen zu müssen, daß man sein Leben mit Gschnasfesten verbracht habe. Man erschieße sich. Ich fordere die Herren Minor, Ritter von Stadler, Gregori, Kalbeck und Weissel, die sich einen Jux machen wollten, hiermit auf, dies zunächst öffentlich und ausdrücklich zu erklären. Als Herr Leo Feld gekrönt wurde, hat man Tränen gelacht. Die Sache ist diesmal vielfach ernst genommen worden. Sie sollen sagen, daß es nicht so gemeint war. Sie sollen mit Bedauern die Bauernfeldpreise zurückziehen und erklären, daß sie nicht in der Lage sind, den Wahrheitsbeweis anzutreten. Oder sie sollen, wenn sie das nicht über sich bringen, zu fünft ein Hotelzimmer mieten und den Selbstmord, den sie durch Verteilung des Bauernfeldpreises markiert haben, vollziehen.

Ich glaube an den Druckfehlerteufel

»Ein bis jetzt unbekanntes Trauerspiel von Shakespeare wurde jüngst im Inseratenteil einer in St. Gallen erscheinenden Zeitung angekündigt. Es hieß nämlich dort, daß im Stadttheater von St. Gallen zur Aufführung gelange: »König Lehar«, Trauerspiel in fünf Aufzügen von W. Shakespeare.«

Da gibts gar nichts zu lachen. Es ist grauenhaft. Der Setzer hat keinen Witz machen wollen. Das Wort, das er nicht zu setzen hat, die Assoziation, die ihm in die Arbeit gerät, ist der Maßstab der Zeit. An ihren Druckfehlern werdet ihr sie erkennen. Was hier zu lesen war, i s t ein Shakespearesches Trauerspiel.

Stilblüten sammeln

sollte nur, wer ein Liebhaber ist. Sie auszujäten zeugt von einem schlechten Geschmack, von einem, der da wünscht, daß in der Zeitung nur korrekte Phrasen wachsen. Stilblüten sind die glücklichen Ausnahmen, deren wir in der Wüste der Erkenntnis begegnen. Und ist es nicht von einer ergreifenden Symbolik, wenn einer Zeitung der Satz gelingt:

»Sterbend wurde sie ins Spital gebracht, wo sie einem toten Kinde das Leben gab.«

Geschieht das nicht unser aller gemeinsamen Liebsten, der Kultur? Sterbend wurde sie in die Redaktion gebracht und gebar die Phrase. Ach, wer doch dem toten Kind das Leben gäbe! Er würde die Mutter retten.

In der Werkstatt

den Dichter zu zeigen, ist ein Problem der modernen Photographie. Die meisten widersetzen sich, weil sie sich schämen, in Anwesenheit des Photographen schöpferisch tätig zu sein, oder weil sie es dann einfach nicht könnten. Der Dichter hat am Schreibtisch nichts zu suchen, wenn der Photograph kommt, aber dieser will gerade, daß der Dichter am Schreibtisch sitzt. Über die Schwierigkeit, die sich hiedurch ergibt, ist vorläufig nicht hinwegzukommen, und die illustrierten Zeitschriften, denen es wohl gelingen mag, die Minister beim Regieren zu erwischen, verzweifeln an der Aufgabe, ihrem Publikum zu zeigen, wie sich die Dichter beim Schreiben benehmen. Nur in Ausnahmsfällen hat der Photograph Glück und kriegt den Moment zu fassen, wo die Produktion sich ungestört von der Aufnahme vollzieht. Eine Berliner Zeitschrift hat Herrn Hugo v. Hofmannsthal in seinem Heim vorgeführt. Der Dichter sitzt am Schreibtisch und liest ein Buch.

Eine besondere Überraschung zu Ostern

Gedichte von Ludwig Fulda, Hugo Salus, Siegfried Trebitsch, Paul Wertheimer, Paul Wilhelm – aber das sind alles Namen, die man kennt und schätzt und die schon die Suggestion der Gediegenheit mit sich bringen. Und von wem noch? Nun, und – und –

zwei Gedichte eines noch Unbekannten

Das muß ein Gefühl sein, wenn man so entdeckt ist! Man sitzt im Café, sieht, wie alles mit Fingern irgendwohin zeigt, und muß sich nicht zu erkennen geben. Wer es ist? Ja, das möchten sie jetzt alle wissen. Auf der Straße haben sich Gruppen gebildet. Noch so unbekannt und schon so talentlos! Wer kann das nur sein? Nun, ich weiß etwas. Man versuche in Gegenwart von Leuten, die einem noch unbekannt sind, das Wort »Schmarren« vor sich hinzumurmeln. Wird er rot, so hat man ihn.

Interview mit einem sterbenden Kind

Ich habe dieses hier zu Gesicht bekommen:

Die Tragödie einer kranken Mutter

Springt mit zwei Kindern aus dem vierten Stock.

