Ernst Kratzmann
Das Lächeln des Magisters Anselmus
Ernst Kratzmann

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In den wenigen Jahren, die mir noch zugemessen sein mögen, will ich die Begebnisse meines langen Lebens sorgfältig aufzeichnen – nicht, um sie vor neugierige Leser an Tag zu geben, nur dir, mein liebes, fernes Enkelkind, sollen sie für Augen kommen, dass du aus diesen Blättern ersehest, wer dein Ahn gewesen, was für ein Mann, den du nie mit Leibesaugen erblicket, von dem du aber wohl mancherley, dass er ein unguter, gottloser, treuloser Mensch, ja gar ein Mörder sey gewesen, wirst vernommen haben, und dies alles aus dem Munde deines eigenen Vaters, meins herzliebsten Sohnes, der doch gestorben ist, meiner fluchend, obwohl ich ihn gar oft bittweis angegangen, dass er mich wolle geruhig anhören und dann erst richten. Aber er hat nit wollen. So hab ich's auf mich genommen, zu viel anderm, das ich hab tragen; war so viel, dass ich die Last mehr kaum sonderlich verspüret.

Dich, mein liebes Enkelkind, bitte ich alter Mann gar herzinnig: du wollest nicht in vorschneller Jugendart meine Schrift von dir weisen! Lies, was dir ein alter Mann aufgeschrieben, so, als sey es ein gedrucktes Buch von einem Scribenten, den du 6 nicht kennest. Und gedenke auch, dass dein Ahn schon lange unter der Erden ruhet, wenn einmal du diese Blätter wirst in Händen halten. Und dann erst, wenn du sie alle gelesen, mögest du richten über deinen Ältervater, der in seinem langen Leben ist sehr, sehr unglücklich gewesen, aber auch glücklich über jegliches Maß. Und oft hab ich mir müssen sagen, wann mich das Leid schier übermannet: sey still, Meinrat, mußt nun auch Schmerz und Ungemach kosten über Gebühr, wie du hast einstmals im Glück gestanden mehr als andern ist zugemessen, die tausendmal besser seyn als du!

Und wollest dich auch nit stoßen und Ärgernis nehmen an meinem unfügsamen Reden! Ich bin ein alter Mann schon, bald zähl' ich achzig Jahr, wenn ich auch noch rüstig und frischen Geists – aber doch red' ich noch allzeit gern, wie in meiner Jugend Zeit und mag nit wohl mich in die neue Art schicken, wie sie jetzt durch die großen Dichter ist aufkommen. Auch war ich mein Leben lang zwar kein ungelehrter Mann – ich hab viel studieret und manche Disputation siegreich bestanden – aber die Feder hab' ich nur in Handelssachen geführet und Krämer schreiben einen gar unschönen Ton! Aber ich hoff, daß es mit der Zeit wird besser und sauberer vorweg gehen, denn im Anfang! 7

So grüß ich dich, mein vielliebes Enkelkind, von ganzem Herzen und segne deine Lebensbahn! Sey glücklich – aber ja nicht so über alles Maß wie dein Ahn – denn das muß Leid tragen! Aber nein – nein! Sey ebenso glücklich wie er, glücklicher noch, denn es ist nichts Köstlicheres dem Menschen gegeben als solch ein Glück; aber dann, wann das Leiden kommt, so nimm es auf starke Schultern und trag es, denn es gehöret einmal dazu. Und sprich, so du an Gott den Allgütigen kannst glauben, wenn du diese Blätter gelesen, ein stilles Gebet vor deinen toten Ältervater!

Das Leben des Hanns Meinrat Simeon Lobegott Maurenbrecher, Bürgers der Stadt Dinkelsbühl in Franken, von ihm selbst erzählt.

Ich, Johann Meinrat Simeon Lobegott Maurenbrecher, bin geboren in der freien Reichsstadt Dinkelsbühl am 11. Julius des Jahrs Eintausendsiebenhundertfünfunddreißig als Sohn des Ulrich Johann Maurenbrecher und seiner Ehefrau Martina, die war eine geborene Kuntzin, die Tochter des reichen und ehrbaren Friedrich Kuntz, der war der Wirt am großen Platz, gegen St. Georg über. Das 8 Haus stehet noch, aber gehöret andern Leuten, denn meine liebe Mutter war seine einzige Tochter und erbte, da sie doch die Herberge nicht konnte weiterführen, das Haus ein jüngerer Bruder des Kuntzens, der hat es vertan und verkauft, seine Schulden zu zahlen, denn er hat in den unruhigen Zeiten viel Verlust gehabt in Geld und Waren.

Mein Vater Ulrich war ein schöner, großer, ernster Mann mit einem langen schwarzen Bart. Zur Zeit, da ich nach Augsburg ging, in die Lehre, war er Ratsherr und ist es geblieben, bis an seinen Tod. Was gäbe ich doch wohl, wann mir einer wollte und könnte sagen, ob meine Tat sein Leben hat abgekürzet oder nicht? Denn er war allezeit gesund und stark und gar stattlich; und erst, als mein Schicksal begann auf absonderlichen Wegen zu gehen, so fing es an mit ihm, also, wie wenn man im Wald eine hohe Tanne fället; da gehet ein Zittern zuerst durch ihren Stamm und ihre Kraft ist dahin und zerbrochen, noch lang, ehe sie stürzet. Er hat auch damals wollen aus dem Rat treten, aber es haben ihn der Bürgermeister und die andern Herren vom Rat vielmals gebeten, dass er doch das nicht möchte tun, und haben ihn lassen wissen, dass sie ihn um nichts geringer wollten achten und hochschätzen, wenn auch sein Sohn offenes Ärgernis 9 gegeben. So blieb er denn im Rat, aber er war mehr kein aufrechter Mann und nach dreien Jahren ist er gestorben. Ruhe und Frieden seiner Asche! Bald wird die meine sich mit ihr mengen, dann ist alles vergessen, was damals war.

Freilich, in meiner Kinder- und Jugendzeit, da war alles noch gut. In meinem Vaterhaus war allzeit gemessene, ehrbare Freudigkeit und doch daneben eine gute, strenge und christliche Zucht. Mein Vater Ulrich war reich, ja vielleicht der reichste Mann in Dinkelsbühl, und es gehörten ihm nicht nur ein schönes Haus in der Stadt, das bald nach meinem, des Schreibers, Tode dir, mein lieber Enkel, zufallen wird, sondern er hatte viele Weinberge, Felder und einen großen Meierhof, eine Stunde vor dem Nördlinger Tor, alle noch in unserm Gebiet gelegen. Nebst unserm Wohnhaus aber hatte er noch unweit vom Segringer Tor, wenn man von der Dreikönigskapelle der Mauer entlang geht, einen großen Speicher, an die vier Stockwerke hoch, und dort auch seine Schreibstuben. Einmal, da die Stadt mit Ansbach Händel hatte, rückten uns die Ansbacher vor die Mauern und stellten gerade dort ein schweres Stück auf und wollten den Speicher einschießen. Das war noch, als mein Ältervater ein junger Mann und mein Vater ein ganz kleines 10 Kind war. Da stieg der Ältervater Jakobus mit etlichen beherzten Gesellen aufs Dach und so ließen sie durch die Lucken an Stricken große Säcke herunter, die waren mit Stroh und Heu ausgestopft. Die hängten sie neben einander an die Mauer. Und da die von Ansbach in hellem Zorn zu schießen begannen, so konnten sie doch dem Speicher gar keinen Schaden tun, denn die Kugeln fielen alle ganz weich und kollerten in den Graben. Bis dann die Unsern einen Ausfall von zween Toren her machten und auch die Schützen vom Segringer Turm her ein gar mörderliches Schießen anhuben, da mußten sie weichen.

