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Es war gerade in der Zeit, als ich glaubte, daß alles wieder gut werden würde ...
Ich war damals seit vier Jahren am Theater; es waren vier Jahre voller Enttäuschungen. Weshalb war ich überhaupt zur Bühne gegangen? Ich war vor Sehnsucht nach den glänzenden Possen dort oben hinter dem Licht der Rampe besessen. Etwas am ganzen Theatergetriebe berauschte mich. Ich liebte den Kulissenstaub, den Geruch von Schminke und gebrannten Haaren. Und vielleicht, weil ich selbst stiller und biederer Natur war, liebte ich die Leichtfertigkeit und die frivolen Sitten der Theatermenschen.
Natürlich nahm ich selbst an, daß ich Talent hätte; aber die anderen fanden das nicht. Denn ich gefiel nicht, und viele lachten mich aus, wenn ich im Ernst von Rollen sprach, die ich spielen zu können glaubte. Trotzdem ...erlaube ich mir aber doch zu meinen, daß ich ebenso viel oder mehr Talent hatte, als der tüchtige Durchschnittsschauspieler zu haben pflegt. Ich konnte nur nicht in alle möglichen Rollen hineinkriechen. Des Weiteren konnte ich auch an den Intriguen und hinterlistigen Streichen meiner Kollegen nicht teilnehmen. Ich war mit anderen Worten ein Sonderling. Und das können sich nur Menschen erlauben, die andere Künste betreiben als die Schauspielkunst. Ein Maler kann in sein Atelier gehen: Leinewand und Pinsel werden ihm dienen. Wenn er noch so eigenartig ist, werden die Menschen doch erfahren, was er meint. Dasselbe gilt für den Dichter: er kann sich an seinen Schreibtisch setzen und seine Gedanken niederschreiben. Aber ein Schauspieler ist der Sklave von vielerlei Dingen. Vor allem ist er der Sklave des Direktors: vielleicht gibt ihm dieser eine Rolle, die ganz und gar nicht für ihn liegt, vielleicht gibt er ihm überhaupt keine Rolle. Der Direktor kann in der Tat einen jungen, befähigten, aber unbekannten Schauspieler vernichten. Ach ja, das Theaterglück ist, alles in allem, ein Hazard. Die breitstirnige Tüchtigkeit mit dem großtuerischen Wesen mag des »Erfolges« sicher sein, aber wie viele selten begabte Schauspieler sind nicht verfroren umhergezogen? Wie viele stolze, empfindsame Genies sitzen als Karikaturen an irgend einem Vorortsvarieté und verblüffen ein biertrinkendes Publikum durch ein Lied oder einen Vers, den sie anders vortragen, als irgend ein anderer es bisher getan hat ...
Aber, wie gesagt, es kam eine Zeit, in der ich glaubte, daß alles wieder gut werden würde. Ich war heiterer und umgänglicher als sonst. Der Verkehr mit Menschen wurde mir leichter. Früher war ich kurz angebunden und stolz ... es war ein eigener, bedauernswerter Stolz gewesen, der in Unsicherheit und Verlassensein seinen eigentlichen Grund hatte. Jetzt wurde ich gleichmäßiger, ruhig, freundlich.
Und woher kam diese Veränderung? Ich hatte Maria kennen gelernt!
Ach, schon an dem Tage, an dem sie an unser Theater kam ... etwas Neues, etwas Anderes! Sie ähnelte keinem dieser dummen, vulgären Mädchen, deren die Theater so viele haben, dieser Mädchen, die neidisch umhergehen und auf den »Erfolg« oder auf den Augenblick warten, der sie aus dem Dunkel hervorhebt, der es ihnen ermöglicht, einen neuen Liebsten einzufangen oder ein vorteilhaftes Engagement zu erwischen – nein, sie kam wie ein Bote von dem Heiligtum der Kunst, ja, von dem »Heiligtum«, – das Wort mag noch so sehr abgenutzt und mißbraucht sein – hier lasse ich es dennoch stehen. Hier paßt es. Sie spielte ihre Rollen mit einer ungeheuren Glut, sie schien, sogar außerhalb der Bühne, von der Poesie berauscht zu sein, die sie jeden Abend um sich verbreitete. Kam sie am grauen Werktag gegangen, umschwebte sie eine Wolke von Traum und Fieber.
Ich sah diese dunkle Wolke. Ich lalle wie ein kleines Kind, wenn ich davon spreche. Ich könnte noch mehr von ihrem Aussehen erzählen: von ihrer Figur, so schlank und elastisch unter den schmiegsamen Kleidern, die sie trug; von ihrem bleichen Gesicht mit den heftigen Zügen, dem leidenschaftlichen schwarzen Haar, und von dem Mund, ihrem wunderbaren Mund, der wie dazu geschaffen war, schöne Worte auszusprechen ... schwarze, glänzende Perlen, die ins Meer sinken.
Ich mag hier nicht entwickeln, wie es mir gelang, sie zu gewinnen. Aber ich gewann Maria! Ich hatte schon länger etwas Seltsames an ihr wahrgenommen. Sie grüßte mich freundlich, wenn wir uns begegneten. Schloß sich mir einfach unterwegs an und begrüßte mich mit einem Blick, den ich nicht erwartet hatte. Es war ein eigener, weilender Blick. Mehr als einmal fuhr ich zusammen: sah sie alle Männer in dieser Weise an? ... Ich forschte unwillkürlich nach ... nein, ich glaube nicht, daß sie es tat.
Aber was dann? ... Eines Abends, als wir miteinander zum Theater gingen und ich davon sprach, ein anderes Engagement einzugehen, – sagte sie: »Weshalb wollen Sie fort? Bleiben Sie doch!« ... Und ich antwortete, halb bestürzt über die innige Bitte, die in ihrer Stimme lag: »Ja, wenn Sie mich so schön bitten, Fräulein Maria, dann hätte ich freilich Lust, noch zu bleiben.« Und sie antwortete mir still: »Wohlan, aber dann bitte ich Sie noch einmal schön: »Bleiben Sie ... Dann bleiben Sie also?« »Ja, dann bleibe ich, Fräulein Maria!« ... »Ich danke Ihnen!« Und es folgte wieder ein langer, unbegreiflicher Blick, der mich schwach und schwindelig machte.
Es folgte für mich eine große Zeit. Maria war mir gut. Ich sage »war mir gut«, ich dürfte größere Worte sagen. Aber in Sachen, die das Liebesverhältnis zwischen Mann und Weib betreffen, bin ich stets scheu und zurückhaltend gewesen. So war ich auch in unserem Verhältnis. Ich war der Stille, der Schweigsame. Maria redete, jubelte. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß sie, das dunkle, weiche Mädchen, sich in der Weise entfalten könnte, wie sie es tat. Sie glich einer großen Rose. Sie blühte, sie glühte, sie riß mich hin. Und trotzdem hatte ich Angst. Ich fürchtete mich vor dem Erscheinen einer mir feindlichen Macht. So ist es mir immer ergangen. Wenn ich etwas erreicht hatte, wagte ich die Freude nicht zu genießen. Und deshalb hat sie mich wohl auch so rasch verlassen.
Als Carl Adams ans Theater kam, wußte ich schon etwas. Oder ich ahnte etwas. Er ähnelte ihr sehr. Hatte schon einen jungen, strahlenden Namen. Aehnelte der blanken, funkelnden Münze, die überall gangbar ist. Mehrere Theater hatten miteinander gewetteifert, um ihn zu bekommen: »Kommen Sie zu uns!« ... »Nein, kommen Sie zu uns!« – Unser armer Direktor hatte ihn mit einer Gage gelockt, die eigentlich die Kräfte des Theaters weit überstieg; aber der Direktor hoffte, daß das Zusammenspielen von Carl Adams und Maria ihm Riesenerfolge einbringen würde.
Mir war auch bekannt, daß Maria Carl Adams schon seit längerer Zeit bewunderte. Denn ich verstand, daß es für sie eine große Freude sein würde, mit ihm zusammenspielen zu dürfen. Denn das Zusammenspielen mit dem alten dicken »Liebhaber« unserer Bühne mochte ja schließlich nicht gerade erfreulich sein. Insoweit brauchte ich also Marias Freude über das Kommen Carl Adams keine größere Bedeutung beizumessen. Aber schon das erste Mal, als ihn Maria und ich trafen, nahm er die Aufmerksamkeit Marias gefangen, sie lauschte seinen Worten ganz anders, als sie der Rede anderer Leute zuzuhören pflegte ... anders, als sie meiner eigenen Rede lauschte.
Sie sprachen zusammen, oder vielmehr er sprach sich aus. Er sprach bestimmt, energisch, als ob eine andere Meinung als seine unmöglich wäre. Und sie fand, daß er recht hatte. Sie widersprach ihm nicht. Sie meinten vielleicht dasselbe ... eigentlich glichen sie einander.
Ich saß an jenem Abend zwischen ihnen; für mich gab es nicht viel zu sagen. Es war, als warteten sie gar nicht mal auf meine Meinungsäußerungen. Später am Abend hielt er eine Rede auf sie: »Ich trinke auf ein gutes Zusammenarbeiten!« sagte er und erhob sein Glas. Eine lichte Freude zog über ihr Gesicht. Sie dankte. Ich sah, wie seine Worte sie erfreuten.
