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Um zehn Uhr abends traf Nobody in Paris ein. Sein erster Gang war nach der Hauptpolizeiwache, wo er sich das Verzeichnis der zuletzt angemeldeten Fremden vorlegen ließ.
Irgendein gewöhnlicher Sterblicher hätte dieses Verlangen natürlich nicht äußern dürfen, zumal nicht in so später Nachtstunde. Der Herr aber, der sich als englischer Staatsdetektiv legitimiert hatte, erhielt das Anmeldebuch sofort, doch nicht etwa, daß sich dieser Detektiv als der berühmte Nobody zu erkennen gegeben hätte!
Das Verzeichnis war so übersichtlich angelegt, daß Nobody nach wenigen Minuten konstatieren konnte, daß sich eine Viktoria Juvenal noch nicht angemeldet hatte, und das Paßwesen wird in Frankreich bekanntlich sehr streng gehandhabt, und wenn die ihm zugegangenen Mitteilungen richtig waren, so besaß jene Dame keinen anderen Paß. Unter diesem Namen mußte sie sich unter allen Umständen anmelden, ob sie nun in einem Hotel oder in einer Pension oder bei einer ihr bekannten Familie wohnte.
Vielleicht war sie noch gar nicht angekommen. Nobody mußte eben warten.
Er entfernte sich von dem Polizeiamt, um sich ein Hotel zu suchen, wohin er dann vom Bahnhof seine Sachen bringen ließ. Ein bestimmtes hatte er nicht im Auge. Das überließ er dem Zufall, der ihm hoffentlich auch noch ein Abenteuer in den Weg führte.
Als er so durch die Straßen schlenderte, kam ihm eine Idee. Der Champion-Detektiv, dessen Verbindungen ja die ganze Welt umspannten, hatte natürlich auch in der französischen Hauptstadt seine dienstbaren Geister. Einer von ihnen war Redakteur bei einer der größten Pariser Zeitungen. Ein famoser Kerl, der Paris durch und durch kannte, zumal bei Nacht. Nobody wußte, daß er täglich bis Mitternacht Dienst hatte. Er war mehr Nobodys Freund als Untergebener ... gedacht, getan. Er wurde in seiner Redaktionsstube aufgesucht.
Die beiden hatten sich viel zu erzählen, die Zeit bis Mitternacht würde schnell vergehen, dann wollten sie losziehen.
Ein Bureaudiener brachte druckfeuchte Korrekturabzüge. Der Redakteur mußte sie durchsehen. Es waren Seiten mit Annoncen.
»Ach, hier ist ja das Ding! Hier, lesen Sie einmal – was das für ein verrücktes Frauenzimmer sein muß – was die eigentlich will.«
Nobody nahm das Blatt, überflog die bezeichnete Annonce bis zum Schluß – und wenn nicht äußerlich, so zuckte er doch innerlich zusammen – gefunden! Die Gesuchte war schon in Paris!
Es war eine außerordentlich auffallende Annonce, ein Gesuch, alles fettgedruckt, und einige Worte immer noch hervorgehoben.
»Sofort gesucht
von einer jungen Dame ein Reisebegleiter, welcher folgenden Bedingungen entsprechen muß: jung, gesund, sympathisch; sprachgewandt: mindestens Französisch, Englisch, Deutsch und Russisch; muß mit einem Arm wenigstens einen Zentner stemmen können; darf sich nie betrinken; Reinlichkeit selbstverständlich; guter Fußläufer und Reiter; Ehrlichkeit erwünscht, aber nicht Bedingung; Verheiratete ganz ausgeschlossen. – Hoher Tageslohn, gute Behandlung, keine demütigenden Dienste wie Stiefelputzen und dergl. – Zu jeder Zeit persönlich vorzustellen bei Miß Viktoria Juvenal, St. Barbara-Hotel, Paris.«
Nobody lächelte. Der Redakteur schüttelte sich vor lautlosem Lachen.
»Wissen Sie, wer das ist?«
»Nun?« stutzte Nobody, glaubend, jener wisse schon etwas Näheres.
Aber dem war nicht so.
»Das ist eine Russin. Ich lasse mich doch gleich hängen, wenn sich hinter diesem englischen Namen in Wirklichkeit nicht eine Russin versteckt. Ein Reisebegleiter, der mindestens vier Sprachen beherrschen muß – und die Stiefel braucht er nicht etwa zu putzen – und besaufen darf er sich nicht – hoher Tagelohn – gute Behandlung zugesichert, das heißt, es gibt keine Knute – auf unbestechliche Ehrlichkeit wird gleich gar nicht ernsthaft reflektiert, das ist von einem Menschen zu viel verlangt ... alles so echt russisch!«
Ja, insofern hatte er recht. Die Verfasserin dieser Annonce hatte sich als Russin verraten. Aber sonst hatte er keine Ahnung.
»Haben Sie die Dame gesehen?«
»Nein. Ein Dienstmann brachte die Annonce, heute abend um acht erst, und die sollte morgen schon drin stehen. Das geht noch zu machen, aber das kostet die Zeile einen Franc extra. Macht nichts, der Mann hatte eine Tausendfrancsnote mitbekommen. Bei uns kostet die einfache Zeile drei Francs, von diesen fettgedruckten hier zehn Francs, ein Franc bevorzugte Einrückungsgebühr – macht zusammen hundertvierundfünfzig Francs. Alles ganz egal. Na, Geld wird die wohl auch haben, das scheint das wenigste zu sein, was der fehlt. Bei der fehlt's mehr im Kopfe. Und wie die nun gerade ins Sankt Barbara-Hotel gekommen ist!«
»Was ist mit diesem Hotel?«
»Kennen Sie es nicht?«
»Nein.«
»Gleich neben Notre Dame. Es wird fast ausschließlich von Damen benutzt, höchstens Geistliche steigen darin noch ab, durchaus solid, um zwölf ist Schluß, es wird kein Gast mehr angenommen – im Volksmunde heißt es nur das Betschwestern-Hotel. Und daß nun so eine Russin dahineinpaßt, das kann ich mir nicht recht vorstellen.«
»Diese Annonce erscheint morgen?«
»Morgen früh um sechs Uhr kommt das Blatt heraus. Na, das wird ein Gelaufe ins Sankt Barbara-Hotel geben! Denn daß es in dieser Weltstadt genug junge Leute gibt, die allen diesen Bedingungen entsprechen, das brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen. Verlorene Existenzen – Abenteurer – ganz tüchtige Kerle ... nur stillsitzen können sie nicht.«
Das Telephon klingelte. Der Redakteur ging hin und lauschte.
»O weh! Ich soll den Chefredakteur noch in eine Versammlung begleiten! Und das gerade heute! Was soll ich tun? Soll ich eine Entschuldigung ...«
»Auf keinen Fall!« unterbrach Nobody lebhaft. »Wenn Sie ertappt werden, sind Sie Ihre Stelle los, und der Posten, auf dem Sie sitzen, ist für uns ja unbezahlbar! Dann ein andermal.«
Es war ein Viertel vor zwölf, als sich die beiden verabschiedeten, und die Glocke der Kirche von Notre Dame verkündete die Mitternachtsstunde, als Nobody seine Droschke vor dem St. Barbara-Hotel verließ.
Dieses Hotel führt im Pariser Volksmunde noch einen ganz anderen Namen, als den, den der Redakteur genannt hatte. Er kann hier gar nicht wiedergegeben werden. Es hängt damit zusammen, daß in diesem Hotels das von alten Jungfern bevorzugt wird, kein männlicher Angestellter unter fünfzig Jahre alt sein darf; ehe er engagiert wird, soll er sich, heißt es, sogar noch einer ärztlichen Operation unterwerfen müssen, damit die ängstlichen Jungfrauen absolut sicher vor ihm sind – und nun kann sich der gewitzigte Leser wohl ungefähr denken, wie man das St. Barbara-Hotel umgetauft hat.
In dem Augenblick, als Nobody aus dem Wagen sprang, wurde gerade das Portal geschlossen. Er konnte noch eben den Fuß zwischen die Türspalte setzen, und er tat es wirklich.