Mein Vater handelte, wie schon mein Ältervater auch, mit Getreide und Wein. Denn in Franken bauet man viel Korn und Weizen und das kaufte er von den Bauren und schickte es nach Augsburg und weiter noch. Ja, in Kriegszeiten kamen die Händler von weit her zu ihm, so etwa noch, als ich schon ein Jüngling und später ein junger Mann war, in den schlesischen Kriegen, da gingen seine Kornsäcke bis nach Schlesien zu den Heeren des preußischen Königs oder auch der Kaiserin. Aber bei allem, was mir heilig ist, ich kann es beschwören, denn ich war damals schon der Gehilfe des Vaters: niemalen hat er unrechten Gewinn genommen, nie hat er mehr 11 gerechnet für sich denn zu Friedenszeiten. Freilich, da war und ist immer viel Schreiens über die Kornwucherer! Aber das waren die kleinen Drucker und Mucker, die von ihm das Getreide nahmen und es weiter und weiter verkauften, also, dass es oft durch viele, viele Hände ging, ehe es zu den Kriegsheeren kam. Und jeder schlug seinen Nutzen auf, aber gar nicht christlich, denn es waren lauter Juden. Von Augsburg her aber kaufte der Vater Wein vom Süden und auch bisweilen Gewürz. Er hatte Handelsfreunde in Augsburg und München und Nördlingen, in Ansbach, ja selbst in Nürnberg. Später dann, als ich selber in die Fremde ging, sah ich erst, wie groß und angesehen unser Haus sey: denn wo ich eintrat bei einem Kaufmann, und mochte er noch so reich und vornehm sein, und sagte meinen Namen, so stand der Kaufherr allsogleich auf und hieß mich herzlich willkommen.

Mein guter Vater Ulrich ließ mich mancherley erlernen, was einem Kaufmann wohl anstehet: erstlich gut lesen und schreiben, dann aber auch Rechnen und die Bücher sauber führen. Sodann fremde Sprachen, vor allem Italiänisch und ein wenig Französisch, denn in diesen unruhigen Zeiten waren die Franzosen oft in unsern Ländern. Endlich, dass sie nun verjagt sind, wolle das Schicksal, für ewige 12 Zeiten! Denn sie sind ein schlechtes, eitles und gemeines und rohes Volk.

Daneben aber hielt er wohl darauf, dass ich in der Furcht Gottes aufwuchs, und gab mir fleißig gute Lehren und immer ein rechtschaffenes Exempel. In unserer guten Stadt waren viel Evangelische, aber unsere Familie war katholisch geblieben seit jeher. Ich kann mich nicht erinnern, dass zu meinen Zeiten jemals Hader gewesen sey zwischen den beiden Glauben; sie vertrugen sich anständig miteinander und mein Vater ermahnte mich oft, dass ich nicht von den Lutherischen sollte gering denken, denn auch sie seyen ehrliche Christen.

Ich wuchs auf mit denen Kindern der andern Bürger und hatte manchen guten Gesellen unter ihnen. Heute freilich lebt keiner mehr von ihnen allen, und ich gehe allein auf all den Stätten, wo wir damals unsere kindische Kurzweil hatten und später als Jünglinge noch manchen guten Spaß. Wir spielten im Wallgraben und auf den Wehrgängen der Mauer, und wenn ruhige Zeiten waren und wir schon etwas größer, so ritten wir wohl etliche gute Freunde hinaus auf den Meierhof meines Vaters oder eines andern Eigentum, tranken und sangen, scherzten und waren guter Dinge. Doch mußte ich dazumalen manchen Spott von meinen 13 Gesellen leiden. Denn als wir so in die Jahre kamen, stellten sie alle fleißig denen Mägden nach, denen jungen Baurendirnen, aber auch den Bürgermädchen machten sie Reverenz und suchten ihre Blicke. Aber zu diesem Treiben konnten sie mich nie verführen, vor dem hatte ich immer eine heimliche Scheu. Es war nicht so, dass ich mich geekelt hätte oder dass ich gar es nicht tat, weil es einem Christen nicht ansteht, der fleischlichen Lust ungeziemlich nachzuhängen. Ich empfand sogar oft ein recht sehnsüchtiges Verlangen nach einem lieben Mädchen, aber eben darum hielt ich mich fern, wenn es roh und unflätig herging, und einmal, da meine Gesellen gar ein paar fahrende Dirnen unterwegen aufgegriffen und vor sich auf die Pferde genommen hatten, da wir wieder hinausritten zu einem schönen Hof, so blieb ich sachte hinter den andern zurück, und in einem kleinen Busch drehte ich mein Pferd und trabte schnell heim. Da mußte ich denn genug Spott und Höhnens hören in der kommenden Zeit.


Ich habe vergessen zu berichten, dass ich noch eine Schwester hatte, die ich sehr liebte. Sie hieß Maria Ulrike, aber wir nannten sie alle nur das Rikele. Als wir beide noch klein waren, hatten wir noch einen jüngeren Bruder; aber er starb, als er zwo 14 Jahre alt war, an einem hitzigen Fieber, das damalen viele Kindlein in der Stadt wegraffte.

Das Rikele liebte ich ganz ohnmaßen. Sie war nur zwo Jahre jünger als ich. Da wir noch Kinder waren, spielten wir miteinander, aber niemalen kam es, dass ich sie etwa in einem Streit schlug oder ihr sonst etwas zuleide tat. Sie war immer schon so sanft und linde, schon als ganz kleines Mädchen, dass ihr niemand konnte etwas Arges tun. Später dann, da ich ein recht ungleicher, grober Gesell ward, der in einem Raufhandel erschreckliche Hiebe austeilte und wieder empfing, schien sie älter zu sein als ich, sittsam schon wie eine junge Nonne, lieblich und von einer erstaunlichen Schönheit. Da war sie oft zu mir wildem Buben wie eine mild vermahnende Mutter, vor der ich mich mehr schämte als vor unserer guten Mutter selber. So kam ich denn schon in ein reiferes Alter, und da liebte ich sie wiederum ganz anders, so wie man ein fremdes Mädchen lieben soll, das man zum Weibe begehret, nur noch keuscher und inniger. Sie ist mein guter Engel gewesen, und ihr danke ich es, dass meine Jugendjahre so rein und wohlanständig hingingen und ich doch dazumalen wenigstens der Stolz und die Freude meiner Eltern war und mein guter Vater mich gar oft seinen lieben Sohn nannte. Und das bedeutete 15 gar viel bei ihm. Denn er war ein in sich gekehrter, gar stolzer und aufrechter Mann, der rauher schien, als er es in seinem innersten Gemüte war.