In jenen Tagen war es, als ob ein eigenes, banges Gefühl sich meiner bemächtigte. Ich sah in einen Abgrund stillen Entsetzens hinab. Ich merkte, daß etwas nicht wie früher war. Maria war nicht mehr die meine. Vielleicht war sie nie in voller Innigkeit die meine gewesen; aber jetzt, da das wahre Verhältnis mir ganz klar wurde, war es mir doch, als hätte ich eine herrliche Zeit gehabt, damals, als ich sie oft sah, damals, als ich den Druck ihrer Hand fühlte, damals, als ich ihren Körper in meinen Armen hielt. Vorbei! vorbei!
Sie sagte mir nichts. Und es war, als wagte ich nicht zu fragen. Wir trafen uns noch dann und wann; aber meistens ging ich allein. Ich glaube, sie hatte noch ein wenig für mich übrig, vielleicht hatte sie Mitleid mit mir. Wahrscheinlich traf sie Carl Adams; sie ließ mich es aber nicht wissen.
Aber zuletzt ließ sie mich es doch wissen. Sie ging mit Carl Adams spazieren. Er begleitete sie nach dem Theater und von dort wieder nach Hause. Und sie ließ mich durch einen Blick erfahren, wie gleichgültig ich ihr sei. Nie hatte ich einen solchen Blick gefühlt. Kalt und leer! Wenn ich vom Schlag getroffen umgefallen wäre, ich hätte doch nicht für sie existiert!
Aber Carl Adams existierte für sie. War sie einmal, wenn er eine seiner großen Rollen spielte, nicht auf der Bühne, saß sie gewiß auf einer der vordersten Reihen im Parkett und starrte ihn an, atemlos folgte sie seinem Spiel. Eines Abends entsinne ich mich ganz besonders. Er spielte einen jungen spanischen Granden aus dem Mittelalter. Und, wahrlich, wie er sich da oben bewegte, war er der Grande. Durch die Gewalt seiner Jugend und die Macht seines Genies war er, ich sage es noch einmal, der Grande. Ich sah es. Ich mußte es zugeben. Sie saß da und sah ihn an, ihre Brust wogte heftig gegen die Seide, in die sie gekleidet war. Das kleine blasse Gesicht war fanatisch vor Freude.
Mich sah sie nicht.
In der nächsten Zeit wurde ich förmlich unzurechnungsfähig. Ich war ganz unbrauchbar. Ich war ja eigentlich nie viel mehr als ein Statist. Aber auch dazu taugte ich jetzt nicht mehr. Ich konnte nicht einmal einen Brief auf einem Präsentierteller ordentlich hineinbringen. Ich litt oft an Schwindelanfällen. Ich glaube, ich vertrug das Rampenlicht nicht. Meine Augen wurden schwach, weil ich nicht viel schlafen konnte. Oft vergingen vierundzwanzig Stunden, ohne daß ich ein Auge schloß.
Hierzu kam noch, daß Maria meine Entlastung durchsetzte. Ja, in Wahrheit, sie, mit dem weichen Herzen, wirkte es aus, daß man mir die Tür wies. Mein blasses, verstörtes Gesicht ärgerte sie vielleicht. Den Frauen geht es oft so: wenn sie etwas nicht mehr angeht, was sie früher anging, gibt es keine Grenzen für ihre Härte und Kälte.
Ich bekam darauf ein Engagement an einem Varietétheater. Ich prangte zuerst auf dem Programm als »komischer Schauspieler«; aber meine Komik lockte nicht viele Gäste herbei. Wenn ich das Lied sang: »Amans heiß' ich, fescher Gigerl« ... fiel es doch niemanden ein, zu lachen. Und der Direktor, dessen viel zu großer Brillant funkelte, während er sich die Vorstellung ansah, verstand bald, daß dieser »komische Schauspieler« keine Attraktion war. Kurzum, ich bekam auch hier meine Entlassung.
Mit großer Ruhe nahm ich die Sache auf. Meine Laune wurde sogar besser. Hm, es schien also, als ob ich auf dem Theater unmöglich wäre. Ich war ein welker Zweig, ein unbrauchbares Glied. Na, dann hörte man eben auf, mich zu etwas zu gebrauchen, und ich hatte meine Ruhe, fern von den anderen.
Und dieses Gefühl war eigentlich nicht schmerzhaft. Nein, es war, als hätte ich einen großen, stillen Raum um mich. Die Menschen wurden mir unsagbar gleichgültig. Ich fühlte keinen Schmerz mehr. Nur eine große Oede, worin alles lebte, alles und alle: nicht nur ich selbst und die Leute um mich, sondern auch die fernen Dinge: die Turmspitze, die Wolken da oben, die Sterne, ach ja, die Sterne hatte ich früher eigentlich gar nicht recht beachtet – wie sie hoch da oben in der ewigen Leere sausten und sangen.
Wovon ich lebte? Offen gesagt, von der Arbeit, die ich gerade zufällig bekommen konnte. Ich war nicht wählerisch. Ich nahm alle Arbeit an, die sich mir bot. Ich trug sogar Kohlen an Bord der Schiffe; dadurch verdiente ich ein schönes Geld; die Arbeit war mir aber körperlich zu anstrengend, ich bekam starke Kopfschmerzen davon, und ein ewiges Sausen sang mir in den Ohren.
Und wenn ich keine Arbeit bekommen konnte, ging ich zu einem Caféwirt, dessen Lokal ich besucht hatte, während ich Maria kannte. Er war ein stiller, biederer Mann und er trug es mir nicht nach, daß ich jetzt so heruntergekommen war. Seine milden Augen sahen mich ohne Verachtung und Hohn an. Wenn ich eintrat, nickte er und zeigte nach der Küche, und ich bekam einen Stuhl am Herd, und der Wirt rief den Leuten zu, was sie mir geben sollten, und das, was ich bekam, war nicht vom schlechtesten ...
Der Winter war in diesem Jahre nicht streng; er verging rasch und es kam ein wunderbar strahlender Frühling. Die Sonne war so neu und warm, und der Regen mild, so mild. Oft stand die Luft wie ein goldiger Nebel um die Erde.
Das war gut, denn mir wurde von meiner Wirtin gekündigt, und ich hatte kein Geld, ein neues Zimmer zu mieten.
Ich hatte mein Stübchen länger innegehabt, und ich hatte sogar auch meine Miete gezahlt. Unregelmäßig zwar und in kleinen Raten; doch gezahlt hatte ich.
Aber schlichte Leute haben ein recht feines Beobachtungsvermögen. Sie verstehen es, diejenigen, welche arm sind, aber doch unter ehrenhaften Leuten auf festen Füßen stehen, und die, denen es ganz schlecht geht, die fertig sind, von einander zu unterscheiden. Sie sehen es an den Kleidern, am Schuhzeug, an dem ganzen Auftreten, am Ausdruck der Augen.
Am besten können sie solche Beobachtungen an dem »Herrn« machen, der Stärkewäsche und Kavalierrock trägt. Wenn ein Arbeiter etwas mehr oder weniger zerlumpt ist – was tut das? Er hat sein heiteres Aussehen, seine braunen Hände, vielleicht haben die Lumpen, in denen er geht, ihm ebenso viele Taler eingebracht. Aber ganz anders verhält es sich bei dem feinen »Herrn«; – wenn dessen Kleider am Körper muffig werden, wenn der Schimmer der Armut an seinen Rockschößen und an seinen verschlissenen Hosen hängt, – dann ist kein zerlumpter Arbeitsanzug so unheimlich wie der seine.
Und ich befand mich jetzt wirklich im Zustande der Auflösung, das läßt sich nicht leugnen. Die Wittwe hatte es gewiß schon lange gemerkt. Eines Tages wurde es mir nachdrücklich klargemacht ...
Ich war ihr die Miete für die letzten beiden Monate schuldig geblieben. Ich kam zwar mit etwas Geld, bezahlte sie für den einen Monat und erwartete, daß sie mir von neuem etwas Kredit geben würde. Aber als ich diesen Punkt berührte, antwortete sie, daß »es sich nicht mehr machen lasse. Es sei besser, wenn ich meiner Wege ginge.« Ich fragte, »ob es denn ihre Meinung sei, daß ich nicht mehr wohnen bleiben solle?« »Jawohl, das sei ihre Meinung.« Erst jetzt sah ich, daß diese freundliche Wittwe hart wie ein Nagel war. Ihre Augen schimmerten habgierig, und der Mund schrumpfte zusammen, wurde weiß und stramm. »Weshalb darf ich denn nicht länger hier wohnen bleiben«, fragte ich. »Das geht Sie gar nichts an«, antwortete sie. Und kurz darauf fügte sie hinzu: »Ich denke doch, ich kann mit meinem Zimmer tun, was ich will.«
»Bitte sehr. Gehen Sie zum H –!«
Hm, hm, diese Wittwe war eigentlich eine unheimliche Person ... sie kannte mich also durch und durch.
Ich haßte sie. Haßte sie noch mehr, als sie mir mein ganzes Bargeld nahm und mich einfach laufen ließ. Hatte es überhaupt noch Zweck, sich ein neues Zimmer zu suchen? Alle wollten eine Anzahlung auf die Miete haben, und ich hatte kein Geld.