»Halt! Verzeihung! Ich möchte noch jemanden sprechen!«
Nun, es war ja nicht direkt ein Kloster. Die Tür wurde wieder etwas geöffnet, ein vor Altersschwäche mit dem Kopfe wackelnder Portier zeigte sich, und er durfte solchen Mut haben, einem Fremden nach Mitternacht noch einmal zu öffnen; denn in dem Portal standen nicht nur einige Kellner, alle mit einem weißumrahmten Heiligenscheine auf dem Haupte, sondern auch ein bewaffneter Polizeiwachtmeister, der wahrscheinlich die letzten Meldescheine entgegennahm.
»Wir nehmen nach Mitternacht keine Gäste mehr auf.«
»Ich will auch nur jemanden sprechen. Wohnt in diesem Hotel Miß Viktoria Juvenal?«
»Ja, das wohl, aber ... was wünschen Sie, Monsieur?«
»Ich möchte Miß Juvenal sprechen.«
»Um Mitternacht? Wo denken Sie hin! Das geht auf keinen Fall!«
»Ich bin von der Dame bestellt worden.«
Der Portier schob seine Augenbrauen hinauf, daß seine Glatze wieder Haare bekam, und ebensolche Gesichter machten die Kellner.
»Be ... stellt hat Sie die Dame? Hierher in dieses Hotel?« erklang es im Tone des höchsten Mißtrauens.
Von der Annonce wollte Nobody nicht anfangen, da hätte er doch keinen Eintritt bekommen.
»Es handelt sich um ein Geschäft.«
»Um was für ein Geschäft?«
»Privatsache.«
»Nein, Monsieur, so etwas gibt es hier nicht, kommen Sie morgen ...«
»Ich muß die Dame unbedingt sofort sprechen, nur fünf Minuten, nur eine Minute, habe ihr nur eine Karte abzugeben.«
Das war etwas anderes. Nobody durfte zunächst ins Heiligtum eintreten, und Nobody war auf derartiges vorbereitet gewesen, er hatte vor Besteigen der Droschke wirklich eine Karte geschrieben und sie in ein Kuvert gesteckt, welches er jetzt hervorzog.
Aber damit war für ihn der Weg noch längst nicht frei.
»Die Sache ist nur die,« begann der Portier wieder, nachdem er sich überzeugt hatte, daß der fremde Mann ein junger Herr in tadellosem Winterüberzieher war, »daß Miß Juvenal bereits – äh – bereits geruht hat, sich – äh – wie soll ich doch gleich sagen ...«
»Sie ist wohl schon im Bett,« kam ihm Nobody zu Hilfe.
»Ooooohhh,« erklang es einstimmig aus dem Munde der Kellnerschar mit entsprechenden Bewegungen.
»Mademoiselle Juvenal geruht bereits zu ruhen,« verbesserte der eine mit sittlicher Entrüstung.
»Macht nichts. Die Dame wird sofort aus dem Bett ... wollte sagen: wird sofort ausgeruht zu haben geruhen, wenn sie hört, daß ich ihr die langersehnte Karte bringe.«
Portier und Kellner steckten die Köpfe zusammen, auch der dicke Wachtmeister mußte seinen dazwischenstecken, worauf man zu dem Entschluß kam, daß man der Dame, welche in der ersten Etage die drei teuersten Zimmer innehatte, obgleich sie ohne Bedienung gekommen war, und welche gleich bei ihrem Antritt immer nur so mit Trinkgeldern um sich geworfen hatte, eine sehnlichst erwartete Karte nicht vorenthalten dürfe – auch wenn sie schon zu ruhen geruhe.
»Wie ist Ihr werter Name?«
»Bernard.«
»Bitte, folgen Sie mir, mein Herr.«
Nobody ging hinter dem Zimmerkellner die Treppe hinauf.
Es dauerte einige Zeit, ehe der dienstbare Geist den moralischen Mut fand, an eine Tür zu klopfen, hinter welcher eine Dame zu ruhen geruhte – um nicht gar den schrecklichsten Ausdruck zu gebrauchen, hinter welcher eine junge Dame im Be ... doch nein, wir befinden uns im St. Barbara-Hotel, und da wollen auch wir solche obszöne Ausdrücke lieber nicht gebrauchen.
Ganz, ganz leise klopfte der Greisenfinger.
Und dann lauschte er.
Und dann flüsterte er unhörbar:
»Sie schläft.«
»Na, dieses Klopfen kann sie ja auch gar nicht gehört haben!«
Der dienstbare Geisterfinger klopfte ein ganz, ganz klein wenig lauter – und da sackte der dienstbare Geist gleich in die Knie zusammen; denn Nobodys Faust hatte ganz gehörig gegen die Tür des Heiligtums getrommelt.
»Um Gottes willen, Monsieur, was ...«
»Haaaooouuuhhh!« gähnte es drin. »Petrowitsch, was gibt's? Ach so, ich bin ja ... na, wer ist draußen?«
»Hier ist ein Herr,« begann der Oberkellner mit unterwürfiger Fistelstimme, »welcher ...
»Ich wollte mir erlauben, mich der Dame als eventuellen Reisebegleiter vorzustellen,« wurde der Kellner von Nobodys Stentorstimme unterbrochen.
»Als ... was?« fragte es drinnen weiter, wie erstaunt, und es war eine sonore Frauenstimme. Aus dem Schlafe geweckt, mußte sie sich erst besinnen.
»Auf Ihre Annonce hin.«
»Ach so. Ja, jetzt ist aber doch Nacht! Welch Zeit ist es denn?«
»Acht dreiviertel Minuten nach Zwölf,« entgegnete Nobody prompt, ohne erst nach der Uhr gesehen zu haben, »und in der Annonce stand, die Dame sei jeder Zeit zu sprechen – jeder Zeit.«
»Richtig, sehr richtig, zzziyyy à la bonheurzzz/iyyy. Warten Sie einen Augenblick, ich schließe die Tür auf.«
Drinnen raschelte es, der Schlüssel wurde umgedreht.
»Nun warten Sie immer noch einen Augenblick, ich muß mich erst wieder ins Bett legen. Wenn ich rufe, können Sie hereinkommen ... so, kommen Sie!«
Draußen auf dem erleuchteten Korridor stand der Kellner – leider hatte er keine Haare mehr, die sich noch sträuben konnten – und drinnen in dem stockfinsteren Zimmer stand Nobody.
Eine Bettstelle knarrte, das Rascheln stammte von einer seidenen Oberbettdecke her, und der phantasievolle Nobody konnte wenigstens im Geiste ganz deutlich sehen, wie sich jetzt das Weib darin einwickelte, welches eine so sonore und doch überaus melodische Stimme besaß, und welches zum Suchen eines Reisebegleiters solch eine Annonce aufgesetzt hatte.
Danach eben hatte der unübertreffliche Menschenkenner sein ganzes Benehmen eingerichtet, sonst wäre es ihm ja nicht eingefallen, seinen Besuch mitten in der Nacht zu machen; aber er hatte sich nicht geirrt, er wurde empfangen, und da sie ihn nun noch dazu gleich im Bett empfing, so wußte er auch alles, oder doch, wie er sich weiter zu verhalten hatte.
»Ich mag mich nicht erst anziehen. Vielleicht gefallen Sie mir gleich von vornherein nicht, nicht einmal im Finstern, und dann wäre die Anzieherei verschwendet gewesen. Von vornherein mache ich Sie darauf aufmerksam, daß ich hier bei mir einen geladenen Revolver und eine Hundepeitsche habe.«
Oho!! Aber das paßte ja alles genau zu dem Bilde, das sich Nobody bereits gemacht hatte.