O du mein liebstes Rikele! Wo weilest du heute! Meine bitteren Zähren fließen heute auf dein Grab, zu dem ich alle Tage wallen und pilgern will, die mir noch bescheiden seyn mögen. Wie viel heiße, blutige Tränen hast du um mich geweinet, wie viel mehr noch, von denen ich nicht weiß! Heute knie ich an deinem Hügel und denke an die längstvergangene Zeit, und der Schmerz wühlet grimmig in meinem Busen und will mir schier das Herz abwürgen, dass ich doch schuld sey an allem – und ach! Wenn mir jetzo ein mächtiger Geist entgegenträte und hielte in seinen Händen zwo Schicksale für mich: eins in der Rechten, dass ich noch einmal sollte jung seyn und ein Leben führen wie die andern auch, wie Vater und Mutter es wollten, in Glück und Freude und ehrbarem Wohlstand; und in der Linken, dass ich auch sollte noch einmal jung seyn und alles so leben, wie ich es wirklich getan, nur so, daß ich es schon wissen sollte, wie es werde kommen bis auf diesen heutigen Tag, da ich hier als ein Greis sitze und mein Leben schreibe – so wollte ich mich keinen Herzensschlag lang bedenken und nicht überlegen so viel man nur überlegt, einen Groschen zu schenken, 16 sondern hinfallen und bitten mit erhobenen Händen, nein, beten: gib mir, erhabener Geist, gib mir! Und öffnete er sodann die mächtige Hand und siehe, ich fände darin als Los und Lohn die ewige Verdammnis, die meiner wartete nach solchem Leben – ich deckte mit der Linken die weinenden Augen und streckte die Rechte aus: gib dennoch, gib es mir dennoch!

Und schon, da ich deinen Namen nenne, du geliebte Freundin und Schwester meiner Jugend, ist es mir noch jetzo, nach so vielen Jahren des Glückes, des Leides, des Elends, der Trauer und des Stillewerdens, als weheten in die kühle, grabesschaurige Einsamkeit meines Alters mit einmal milde, ambrosische Lüfte, also, wie ich es einmal empfunden, da ich über den Brennerpaß nach Italien gewandert und mich rauhe Stürme, Eis und Regen umbrauseten; aber da ich, nahe der Grenze schon, den letzten Gipfel erreicht und mich talwärts wendete, nach Süden hinabzusteigen, schwollen mir warme Frühlingswinde entgegen, in denen ein Duft wie von allen Blumen und Früchten des göttlichen Landes lag. Und so steigen in deinem Namen all die teuren Schatten vergangener Stunden wieder herauf, doch nein – sie sind ja immerzu um mich und meine Gefährten jeglichen Tag; aber es ist, als füllete sich ihr 17 bleiches Angesicht mit Blut, als blicketen ihre Augen lebensvoller als sonst, und ich, der ich schon die Furcht empfunden, als würden mir die heiligen, geliebten Zeugen der Vergangenheit untergehen in der trostlosen Ödnis des grauen, verhüllenden Alters, ehedenn noch die Zeit des ewigen Schlafes gekommen ist, ich müder, armer Greis sehe sie plötzlich also voll und übervoll des Lebens um mich, dass mein Herz erschaudert und mir in bangen Schlägen das Blut wild und ungestüm durch die Pulse jagt und dass ich die Hände vors Angesicht schlage und so bittere Zähren vergieße im Gedenken an jene heilige Zeit, wie seit Jahren nicht mehr! O fürchte nichts, du armer, hinfälliger Greis! Solange noch dein Schatten über die Erde wankt, bleiben dir jene Gestalten getreu, getreu, ja bis in den Tod!


Meine Schwester behütete mich durch ihr stilles, mildes Wesen vor manchem häßlichen Tun der Jugend und lehrte mich, Frauentugend und Reinheit als ein hohes Gut achten und anbeten, schon zu einer Zeit, da meine Altersgesellen wilde und ungestüme und recht unholde Genossen wurden. Wohl liebte auch ich Trunk und Scherz, tolles Reiten über Stock und Stein, Jagd und Wagnis aller Art. Und einmal, als nach dem zweiten schlesischen Krieg ein 18 Haufe Marodeure uns anfiel, da wir selbzwölfe über Land ritten – ei, da gab es böse Hiebe und Stiche und ich wehrte mich gar tapfer und schlug drei übeln Gartbrüdern den Schädel ein; aber dennoch war ich im Herzen ein reiner und guter Jüngling, der nichts Arges und Unsauberes dachte und wollte.

Meine Schwester hatte zwo gute jüngere Freundinnen, die viel Umgangs mit ihr hatten: die Jungfer Christine Lenhartin, die Tochter des Stadtmüllers vom Nördlinger Tor, und die Jungfer Anna Elisabeth Bognerin, ein schlankes, feines Mägdlein. Doch gefiel mir von den beiden weit besser die Jungfrau Christine und wir hatten, zusammen mit Rikele, manch unschuldigen, ehrbaren Scherz und gute Kurzweil. Die Bognerin war des lutherischen Predigers Tochter und mir zu blöde und gelehrt. Sie wußte nicht nur einen Brief zu schreiben, sondern auch ein wenig lateinisch zu sprechen und zu lesen, und das war, insonders dazumalen, für ein Frauenzimmer unerhört und gefiel mir gar nicht, wie ich mir denn eigentlich überall aus der gelehrten Bildung damals noch nichts machte und sie vor ziemlich gering achtete.

Derweilen war ich längst aus der Schule gegangen und mein Vater nahm mich nun oft mit, wenn er über Land zu den Bauren ritt, Korn zu kaufen, 19 oder in seinen Meierhof, nach dem Rechten zu sehen. Und dann mußte ich ihn nun auch in sein Contor begleiten und ihm allerley Handreichung tun: Briefe sauber schreiben, die er mir erst diktierte, später nur mehr inhaltsweis ansagte, Fakturas aufsetzen, Säcke zählen und dergleichen Arbeit mehr. Wie die Zeit hinstrich, gewann ich Einsicht in seine vielfachen Geschäfte, ich wußte bald ebenso gut wie er Bescheid, was an Vermögen uns ausstand, ich bekam das feine Gefühl des Kaufmanns, ob man durfte eine Occasion ergreifen oder ob man lieber die Hände sollte davon lassen.

Über all dem verging manches Jahr und ich war schon ein stattlicher junger Mann geworden, an die vierundzwanzig Jahre alt, und ich denke wohl, dass manche Jungfer mir Augen machte und sich gern als meine Hausfrau gesehen hätte, denn ich war schmuck von Gestalt, groß und stark von Wuchs und dabey allezeit froh und von guten Sitten. Aber ich machte mir nicht viel aus ihnen und das hatte auch einen guten Grund. Besonders eine, die Tochter eines Goldschmieds, eines reichen und angesehenen Mannes, ließ mich's deutlich merken, dass ich ihr gefiel, und am Tag des Herrn, in währender heiliger Messe zu St. Georg, hatte sie die flinken Augen weit mehr auf meinem Platz ruhen, denn in ihrem 20 Betbüchlein. Aber ich lachte dazu. Sie ist später eine brave Hausfrau worden, ihr Eheherr hat gut mit ihr gehauset und sie ist zufrieden gewesen; aber noch nach Jahren, da ich schon viel Leid und Ungemach erfahren, da sagte sie mir einstmalen, da ich sie von ungefähr traf und sie mein trauriges Antlitz sah: »Meinrat, Euch wäre auch besser geworden, wenn Ihr eine andre geehelicht hättet, und ich hätte schon gewußt, wen!« Und ich sagte ihr darauf bitter: »Bei Gott, ja, da habet Ihr recht!« und ging weg. Aber ich meinete es ganz anders, als sie es begriff.