Aber allmählich wurde mir auch das gleichgültig. Meine Sinne wurden stumpf. Der Sommer stand vor der Tür, aber ich sah das Laub nicht, merkte seinen Duft nicht, hörte nicht sein Sausen. Ich sah nichts, hörte nichts, roch nichts. Mein Geschmacksinn hatte sich auch verloren. Um mein Bewußtsein lag ein Nebel.
Wenn ich Arbeit bekam, war es gut. Ich führte sie aus, ohne zu fragen und ohne zu antworten. Ich befriedigte meinen Hunger, und ich übernachtete in irgend einer Herberge. Mein Schlaf war so tief, daß mich weder Ungeziefer noch ein zu hartes Lager wach machte. Dieser Schlaf war meine sichere Zuflucht. Er milderte mein Elend. Er war mein mitleidiger Freund. Er hatte ein stilles, gnädiges Lächeln, das mir den ganzen bösen Tag hindurch winkte.
Es kam aber eine Zeit, wo die Sommerhitze alle Arbeit lähmte. Und die Arbeit, die noch zu bekommen war, nur von den Kräftigsten stöhnend ausgeführt wurde. Ich bekam keine Arbeit. Absolut keine, trotz aller Bemühungen. Zuletzt saß ich still in dem kleinen Park nahe am Hafen und fühlte, wie die Ruhe der Gleichgültigkeit und die Hoffnungslosigkeit sich über mich herabsenkten. Ich sah die Kinder spielen. Sah die fröhlichen Kleinen, hörte ihr Gelächter und ihre zwitschernden Stimmen und konnte mich ihres Jubels doch nicht erfreuen. Mir wollte der Jubel zu leicht erkauft erscheinen. Da beglückwünschen sich diese Leute, wenn ein Kind auf die Welt gekommen ist, – mag es noch so gebrechlich sein; und man gibt den Kleinen hübsche Kleider, ein Schleifchen ins Haar und läßt sie wachsen und älter werden. Man benutzt fleißig die Rute ... Die Alten waren klüger. Bei der Geburt richteten sie in Andacht und Beben ihren Blick gegen den Himmel, erforschten den Lauf der Sterne, und trugen alle Wahrzeichen sorgfältig und mitleidsvoll in ein Buch ein, das gut aufgehoben und ungern geöffnet wurde ...
Ach, Ihr Mütter und Kindermädchen, die ihr gedankenlos lacht und euch über die Sorglosigkeit der Kleinen freut: auch ich war einst ein kleiner lustiger Knabe, der nichts Böses ahnte ... und jetzt sitze ich still hier im Park und prophezeie und wahrsage wie ein alter, trauriger Zauberer ... Und sehne mich nach der Nacht; ich will mich weit drinnen unter den Bäumen zur Ruhe legen und den tiefen, tiefen Schlaf weniger Stunden genießen.
So tief war mein Nachtschlaf freilich nicht mehr. Oft kamen kalte, regnerische Nächte, so daß ich elend vor Kälte schauernd erwachte. Die verdorbene Luft und das Ungeziefer der Herbergen konnten mir nichts anhaben, aber die Kälte der Nacht. Wenn ich auch noch so todesmüde und schläfrig war, weckte mich die Kälte. Eines Nachts fand ich einen Ausweg. Unten in der sogenannten »Allmende« lagen einige Lustboote. In einem von ihnen war stets ein Raum offen, der mich gegen die Nachtkälte und den Regen schützte. Hier legte ich mich eine Nacht nach der anderen. Hier hieß es aber früh aufwachen, denn die Segelsportsleute sind früh auf. Eine zeitlang ging es auch gut; aber zuletzt hatte ich Pech. Eines Morgens wurde ich von mehreren lustigen Seglern überrascht. Es waren fünf große, kräftige Leute. »Zum Teufel! ... Was fiele mir denn ein ... mich in ihren Kutter zu legen!« ... Ich erwiderte nichts ... Einer der Herren sprach von der Polizei, ein zweiter wollte mich prügeln ... aber einige waren wieder gemütlicher: »Ach, was! der Mann mag nur seiner Wege gehen!« »Na, gut, geh' zum Henker, aber daß du dir kein zweitesmal hier dein Nachtlager aufschlägst!«
Und das nächstemal, als mir wieder ein Obdach für die Nacht fehlte, und ich dort hinunter schlich, ging ein Schutzmann auf und ab ... jetzt war mir also auch dieser Ausweg gesperrt ...
Am Abend schwieg der Lärm der großen Stadt. Die meisten Geschäfte wurden geschlossen. Hafenarbeiter, Handlanger, mechanische Arbeiter nahmen ihre Blecheimer, worin sie ihr Essen gehabt hatten, und gingen nach Hause. Ich begegnete ihnen am Kai, wenn sie von den Fährdampfern kamen. Einst hatte ich Mitleid mit diesen schwarzen Menschen gehabt. Ich erinnere mich, daß ich einmal eine ergreifende Schilderung von »diesen Sklaven, die einander in der ganzen Welt gleich sehen«, gelesen habe. Die Schilderung schloß ungefähr so: Ihre Füße scheinen des Gehens ungewohnt zu sein, ihr Rücken ist gebeugt, die Augen halb geschlossen, sie haben überhaupt etwas merkwürdig Erloschenes an sich, – die meisten von ihnen sind nur ein Anhang der Maschinen. Und wenn sie auch kein Wort reden, – nie trifft man einen schweigsameren Haufen Menschen –, ist es doch, als stiege von diesen Stiefkindern der Erde ein großer, müder Seufzer empor, ein Seufzer der Not und der Mattigkeit, wenn sie langsam nach Hause gehen und ihre engen Stübchen in den ungesunden Hinterhäusern aufsuchen. – Die Schilderung erregte mein Mitleid.
Jetzt fühlte ich kein Mitleid mehr. Ich beneidete sie eher. Die engen Stübchen sind ihr Heim. Wenn die Luft auch kalt ist, haben sie daheim doch einen Ofen, der starke, herrliche Wärme gibt. Und sie haben ein Bett, in das sie sich legen können. Eine Frau, die sich anstrengt, das Heim in Ordnung zu halten, Kinder, die ihnen zulächeln ...
Ich habe nichts. Ich gehe auf der Straße umher, die Stadt faltet sich nach und nach zusammen. Die Straße wird öde ... Ich gehe ohne Ziel, allein in der Nacht.
Vor mir geht ein Mann mit einer Stange. Er löscht die Straßenlaternen. Die eine nach der anderen. Der Mond kommt zu seinem Recht. Früher am Abend sah man ihn kaum vor der künstlichen Straßenbeleuchtung; aber jetzt ist sein Licht das alleinherrschende. Sieh, wie der Mondschein die öden Straßen entlangtreibt. Grünlichgelb ist er und kalt. Kälter als die Finsternis.
Ich trieb mich lange umher. Kam in Straßen und Gäßchen hinein, wo ich früher nie gewesen war. Alle führten nach dem Hafen zu. Die Hafenanlagen sind gastfrei. Dort gibt es sicher eine alte Bude aus halbverfaulten losen Brettern ... Wie hier zum Beispiel. Hier kann man viel ungestörter ruhen als in Lustkuttern. Hierher kommt nie ein Mensch. Nur das Schmutzwasser der Stadt und die lichtscheuen Ratten. Uhah, ich fühle es: hier sind Ratten.
Ja, wenn ich auch keine sah und keine hörte: ich wußte es doch, daß hier Ratten waren. Ich hatte von jeher eine eigene Abneigung gegen diese verfluchten Tiere. Nicht ein einfacher Ekel, sondern etwas Unerklärliches bemächtigte sich meiner, wenn ich sie sah oder hörte. Ich habe ihre Nähe physisch fühlen können. Häufig bin ich nachts durch das Geräusch einer Ratte aufgeweckt worden. Es war dann, als befiel mich ein Angstgefühl. Es war, als riefe mich eine mystische Stimme, als wäre die Ratte mit mir verwandt, als hätte sie mit meinem Leben und Schicksal etwas zu tun.
Ich sah mich um. Ich sah nur den offenen, unbrauchbaren Speicher und einige schlüpfrige, schwere Planken. Ich tastete umher, fand zuletzt eine geschützte Ecke mit den Ueberresten eines alten Sacks oder eines Segels – ich weiß es nicht genau –, die ich über mich breitete ... Hier hatte ich es ja ganz gut. Und hier roch es nicht nach Ratten, wie draußen ...
Ich schlief bis spät in den Tag hinein.
Und das Glück lächelte mir weiter: ich bekam unten am Hafen Beschäftigung. Ich half, eine Ladung Fische an Bord eines englischen Dampfers zu bringen. Von dem Geld, das ich dadurch verdiente, lebte ich einige Zeit gut ...