»Mademoiselle können Revolver und Hundepeitsche ruhig beiseite legen.«
»Lieber nicht. So ähnlich hat schon mancher Kavalier gesprochen, und dann hat er sich der Wehrlosen gegenüber doch als Schuft bewiesen.«
»Wenn Sie mir so etwas zutrauen, dann ist es besser, daß ich gleich wieder gehe. So etwas vertrage ich nicht. Ich empfehle mich.«
»Halt!!« erklang es gebieterisch und doch wie bittend. »Bleiben Sie! Wenn wir gute Freunde werden wollen, so schicke ich gleich voraus, daß Sie mir niemals etwas übelnehmen dürfen.«
Es lag etwas in dieser Stimme, in der burschikosen Ausdrucksweise, was ungemein zum Herzen sprach.
»Ich bin durchaus nicht übelnehmisch.«
»Sie haben recht, wenn Sie nicht gleich sagen: ich werde Ihnen niemals etwas übelnehmen. Alles hat seine Grenzen. Doch so weit, daß wir schon gute Freunde sind, ist es noch lange nicht. Da müssen Sie erst einmal engagiert sein, und ich denke, ich werde eine reiche Auswahl haben. Sie sind zufällig nur der erste, der sich vorstellt. Apropos, haben Sie meine Annonce denn schon gelesen? Ich denke, die Zeitung kommt erst morgen früh heraus?«
»Ein Freund von mir ist auf der Redaktion dieser Zeitung beschäftigt, und da ich gerade eine Stellung suche, und diese für mich passen würde, da ich allen Anforderungen entspreche, so teilte er mir den Inhalt der noch nicht gedruckten Annonce mit.«
»Wann war das?«
»Vor einer halben Stunde, wir trafen uns zufällig.«
»Und Sie begaben sich sofort hierher?«
»Sofort.«
»Um Mitternacht wollten Sie sich mir vorstellen?«
»Es stand darin, die persönliche Vorstellung sei zu jeder Zeit angenehm, und da morgen früh doch jedenfalls sehr viele Bewerber ...«
»Schon gut – zzziyyy à la bonheurzzz/iyyy. Ihre schnelle Entschlossenheit imponiert mir. Nüchtern scheinen Sie doch zu sein.«
»Können Mademoiselle wirklich glauben, ich würde mich in angetrunkenem Zustande vorstellen?«
»Alles schon vorgekommen. Wie ist Ihr Name?«
»Bernard.«
»Der Name gefällt mir, läßt sich leicht aussprechen. Vorname?«
»Eugen.«
»Auch gut! Setzen Sie sich, Monsieur Bern ... Halt, setzen Sie sich noch nicht! Sie sind doch nicht etwa mit der Schauspielerin Sarah Bernhard verwandt?«
»Ganz und gar nicht, ich schreibe mich ganz anders.«
»Dann nehmen Sie Platz, Monsieur Bernard.«
Die schien mit der berühmten französischen Tragödin auf keinem guten Fuß zu stehen, und wenn Nobody mit ihr verwandt gewesen wäre, hätte er sich wahrscheinlich nicht setzen dürfen. Aber mit dem Platznehmen hatte es in dem stockfinsteren Raume seine Schwierigkeit, die Mademoiselle dachte selbst daran.
»Es stehen eine ganze Menge Stühle im Zimmer. Tasten Sie. Fühlen Sie nicht einen?«
»Ich habe einen. Es liegt etwas darauf.«
»Was?«
»Ein ... Korsett.«
»Werfen Sie es herunter.«
Nobody tat es und setzte sich.
»Sind Sie verheiratet?« fuhr es vom Bett her fort.
Nobody verleugnete seine Frau.
»Wie alt sind Sie?«
»Achtundzwanzig.«
So alt sah Nobody, wenn er sich so gab, wie jetzt, noch nicht einmal aus.
»Sind Sie verlobt?«
»Nein.«
»Aber verliebt?«
»Nein, Mademoiselle, mein Herz ist noch ganz frei.«
»Na, hören Sie mal, wenn ein junger Mann von achtundzwanzig Jahren noch nicht verliebt gewesen wäre, sterblich verliebt, dann wäre er ja gar kein Mensch.«
»Ich habe auch nicht gesagt, daß ich noch niemals verliebt gewesen wäre.«
»Sie waren es also schon?«
Nobodys Antwort war bereits fertig gewesen, noch ehe diese verfängliche Frage gestellt worden; denn nun wußte er immer sicherer, was für einen weiblichen Charakter er vor sich hatte.
»Schon wiederholt.«
»Haben sich aber immer wieder freigemacht.«
»Immer.«
»Das ist recht. Sonst interessiert mich das nicht weiter. Nur das eine sage ich Ihnen gleich: wenn ich Sie vielleicht engagieren sollte – mit mir dürfen Sie nicht etwa eine Liebelei anfangen wollen.«
»O, Mademoiselle, was ...«
»Schon gut, schon gut! Alles schon ixmal dagewesen. Also: sobald ich merke, daß Sie sich in mich verlieben – sofort sind Sie entlassen. Verstanden?«
»Sehr wohl, Mademoiselle!«
»Ich für mein Teil habe diese Geschichte schon hinter mir, und wenn Sie sich aus unglücklicher Liebe dann eine Kugel durch den Kopf schössen, so wäre mir das nur angenehm.«
Nobody hatte sich schon wiederholt auf die Lippen beißen müssen. Das war alles ganz ernsthaft gesprochen, und doch wirkte es drollig – gerade dadurch, weil diese Stimme unmöglich einem Weibe angehören konnte, das diese ›Geschichte‹ schon hinter sich habe.
»Sie fühlen sich in dieser Hinsicht also fest?«
»Durchaus.«
»Wollen's abwarten. Nun erzählen Sie mir, wer Sie sind. Aber kurz und bündig. Los!«
»Studiert, Erbschaft, in fünf Jahren ebensoviel Millionen Francs durchgebracht.«
»Bravo!« lachte es vom Bett her. »Das war wirklich kurz und bündig – zzziyyy à la bonheurzzz/iyyy! Das imponiert mir. Und das genügt mir wirklich. Nur Kleinigkeiten möchte ich noch wissen. Wann war das Geld alle?«
»Vor vierzehn Tagen wechselte ich den letzten Hundertfrancschein.«
»Wovon lebten Sie unterdessen?«
»Eben von diesem gewechselten Hundertfrancschein. Ich speise jetzt Mittag für sechs Sous.«
»Dann haben Sie große Energie. Sie haben die Millionen doch natürlich mit liederlichen Frauenzimmern durchgebracht?«
»Nur zum allerkleinsten Teil.«
»Wie ist das Geld sonst so schnell alle geworden?«
»Durch kostspielige Reisen.«
»Sie sind gereist?«
»Unausgesetzt.«
»Das Reisen allein kann doch nicht so viel kosten.«
»Habe immer ganze Karawanen ausgerüstet.«
»Karawanen? Wo?«
»Afrika, Asien, Nord- und Südamerika.«
»Soooo? Was für einen Zweck verfolgten Sie dabei?«
»Ich bin leidenschaftlicher Jäger. Also Jagdexpeditionen, und die kosten Geld. Außerdem setzte ich dabei meine Studien fort.«
»Was haben Sie studiert?«
»Philologie. Orientalische Sprachen und Indianerdialekte.«
»Monsieur Bernard, wenn Sie mir bei Licht ebenso gefallen, wie im Finstern, dann könnte ich Sie vielleicht engagieren. Stecken Sie mal Licht an!«
Nobody riß ein Streichholz an und entzündete eine Flamme des Gaskronleuchters.
Himmel, sah es in diesem Schlafzimmer aus! Der Inhalt einiger großer Damenkoffer hatte auf Tischen, Stühlen, einem Sofa und einem zweiten Bett noch nicht Platz gehabt, die Sachen waren auch über den Boden gestreut worden. Nobody bekam die diskretesten Dinge zu sehen! Dabei war sie vorhin erst angekommen.
Das Bett, in dem sie lag, befand sich hinter seinem Rücken.