Nun war es aber für mich hoch an der Zeit, dass ich wanderte, um mich auch anderwärts umzutun und ein wenig Land und Leute zu sehen. Aber die Zeitläufte waren unruhig; vor etlichen Jahren hatte der preußische König mit der österreichischen Maria Theresia wiederum zu kriegen begonnen, jenen furchtbaren Krieg, den man heute den siebenjährigen heißet; der Franzmann rührte sich, das Land war ängstlich. Reisläufer und entwichene Söldner von beiden Parteyen strichen herum, die Stadt war auf der Hut. Da wollte mich der Vater nicht von sich lassen, in die Fremde, auch gebrauchte er mich daheim gar wohl, denn unser Handel gedieh in den wilden Zeiten gar nicht übel. Da aber ein Jahr ums andere ins Land zog, ohne dass das arge Morden hätte wollen ein 21 gütliches Ende nehmen, so beschloß er doch endlich, mich fortzuschicken, denn es wäre doch gar zu schimpflich gewesen, hätte ich sollen einmal die Handlung führen und war zeitlebens nit weiter gekommen dann einmal nach Rothenburg und zweimal nach Nördlingen! Auch gab sich gute Occasion, dass gerade zwo Bürger von Donauwörth mit etlichen reisigen Knechten nach ihrer Stadt bei uns durchzogen und beim Wirten Kuntz, meinem Ältervater von Mutterseiten her, in der Herberge lagen; denen gab mich mein Vater mit, dass ich mit ihnen bis Donauwörth führe; dann mußte ich allein weiter sehen, wie ich nach Augsburg käme; dort aber sollte ich in die Lehre treten bei einem alten Handelsfreund meines Vaters, dem großen und weitgeachteten Kaufherrn Krafft Ehinger, an den er mir ein Schreiben mitgab.

Und so reisete ich denn nach herzlichem Abschied und nicht ohne reichliche Tränen der Mutter und Schwester im Mai des Jahres Eintausendsiebenhundertneunundfünfzig von Dinkelsbühl ab; vorher aber hatte ich noch heimlich die Jungfer Christine Lenhartin getroffen und sie gebeten, dass sie wollte bis auf meine Rückkunft warten, eh dass sie in die Ehe träte. Und sie versprach's mir.

In Augsburg erging es mir wohl. Ich war glücklich und ohne Unfall gereiset und bei Herrn Krafft 22 Ehinger gut aufgenommen. Oh, wie erstaunete ich da für den Anfang, wann ich durch die Straßen der großen Reichsstadt ging! Diese breiten Gassen, diese stattlichen Bürgershäuser, allen voran die prächtigen der Fugger, mit gar schönen Wandschildereyen gezieret! Und das mächtige Rathaus! Wohl hatte ich schon das in Rothenburg geschaut, und das kann sich wohl sehen lassen; aber das Augsburger war viel schöner noch.

Herr Ehinger und seine Hausfrau hielten mich fast wie den eigenen Sohn. Ich wohnte in seinem Haus, das lag in der großen Hauptstraße, zwischen St. Ulrich und den Fuggern, beim Brunnen. In der ersten Zeit, da ich zu Augsburg war, konnte ich mich nicht genugsam verwundern über die Pracht in den Bürgershäusern, die ganz ohnegleichen war. Da war freilich mein Herr Ehinger ein reicher Kaufmann, doch kein Ratsherr; aber wie waren in seinem Haus die Zimmer so groß und reich, wie bei uns daheim kaum ein Tanzsaal! Wie groß und weit die Fenster und Türen! Und an den Wänden hatten sie überall kostbare Teppiche und Bilder und auf Postamenten standen marmorne Figuren aus Italia oder Griechenland. Zwar gefielen mir diese nicht sonderlich, wie ich denn überhaupt damals aus Werken der schönen Kunst mir gar nichts machte und 23 sie kaum sonderlich achtete. Und diese gar, die ich zu Augsburg bei den Bürgern sah, schienen mir sogar unehrbar, und ich hielt es zu Anfang vor Sünde, hinzusehen. Auf den Tafeln waren fast lauter nackende Frauen und Männer in wollüstigen Stellungen abgemalet und auch die Marmorbilder waren nicht anders. Nirgends fand ich einen Crucifixum oder eine Madonna, lauter heidnische Götter und Göttinnen. Das wollte mir recht absonderlich vorkommen und ich wußte kaum, ob ich im Hause eines Christenmenschen sey oder eines ungläubigen Heiden. Als ich einmal zu Herrn Ehinger bescheiden meine Zweifel äußerte, lachte er laut und belustigt und getröstete mich; ob man denn bei uns in Franken gar nicht wisse, was schön sey? Aber ich verstand ihn nicht recht.

Die Bürger trieben viel Aufwand an Putz und Kleiderpracht und ich habe den Herrn Ehinger auch an einem Werktag im Contor niemalen anders gesehen denn in Seide und Sammet und Pelzwerk, weit kostbarer als bei uns ein Bürgermeister an einem Sonntag oder in den Rat pflegte zu gehen. Und gar die Frauen hielten es noch besser; die Ehingerin trug fast alle Tage eine Kette von Perlen, die war so lang, dass sie selbe fünfmal um den Hals schlang und sie ihr noch weit auf den Busen herabhing. 24 Wenn aber gar Herr Ehinger eine Collation in seinem Hause gab, da sah ich eine Vornehmheit, wie ich vordem gedacht, dass sie nur am Hofe des Kaisers zu finden sey. Einmal nahm er mich mit, da er zum Herrn Grafen Fugger geladen war, dass ich ihm aufwartete. Da war ich schier vor den Kopf geschlagen über die ungeheuerliche Pracht in diesen Sälen und Gemächern, da alles von Gold und Spiegeln leuchtete und nirgends an der Wand der gemeine Stein zu sehen war, nichts denn eitel Marmor und Glanz. Doch war ich weidlich froh, da wir wieder auf die Straße traten aus alle dem Schwall von hohen und niederen Gästen, wohl an die hundert.

Da ich schon zu alt war für einen gewöhnlichen Lehrling, auch in der Handlung schon ganz tüchtige Kenntnis hatte, so hielt mich Herr Ehinger weit mehr wie einen Gast, nahm mich oft mit zur Börse, und wenn die Zeit ruhig war, schickte er mich auch etwa in schwierigeren Sachen nach München oder Nürnberg, einmal sogar bis nach Mailand in die Lombardei. Dies Reisen gefiel mir gar wohl. Frei und ledig ohne alle Sorgen über Land reiten, fremde Städte sehen, bisweilen Händel mit etlichen Marodeuren auf der Landstraße, das war etwas für einen jungen, starken Mann, wie ich einer war. In 25 München gefiel es mir über die Maßen wohl. Gleich als ich einritt das erstemal, war mir, als sey ich wieder daheim in meiner Vaterstadt, so traulich und fein war es mir zumute.

Auf diesen Fahrten lernte ich vielerley Sachen. Vor allem erfuhr ich mehr von den Menschen und ihrer Art, als ich bisher gewußt, ich lernte schauen und stilleschweigen. Ich ward gewandt und klug und begann mich zu schicken in der Welt Brauch. Und es kam, dass mich Herr Ehinger oft sandte, weil er unter den eigenen Leuten keinen Besseren erfand. Da sagte er wohl bisweilen: »Meinrat, um Euch ist's doch sündenschade, so Ihr wahrhaftig in Dinkelsbühl wollet verliegen und verfaulen! Ihr gehöret in die Welt, da möget Ihr's zu was bringen, Ihr habet das Zeug dazu!« Da wandelte mich wohl hin und wieder die Lust an, ihm zu folgen – aber dann zog mich doch die Liebe zu meinem Vater, dessen einziger Sohn ich war, und die Liebe zu meiner guten Stadt und auch nicht zuletzt zu meiner Jungfer Christine heimwärts nach Dinkelsbühl und ich lächelte gar fein und bedankte mich vor seine gute und ehrenvolle Meinung, so er von mir hätte.