Aber sehr lange dauerte es nicht, bis ich meinen Winkel am Hafen wieder aufsuchen mußte. Da, als ich mich dort einst wieder gelegt hatte, rührte sich jemand in der Nähe. »Wer da?« Niemand antwortete, aber es rührte sich wieder etwas. »Ist jemand da?« Und ich vernahm eine Antwort im Flüsterton. Es raschelte etwas in der Nähe. Ich fühlte, wie jemand an mir vorbeischlich. Ich ging nach. Draußen sah ich eine dünne Frauengestalt. Ich trat näher und hörte ein leises Flüstern: »Ich glaubte nicht, daß jemand da wäre.«
Es war im September, und die Nacht war nicht ganz dunkel. Ich sah sie. Sie war ganz jung, ich sah es nicht sofort, aber jetzt weiß ich es. Sie war ganz jung. Sie hatte ein schmales, blasses Gesicht, ihr Mund hatte schöne Linien, ihre Lippen waren voll, aber blutleer. Ihre Erscheinung hatte das Gepräge grenzenloser Armut. Hunger und Elend malten ihre Züge in düsterem Beisammensein. Ihr Körper hatte etwas Vornübergebeugtes, Schleichendes. Die Augen blickten scheu vor sich hin. Sie war gewiß eines der unglückseligen Mädchen, die ganz instinktmäßig die Hauptstraßen vermeiden und in den Höhlen und Gassen ihre Zuflucht suchen.
Ja, wenn ich eines Tags – während ich noch unter Menschen wohnte – dieses Wesen auf der sonnenhellen Straße mit ihren schlichten oder geputzten Menschen hätte auftauchen sehen, – dann hätte es mich geschaudert vor einer so furchtbaren Offenbarung der Armut. Dieses graue, unglückliche Mädchen, das aus der Höhle kam, mag zur Höhle zurückkehren.
Ich stand lange still und sah sie an, ohne zu reden. Man sah es ihr an, daß es ihr immer schlecht gegangen war. Daß sie ihr Leben lang gehungert hatte. Als sie ganz klein gewesen war, hatte ihre Mutter sie mit ihrer welken Brust gesäugt, und jetzt hatten Not und Entbehrungen ihr für immer ihr Gepräge aufgedrückt. Wie sie nur da stand! Sie war nicht Weib. Sie hatte sich immer in Gassen herumgetrieben. In Feuchtigkeit, in Kälte oder in ungesunder Hitze. Niemand hatte sich um sie gekümmert. Kein Zuhälter hatte sich ihrer angenommen. Nicht einmal die Polizei mochte ihr nachstellen. Denn etwas Fleisch muß doch noch an den Knochen derjenigen hängen, die die Bullenbeißer jagen wollen. Sie müssen noch etwas Willen zum Leben zeigen. Müssen wenigstens gebettelt oder frech auf der Treppe eines fremden Mannes geschlafen haben. Hier aber war aller Lebenswille verschwunden. Sie ging nicht einmal wie andere Menschen. Sie bewegte sich in einer eigentümlichen gleitenden Weise. Und ihre Augen ... wie waren sie klein und unruhig. Und wie schwach und heiser war ihre Stimme.
»Ich glaubte nicht, daß jemand da wäre.«
Die demütige Stimme belustigte mich beinahe.
»Na, ich bin auch nicht der Besitzer des Hafens und der Werft; vor mir brauchst Du keine Angst zu haben.«
Sie stand jetzt in meiner unmittelbaren Nähe. Ich merkte einen Geruch wie nach alten, feuchten, schmutzigen Kleidern. Ich war ja auch selbst nicht gerade sehr reinlich mehr, aber sie war in dieser Beziehung sicher noch abgestumpfter. Sie stand da und blinzelte mich mit ihren lichtscheuen Augen an ...
Der muffige Geruch kam wieder, diesmal stärker. Und plötzlich rührte sich etwas um mich ... Die Ratten! ... jawohl, die Ratten!
Mir wurde kalt und unheimlich. Ich wandte mich um; ich ging, ich lief ...
In jener Nacht schlief ich nicht. Am nächsten Tage besorgte ich in der Stadt etwas für einen der Vorarbeiter am Hafen, verdiente dadurch einige Groschen, aß ein wenig in einem Kellerlokale, hatte aber im übrigen nur einen einzigen Gedanken, – das unglückselige Mädchen, das ich in der letzten Nacht getroffen hatte. Der Gedanke an sie wurmte mich geradezu. Ihr schmales, blasses Gesicht, die unruhigen Augen, der gleitende Gang ... es war etwas an ihr, das nicht aus meinem Sinn wollte.
Schon ihretwegen ging ich wieder in mein Schlupfloch am Hafen. Aber ich fand sie nicht. Ich setzte mich nieder und wollte auf sie warten. Ab und zu hörte ich ein schlüpfriges Schleichen und Gleiten und merkte einen eigentümlichen muffigen Geruch. Ich wußte es. Es waren die Ratten. Hm, eigentlich waren es merkwürdige Tiere. Ich hatte mich stets für sie interessiert. Hatte Angst vor ihnen gehabt, Abscheu vor ihnen gefühlt, aber ich war nur von dem gewöhnlichen Vorurteil angesteckt gewesen! Ich hatte mich in mir selbst geirrt. Meine Abscheu hatte eigentlich immer einen süßen Beigeschmack von Sehnsucht gehabt. Es gab ja Leute, die sie mit seltsamen Liedern an sich heranlocken konnten. Jawohl, jetzt verstand ich es. Das mußten Leute sein, deren Leben öde war, Leute, die die Menschen verlassen hatten. Die ihre langen Wege allein gingen. Die eintönige Einsamkeitslieder in ihrer Seele aufsparten Die, wenn sie unter Menschen kamen, sich nicht unter sie mischten, sondern die eintönigen Lieder der öden Wege summten und murmelten, bis alle Ratten der Finsternis hervorkamen.
Ich fuhr zusammen. Etwas näherte sich. Sie war es, auf die ich wartete, nach der ich mich den ganzen Tag gesehnt hatte.
Sie stand vor mir. Ich sah ihre schmale, blasse Wange. Ihr Mund war blutleer; aber der Bogen ihrer Lippen war begierig und fein. Und dann ihr magerer, gleitender Körper. Und ihre stumpfe Geschmeidigkeit.
Ich sagte nichts. Ich betastete ihre Hände; sie waren kalt. Ich drückte sie. Sie waren nicht wie die Hände lebendiger Menschen. Aber diese seltsame Kälte überwältigte mich. Ich flüsterte ihr zu, was ich selbst nicht verstand. Und plötzlich zog ich sie an mich heran. Sie wehrte sich nicht. Sie ließ mich gewähren. Und ich ließ sie nicht los. Ich drückte sie ganz dicht an mich, schwindlig und stumpf vor Begierde nach meiner eigenen Herabwürdigung. Und sie war still und gehorsam. Sie glitt und schmiegte sich in meine Arme, blöde, ohne Begierde und ohne Scham.
Ich traf sie jede Nacht da unten. Und nannte sie das Rattenmädchen, – den Witz darin verstand sie kaum; denn sie lächelte nicht ... Wir sprachen überhaupt nur wenig mit einander. Ich wußte nicht einmal, wo sie am Tage ihre Wege hatte. Sie wußte auch nicht, wo ich am Tage verkehrte.
In den ersten Nächten mußte ich oft auf sie warten. Aber bald war sie die erste, die kam, und es endete damit, daß sie auf mich wartete.
»Hast Du auf mich gewartet?«
»Ja.«
»Hast Du vielleicht Sehnsucht nach mir gehabt, Rattenmädchen?«
»Ja.«
Nur ja. Ein stilles, dumpfes Ja.
Ich sehnte mich auch oft nach ihr. Sie war eigentlich nicht häßlich. Ihren feinen, blutleeren Mund gewann ich lieb. Wie waren seine Muskeln unbeweglich! Sie öffnete ihren Mund nicht zum Kuß wie die schönen Weiber dieser Erde, die zitternd die roten, warmen Lippen öffnen. Aber gerade diese unveränderliche Kälte ihrer Lippen hatte ihren Reiz für mich. Ich wurde doppelt begierig, dieses Blut zu wecken, das doch in ihr rot wie in anderen, auch noch so armseligen Geschöpfen rinnen mußte.
Es vergingen Tage und Wochen, und wir lernten uns besser kennen. Wir fingen an, uns miteinander im Flüsterton zu unterhalten. Wir sprachen nie laut in jenen Nächten. Wir flüsterten nur. Ich bekam etwas aus ihrem Leben zu wissen. Sie wußte nur von einer kranken Mutter, die ins Krankenhaus gebracht worden war und die sie seitdem nie mehr zu sehen bekommen hatte.
Ja, und dann wußte sie etwas von einer Katze, mit der sie als Kind gespielt hatte. Die Katze war ihr Freund gewesen und hatte nachts bei ihr geschlafen.
»Eine Katze bei einem Rattenmädchen?« fragte ich scherzhaft, »aber biß sie denn nicht?«
»Nein, nie. Aber der Mann hat sie aufgehängt.«
»Der Mann?«
»Ja ... ein schrecklicher Trunkenbold, der Mutter besuchte.«
»Was war denn das für ein Mann?«
»Sie sagten, er sei mein Vater.«
»Du lieber Gott! Und er hängte Deine Katze auf?«
»Ja, Mutter wagte es nicht länger, ihn im Hause zu behalten. Da brach er eines Tages ein, während wir nicht zu Hause waren. Und hängte die Katze auf, weil er wußte, daß es uns betrüben würde. Wir kamen nach Hause und fanden sie. Sie hing schon seit mehreren Stunden und war tot. Sie kam uns so furchtbar lang vor, wie sie da hing. Viel länger, als wie sie noch lebte.«
Hm, armes Rattenmädchen, Du warst nicht auf Rosen gebettet gewesen. Nein, dann hatte ich es doch besser gehabt. Ich wollte ihr gegenüber nicht prahlen, aber ich erzählte ihr doch etwas von mir selbst, und mein Leben war gegen das ihre ja wie ein schönes Märchen. Ich hatte in gewisser Beziehung zu »den Feinen« gehört. Hatte geachtete Eltern gehabt. War flott angezogen gewesen und hatte die feinen Cafés besucht. Ich hatte eine schöne Dame geliebt, und sie war mir einige Zeit gut gewesen.