»Na, was bleiben Sie denn so stehen?«
»Ich warte erst auf die Erlaubnis, daß ich mich umdrehen darf.«
»Quatsch! Solche Zimperlichkeiten kenne ich nicht! Ich selbst will doch Ihr Gesicht sehen. Herum!«
Nobody drehte sich um. Er sah nur ihren Kopf. Ein mehr interessantes als schönes Gesicht, etwas männlich und doch anmutig, ein äußerst üppiges, tiefschwarzes Haar, und sie schien überhaupt sehr ... haarig zu sein, wie man wohl zu sagen pflegt. Ihre Oberlippe schmückte ein Bärtchen, um das sie mancher Leutnant beneidet hatte, und auf der linken Backe als Schönheitspflästerchen einen Büschel von langen Haaren. Daß sie sechsundzwanzig Jahre alt war, wußte Nobody bereits! Er hätte sie aber für jünger geschätzt, trotzdem sie tiefbrünett war und solche Frauen schneller altern. Er hätte sie höchstens auf zweiundzwanzig taxiert.
Sie hatte sich bis zum Kinn eingewickelt, zeigte sonst keine Fingerspitze. Daran mochte aber weniger mädchenhafte Schüchternheit schuld sein, als vielmehr, weil es in dem Zimmer sehr kalt war. Denn bisher hatte sie nicht gerade schüchtern gesprochen, schüchtern sah die auch nicht aus, und was dann alles noch kam, das sprach noch weniger von mädchenhafter Schüchternheit.
Auch sie hatte den drei Schritt vor ihrem Bett Stehenden zur Genüge gemustert.
»zzziyyy Bon.zzz/iyyy Sehr gut! O ja, sympathisch, o ja. Wenigstens das Gesicht. Ziehen Sie mal Ihren Ueberrock aus.«
Nobody gehorchte. Was er dabei innerlich dachte, war seine Sache. Aeußerlich war ihm nichts anzumerken. Er war der Mann, der gern engagiert werden wollte.
»Auch gut,« erklärte zufrieden der in Kissen gebettete Frauenkopf. »Nun drehen Sie sich herum – jawohl, tadellos gewachsen. Ihretwegen lohnt's sich, daß man noch einmal aufsteht. Geben Sie mir mal dort die Strümpfe her.«
Nobody legte die langen, seidenen Strümpfe aufs Bett. Aber weitere Kammerzofendienste brauchte er nicht zu verrichten, ob er es nun gefürchtet oder gehofft hatte.
»Gehen Sie hinüber ins Nebenzimmer, dort ist geheizt, zünden Sie den Kronleuchter an, ich komme gleich nach.«
Nobody folgte der Aufforderung. Er brauchte nur eine Minute zu warten, so kam sie schon, in einen überaus kostbaren Pelz gehüllt, aber nicht etwa ein Damenpelz, sondern ein noch über die Knie reichender Herrenpelz war es – obschon es nicht ausgeschlossen ist, daß nicht auch eine Dame einen solchen auf der Straße tragen kann, ein Pelz ist eben ein ganz besonderes Kleidungsstück, der Mode sehr wenig unterworfen – und an den Füßen Stiefel.
Als sich beim Eintreten der Mantel etwas auseinanderschlug, sah Nobody, daß es hohe Schaftstiefel waren, mit Pelz verbrämt, wahrscheinlich ganz mit Pelz gefüttert – weiter aber hatte Nobody bei dieser Indiskretion des Mantels gesehen, daß sie außer diesem und den Schaftstiefeln auch mit weiter gar nichts bekleidet war, höchstens noch mit einem Hemd. Das im Bett aufgelöste Haar war jetzt in einem flüchtigen Knoten zusammengeschlungen.
Es war eine hohe, starke, vollbusige Gestalt, dabei die Hand mit den rosigen Fingernägeln so schlank wie der Fuß klein, der doch so sicher aufzutreten wußte. Ueber das Gesicht hatte Nobody schon vorher kein abstoßendes Urteil gefällt gehabt. Jetzt aber entdeckte er erst, welch bestrickenden Liebreiz das Bärtchen und das haarige Schönheitspflästerchen den brünetten Zügen verlieh, obgleich diese doch immer noch sehr energische blieben, und dann vor allen Dingen ... dieses Weib hatte Geist!
Auch in der Hand hatte sie Geist – d. h. eine Weinflasche, schon entkorkt.
»Geben Sie dort von dem Tischchen zwei Gläser her – Portweingläser.«
Die Gläser hätten noch kleiner sein können, denn Nobody roch gleich, daß es Schnaps war, den sie aus der etikettelosen Weinflasche verzapfte.
»Prost!«
»Auf Ihr Wohl, Mademoiselle!«
»Nennen Sie mich Miß Juvenal, es ist mir lieber,« sagte sie, die französische Sprache mit der englischen wechselnd.
»Auf Ihre Gesundheit, Miß Juvenal!«
Es war Benediktiner, den die einfache Flasche barg, und sie leerte das große Glas mit einem Zuge. Dann mußte auch Nobody dasselbe tun.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Mister Bernard!«
Sie setzte sich ihm dicht gegenüber, schlug die Beine übereinander, wußte aber dabei eine ganz dezente Stellung zu wahren.
»Was für Sprachen können Sie?«
»Englisch, Deutsch und alle sogenannten Mittelmeersprachen.«
»Alle?«
Sie fragte ihn auf russisch, woher er diese Sprachkenntnisse habe, und er antwortete auf russisch, daß er eben ein großes Sprachtalent habe, er habe sie theoretisch studiert, und ein Vierteljahr in jedem Lande genüge für ihn, die betreffende Sprache auch in der Konversation zu beherrschen.
»Sie sprechen das Russische tadellos. Und orientalische Sprachen?«
»Vor allen Dingen Arabisch und Hindostanisch.«
Sie sah sich im Zimmer um, fragte nicht weiter wegen seiner Indianerdialekte, sondern sie sprang schnell von einem Gegenstand zum andern über, was sie auch schon in ihrem Inserat verraten hatte.
»Sie wissen, daß ich einen Mann verlange, der mit einer Hand einen Zentner heben kann – ich sehe keinen geeigneten Gegenstand – zeigen Sie Ihren Arm her.«
Auch hierdurch verriet sie sich als echte Russin, als große Landbesitzerin vom alten Schlage. Das mit der Kraftprobe braucht man nämlich nicht merkwürdig zu finden. Noch heute müssen in vielen Gegenden Rußlands neue Arbeiter, besonders solche, welche ständig zu heben und zu tragen haben, Mehlsäcke, Holz usw., vor dem Arbeitgeber eine Kraftprobe ablegen, und je mehr Pud einer stemmen kann, desto mehr Tagelohn bekommt er. Das wird gleich von vornherein festgesetzt, und das ist garnicht so dumm. Denn manch kleiner, sehniger Kerl kann doch ganz andere Lasten heben und tragen, als ein fetter Riese Goliath. Nun allerdings könnte man sagen, daß der Aufseher doch bald genug bemerkt, wer viel schafft und wer wenig, und danach soll der Lohn verbessert oder verringert werden. Da kommen aber russische Verhältnisse in Betracht. Der Arbeitgeber, ein großer Gutsherr, bekommt die Leute vielleicht gar nicht wieder zu sehen, und da werden Freundschaften angeknüpft, da spielt die Wutkiflasche eine große Rolle ... kurz und gut, der Gutsherr prüft die Leute stets selbst auf ihre Leistungsfähigkeit, danach setzt er den Lohn fest, und damit basta! Sonst würde er vorn und hinten betrogen werden.
Hier war das nun freilich etwas anderes. Doch willig hielt Nobody seinen rechten, leicht gekrümmten Arm hin, und die Russin betastete ihn mit Kennermiene und Kennergriff.
»Heiliger Dunstan! Ziehen Sie mal Ihren Rock aus.«
Gut, Nobody präsentierte sich in Hemdsärmeln, mußte auch noch den rechten bis zur Achsel hochkrempeln.
»Heiliger Sebastian! Mann, wie kommen Sie zu solchen Muskeln?«
»Ich habe von Jugend auf Sport und Athletik aller Art getrieben.«
»Und die sind mit den fünf Millionen nicht auch alle geworden? zzziyyy A la bonheurzzz/iyyy. Zeigen Sie mal Ihr Bein her.«
Sie betastete das dargereichte Bein so ungeniert, wie sie in ihrer halbwilden Heimat ein Pferd geprüft haben mochte. Aber die Hose auszuziehen, das hatte Nobody doch nicht nötig.