Um das Jahr einundsechzig ließ mich mein Vater durch Briefe wissen, daß unser Rikele sollt' in die Ehe treten mit Gottfried Rott, einem Tuchhändler, 26 und der unser Nachbar war. Und invitierte mich, dass ich sollte zur Hochzeit kommen. Aber ich war um die Zeit fast ein halb Jahr fort von Augsburg, in Mailand. Es hat mir von Herzen leid getan, dass ich am Ehrentag meiner lieben Schwester hab fehlen müssen im Haus.

Bei Herrn Ehinger waren oft Gäste geladen, sonderlich des Abends, denn er liebte eine wohlgesetzte Unterhaltung über Tisch gar sehr. Ich hatte, ehe ich nach Augsburg kam, immerzu gemeinet, ich habe was Rechtes gelernet daheim und könne mich füglich ganz wohl sehen lassen als eine Art von Gelehrter für meinen Stand. Aber da mußte ich jetzt oft schamrot werden, wenn ich den Reden des Herrn Ehinger, der doch auch nur ein Kaufmann war, lauschte, die er mit seinen Gästen führete, insonders mit dem Herrn Magister Anselmus Agricola – so nannte er sich auf lateinisch, eigentlich hieß er Bauer – und es wollte mich oft sonderbar bedünken, dass Herr Ehinger, der doch ein guter, gläubiger Christ war, solche Gespräche leiden mochte an seinem Tisch, ja sie sogar gern anhörete und eifrig mitredete. Es erging mir da so wie mit den heidnischen Bildwerken. Da hielt der Magister etwa einen langen Sermon und bewies mit viel seltsamen, künstlichen Schlüssen, die ich damals noch alle nicht verstand, 27 dass kein Gott seyn könne; und wenn er damit zu End gekommen, so schwieg er für eine kurze Weile und blickte den Herrn Ehinger und seine Hausfrau an; und dann verzogen sich, indes er mein erschrockenes Gesicht sah, seine Lippen zu einem seltsamen Lächeln, halb spöttisch, halb gutmütig, er machte mit der Rechten eine leichte Bewegung, als wollte er, wie von einer Schreibtafel, auslöschen, was er eben gesagt, und sprach mit freundlichster Miene:

»Aber das ist menschlicher Aberwitz, verehrte Freunde – es ist sicherlich nicht wahr und alles so, wie's in der heiligen Schrift stehet . . .« Und dabei hatte seine schöne, wohlklingende Stimme einen ganz merkwürdigen Klang, und seine graublauen Augen blitzten voll Hohn zu mir herüber.

Herr Ehinger lachte. »Seht nur, Ihr verschrecket mir unsern jungen Freund Meinrat ja ganz und gar mit Euren unchristlichen Reden, er sitzet da mit offenem Munde, als habet Ihr ihm bewiesen, dass zweimal zwei fünf sind!«

Der Magister sah mich wieder an, wie eine Schlange den Vogel, den sie bannen will. Aber die Ehingerin mischte sich jetzt ein, die mich immer schon wie den eigenen Sohn fast geliebt – er war damals auf Lehre in Lissabon –:

»Lasset mir meinen lieben Meinrat ungekränkt 28 mit Euern spitzfindigen Reden, Ihr vielgelehrter Anselmus! Mir ist's lieber, wann er in solchen Sachen einfältig und fromm bleibet.«

»Hört, Magister, unsern Meinrat müsset Ihr ein wenig in die Schule nehmen, ganz im Ernst geredet! Er ist ein junger Mann von vielem Talent, an dem sollt Ihr Eure Lust und Freude haben. Erstlich muß er einmal Sprachen lernen . . .«

»Wohl, Hochachtbarer! Fürs erste: Italiänisch.«

»Das kann er schon . . .«

»Ei wie? Junger Freund, habet Ihr schon die Divina comedia gelesen?«

»Wie? Was ist das, Herr Magister?«

Da lachten sie alle drei. Aber Anselmus sprach, indem er schon wieder ernst wurde:

»Seht – zu welchem Ende habet Ihr wohl diese herrliche Sprache mit saurer Mühe erlernt? Dass Ihr für Eure erbärmlichen Krämerbriefe – und er neigte sich lächelnd gegen den Wirt – mit den goldenen Worten des göttlichen Dante und Petrarca könnet kauderwelschen? Ich will Euch das Buch geben, Ihr müsset es lesen . . . Wollet Ihr mich besuchen?«

Ich mußte wohl oder übel mich verneigen und es annehmen. Aber ich empfand Furcht dabei, als sey ich im Begriff, Verbotenes und Sündhaftes zu tun. 29

Er aber fuhr fort:

»Sodann: Lateinisch und griechisch . . .«

Aber die Echingerin rief dazwischen:

»Ei was, warum nicht gleich Türkisch und Sinesisch?«

»Nicht so, verehrte Dame! Kein süßerer Wohllaut tönte je von menschlicher Zunge als die attische Rede . . .« Und er sprach etliche Sätze, die mir fremd und wunderlich klangen und doch unbeschreiblich süß, ob ich sie gleich nicht im mindesten verstand. Und ich fragte ihn, was es hieße, das er da gesagt.

»Das spricht der wilde Ajax zu seinem Mordschwert, eh' er sich tötet damit, die untilgbare Schmach von sich abzuwaschen mit Blut . . .«

Eine Weile schwiegen wir alle still und ich blickte auf Herrn Anselmus wie auf einen fremden Mann aus fernen Ländern und mein Herz schlug bang und in einer heimlichen Angst. Und er sah mir ins Auge und lächelte wiederum:

»Wollet Ihr nicht auch das Griechische lernen, junger Freund?«

»Ich werde es nicht fassen, Herr Magister . . .«

»Ei was, wer wird so sprechen! Ich will es Euch lehren . . . Sodann und vor allem: Mathematik . . .«

»Rechnen –?«

Der Magister lächelte. »Euer Rechnen hat nichts 30 gemein mit der edeln Kunst der Mathematik. Euer Rechnen ist Krämerei, so und so viel Gulden und Taler und Dukaten und Groschen, Lot und Pfund, Elle und Fuß; aber die Mathematik? Seht, da schreibe ich etliche Buchstaben und Ziffern auf dies Blatt – wisset Ihr, was das sey?« Und er wies mir das Papier; davon verstand ich so viel wie der Ochse vom Zitterspiel.

»Das ist die Bahn, die Luna um die Erde nimmt – daraus kann errechnen, wer's versteht, wann wir Vollmond haben in dreihundert Jahren, an welchem Tag und zu welcher Stunde und Minute . . .«

Ich sah Anselmus an mit offenem Munde und wußte nicht, ob er mein spottete und mich Leichtgläubigen foppte oder ob er noch ernsthaft sprach. »Das kann man?« fragte ich erstaunt.

Er nickte ernst. »Das und noch mehr! . . .«

Ich aber begann mich sehr zu verwundern über das unendlich viele, das es doch in der Welt gebe, von dem ich überall gar nichts wußte und ahnete, und ein großes Staunen ergriff mich über die Allmacht des Schöpfers.

»Aber ist dies alles noch ehrliche Kunst, Herr Magister, nicht schwarze Magie?«

Herr Ehinger lachte laut, aber Anselmus blieb ernsthaft. 31

»Gott gab dem Menschen Verstand, dass er ihn nutze . . . Jeder kann es lernen ohne Zauberey und Beschwörung – auch Ihr . . .«

»Aber – mit Verlaub! – was Ihr vorhin geredet, ob ein Gott sey oder nicht –?«

Wieder sah mich Anselmus an mit so absonderlichen Augen, dass mich heimlich ein Grausen überlief.