Ich gebrauchte nicht viele Worte, auch nicht, als ich ihr das alles erzählte. Ich berichtete ebenso viel durch meine Art und Weise zu schweigen und dadurch, daß ich auf große Erlebnisse nur ein Achselzucken und ein paar Worte verwendete. In meinem ganzen Benehmen trug ich den Herrn zur Schau. Und ich fühlte, daß sie das merkte. Sie blickte mich still an. Sie blickte von sich selbst zu mir hinauf: von unten zu mir empor. Es war, als wagte sie nicht, sich mir ganz zu nähern. Ich war es immer, der ihre Hand ergriff und sie an mich zog.
Denn um sie war immer dumpfe, graue Stille. Ihr unerbittliches Ausgestoßensein schien mir zuweilen zu beständig. Ich wollte so gern ihren Mund lächeln sehen. Aber schwer ließ sich da ein Lächeln hervorlocken. Einmal errötete sie doch. Einmal stieg doch ein Tropfen roten Bluts bis in ihre Wangen hinauf. Das ging so zu: ich umfaßte eines Abends ihren Kopf und schüttelte ihn. Ich tat es, um sie aufzurütteln. Also im Scherz. Aber vielleicht hatte es ihr weh getan. Denn sie fuhr zusammen, blickte auf, unruhig, als fürchtete sie, daß ich ihr etwas Böses antun würde. Als sie aber mein Lächeln sah, verstand sie, daß das Ganze bloß Uebermut von mir gewesen war. Und siehe da, sie lächelte. Und noch mehr: ein schwaches Erröten der Freude wurde an ihrer Wange sichtbar. Nie in meinem Leben sah ich ein so seltsames Erröten wie dieses, – ihr einziges.
Eines Tages hatte ich mich lange herumgetrieben, und fast ohne es selbst zu wissen, war ich auf altes Gebiet gekommen, in die Nähe des Theaters, wo ich einst aufgetreten war. Sonst war ich, wenn mich der Zufall in jene Gegend führte, nur ungern bis dahin gekommen und hatte schleunigst eine andere Richtung eingeschlagen. Heute bekam ich plötzlich Lust, dieses oder jenes wiederzusehen ... Da waren ja die drei Portale und dort der Billetschalter! Ob der alte Lucidor noch drinnen saß? Wohl kaum. Seine Finger waren gewiß viel zu steif geworden. Denn schon zu meiner Zeit war er langsam genug. Und dort, die Treppe rechts, diesen Weg ging ich stets zur Probe. Und den Weg ging sie auch hundertmal. Maria war jetzt geradezu berühmt. Ich hatte so oft ihren Namen in den Zeitungen gelesen. Immer wenn ich im Kellerlokal saß, suchte ich alte und neue Blätter hervor, und las von ihren Triumphen, ihren Toiletten, ihren Gagen. Aber sonderbar, – es machte keinen großen Eindruck auf mich. Es entrückte sie mir nur noch mehr, es hob sie bis zur schwindelnden Höhe empor, bis in die fernen, vornehmen Häuser, wo alles teuer und herrlich ist. – Da stand ihr Name auf dem Theaterzettel. Sie hatte sicher die Hauptrolle. Und siehe da, die Namen einiger meiner Kameraden. Na freilich, einige von ihnen hatten schon einen Namen bekommen. Zum Beispiel der kleine, weibische Kerl, auf den ich immer herabgesehen hatte, der kleine, blonde Harry mit den freundlichen Augen und dem roten Mund. Es waren allerdings andere Fähigkeiten als die dramatischen, die ihm vorwärts halfen. Schon während ich am Theater war, bekam er hunderte von Briefen, worin er zu Rendezvous aufgefordert wurde, bei denen er stets gewissenhaft erschien. Du lieber Gott, wie war seine Zeit immer in Anspruch genommen! Aber solcher Eifer wird mit der Zeit belohnt. Die vielen hundert verliebten Weiber gehen ja doch nur ins Theater, um den Mann zu sehen, den sie lieben und der natürlich jeder von ihnen die Treue bewahrt. Der kleine, blonde Kerl war ein Liebling der Weiber ohnegleichen ...
Und viele andere waren auch hübsch vorangekommen. Einer durch Geduld, ein anderer durch Schmeicheln, viele durch Leichtfertigkeit, und die meisten durch etwas von alledem. Und Maria war die erste von allen, sie war Hetäre und Künstlerin, und meinetwegen, was man will. Der Teufel hole die ganze Gesellschaft. Ich beneidete sie eigentlich nicht.
Ich ging weiter, ich beeilte mich. Es hatte keinen Zweck, länger hier stehen zu bleiben. Wenn mich einer der feinen Herren »Künstler« zu sehen bekäme! Sie würden mir zweifellos etwas Mitleid opfern. Und wie jämmerlich ich auch sein mochte, – ich fühlte mich doch zu gut, um von diesen kläglichen Glückspilzen bemitleidet zu werden.
Ich war einige Augenblicke weiter gegangen. Da kam ein Wagen gefahren. Ich hörte ihn kommen, wandte den Kopf und sah eine Dame im Wagen sitzen. Sie sah mich an. Meine Augen begegneten den ihrigen. Und das Blut erstarrte langsam in meinen Adern. Ein eigenes tiefes Schmerzgefühl bemächtigte sich meiner. Es war, als sänke ich in die Erde. Maria war es, die im Wagen saß. Sie war wundervoll angezogen, wie es die gefeierten Schauspielerinnen zu sein pflegen. Seltsam war ihre Kleidung. Dunkle, glühende Farben umhüllten sie. Und ihr Gesicht, ihr blasses Gesicht, die schönen Augen, die in Schamlosigkeit zu brennen schienen. Man sah, sie hatte in Reichtum und Ruchlosigkeit gelebt, seit ich sie zuletzt sah. Die weißen Straußenfedern nickten siegesstolz von ihrem schwarzen Haar herab.
Sie hatte mich angestarrt, hatte gestutzt. Jetzt wandte sie sich um, sah mir nach. Nach einer Weile gab sie dem Kutscher einen kurzen Befehl ...
Der Wagen fuhr langsamer. Was sollte es bedeuten? ... Sie wandte sich noch einmal um. Ja, sie war es wieder. Sie war es, so, wie sie lebte und atmete. Aber was wollte sie? ... Ich dachte, ich erwog, mein Gehör wurde unendlich scharf.
Aber gerade deshalb durchjagte mich die Wahrheit wie ein einziger Blitz. Und in schmerzlicher Klarheit sah ich meine eigene Not. Was wollte sie mir, sie, die gefeiert und beneidet dahinfuhr? Was wollte sie mir, den sie verstoßen und vernichtet hatte!
Ich kehrte um. Während der Groll und das Unglück in meiner Brust jammerten, wandte ich um. Und ging schnell eine Seitenstraße hinab. Jetzt hatte sie das Nachsehen! Diesmal hatte ich sie verschmäht. Ich, der Verstoßene, verschmähte sie, die Auserwählte. Ich hatte es deutlich gesehen: wie sie dem Kutscher befohlen hatte, langsam zu fahren, damit ich sie einholen konnte. Ich nahm ihre Einladung aber nicht an. Ich war ein Paria, aber ihre Gnade nahm ich nicht an.
– Jenen Nachmittag streifte ich lange umher. Wo, weiß ich nicht. Der Tag ging zur Neige, es wurde Abend. Die ganze Zeit ging ich in einem fort. Ich lauschte. Es war, als wartete ich. Auf etwas Unbegreifliches.
Maria hatte mich angesehen. Sie hatte den Wagen halten lassen. Ich hatte sie verlassen. Bei diesem Sieg sollte es bleiben.
... Nach und nach wurden aber meine Gedanken an sie milder. Sie hatte mir einen Blick geschenkt. Und ihr Gesicht hatte mir so wundervoll entgegengeleuchtet.
Es war spät, als ich mich nach dem Hafen begab. In meinen Winkel. Da saß sie, die ich fast vergessen hatte und sah mich an, als ich kam. Sie sagte nichts, saß still, nur ab und zu von unten zu mir emporblickend.
Ich machte mich über ihre Art und Weise, da zu sitzen, lustig. Und dachte im stillen: ob sie wohl eine Ahnung hat? Merkt sie, daß ich sie kaum mehr kenne? Sie ist abgestumpft; aber sie hat vielleicht Instinkt. Vielleicht ist sie in dieser Beziehung ein wirkliches Rattenmädchen.
Ich erzählte ihr alles. Gestand ganz offen, wie schön ich Maria gefunden hätte, als sie gefahren gekommen sei. Und sie hätte mich angesehen. Sie hätte sich nach mir umgewandt und dem Kutscher zugerufen, daß er langsam fahren sollte. Und ich hätte diese Aufmerksamkeit ihrerseits in keiner Weise erwidert. Ich hätte sie gleichgültig angesehen und wäre in eine andere Straße eingebogen. Ich hatte sie verschmäht. Ja, das war das Wort. Ich hatte sie verschmäht.