»Wunderbar. Prost!«
»Auf Ihre Gesundheit, Miß Juvenal!«
Während Nobody wieder seinen Gehrock anzog, schenkte sie das dritte Portweinglas voll Likör.
»Reiten können Sie doch?«
»Sehr gut.«
»Schwimmen?«
»Bin ich Meister.«
»Fechten?«
»Säbel, Rapier, Florett.«
»Wirklich? Ich hoffe, daß Sie nicht nur renommieren. Ich habe leider keine Fechtwaffen da, sonst müßten Sie gleich eine Probe ablegen. Ich kann nämlich auch fechten.«
»Ich renommiere nicht, wenn ich behaupte, daß Sie mich jedem professionellen Fechtmeister gegenüberstellen können.«
»Das wäre vortrefflich. Dann würde ich bei Ihnen fleißig Unterricht nehmen; denn mit meinem Fechten ist es nicht weit her. Aber ob Sie es können, würde ich doch gleich merken.«
»Sie können sich darauf verlassen.«
»Na, dann prost!«
Das dritte Glas mit dem sehr starken Schnaps wurde hintergekippt und das vierte eingeschenkt.
»Und wie steht es mit dem Schießen?«
»Ich bin ein sehr guter Schütze.«
»Das können Sie gleich beweisen.«
Sie brachte aus der Manteltasche eine kleine Teschingpistole zum Vorschein.
»Sie ist geladen. Sehen Sie dort an dem Büfett an der sonst glatten Seite in der Mitte das kleine, viereckige Feld?«
Das Büfett stand auf der anderen Seite des Zimmers, ein sehr kostbares Möbel.
»Ich sehe es.«
»Das treffen Sie.«
Nobody ließ sich nicht zweimal auffordern, er schoß frisch und munter in das Büfett hinein. Der Knall war nicht lauter, als wenn man wuchtig ein Buch zuklappt.
Miß Juvenal sprang auf und eilte hin.
»Nicht getroffen! Na, Sie! Einen halben Meter drüber weg.«
»Natürlich, die Kugel steigt, ich muß die Pistole doch erst kennen lernen. Haben Sie eine zweite Patrone?«
Sie hatte die ganze Tasche voll, und Nobody schoß zum zweiten Male in das Büfett hinein.
»Diesmal haben Sie getroffen. Und wie! Mitten hinein! Genauer konnte es gar nicht sein. Bravo. Prost!«
Das vierte Glas wurde gekippt und das fünfte eingeschenkt. Die Flasche mußte bald leer sein.
»Herrgott, kann die saufen!« dachte Nobody.
Sie hatte sich wieder gesetzt. Nobody vertrug einen Stiefel, und auch ihr war durchaus nichts anzumerken.
»Gut, ich werde Sie engagieren. Viel riskiere ich dabei nicht. Ich engagiere nämlich, wie auch in der Annonce schon gesagt, nur tageweise. Das bedeutet aber auch, daß es keine Kündigung gibt. Sie erhalten Ihren Lohn jeden Tag, pränumerando, und wenn ich sage: weg – dann sind Sie entlassen, dann müssen Sie gehen.«
»Einverstanden.«
»Dagegen können auch Sie jederzeit ohne Kündigung gehen.«
»O, dieser Fall wird wohl schwerlich eintreten.«
»Und weshalb nicht?«
»Weil ... weil ich glaube, daß es mir bei Ihnen gefallen wird.«
»Das haben schon viele gesagt, und sie sind doch eines Tages Knall und Fall davongegangen.«
»Da haben Sie schon wiederholt Reisebegleiter gehabt, wenn ich fragen darf?«
»In solcher Stellung wie diese? Nein. Ich spreche von anderen Posten. Ich engagiere stets so. Ich bin noch gar nicht viel gereist, will erst jetzt damit anfangen.«
Sie zog aus der Tasche ein goldenes, mit Juwelen besetztes Etui und entnahm ihm eine Zigarette. Schnell hatte Nobody ein Streichholz angezündet und hielt es ihr hin.
Sie machte eine abwehrende Bewegung, zog eine eigene Zündholzschachtel hervor.
»Das haben Sie nicht nötig. Sie sind mein Gesellschafter, nicht mein Diener. Das habe ich auch in der Annonce betont.«
»Bitte sehr, das ist eine einfache Pflicht der Höflichkeit, nicht nur einer Dame gegenüber, und außerdem stehe ich noch gar nicht in Ihren Diensten.«
»Wieso nicht? Sie sind angenommen – wenn auch nur für heute.«
»Ehe ich selbst zusage, muß ich doch wissen, was für Dienste ich zu leisten habe, und wie ich dafür honoriert werde.«
»Richtig!«
Sie brannte ihre Zigarette doch noch an dem vorgehaltenen Streichholz an, präsentierte ihm das Etui und wartete, bis auch die seine brannte.
»Freie Kost und Logis und alles, was Sie sonst noch brauchen, alles so wie ich und aufs beste. Und was für einen Gehalt beanspruchen Sie?«
»Das möchte ich Ihnen überlassen.«
»Zwei Francs pro Tag.«
»Sie scherzen.«
»Scherzen? Wenn Sie alles frei haben? Na, zwei Francs fünfzig will ich geben; aber höher gehe ich auf keinen Fall.«
»Dann müßte ich bedauern. Ich schätze meine Fähigkeiten höher ein. Das Mindeste, was ich beanspruche, sind pro Tag zehn Francs.«
»Zehn Francs den Tag?« stellte sie sich, als habe sie nicht recht gehört. Und dann lachte sie hell auf: »I, keine Spur!«
»Sie finden das zu viel?«
»Viel, viel zu viel!«
»Dann ist jedes weitere Wort verloren. Es war ja auch nur eine Vorstellung, und ich bedauere, Ihre Nachtruhe gestört zu haben. Ich empfehle mich.«
Nobody stand auf, verbeugte sich, griff nach seinem Ueberrock, den er vorhin mit herübergenommen hatte, und schritt der Türe zu.
»Halt!« ertönte es da, als er schon die Klinke in der Hand hatte, und Nobody drehte sich noch einmal um.
»Lassen Sie doch mit sich sprechen. Es soll mir auf einen Franc mehr nicht ankommen. Sie gefallen mir und ...«
»Ich empfehle mich.«
»Halt! Kommen Sie. Sie sollen pro Tag zwanzig Francs haben. Es war ja nur ein Scherz von mir,« lachte sie.
Nobody hatte ganz, ganz genau gewußt, daß es so kommen würde, daß sie nur scherzte. Ein anderer freilich hätte es schwerlich gemerkt. Es war eine ausgezeichnete Schauspielerin.
Kaltblütig legte Nobody den Mantel wieder hin und setzte sich auf seinen Stuhl.
»Denken Sie, mir kommt es auf die paar Francs an? Wissen Sie, weshalb ich dieses Manöver mit Ihnen gemacht habe?«
»Ja.«
»Nun?«
»Es werden sich Ihnen morgen früh genug Herren vorstellen, welche schon mit einem Franc zufrieden sind, aber wenn sie ...«
»Eine bessere Stellung angeboten bekommen, lassen sie mich sofort im Stich. So ist es. Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert, und wenn er mit weniger zufrieden ist, als er selbst seine Arbeit einschätzt, ohne zwingende Gründe, so ist er ein Lump. Es gibt Ausnahmen, aber diese bestätigen nur die Regel.«
»Ganz meine Ansicht. Also zehn Francs pro Tag.«
»Zwanzig Francs. So viel sind Sie mir wert. Abgemacht?«
»Abgemacht!«
»Na, dann prost!«
Der Kontrakt, der immer nur auf einen Tag band, wurde mit dem fünften Glase Benediktiner besiegelt. Zum sechsten Male machte die Flasche die beiden ansehnlichen Portweingläser nicht mehr ganz voll, die Dame teilte redlich und stieß gleich noch einmal an, wiederum das ihre leerend.