»Wenn Ihr studieret und Euren Geist übet und schulet und Ihr sodann in einer heiligen Stunde in Eurer Seele eine Stimme vernehmet: es ist kein Gott –: glaubet mir, junger Freund, dieses Wort kommt nicht vom Teufel, es ist Gottes Stimme selber, die Euch das sagt . . .«

Er redete leise und so, als sage er es nur zu mir allein als einem vertrauten Schüler. Ich saß starr und konnte nicht aufstehen und weggehen, wie ich am liebsten gewollt, und mein Herz klopfte mir, als sollte es zerspringen. Aber Anselmus blickte mich still und freundlich an und sein Antlitz war ganz unschuldig und ohne Arg und Falsch, so dass ich nicht begriff, wie ein Mensch solches sprechen könne mit solchen Mienen. Aber ich fand nicht das Wort, das ich ihm entgegensagen sollte, und schwieg. Endlich ermannte ich mich und blickte auf Herrn Ehinger und seine Hausfrau; aber sie lächelten bloß beide 32 und ich sah wohl, daß sie nicht recht verstanden hatten, was der Magister gemeint. Der aber brachte das Gespräch auf andere Dinge und wendete sich an diesem Abend nicht mehr an mich. Aber als er sich empfahl, reichte er zuletzt mir die Hand und sprach lächelnd: »Wann werdet Ihr kommen, junger Freund? Ich erwarte Euch . . .« Und er ging, ehe ich ihm Bescheid gesagt . . .

Ich hatte bis dahin nichts Seltsameres gesehen und nichts, das mich mehr in Furcht gesetzt, als das Lächeln des Magisters Anselmus Agricola. Es war sanft und still und fein, aber es hatte unwiderstehlich Gewalt über mich. Er war ein großer Mann, so groß wie ich, nicht eben mehr jung. Sein Haar begann grau zu werden und er trug keinen Bart. Seine Lippen waren schmal und blaß, oft erschienen sie mir wie zwo dünne Messer. Aber das Unheimlichste in seinem Antlitz waren die Augen, in die ich nie lange zu blicken vermochte, ohne die meinen niederzuschlagen. Und wenn ich oben sagte, dass sein Lächeln seltsam und betörend war, so ist das eigentlich nicht wahr; denn er lächelte viel mehr noch mit den Augen als mit seinem Munde, und oft ist es mir späterhin geschehen, dass ich zu sehen vermeinete, wie er mich anlächelte mit geöffneten Lippen – aber indes ich schaute, fand ich, dass sie ernst und fast 33 strenge geschlossen waren – doch seine Augen lächelten und leuchteten und niemand hätte zu sagen vermocht, was es war, dass sie so zu tun schienen, denn sie glichen den Augen anderer Menschen auch; und doch war es so. Ja, später noch oft schien es mir sogar, als könne er mit geschlossenen Lippen und Augen lächeln . . .

Die folgenden Tage war mir gar nicht wohl in meiner Haut; denn ich mußte zu Anselmus gehen und wollte es doch um keinen Preis. Ich überredete mich oft, dass ich sey wie ein furchtsames Kind, das sich nicht getrauet, zu einer alten und häßlichen Frau zu gehen, weil es selbe für eine Hexe und übel beschrieene Person hält, und ist doch ein ehrbares, altes Weiblein, dem nur die Natur einen schiefen Blick gab. Aber ich wußte wieder ganz genau, dass all dies nur eitle Persuasion sey, und dass die Furcht doch in meiner Seele sey und nicht weichen wolle.

Endlich, nach fast einer Woche, ging ich zu ihm hin. Er wohnete in der Jakoberstraße in einem kleinen Haus und gehörte das ganze Haus ihm allein. Ich habe mich nachmals oft gewundert, woher er doch den Titel eines Magistri führete, da er zu Augsburg nicht lehrte, weder öffentlich noch vor Einzelne. Habe auch nie in Erfahrung bringen können, wo er vordem gewesen sey, und was er getrieben. Sicherlich 34 war er sehr reich, denn er suchte nie einen Verdienst und ging nie nach Geld, auch lebte er behaglich und hielt immer viel auf sich.

Eine alte Frau führete mich eine Stiege hinaus und hieß mich in ein Zimmer treten, was ich ängstlichen Herzens tat. Der Magister kam mir freundlich entgegen und bot mir die Hand. Seine Hände waren ungemein schön und fast nicht die eines Mannes, so schlank und schmal und weiß waren sie; und auch immer ein wenig kalt, so dass es mich leise schauderte, wenn ich sie ergriff. Doch habe ich nicht nur einmal gesehen, dass in ihnen eine ungewöhnliche Kraft war. Wie er so vor mir stand, in seinem schlichten schwarzen Gewand, ähnlich, wie es die Prediger der Lutherischen gern tragen, so schien mir mit einmal, als sey ich recht töricht gewesen, mich so zu fürchten vor diesem Mann, der in keinem Ding anders war als andre. So machte ich ihm denn mit gutem Anstande mein Compliment und setzte mich auf sein Geheiß gegen ihm über in einen großen Stuhl. Er fragte mich, ob ich etwa wollte eine Pfeife rauchen, er hätte guten Tabak zur Hand aus Holland. Aber ich dankte ihm, es sey mir ungewohnt.

Nun hatte ich gedacht, er werde vielleicht ein Buch hervorziehen und einen gelehrten Sermon 35 anfangen über Gott weiß welche Dinge. Aber dazu machte er keinerley Anstalt, wie ich denn auch in dem ganzen Gemach nur allerley schönen Hausrat, auch manche alte Bilder fand, aber kein einziges Buch. Vielmehr begann er leichthin von Reisen in fremde Länder zu reden, vor allem nach Italien, die er in früheren Jahren getan, so nach Rom und Florenz und andern berühmten Städten, lobte bei jeder die Werke der schönen Kunst, die er dort gefunden, dann erinnerte er sich, dass auch ich in Mailand gewesen, und fragte mich, ob ich das heilige Abendmahl eines gewissen Meisters Lionardo gesehen, das er als ein ganz unvergleichliches Wunder rühmte. Davon hatte ich nun freilich nie etwas gehört, denn als ich in Mailand war, die wenige Zeit, so ging ich täglich zur Börse und in den Handelssachen, derentwegen ich gekommen, zu den Kaufleuten und hatte auf Bildwerke gar keine Acht. Nur den großen Dom hatte ich gesehen. Der Magister lachte.

»Daß Ihr ihn doch gesehen habt? Wundert mich, dass Ihr dem kleinen Kirchlein nicht seyd achtlos vorbeigegangen! Oder seyd Ihr einmal vielleicht mit der Nase drangestoßen? Verzeiht, daß ich so spotte – aber ich glaube fast, dass Ihr, der Ihr nun fast zwo Jahre in der guten Stadt Augsburg lebet, bis 36 heute noch nicht die Altartafeln im Dom habt gesehen, vom Holbein?«

Die hatte ich nun in der Tat nicht wahrgenommen, wiewohl ich oft in der Kirche gebetet, wenn auch nicht jeden Sonntag, denn da ging ich meist nach St. Ulrich.