Sie, das blasse Mädchen, saß still, ohne zu antworten. Ihr Blick schweifte unruhig in der Finsternis umher. Aber im übrigen war sie wie sonst. Und weshalb sollte sie nicht wie sonst sein? Meine Angelegenheiten gingen sie ja gar nichts an. Ich fragte sie ja auch nicht, was sie vorhatte, wenn wir nicht zusammen waren. Sie hatte vielleicht noch andere Liebhaber, das arme Mädchen, ihre traurigen Liebhaber, was ging es mich an?
Wie seltsam sie dasaß und mit den Augen blinzelte! Sie glitt in die feuchte Finsternis hinüber und wurde mit ihr eins.
Ich machte die Augen zu. Ich sah Maria in dämonischer Pracht an mir vorüberziehen. Sie wartete auf mich. Und ich näherte mich, traf sie und ertrank in einem Meer von Feuer. –
Als ich am nächsten Tage aufwachte, war mein Rattenmädchen verschwunden. Ich freute mich darüber.
Denn sie wurde mir mit der Zeit doch lästig. Wenn ich auf der Straße ging, konnte sie plötzlich irgendwo auftauchen. Immer in so weiter Entfernung, daß ich nicht feststellen konnte, ob sie mich sah oder nicht. Ich glaube aber bestimmt, daß sie mich sah. Ich bin sogar davon überzeugt, daß sie es wußte, wenn ich in der Nähe war. Oft ging ich ihr schnell nach, um sie zu fragen, was sie mit diesen hinterlistigen Nachstellungen bezweckte. Aber immer war sie weg, wenn ich versuchte, sie zu erwischen. Sie hatten in einem der vielen Tore oder Keller, die es hier gab, ihre Zuflucht gesucht, – was weiß ich?
Eines Abends fragte ich sie: »Weshalb schleichst Du immer hinter mir her?« Sie antwortete nur: »Ich weiß, daß Du die feine Dame suchst, von der Du erzähltest«. Ich lachte: »Unsinn! ... Ich suche sie nicht. Und wenn ich es täte, was ginge es Dich an?« – Sie war trist und stumm anzusehen. Sie reizte mich. »Stell' Du Dich nur nicht so an«, fuhr ich fort, »Du hast doch sicher irgend was in den dunklen Gäßchen vor, in denen Du Dich herumtreibst. Triffst womöglich Deine Liebsten? Denn Du hast doch sicher genug davon. Was frage ich Dich darnach?« Sie schüttelte den Kopf: »Ich habe keinen Liebsten«, sagte sie. »So, Du hättest keinen ... Dummes Zeug! Was bist Du denn? Du hast keine! Habe ich sie etwa bei Dir ausgestochen?« »Ein Liebster, das ist nichts Garstiges«, antwortete sie. »Ich hatte einen ... bevor ich Dich sah. Aber jetzt nicht. Er war lahm und kränklich.« »Ja, er war gewiß ganz bezaubernd«, antwortete ich trocken, und ich fühlte mich durch ihre Nähe gelangweilt und belästigt.
Sie antwortete nicht. Saß still und lauerte. Mir wurde unheimlich bei ihr zumute. Sie schien mir nicht ganz bei Sinnen.
* * *
Am nächsten Abend, als ich sie traf, hatte sie einen Hut mit Blumen auf, mit rotem Band. Sie hatte auch eine neue Bluse an und hatte sich geputzt.
Was sollte das? War sie reich geworden? War es ein Geschenk von einem ihrer Liebsten?
Sie sah weg. Ihr Blick war arm. Ich machte mich nicht mehr lustig. Ein Mitleid eigener Art erfüllte still mein Herz. Ich streichelte ihre Hand, ach, sie war nicht nur kalt, sie zitterte wie ein einsames Tier der Nacht. In diesem Augenblick kam sie mir noch grauer vor als das erstemal, als ich sie sah. In dieser letzten Zeit, ... wenn ich mir es recht überlegte: war nicht während der Zeit, in der wir uns gekannt hatten, ein wenig Licht und Wärme über sie gekommen?
... Und ich streichelte wieder ihre Hand und berührte ihr Haar und ihren Nacken.
»Hast Du Dich etwa meinetwegen geputzt? ... damit ich Dich schön finden sollte?«
Sie nickte und sagte ganz ernst:
»Ich möchte ja auch gern fein sein.«
Auch sagte sie das in einer so seltsamen Weise. Du lieber Gott, ich glaube beinahe, sie wollte mit Maria wetteifern.
»Das ist hübsch von Dir, daß Du Dich meinetwegen schön machen willst.«
Das sagte ich laut, weil ich gern gut gegen sie sein wollte, aber im stillen dachte ich:
»Es ist im Grunde dumm von ihr ... sich Anstrengungen zu machen, menschlich und weich zu sein. Sie hätte dumm und kalt bleiben müssen. Der Hut kleidet sie schrecklich. Er verdeckt das lange, zähe Haar, das früher um das graue Gesicht hing. Und sie hätte die alte Bluse mit der häßlichen, unbestimmbaren Farbe, die ihr das Gepräge der Glätte und Finsternis verlieh, behalten sollen.«
»Hier ist ein Brief an Fräulein Maria. Er möchte sofort abgegeben werden, ich soll auf Antwort warten.«
Ich übergab der Pförtnerin den Brief.
»Kommen Sie, bitte, herein, ich werde Ihnen dann die Antwort bringen.«
»Danke, ich warte hier.«
Ich ging vorm Theater auf und ab. Dieselben Schritte hin und dieselben her.
Es war heute abend wie ein Fieber, ein Delirium über mich gekommen, daß ich Maria sehen und sprechen müßte. Und ich hatte den Brief geschrieben. Aber jetzt konnte ich nicht mehr. Ich wollte nicht da hinein. Ich wollte hier draußen gehen und warten und horchen, – es mochte geschehen, was geschehen wollte.
Sieh da, die Pförtnerin kam schon wieder.
»Bitte ... vom Fräulein!«
Ich brach das Briefchen und las:
»Erwarte mich heute abend nach der Vorstellung da, wo Du mich zuletzt sahst. Ich werde mich beeilen. Maria.«
Um halb zwölf Uhr würde die Vorstellung aus sein ... Und um 12 Uhr würde sie wahrscheinlich kommen. In anderthalb Stunden also.
Ich umkreiste das Theater in großen Bogen. Ging die lange, öde Strandpromenade entlang, wo sie und ich damals so oft gegangen waren. Hier hatten wir unser erstes richtiges Gespräch geführt ... damals, als sie mir zulächelte und mich bat, am Theater zu bleiben.
Jetzt ging ich langsamer die Promenade hinauf und wieder hinunter.
Ab und zu sah ich auf eine Uhr in einem Uhrgeschäft. Es wurde halb elf, es wurde elf. Ich näherte mich dem Theater. Nach einer Weile sah ich die Leute herausströmen, und ein wenig später sah ich, wie die großen Laternen gelöscht wurden. Ich ging wieder dorthin, wo ich sie vor einigen Tagen gesehen hatte. Die letzten Minuten wollte ich in schwindlig-süßem Erwarten zubringen. Hier würde sie also angefahren kommen. Dort fuhr ihr Wagen an jenem Tage, als sie ihren Kopf nach mir umwandte und mir ihre Augen gab. »Wir kennen uns doch, wir beide«, so etwas sagten jene Augen. »Wir mögen uns einzureden versuchen, daß alles vorbei sei. Aber es dauert doch ewig.«
Ich stand in Gedanken versunken. Plötzlich wurde ich dadurch aufgeweckt, daß jemand dicht neben mir stand. Ich fuhr auf ... Wer war es? ... nicht Maria ... etwas anderes ... Die vom Winkel! ...
Ich wurde unruhig: »Was willst Du?« fragte ich. Zuerst antwortete sie nicht. »Was willst Du?« fragte ich. Dann hörte ich ein heiseres Flüstern: »Kommst Du nicht mehr zu mir?«
»Ich tue, was ich will«, antwortete ich hart. »Wenn ich will, dann komme ich. Aber eines begreifst Du wohl: daß Du das nie wieder tun darfst, was Du eben jetzt getan hast.« Die letzten Worte sagte ich in drohendem Tone. Es war, als krümmte sie sich zusammen. Ihr Blick streifte unruhig am Boden. »Gehe«, sagte ich, »wir werden uns schon wiedersehen«.
»Du kommst nicht mehr zu mir.« Es klang wie das schwache Stöhnen eines Menschen, dem man das Leben gegeben hat, um es ihm wieder nehmen zu können. Einen Augenblick machte mich diese Stimme stutzig; sie rief mich seltsam.
Dann hörte ich plötzlich einen Wagen rollen. Ein hastiger Wagen mit aufgeschlagener Kalesche kam angefahren und hielt vor mir. Maria saß drinnen. Ich stieg zu ihr hinein, saß bei ihr. Ich merkte, wie der Wagen weiter fuhr. Mir fiel es schwer, Worte zu finden.
Maria lachte.