Mutter und Kinder tot

Das furchtbare Familiendrama, das sich gestern morgens im Hause Stefaniestraße 2 im Il. Bezirk abgespielt hat, erregte allgemein die größte Teilnahme. Die 30jährige Reisendensgattin Paula Deixner ist in Abwesenheit ihres Gatten, der sich auf Reisen befindet, mit ihrem dreijährigen Sohne Egon aus einem Fenster ihrer im vierten Stock gelegenen Wohnung auf die Straße gesprungen und ihr älterer Sohn, der neunjährige Paul, ist der Mutter unmittelbar darauf gefolgt, Mutter und Kinder haben den Tod gefunden.

Was sich in der Wohnung der Familie abgespielt hat, weiß man nur aus einer Darstellung des armen Paul, der seine Mutter und seinen Bruder nur um wenige Stunden überlebt hat. Es war einige Minuten nach 1/2 7 Uhr morgens, als der Sicherheitswachmann Karl Aiginger ... fand Frau Deixner mit ihren Kindern im Blute liegend ... Während Frau Deixner und der kleine Egon bewußtlos waren, befand sich Paul, der ältere der Knaben, trotz mehrfacher schwerer Verletzungen bei vollem Bewußtsein und gab die folgende Darstellung der Schreckenstat.

Was der kleine Paul erzählte

Die Mutter, die seit einiger Zeit krank war und seit gestern abends eine Pflegerin hatte, erwachte heute früher als sonst. Sie klagte über Schmerzen und bat die Pflegerin, ihr einen Tee zu kochen. Während die Krankenpflegerin in der Küche den Tee bereitete, sagte die Mutter:

»Paulchen, ich werde mit Egon aus dem Fenster springen. Spring Du mit!«

Ich fragte: »Warum denn, Mutter?«

Darauf sagte sie: »Wir wollen nicht länger leben!«

Der Knabe erzählte dann, von fortwährendem Schluchzen unterbrochen, daß er um Hilfe rufen wollte. Da habe die Mutter ihm gedroht, sofort mit Egon aus dem Fenster zu springen. Dann habe sie ihm wieder zugeredet und habe unter anderem gesagt:

»Paulchen, was wirst Du mit Papa allein machen, wenn Egon und ich nicht mehr da sind?«

Bevor der Knabe noch eine Antwort gab, riß die Mutter das Fenster auf, stieß den kleinen Egon vom Fensterbrett und stürzte sich gleichzeitig selbst in die Tiefe. Ohne zu wissen, was er tat, schwang sich nun auch Paul auf das Fensterbrett und stürzte sich mit dem Rufe »Mutter!« ebenfalls aus dem Fenster.

Fast gleichzeitig sausten Mutter und Kinder zur Erde nieder und als im nächsten Augenblicke Passanten und Nachbarn sich um sie bemühten, gaben Frau Deixner und das jüngere der Kinder keine Lebenszeichen mehr von sich.

In der Wohnung hatte man nichts gemerkt

Als eine Minute später der Wachmann Aiginger in der Wohnung der Familie Deixner anläutete und das Dienstmädchen öffnete, hatte weder dieses, noch die Krankenschwester eine Ahnung davon, was sich soeben abgespielt hatte ... Bald darauf erschien die Freiwillige Rettungsgesellschaft mit Inspektionsarzt Dr. Silber und die Verletzten wurden auf die zweite Unfallstation überführt. Kurze Zeit nach der Aufnahme starb Frau Deixner, eine halbe Stunde später der kleine Egon und um 12 Uhr mittags folgte ihnen Paul in den Tod ...

Er hatte, wie der Telegraphist der Titanic bis zum letzten Augenblick seinen Dienst versehen. Aber sein Fall ist grauenhafter. Er war schon im Ertrinken und mußte noch die Fragen der Menschenhaie beantworten, die Gelegenheit hatten. Er lag im Blute und mußte den Polizeireportern und dem Vertreter des Illustrierten Wiener Extrablatts Auskunft – eben, über den Hergang der Tat, über seine Eindrücke. Der Bericht ist authentisch, sie haben ihn aus erster Hand, sie rühmen sich dessen. Es geht über die Fassungskraft. Ein Kind erzählt dem Interviewer, wie es aus dem Fenster sprang. Hanneles Fiebervisionen mitstenographiert. »Sie sagte: Spring' Du mit!« »Ich fragte: Warum denn, Mutter?« »Ich stürzte mich mit dem Rufe: Mutter! ebenfalls aus dem Fenster.« Die Presse ringt mit dem Tode, um früher als er am Sterbebett eines blutenden Kindes zur Information zu kommen. Vor diesem Schauspiel verstummt aller Haß und alle Verachtung der Presse. Nichts läßt es übrig als Trauer: ich vermisse diese Menschen in der Totenliste der Titanic.


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