Der Magister nickte. »Dacht' ich mir's doch! Ich habe zwar wenig übrig für die teutsche Kunst, aber die Tafeln sind schön und können sich wohl lassen sehen. Gehet nur gleich hin – so Ihr den Weg nicht wisset: die Hauptstraße immer gradaus, wenn Ihr vor St. Ulrich stehet – Ihr seht die Türme schon von weither . . .«

Der arge Spott verdroß mich gar übel. »Herr Magister,« sagte ich unwillig, »ich bin ein Kaufmann und kein Gelehrter, der um Schildereyen und steinerne Figuren reiset! Mein Vater und auch Herr Ehinger wüßten mir alle beide wenig Dank, so ich in Kirchen und Schauhäuser liefe, statt auf Börsen und in Contors. Lasset jeden das Seine treiben!«

»Daran erkenn' ich meinen teutschen Mann!« ließ sich Anselmus wiederum hören. »Wundert sich aber dann, dass ihm von andern Nationen, von Welschen und Franzosen, nur Spott und Hohn wird, und dass sie ihn den groben, ungeschliffenen Klotz und Krautkopf heißen! Muß denn ein 37 jeglicher Kaufmann nur sein' Fakturen und Strazza kennen, ja nichts weiter darüber? Für wen schaffen die Künstler, wenn nicht für den reichen Bürger, den Kaufherrn, der sich's kann leisten, ihre Tafeln und Marmorbilder für seine Häuser zu kaufen? Sehet doch den Herrn Ehinger und die Fugger alle! Sind nicht ihre Gemächer wahre Kunstkabinette? Das lob' ich mir an der Stadt Augsburg, dass sie in teutschen Landen die einzige ist, wo man Liebe zur holden Frau Kunst pfleget, fast wie in Italien. Nehmet Euch ein Exempel daran . . .«

Da schwieg ich denn freilich beschämt und mußte es gelten lassen. Später erst fiel mir ein, dass ich die ganze Kunst, so ich bisher in Augsburg gesehen, für ein gar unchristliche Kunst hielt; aber dann war ich doch wieder froh, dass ich nichts davon gesagt, denn ich wußte schon zuvor, wie der Magister dann sein leidiges Lächeln wiederum hätte gezeigt, vor dem mir so grauete.

Der Magister stand auf. »Nun hätte ich ja bald vergessen, warum Ihr gekommen,« und ging hinaus in das andere Zimmer. Er brachte ein großes Buch und gab mir's zur Hand. Ich schlug es auf: La divina comedia di Dante Alighieri . . .

Ich bedankte mich gegen ihn und stand auf, Urlaub von ihm zu nehmen. »Wann Ihr damit nicht 38 Rat wisset – und fast glaube ich, dass es so seyn wird –, kommt zu mir, Herr Meinrat, ich will's Euch deuten und auslegen.«

Am Abend in meiner Kammer hub ich an, es zu lesen. Oh – was für ein wildes, grausames Buch war dies! Ich hatte bis dahin kaum ein Buch gelesen, denn etwa eine Erbauungsschrift oder eine Zeitung von einer erschrecklichen Mordtat oder einer großen Schlacht zwischen dem preußischen Friedrich und der Maria Theresia von Österreich, wie dazumal fleißig umliefen. Da war es mir denn gar sauer, den Sinn zu verstehen, und wußte ich niemalen recht, war das nur symbolisch gemeinet oder wirklich wahr, begriff auch für den Anfang gar nicht, wie denn der Dichter nicht von dem greulichen Pardeltier und der scheußlichen Wölfin zerrissen ward, bis mir aufging, dass dies keine wirklichen Tiere, sondern nur allegorische Bestien. Und je weiter ich las, desto wunderlicher ward mir. Das meiste verstand ich gar nicht, doch aber konnte ich nicht aufhören damit, es zog mich immer wieder zum Buch. Die Inschrift über dem Tor der Hölle dünkte mich grausig. Aber ich erinnere mich noch heute so deutlich, als wäre es gestern geschehen, dass ich bei jenen Versen zum erstenmal im Leben begriff, was Schönheit sey! Nicht, dass ich bloß die Strophen selbst wohlgesetzt 39 fand, das war es nicht; sondern ich fühlte darin eine ungeheure und erhabene Größe und Trauer, so ohne alle Hoffnung, dass ich zu innerst davon ergriffen ward, und wußte doch, dass es nicht wahr sey, sondern nur erfunden. Trotzdem aber kam ich mit der Sache nicht zu Rande. Und ich ging eines Tages zu Magister Anselmus und fragte ihn darum:

»Dieser Dichter spricht fortwährend von seinen großen Sünden, die er begangen, und wie er mitten im Leben von lauter Lastern und Leidenschaften sey umgeben wie von wilden Tieren. Aber was sind das für Sünden? Ich weiß wohl, dass es mancherley gibt, wie sie das Gebot aufzählt, als da sind: Anbetung fremder Götzen, Vater und Mutter nicht ehren, Mord, Ehebruch; aber wer tut solche Sünden, und sind sie nicht leicht zu meiden, wenn man Gott liebt und ihn anruft?«

Da lächelten die Augen des Anselmus wieder, und ich fühlte ganz deutlich, dass in ihnen ein leises Mitleid und auch Spott und vielleicht auch ein wenig Neid lagen. Das machte mich trotzig, und ich fuhr fort:

»Warum meidet er die Sünde nicht? Ich bin kein guter Mensch und habe sicher viel gesündiget, und doch weiß ich, dass ich kein großer Sünder bin, 40 und will allzeit das Böse meiden und hoffe zu Gott, dass er mir wird beistehen darin.«

Die Augen des Magisters Anselmus lächelten immer noch. Da ward ich rot und schwieg. Und jetzt sprach er:

»Noch habet Ihr erst ein paar Seiten im Buche gelesen, leset es weiter – wenn Ihr zu Ende seid damit, werdet Ihr es wissen . . .«

Erst nach Jahren fiel mir dies Wort wieder ein, und ich verstand, dass Anselmus damals nicht das Buch des italiänischen Dichters gemeinet, sondern das Buch des Lebens . . .

So las ich denn weiter von den grausigen Martern der Verdammten, bis ich zum fünften Gesang kam; aber da erging es mir wunderlich.

Es erschien mir unzweifelhaft, dass diese Sünder kaum eine Strafe erlitten, und wenn schon nicht alle, so doch die zweie, mit denen sich der Poet insonders unterredet; denn sie waren ja beisammen in alle Ewigkeit, und was ersehneten sie mehr als das? Es sey denn, dass sie darum klagten, weil sie allzu frühe dem süßen Leben auf der Erde entrissen wurden, oder gar, dass sie ihrer sündhaften Lust nicht mehr fröhnen konnten wie einst. Aber noch indessen ich darüber nachdachte, bemerkte ich plötzlich mit wahrem Entsetzen, dass ich diesen Sündern 41 wohlgeneigt war und mich im innersten Grunde meines Herzens freuete, dass sie also leicht weggekommen und dass die Güte des Allmächtigen ihnen verstattet, in Ewigkeit einander Gefährten zu seyn, wiewohl sie doch alle sehr große Frevel begangen . . . Und ich fand plötzlich, dass ich die Verse bereits auswendig kannte, so oft mußte ich sie gelesen haben, ohne es selber recht zu wissen: »und als wir lasen, wie der Geliebte küßte das ersehnte Lächeln ihres Mundes, sieh – da küßte jener, der seither von mir nie mehr getrennt, am ganzen Leibe zitternd, meinen Mund!«