»Na, hattest Du ein Stelldichein? Pfui, schäme Dich! Dazu hättest Du Dir auch wohl eine andere Zeit auswählen können.«
»Ich wußte nicht, daß sie kommen würde.«
»Na freilich«, lachte sie wieder. »Sie verfolgt Dich wohl. Ach, Du geplagter Mann, Du! Und wer war denn das kleine Fräulein Kloake?«
Ich antwortete nicht. Ich hörte jedes Wort, das sie sprach; mir fiel es aber zu schwer, selbst ein Wort hervorzubringen. Sie redete weiter. Ihre Stimme wallte warm und giftigsüß über mich hin und berauschte mich durch den Hohn, der ihr beigemischt war.
»Na ja, wo bist Du denn gewesen?« fuhr sie fort. »Was weiß ich davon? Aber denke Dir! Ich habe oft an Dich gedacht. Ach, Du Lieber, wie hast Du mich geliebt. Jetzt verstehe ich es. Ach, wie hast Du mich geliebt!«
Sie lehnte sich zurück, schloß ihre Augen halb, streckte sich in schlaffem Wohlbehagen hin, als genösse sie es, an irgend was zu denken. Und sprach langsam, es war, als malte sie alles durch die Langsamkeit und den Klang der Worte.
»Ach, Du liebtest mich so, daß Du nicht weintest und kein Wort sagtest, als ich Dich gehen hieß. Und Du drohtest nicht mit Mord und Selbstmord. Und mit nichts von alledem, was sonst tüchtige Kavaliere zusammenfaseln. Du sagtest nichts. Du gingst nur, und sahst die Leere und Oede vor Dir. Es war, als existiertest Du nicht mehr. In dieser Zeit ... Du glaubst vielleicht, daß Du gelebt hast? ... Ich sehe es Dir an, Du hast nicht gelebt. Du bist umgegangen! Das, was in Dir lebte, war Dein dunkles Ich ...
Ich sah Dich die letzten Male, als Du am Theater warst. Ich konnte den Anblick nicht ertragen. Ich bin nicht weichherzig; aber Dein Unglück war ganz eigener Art. Du littest anders als die anderen. Und deshalb veranlaßte ich, daß Du wegkamst.«
Sie sah mich an, lächelte mir zu, und dies Lächeln ließ mich in einen Abgrund von Lust und süßer Angst schauen. Dann führte sie ihre Hand an meinen Mund, ließ meine Lippen die Schärfe der langen, blanken Nägel empfinden.
... Ihre Rede hatte mich kalt gemacht. Ich wollte nicht gern der sein, den sie aus mir machen wollte. Ich saß fast unbeweglich. Dann hörte ich ihre Stimme dicht an meinem Ohr: »Du bist noch nicht lebendig geworden. Du tappst noch immer umher. Aber ich will Dich wieder aufleben sehen. Ich tötete Dich. Jetzt will ich Dir wieder Leben einhauchen«.
Kurz darauf hielt der Wagen. Wir stiegen aus. Sie führte mich in ihre Wohnung.
Und sie bereitete sich zum Fest und zum Genießen. Keine Sklavinnen bedienten sie; aber es war doch, als würde sie von unsichtbaren Händen gesalbt. Ihr Haar wurde noch schwärzer, ihr Mund wurde ganz rot.
»Na, Du toter Mann! Na, Du Mann, den ich tötete. Ach, wie unsagbar hast Du um meinetwillen leiden müssen! Ach, wie liebe ich Dich in Deinem Schmutz und Elend! Ach, wie will ich Dich lieben und besitzen! Du toter Mann!«
Ich sah sie an, wie sie da neben mir saß. Es kam mir vor, als gäbe ihr Gesicht einen Widerschein von tausend Menschenleben. Woher? Vielleicht von den schönen, leidenschaftlichen Dichterwerken, die sich ihrer Seele mit Gewalt bemächtigt hatten und denen sie Fleisch und Blut gegeben hatte. Staunend sah ich, welches seltsame Wesen da saß. Eine ewig Friedlose, die immer von einer tyrannischen Lebensglut vorwärtsgetrieben wird, dem Ursprung der großen Kunst. »Was willst du mit ihr? ...« dachte ich, »nur den Treulosen bewahrt sie die Treue. Sie lebt außerhalb der Gegenwart. In ihr lebt nicht nur ein Mensch. Ihr Körper ist ein heidnischer Altar, wo alle Orgien der Manie wüten, und wo der Weihrauch jeden Wahnsinns brennt. Ihr Gesicht ist dunkel, wie die glühende Maske der Kunst.«
Ich starrte sie an. Ich fühlte langsam und kummervoll, daß ihr Leben und das meine sich auf immer von einander getrennt hatten. Und ich fühlte, wie sie doch mit unauslöschlicher Glut in mir brannte.
Sie kam näher. Ihr Gesicht bekam einen durstigen Ausdruck. Sie flüsterte:
»Du sitzt noch tot da. Aber bleibe so. Es wäre was Neues.« Und ich blieb bei ihr und stieg zitternd hinab, dorthin, wo alle Lüste und Qualen ihren Sitz haben.
In der nächsten Zeit kam ich regelmäßig zu ihr. Sie führte jetzt wie früher ein wildes Leben. Sie war begehrt wie keine zweite, sie gab verschwenderisch ihre Jugend und deren Glut, und doppelt schön bekam sie beides wieder. Es war, als gäben ihr Leben und Kunst ganz besondere Fähigkeiten. Sie geriet oft in Verzückung, hatte heiße Wangen und vor Begierde schreiende Augen. Aber dann und wann war sie auch unglücklich. Sie weinte und ihr Gesicht sah dann müde und verwüstet aus ... Und schöner als jemals.
Sie hatte eine Menge Getreuer. Sie waren ihr gleichgültig. Und auch den Treulosen nannte sie nicht, den sie liebte, Carl Adams. Dem sie gleichgültig geworden war. Der eine andere heftig begehrte. Eine kleine unerreichbare Dame der Aristokratie.
Ich verstand sie genau. Ich war ihr eigentlich nichts. Hatte sie nur einen Augenblick aus ihrer tiefen Langweile herausgerissen. Einen Augenblick hatte der Anblick meines Ruins ihr ein süßes Schaudern gegeben. Und sie war lasterhaft über alle Grenzen. Sie gab sich hin ohne Liebe, nur um meine tiefe, zwecklose Liebe vor Augen zu haben.
Aber auch ich verschwand wieder aus ihrem Gesichtskreise. Eines Tages, als sie mich erwartete, kam ich nicht.
Ich ging bis vor die Tür, stand still, zitterte und ging wieder fort
Denn so war es von meiner Seite aus nicht gemeint.
Ach nein, das, worauf ich wartete, würde wohl nie kommen.
Ich ging wieder hinaus in die Leere und in den Nebel.
Ein wacher Traumzustand bemächtigte sich meiner in der nächsten Zeit immer mehr. So hatte ich früher noch nie geträumt. Ich hatte es nicht gekonnt. Die Dinge der wirklichen Welt hatten mich zu sehr in ihrer Gewalt gehabt. Der graue Alltag saß neben mir und zwang mich zur Nüchternheit. Die wachen Träume reiften nicht aus. Sie lebten nur in meiner Erinnerung und brachten mir qualvolle Wehmut.
Aber jetzt fingen starke, wache Träume an, über mir hin- und herzufliegen; sie waren wie große Vögel, deren Flügelschlag mich trug. Ich konnte auf der Straße gehen, vor einem Laden stehen bleiben, die Sachen im Schaufenster betrachten – und plötzlich konnte der Traum herangesaust kommen, die Dinge um mich überschatten und umleuchten, so daß sich mir ganz fremde Dinge offenbarten. Ich sah und glaubte. Und dieser Traum, dieses Gesicht, diese Halluzination (nennen Sie es, wie Sie wollen) übergoß den ganzen Tag mit einer seltsamen Farbe.
Und das Gute hatte dieser abnorme Zustand an sich, daß er eine eigene Fähigkeit besaß, irgend ein frohes und schönes Erlebnis hervorzuzaubern, das ich einmal gehabt hatte, das aber schon längst vergessen in irgend einem dunklen Winkel meiner Seele lag.
Es würde zu weit führen, diese Träume eingehender zu beschreiben. Und sollte jeder von ihnen gründlich erörtert werden, würde ein ganzes Buch voll davon werden. Aber einen von ihnen will ich eingehender erwähnen, weil jener Traum besonders stark war. Ja, er war die Wirklichkeit im tieferen Sinne. Das stärkste Erlebnis, das ich jemals gehabt habe.
Ich ging an jenem Tage auf einer abseits gelegenen Straße des alten Stadtteils. Eine stille Luft lag über ihr. Man hörte die Vögel, die in den großen Bäumen sangen, welche aus dem Parke ihre Zweige über die Straße hinausbreiteten. Der Park dort, ... wie sah er schön aus. Ich ging hinein. Die Anlagen dehnten sich bis ans Meer hinunter, das war gerade das Schöne: grüne, saftige Bäume bis ans Meer hinab. Mitten im Park lag ein hübscher Pavillon, oder vielmehr ein Palais, denn das Gebäude war groß. Und da stand mit vergoldeten Buchstaben auf der Außenseite einer breiten Tür: Neptunus, königlicher Jachtklub. Zum Klub gehörte sicher auch das Restaurant des Seitengebäudes. Es saßen Leute drinnen und draußen auf der Terrasse, wo Tische und Korbstühle hingestellt waren. Sie tranken Kaffee und Wein und andere gute Sachen. Ich hörte sie sprechen und lachen. Vom Restaurant klangen die Töne der Musik.