»Warten Sie, ich hole eine andere. Ich möchte doch auch lieber etwas Toilette machen.«
Sie ging in das Schlafzimmer hinüber, die leere Flasche mitnehmend.
Himmel Herrgott, kann die saufen! dachte Nobody nochmals. Ihm selbst ward nach den sechs Glas durchaus noch nicht schwül zumute, aber dieses Mädel – eine halbe Flasche Schnaps im Magen ... na ja, eine Russin! Und doch, es mußte auch für eine Russin mit dem ausgepichtesten Magen schon zu viel sein!
Diesmal ließ sie ziemlich lange auf sich warten. Doch Nobody wußte sich unterdessen die Zeit mit seinen Gedanken zu vertreiben.
Die Tür ging auf – und auch Nobody konnte einmal geblendet werden. Er hatte so etwas eben gar nicht vermutet.
Sie hatte nicht nur kleine, sondern große Toilette gemacht, Ball- oder doch große Gesellschaftstoilette. Eine prachtvolle Robe, tief dekolletiert. Nur das Haar hatte sie nicht weiter frisiert. Und die Pulle brachte sie wieder mit.
»Nun bin ich bloß gespannt, wie das noch enden wird,« dachte Nobody. »Das wäre so etwas für meinen Freund Flederwisch.«
Sie schenkte gleich die Gläser wieder voll, in der anderen Hand hatte sie ein Pack Zigaretten gehabt, schob ihm die Hälfte hin.
»Da, bedienen Sie sich. Wofür halten Sie mich eigentlich?«
»Für eine sehr emanzipierte Dame.«
»Bravo! Das war offen und treffend gesprochen. Doch bin ich es noch nicht so recht, ich will mich erst emanzipieren. Apropos, Sie sagten vorhin, Sie hielten sich noch nicht für in meinen Diensten stehend, da Sie noch nicht wüßten, was für Dienste Sie mir zu leisten hätten. Die Honorarfrage ist erledigt, aber dieses noch nicht. Sie wissen doch noch gar nicht, was Sie mir für Kost und Logis und täglich zwanzig Francs zu leisten haben. Wie konnten Sie da so schnell zusagen?«
»Weil ich weiß, daß Sie nichts Ehrenrühriges von mir verlangen werden, und das genügt mir. Sonst werde ich wohl jeden Posten ausfüllen können.«
»Woher wissen Sie, daß ich nichts Ehrenrühriges von Ihnen verlange?«
»Weil ich Ihnen das ansehe. Und da bin ich Menschenkenner genug.«
Ein scharfer Blick traf ihn, der aber auch in demselben Moment recht freundlich wurde.
»Sie haben recht. Ich brauche, solange ich mich nicht selbst beschützen kann, einen männlichen Beschützer. Haben Sie von dem berühmten amerikanischen Detektiv Nobody gehört, der jetzt Champion-Detektiv der englischen Königin geworden ist?«
Nanu, was will die denn jetzt von dem? dachte Nobody, indem er sich selbst verleugnete.
»Nicht persönlich, aber gehört habe ich schon genug von ihm.«
»So ist es auch bei mir. Ich halte Nobody für den trefflichsten Menschen, für den trefflichsten Mann unserer Zeit, die an Romantik so arm ist. Das ist ein Mann, der einige Jahrhunderte zu spät geboren ist. Das ist noch ein letzter Klang aus den Zeiten der gepanzerten Ritter und Troubadoure, mir klingt sein Name stets wie Schwerterklang und Saitenspiel. Wollen wir anstoßen auf das Wohl dieses Mannes! Wollen Sie mir Bescheid geben?«
Mit plötzlicher Begeisterung hatte das schöne Weib gesprochen, und natürlich stieß Nobody sehr gern auf sein eigenes Wohl an, wenn auch nur in Schnaps, es war ja der edelste Benediktiner, und es wurden sogar gleich zwei Glas dieses Stoffes geleert.
»Ich bin nur gespannt, wann die endlich untern Tisch fällt,« dachte der unverbesserliche Nobody.
»Warum ich jetzt von Nobody anfange?« fuhr sie fort. »Weil ich einmal die Absicht hatte, diesen Mann als meinen Reisebegleiter zum Ausführen meiner Pläne zu engagieren. Doch rechtzeitig noch kam ich zu der Erkenntnis, daß ein Nobody, der Champion-Detektiv einer Majestät, wohl anderes zu tun hat, als ein emanzipiertes Frauenzimmer zu beschützen und auf ihre exzentrischen Pläne einzugehen. Und einen Korb wollte ich mir nicht holen. So versuchte ich es mit jener Annonce.«
»Und wenn ich mich auch nicht mit diesem Nobody vergleichen kann, so hoffe ich doch bestimmt, daß Sie mit mir durchaus zufrieden sein werden. Gestatten Sie mir eine Frage: Da Sie gerade einen Detektiv engagieren wollten – sind Sie vielleicht Verfolgungen von irgendeiner Seite ausgesetzt?«
»Ja und nein. Ich habe nicht gefragt, wer Sie sind, ich will keine Papiere von Ihnen sehen, Sie könnten mir irgend etwas erzählen, ich würde es Ihnen glauben. Sie haben mir nur eine Andeutung über Ihre Vergangenheit gemacht – mehr verlangte ich ja auch gar nicht – und so will auch ich nur etwas über mich andeuten. Hören Sie: Ich will frei sein wie der Vogel in der Luft. Hat nicht jeder Mensch Anspruch auf Freiheit?«
»Gewiß doch. Des Menschen Freiheit ist sein höchstes Gut.«
»Nun, man hat mich bisher in einem Käfig gefangengehalten – und wenn es auch ein goldener war, es war doch ein Käfig. Ich habe das Gitter durchbrochen. Jetzt bin ich wirklich frei wie der Vogel in der Luft. Aber es könnte sein, daß man diesen Vogel wieder fangen und ihn in den Käfig zurückstecken will.«
»Miß Juvenal, befehlen Sie über mich,« sagte Nobody einfach, »ich bin ein Verteidiger der Freiheit, bin es immer gewesen.«
»Angenommen! Jetzt genug hierüber. Was Sie zu tun haben, um mich zu schützen, werden Sie erfahren, wenn es so weit ist.«
»Sie sprachen auch von Plänen, welche Sie vorhaben, und bei deren Ausführung ich Sie unterstützen soll.«
»Auch das werden Sie später oder nach und nach durch eigene Erkenntnis erfahren. Ich möchte jetzt mit Ihnen über etwas anderes sprechen.«
Sie nötigte ihn noch einmal, zu trinken, dann trat erst eine längere Pause ein, indem sie sich zurücklehnte und sinnend dem Rauche ihrer sechsten Zigarette nachblickte.
So hatte Nobody Zeit, sie mit Muße zu betrachten.
Gewiß, wenn nicht ein schönes, so war es doch ein reizvolles, ein berückendes Weib. Das Kostüm trug ja viel mit dazu bei, welches die Reize des Oberkörpers fast gar nicht verhüllte. Die tiefausgeschnittene Taille aus weißem Atlas wurde nur durch zwei schmale Bändchen gehalten, und wunderbar gegen dieses Weiß stach der braune Samt der vollen Büste ab, und ebenso berauschend wirkte der Anblick der vollen Arme, welche wie mit einem braunen Flaum besetzt waren, so schimmerten die samtweichen Härchen.
Da bemerkte Nobody, daß sie ihn unter den gesenkten Lidern hervor beobachtete, und nicht genug damit, jetzt schlug sie die Beine übereinander und begann, das zierliche Saffianpantöffelchen, das sie gegen den Schaftstiefel vertauscht hatte, zu wippen, es nur auf der Spitze des mit einem fleischfarbenen Strumpfe bekleideten Füßchens balancierend.