Da überfiel mich eine große Angst, dass auch ich bereits gesündiget hätte, wenn auch nur in Gedanken. Ich schlug das Buch zu und ging aus dem Haus, ich ging so eilender Schritte, als verfolge mich schon der böse Feind. Rasch lief ich durch die kleinen steilen Gassen bei St. Ulrich hinab, vor's rote Tor, wo damals, des längeren Friedens sich freuend, allerley Buschwerk gedieh. Es war ein milder Abend im Mai und die Sträucher und Bäume schon ganz grün von jungem Laub. Es dämmerte bereits, nur oben im hellen Himmel glüheten noch viele kleine rosige Wölkchen, ein ganzer Zug, wie von einer Hand ausgestreuet über das Firmament. Da mußte ich denken, ob dies nicht die wegen der Liebe Verdammten seyen und die schönsten von den kleinen Wölklein 42 nannte ich Francesca und Paolo und sah mit einem heimlichen Entzücken, wie sie plötzlich in eins zusammenflossen, und fühlte, wie mir die Tränen des Mitleids in die Augen stiegen. Im Gebüsch hörte ich das Flöten einer Amsel und es war ringsum ganz still. Da erschrak ich auf's neue, dass ich wiederum den Lockungen des bösen Feindes erlegen sey und wußte gar nicht, wie mir denn geschehen wäre. Aber mit einmal wurde mir seltsam ruhig und froh zu Mute und es fiel mir meine werte Jungfer Christine ein und es überkam mich eine gute, frohe Zuversicht und große Freude, dass mir an ihrer Seite kein so erschreckliches Leid drohe, vielmehr ein steter, gleichmäßiger Friede alle Tage meines Lebens beschieden sein werde. Ich faltete im Gehen still vor mich hin die Hände und sprach ein leises, aber recht herzliches Gebet zum allmächtigen Gott, dankte ihm und bat ihn um ein glückliches Leben . . . Da wurde ich ganz zufrieden und wohlgemut und kehrte in die Stadt zurück, als es schon dunkel war.

Mit dem Magister Anselmus kam ich nun des öfteren zusammen. Er erklärte mir willig die vielen Stellen der Divina comedia, die ich nicht verstand, weil es mir an den Kenntnissen ermangelte, die subtilen Andeutungen zu erfassen, die dieser Dichter so gerne 43 gebraucht. Da sah ich immer mit großem Staunen, wie vielfältig die Gelehrsamkeit des Magisters doch war, dass er über alles so gradhin konnte Bescheid geben, wie ich's vorbrachte, bald das, bald das. Auch fing er an, mich das Lateinische zu lehren, indem er einen leichteren Verfasser mit mir las, ohne dass er mich viel mit der Grammatica quälete. Und ich faßte es schnell und konnte bald fließend ins Deutsche übersetzen.

Einmal traf ich ihn in seinem Studierzimmer, in dem er mich nun immer empfing, wie er vor sich ein Papier hatte mit viel wunderlichen Zeichnungen, Ziffern und Buchstaben, dergleichen er damals an jenem Abend bei Herrn Ehinger aufgeschrieben als die Mondbahn. Ich fragte ihn, was er da treibe und er sagte, er rechne nach der Methode des Leibniz aus die Größe des Planeten Venus. Da bezeigte ich große Lust, dergleichen auch zu erlernen. Er willigte ein und begann von Stund an, mich auch in der Geometria zu unterweisen. Darin hab ich's freilich nie weit gebracht, denn das ist eine ganz ausnehmend schwere Kunst. Doch machte es mir noch oft in späteren Jahren Freude, ein oder das andere Exempel nur selber zu stellen und zu lösen, wiewohl es mir gar keinen Nutzen gab. Denn es übet und stärket den Geist und gibt viel Kurzweil, Schritt vor Schritt 44 mit untrüglicher Sicherheit weiter zu gehen, alles in die Luft hinaus gebauet und doch gewiß wie das Amen im Gebet.

Ich hatte indessen die Hölle zu Ende gelesen in der Divina comedia und dachte nun schon ein wenig anders über die Dichtkunst. Aber mit dem Purgatorio wollt's nicht recht vorwärts und einmal, da ich des abends in meiner Kammer darin las und schon müde war von vielen Geschäften des Tages, schlief ich gar ein und erwachte erst wieder, als meine Lampe mit gräulichem Gestank erloschen war. Das sagte ich einmal dem Magister und er lachte.

»Glaub's gern, junger Freund, es ergehet mir nicht viel besser. So lang es gilt, immer neue Qualen und Martern zu ersinnen, da sind die Menschen allzeit flink bei der Hand und läßt sie die Erfindung nie im Stich. Aber soll's damit ein Ende haben und die ewige Seligkeit anheben, so wissen sie bald nichts mehr zu sagen . . . So geht's auch dem Dante, wenngleich er ein göttlicher Dichter war, und so hilft er sich und hält große Disputationes, darinnen er selber ein Meister gewesen – aber uns sind sie wenig erquicklich und machen uns lange Weile . . .«

Ich wußte nicht, ob er mich wieder verhöhnte oder ernstlich redete. Aber sein Gesicht war seltsam 45 verschlossen und nichts von seinem gewohnten Lächeln zu sehen.

Doch wies er mir noch etliche Stellen im Purgatorio und Paradiso, ja, den letzten Kantus, in dem der fromme Dichter Gott den Herrn in seinem ewigen Lichte schauet, las er mir gar vor. In wunderbarem Wohllaut floß die klangreiche Sprache von seinen Lippen, viel schöner, wie es mich dünkte, als ich sie in Italien selber gehört; und es überlief mich ein seltsamer Schauer, als er den letzten Vers sprach: ›Die Liebe, die beweget Sonn' und Sterne . . .‹

Dann sprach er in edlem Feuer noch viel Schönes über die große Dichtung, wie den Menschen aus allem Irrsal und aller Not des Lebens die Sehnsucht nach den ewigen Sternen aufwärts führe, und wie für jeglichen die Sterne etwas anderes seyen: bald die Erkenntnis der letzten Dinge, bald irdisches Wissen, bald die Kunst oder eine große, gewaltige Liebe . . .

Ich verstand damals nicht viel von dem, was er sagte, doch gefiel mir die echte Begeisterung seiner Rede und ich tat ihm heimlich Abbitte dafür, dass ich oft viel Übles und Arges von ihm gedacht. Denn, die Wahrheit zu gestehen, ich hatte ihn immer noch für einen sehr schlechten Menschen gehalten, der nicht an Gott und die Heiligkeit der Kirche glaubte und 46 seinen Spott über Fromme und gute Christenmenschen hatte. Da trieb mich mein Aberwitz an diesem Abend, ihn geradhin zu fragen:

»Verzeihet, Herr Magister: glaubet Ihr an Gott –?«

Er schwieg und sah mich an. Seine Lippen waren streng und beinahe herb geschlossen und seine Augen blickten groß und weit in die meinen, fast schien es mir, als läge in ihnen eine stille Trauer. Und dennoch, dennoch – sie lächelten, heimlich, verborgen, unsichtbar – aber ja, sicherlich, sie lächelten in jenem furchtbaren, zauberhaften Lächeln, das mich immer so sehr entsetzte an ihm.

Er schwieg und gab mir keinen Bescheid. Ich wurde verwirrt und stand auf, mich zu empfehlen. Er reichte mir langsam seine schmale, weiße, kühle Hand und zum erstenmal fiel mir an ihr ein Ring mit einem großen, grünen Smaragd auf, der in einem seltsamen, kalten Feuer funkelte und glomm. Und indes ich ihn besah, schien es mir plötzlich, als gleiche dieser Stein ganz und gar dem Magister: so schön, so edel, so funkelnd und so kalt wie er . . .

Ich ging damals viele Tage nicht mehr zu Anselmus, bis er einmal wieder bei Herrn Ehinger zu Tisch geladen war und mich fragte, warum ich so lange weggeblieben. Da stammelte ich allerley ungeschickte 47 Ausreden und versprach, bald auf's neue zu kommen und er hatte mich wieder gewonnen . . .


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