Ich ging weiter, setzte mich schließlich auf eine der Bänke am weitesten unten im Park. Alles war still um mich. Die See leuchtete bis weit, weit draußen. Am äußersten Horizont schlichen einige Schiffe mit vollen Segeln. Sie glichen in der großen Entfernung steifen, unbeweglichen Mücken.
Ich sah das Meer und die Schiffe. Ich hörte ein fernes Summen von Stimmen, einzelne Töne der Restaurationskapelle erreichten ein seltenes Mal mein Ohr. Ich fühlte ein ruhiges, tiefes Wohlsein, es war mir, als ob eine Stimme, die ich kannte, weit weg von mir säße und mich riefe. Ich hörte nur ihren Klang, nicht, was sie sagte. Eine schlaffe Wehmut ergriff mich, je länger ich der Stimme lauschte; es war Marias Stimme. Ich schloß die Augen. Ich wollte still sitzen und horchen ...
Ganz leise und allmählich wurde ich in einen Traum geführt. Alle äußeren Dinge: die Bank, auf der ich saß, der Park, die fernen Schiffe waren meinen Augen entrückt. Nur folgendes sah ich deutlich:
Ich befand mich in einem großen Raume, und es schwebte mir dunkel vor, daß ich gerade im reichen Palais des Jachtklubs war. Ich sah den Saal deutlich. Er war in ruhigen Farben und in strengem Stil gehalten; aber niemals verbarg ein gepolstertes Boudoir eine seltsamere Erwartung sinnlicher Freude als dieser Saal, welcher zitternd da lag, groß und kühl, und wo jedes der großen Fenster ein Bild vom Park oder vom Meere einrahmte.
Ich ging im Saale auf und ab. Ich war im festlichen Anzuge. Die Schlaffheit von vorhin, von der ich in der letzten Zeit befallen gewesen war, verspürte ich nicht mehr. Ich erhob mein Haupt. Was war das? War alles alte vorbei? War alles neu geworden?
Ich setzte mich. Mir war es, als ob jemand kommen sollte.
Und plötzlich wurde alles stiller als zuvor. Es war als ob die Stille leuchtete. Ich erhob mich und erwartete jemanden. Wie man sich erhebt, wenn etwas Großes naht. Denn ich wußte, daß jetzt jemand kam. Und Maria kam auf mich zu. Und ihr Gesicht war in einem Lächeln erstarrt, das mir ewige Hoffnung einflößte. Und dieses Gesicht nickte. »Du!« sagte sie, und ihre Lippen waren rot, als sie sprach. »Du!« – Ich hörte nichts anderes als dieses Wort, aber dies Wort und das Lächeln bedeuteten: Du, den ich endlich auf ewig liebe. Du, dem ich alle Herrlichkeiten der Welt schenken will.
Da ergriff mich die Freude mit solcher Gewalt, daß ich in Tränen ausbrach. Und langsam verschwand das Gesicht. Das letzte, was ich sah, war das Lächeln ihres Angesichts. Und die Wirklichkeit, das heißt die mir gleichgültige und zufällige Umgebung, nahm wieder ihren rechtmäßigen Platz ein. Ich sah den Park und das Meer. Die Schiffe standen noch am Horizont wie steife Mücken, denen es schwer fiel, von der Stelle zu kommen ...
Aber wenn solche Träume kamen, war es, als fühlte ich ein schwaches Glück, das der Lebensnerv meines Wesens war, und dessen Wiederbelebung ich staunend vernahm ... Aber Gott! dieser Jubel war ja mein eigener, er führte mich heimwärts. Dort, woher er kam, war ich zu Hause. Ich war dort zu Hause, wo das Menschenleben seine Freude entfaltete. Wo das Herz für Leben und Schönheit schlägt. Wo Maria war. Sie, die Leidenschaft war in jeder Faser ihres Körpers, deren Seele vor Sehnsucht nach Herrlichkeit krankte.
Aber etwas quälte mein Leben. Etwas nagte daran. Deshalb saß ich hier ... in ärmlichen Kleidern. Ein Gegenstand des Mitleids und der Verachtung. Und jeden Abend kroch ich in den Rattenwinkel hinab. Und da saß sie und sah mich mit ihrem unsteten Blick an.
Sie war bald überall. Wo ich auch sein mochte, war sie in der Nähe. Oft, wenn ich sie am weitesten weg wähnte, – konnte ich plötzlich ihre gleitenden Schritte hören, und dann wußte ich, daß sie in der Nähe war. Ach, sie mochte sich noch so gut verstecken. Ich merkte sie, sie war sicher in der Nähe. Und sie zog mich wieder in den Rattenwinkel hinab. Sie hatte eine grauenvolle Macht über mich: kraft ihres Verlassenseins, kraft ihres ärmlichen Unglücks. Oft war es mir, als sähe ich in ihr meine eigene Armut, mein eigenes Unglück, verdichtet, verwirklicht ... Wenn ich das Unglück doch töten, zerschmettern könnte! ...
Ein finsterer Groll bemächtigte sich meiner. Und doch verstehe ich nicht, was ich tat ...
Es war nachts im Winkel am Hafen ... Ich glaube, ich schlief. Seltsame Vorstellungen nahmen mich allmählich gefangen. Mir war es, als ob ich viel tiefer noch wohnte als dort, wo ich mich jetzt aufhielt ... Ich ging am Ufer eines Flusses. Und das Wasser war still und schwarz und das Ufer grau und glatt und von Lebewesen bevölkert, die eigentlich nicht auf der Erde zu Hause waren ... die Kummer, Seufzer, tastendes, ruheloses Schleichen um sich verbreiteten. Da ging ich und regte mich auf, weil man sagte, daß ich künftig hier wohnen sollte ... Und siehe da, sie kam, das Rattenmädchen. Und war eines dieser Lebewesen ... von hier war sie gekommen, hier war sie zu Hause.
Hatte sie hier gesessen und auf mich gewartet? Oder hatte sie mich hier hinuntergeführt? ... Ich sah sie, ich sah sie deutlich, sie war an meiner Seite, sie beugte sich über mich, ich sah die steifen und doch unsteten Augen, ich sah das blasse Gesicht, mir war, als sähe ich einige Tasthaare um ihren Mund. Uhah, wo war sie eigentlich? Ein graues, schleichendes Tier? Wer war sie? War sie ein Mensch?
Ich schrie, ich griff ihr an die Kehle. Im Dunkeln, in grauer, durchsichtiger Finsternis, griff ich an ihren Hals, und hörte ein schlucksendes, lange andauerndes Pfeifen.
Jetzt sollst Du sterben! Ich will aus der grauen Finsternis heraus ... hinauf ins Sonnenlicht! ... Und es war mir, als riefe mich aus weiter Ferne die purpurne Freude.
Ich schlief und wachte auf. Ein mattes Morgengrauen sah mich mit großen erschrockenen Augen an. Ich sah jemand daliegen ... sie war es. Sie war grau, und ihre Nasenflügel zogen sich nach oben. Aus ihrer Nase rannen ein paar Tropfen Blut; rannen an ihrer Wange herunter. Ihre Arme und Beine waren gekrümmt ... sie kamen mir zu kurz vor. Sie schien auch viel kleiner als früher. Sie lag so still da.
– Ich erschrak nicht. Ich saß bei ihr in der grauen Finsternis. Dann meinte ich, es sei besser, wenn sie irgendwo untergebracht würde. Ich ging zur nächsten Polizeiwache und gab meine Erklärung ruhig und wahrheitsgemäß ab. Und man holte sie bereitwillig. Ich durfte nicht mitgehen. Man sperrte mich sofort ein.
Und dann folgten eine Menge Sachen, Vernehmungen und Erklärungen und das Gutachten des Arztes, daß ich nicht normal sei, und anderes mehr, was nicht der Mühe wert ist, zu erzählen.
* * *
Jetzt sitze ich im stillen Garten des Irrenhauses. Um mich sind Geisteskranke. Stille Geisteskranke. Einige stehen immer auf demselben Fleck, andere sitzen.
Aus der Ferne höre ich gedämpftes Schreien der Unruhigen.
Hier soll ich bis an meines Lebens Ende bleiben. Ich wohne mit anderen Worten in dem grauen Nebellande, wovon ich träumte; und es half gar nicht einmal, daß ich sie, das arme Mädchen, erstickte. Ich sitze noch hier, und ich merke nach ihrem Tode keine Befreiung meines Gemüts.
Ab und zu, wenn ich die Düfte von Frühling und Sommer merke, fühle ich ein eigenes Labsal, und dann ist es mir, als hätte ich etwas, worauf ich mich freuen könnte. Und ich denke dann nie an Maria und weltliches Glück. Viel eher sehe ich sie wieder, die ich unten im Winkel traf, und wenn ich an vielerlei denke von dem, was ihr eigen war, finde ich sie schön in ihrer Blässe und unantastbar in ihrem Weh. Und mein Herz schlägt schwer, als tropfte drinnen das Blut ...
Ich sehe Bäume und Blumen, wie sie wehen und sich in den Lüften wiegen. Sehe, wie alles Leben wie Flocken in der Unendlichkeit wirbelt.
* * *