»Sie kokettiert mit dir,« dachte Nobody, »kein Zweifel, bei der fängt der Benediktiner zu wirken an, sie will dich reizen. Sie will dich überhaupt betrunken machen. Ha, wenn die wüßte, was ich saufen kann! Aber wie wird das noch enden?«
Mit einem Ruck warf sie den Oberkörper wieder vor. Erst aber schenkte sie nochmals ein, erst mußte getrunken werden. Und auch diese zweite Flasche mußte bald ihrem Ende entgegengehen.
»Glauben Sie, daß ich eine anständige Frau bin?« fragte sie plötzlich.
»O, Miß, wie können Sie ...«
»Antworten Sie. Sie wollen doch Menschenkenner sein, und die Frauen werden Sie wohl auch gründlich studiert haben. Mache ich Ihnen den Eindruck einer anständigen Frau?«
»Ja,« sagte Nobody kurz, und er wußte in dieses Wort den Ton der ehrlichsten Ueberzeugung zu legen.
»Darin irren Sie sich auch nicht. Ich bin wirklich eine durchaus anständige Frau.«
»Aber Miß, ich ...«
»Schon gut. Darüber wären wir also einig. Nun weiter. Finden Sie es nicht merkwürdig, daß ich mich Ihnen in solch einem Kostüm präsentiere?«
»Wieso merkwürdig?«
»Verstellen Sie sich nicht! Sonst sind wir geschieden, denn dann passen wir nicht zusammen. Sie wissen ganz genau, was ich meine. Es ist ein ausgeschnittenes Ballkleid, was ich mitten in der Nacht angelegt habe, um mich mit Ihnen, einem mir gänzlich unbekannten Menschen, zu unterhalten.«
»So hören Sie meine offene Meinung: Sie sind nicht nur emanzipiert, sondern höchst exzentrisch. Was Sie sonst damit bezwecken, weiß ich nicht.«
»Sie irren, wenn Sie mich für exzentrisch halten, und auch emanzipiert bin ich bisher noch nicht gewesen, ich will es erst werden. Halten Sie das aber für unanständig, daß ich mich Ihnen hier in solch einem dekolletierten Kostüm präsentiere?«
»Wieso? Ist das nicht sogar eine hochanständige Toilette? Ist eine solche nicht auf jedem Hofballe vorgeschrieben?«
»Ja, auf einem Hofballe, auf jedem anderen Balle. Aber jetzt so vor Ihnen – oder würde ich mich so auf der Straße zeigen – man würde mich sofort wegen eines unzüchtigen Anzuges abführen.«
»Geehrte Miß, Sie kommen da auf ein Thema, welches der Schraube ohne Ende gleicht. Da werden wir nie fertig. Was Sie meinen, weiß ich ganz genau, und da stimme ich Ihnen auch vollkommen bei – jawohl, da bin ich vollkommen Ihrer Ansicht. Aber da kommen Sitten und Gewohnheiten in Betracht, gegen die man vergebens ankämpfen wird, und da kommt auch die Aesthetik in Betracht. Lassen Sie mich ganz offen sprechen: Wenn ein Mädchen auf der Straße im Unterrock und im Korsett herumläuft, so ist das eigentlich nichts anderes, als wenn sich eine Dame auf dem Ballsaal in tiefdekolletierter Taille zeigt. Ja, das Tanzen berechtigt den Mann sogar noch zu großen Freiheiten. Und doch ist ein gewaltiger Unterschied dabei, und diesen Unterschied hat man eigentlich nicht künstlich gemacht, sondern das Empfinden dafür liegt dem Menschen im Fleisch und Blut, und eben deswegen kann ich Ihnen diesen Unterschied nicht weiter definieren – ich wenigstens kann es nicht.«
Sinnend hatte sie den Ellbogen auf die Armlehne des Stuhles gestützt und das Kinn in die Hand.
»Ja. Sie haben recht, ganz recht,« sagte sie dann lebhaft. »Es ist ein großer Unterschied dabei. Nun aber weiter: Finden Sie es unanständig, wenn sich eine Dame auf der Straße in Herrenkleidern zeigt?«
»Nein, durchaus nicht. Das ist wieder etwas ganz anderes. Jeder mag sich so anziehen, wie es ihm behagt, wie es seinem Geschmacke entspricht. Vorausgesetzt, daß es nicht darauf angelegt ist, Lüsternheit zu erwecken.«
Eine Blutwelle huschte über das brünette Gesicht. Doch schnell war sie wieder verflogen.
»Würden Sie mit mir über die Straße gehen, wenn ich ein Herrenkostüm trage?«
»Ohne Scheu.«
»Sie würden mich gegen Beleidigungen und Angriffe des Pöbels schützen?«
»Selbstverständlich. Es wäre nicht nötig, daß ich dazu von Ihnen angestellt bin. Wenn ich solch eine Dame im Herrenkostüm sehe, und sie würde insultiert, so würde ich mit aller Kraft für sie Partei ergreifen.«
»Brav gesprochen! Sie gefallen mir immer besser. Dann noch etwas anderes. Doch trinken wir erst.«
Mehr als noch ein Gläschen war aber nicht mehr in der Flasche.
»Ich werde viel reisen.«
»Nichts erwünschte ich mir sehnlicher, als die Stelle eines Reisebegleiters.«
»Auch in wilde Gegenden.«
»Da kann ich Ihnen mit meinen Erfahrungen zur Seite stehen.«
»Wir werden oft unter einem Dache, in einem Raume zusammen schlafen müssen.«
»Not kennt kein Gebot.«
Sie legte die Hand vor den Mund und gähnte.
»Ich werde sehr müde.«
Das glaubte Nobody. Nur wunderte er sich, daß ihre Augen nicht gläsern wurden, ihr auch sonst absolut nichts anzumerken war.
Sie zog aus ihrem Busen ein Geldtäschchen und entnahm ihm ein Zwanzigfrancsstück.
»Das ist Ihr erster Gehalt. Welch Zeit ist es? Schon zwei Uhr. Doch wir wollen es von Mittag zu Mittag machen.«
Dankend steckte Nobody ohne Zögern das Goldstück ein.
»Sie stehen also bis morgen mittag in meinen Diensten.«
»Ich bin Ihr gehorsamer Diener.«
»Nicht Diener, sondern mein Begleiter, Gesellschafter – sagen wir doch gleich Freund.«
»Ich weiß genau, welche Stellung ich Ihnen gegenüber einnehme.«
»So wollen wir schlafen gehen.«
Mit diesen Worten stand sie auf und ging einfach in das Bettzimmer hinüber.
Wir? Was sollte das heißen? Es hatte so merkwürdig geklungen.
»Kommen Sie doch herüber!« erklang es drüben.
Nobody trat wenigstens in die offene Tür. Sie war soeben damit beschäftigt, von dem zweiten Bett die Kleidungsstücke wegzuräumen.
»Sie befehlen, daß ich gleich in diesem Hotel übernachte?«
»Ganz gewiß. Sie stehen schon als mein Reisebegleiter in meinen Diensten, und da ist es doch selbstverständlich, daß Sie in keinem anderen Hotel logieren.«
»Ich habe mein Gepäck noch auf dem Bahnhofe.«
»O, wenn es weiter nichts ist! Wir werden auf unseren Reisen manchmal nichts anderes bei uns haben, als was wir auf dem Leibe tragen.«
»O, solche Kleinigkeiten genieren mich auch nicht. Dann werde ich mir also vom Kellner ein Zimmer anweisen lassen.«
»Nein, Sie werden vielmehr in meinem Zimmer schlafen, in diesem zweiten Bett hier.«
Sie hatte sich ihm zugewandt, sie sahen sich beide an. Und Nobody wußte im Augenblick alles, was sie beabsichtigte.
»Sie machen die Dauer meiner Stellung davon abhängig, daß ich in Ihrem Zimmer schlafe?«
»Unbedingt.«
Nobody sagte und fragte nichts mehr. Er half ihr das Bett abzuräumen. Er hatte ihre Absicht erkannt. Von einer Frivolität war keine Rede. Sie hatte ihm ja gesagt, daß es eine Liebelei mit ihr nicht gebe, sonst sei er sofort entlassen, sie wollte ihn also auf die Probe stellen, hatte ihm zu diesem Zwecke noch extra eine Flasche Benediktiner einfiltriert – freilich eine etwas starke Probe. Na ja, es war eben ein emanzipiertes Weib.
»Helfen Sie mich entkleiden. Hefteln Sie mir die Taille auf.«
Ohne weiteres war Nobody bereit dazu. Entweder sollte sie sich in ihm täuschen, oder auch, wenn sie wirklich solch ein Dame von Maxim war, sollte sie mit ihm zufrieden sein.
Zum ersten Male bekam er ihren Nacken zu sehen. Das Kleid war auf dem Rücken noch tiefer ausgeschnitten als vorn – und beim ersten Blick auf diesen Rücken erlahmten die Händen der männlichen Kammerzofe. Nobody bekam etwas zu sehen, was er bei dieser Dame, deren Stellung im gesellschaftlichen Leben er doch kannte, nimmermehr zu sehen erwartet hatte. Er glaubte zu träumen, er war entsetzt.
Doch nur einen Moment, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Kaltblütig mit geschickten Fingern löste er die Heftel und kalkulierte dabei, daß diese Taille auch von vorn zu schließen sein müsse. Diese Heftel konnte sie vorhin nicht allein geschlossen haben.
Die Taille war geöffnet. Das noch tiefer ausgeschnittene Damenhemd zeigte sich.
»Fällt Ihnen nichts auf?«
»Doch. Ich gestehe sogar, daß ich beim ersten Anblick tödlich erschrocken gewesen bin.«
»Weswegen? Was sehen Sie?«
Was Nobody sah? Der schöne Frauenrücken war über und über mit Narben bedeckt, von einer Schulter zur anderen zogen sie sich hin, einst waren es furchtbare Schwielen gewesen, sie konnten seit noch gar nicht so langer Zeit verheilt sein, und hierin war Nobody Sachverständiger genug, um sich ausmalen zu können, wie gräßlich zerfleischt dieser Rücken gewesen sein mußte.
Und bei ihrer letzten Frage fiel er aus seiner Rolle.
»Um Gott, wer hat Ihnen das getan?« hauchte er erschüttert.
»Ein Mann.«
»Ein Mann? Ein Mann hat Sie so geschlagen? Weswegen? Was für ein Unhold war das? Nennen Sie mir ihn, und ich ...«
»Mein Mann.«
Schlaff ließ Nobody die Arme sinken.
»Ihr Mann – Ihr eigener Mann – hat Sie – so – geschlagen?!«
»Geschlagen?«
Wild fuhr sie gegen ihn herum.
»Geschlagen? Kardätscht hat er mich, mit der Knute kardätscht!! Und glauben Sie nun etwa noch, daß ich mich jemals einem anderen Manne hingeben werde?!«
Mehr mit einem furchtbaren Hohn denn mit Haß hatte es das schöne Weib hervorgestoßen. Nobody aber schien es noch immer nicht fassen zu können.
»Ihr eigener Gatte – der Großfürst Karamsin hat Sie so fürchterlich geschlagen?!« flüsterte er mit stieren Augen.
Nobody hatte einen anderen Namen genannt. Es gibt gar keinen Großfürst Karamsin. Aber wir haben einen leichtbegreiflichen Grund, den richtigen Namen dieses Mannes zu verschweigen, und so wollen wir auch seine Gattin die Großfürstin Margot nennen, welche unter diesem Namen ebenfalls nicht in der russischen Adelsliste zu finden ist, wohl aber der Person nach in Wirklichkeit existiert.
Doch diese Frau hatte ihres Gatten wirklichen Namen gehört, und mit einem unterdrückten Schrei prallte sie vor dem Sprecher zurück.
»Mann, wer sind Sie, daß Sie mich kennen?!« stieß sie in furchtbarer Aufregung hervor.
Nobody dagegen hatte sich schnell wieder gefaßt. Hochaufgerichtet stand er da, er konnte sogar lächeln, und doch sah er dabei tiefernst aus.
»Wer ich bin? Sie hatten einst vor, zu Ihrem Beschützer den Detektiv Nobody zu wählen, den Champion Ihrer Majestät der englischen Königin – nun, dieser Nobody stellt sich Ihnen als Beschützer zur Verfügung.«
Die Wirkung dieser Worte war nicht so, wie sie Nobody erwartet hatte.
Der Schreck war sofort von ihr gewichen, mit großen Augen betrachtete sie den vor ihr Stehenden, und dann schüttelte sie langsam den Kopf.
»Meine Ahnung!«
Dieses erste Wort war schließlich einer Frau ganz entsprechend, für Nobody aber mußte es natürlich doch sehr überraschend kommen.
»Wie, Sie wußten, daß ich dieser Nobody sei?«
»Nein, ich wußte gar nichts, aber – aber ...«
»So ahnten Sie es wenigstens?«
»Auch das nicht, aber – aber – ich sagte Ihnen doch, wie ich schon einmal auf den Detektiv Nobody reflektiert hätte – mit welcher Hochachtung ich über diesen Mann denke – und Sie – Sie – auch Sie waren mir von allem Anfang an so sympathisch ...«
Erst jetzt fiel ihr ein, daß diese Begegnung doch kein Zufall sein konnte.
»Sie sind wirklich dieser Nobody?« fragte sie, und jetzt brach offenes Mißtrauen hervor.
»Ich bin es.«
»Sir Doktor Alfred Willcox?«
»Derselbe.«
»Der Champion der englischen Königin?«
»Ich bin es wirklich.«
»Ja, aber ...« mit drohend gerunzelten Brauen richtete sie sich plötzlich empor. »Dann ist das auch kein Zufall – Sie sind auf meiner Spur!«
»Bitte, Miß Juvenal! Lassen Sie uns doch wieder hinübergehen, drüben ist es wärmer, und ich werde Ihnen eine Erklärung geben, die Ihre vollständige Zufriedenheit finden wird. Vorausschicken will ich zu Ihrer Beruhigung gleich, daß ich nach wie vor Ihr gehorsamer Diener bin, oder meinetwegen auch Ihr Reisebegleiter – jedenfalls Ihr Freund, Ihnen ergeben in Not und Tod.«
Nach diesen wohlgesetzten Worten machte Nobody eine ebenso wohlgesetzte Verbeugung und begab sich wieder in das Nebenzimmer.
Auf dem Tische stand noch die Flasche. Nach dieser war sein erster Griff. Wie er sie in die Höhe hob, bemerkte er am Boden einen gläsernen Knopf, er drückte darauf, schenkte ein, nicht sein Glas, sondern das seiner Zechgenossin, kostete und nickte zufrieden.
»Merken Sie jetzt etwas?« erklang es heiter im Türrahmen.
Sie hatte wieder den Herrenpelz umgeworfen, nur daß sie jetzt unter diesem noch die Robe trug, mit oder ohne Taille, und auch die dünnen Pantöffelchen hatte sie wieder mit den warmen Pelzstiefeln vertauscht, die aber ihre Füßchen durchaus nicht entstellten.
Am auffallendsten war es, daß sie gleich diese heitere Frage stellte.
»Jawohl. Eine Vexierflasche. Eine kleine Ahnung hatte ich doch schon. Sie haben immer nur gefärbtes Wasser getrunken.«
»Aber Ihr Benediktiner war echt.«
»Ich hätte auch nicht mit so zufriedener Miene zwei Flaschen mit gefärbtem Wasser ausgetrunken.«
»Und an dieser Ihrer Trinkfestigkeit erkenne ich eben, daß Sie wirklich der Detektiv Nobody sind. Ich habe nämlich ein Geschichtchen von Ihnen gelesen, wie einmal ein paar Detektivs, die Ihnen Konkurrenz machten. Sie unter den Tisch trinken wollten. – Gottvoll!«
Lachend hatte sie es gesagt, als sie sich wieder auf ihren früheren Stuhl setzte.
Ihr Benehmen war so ganz anders, als Nobody es nach dem Vorhergeschehenen erwartet hatte, und er sprach es aus.
»Ich wundere mich, geehrte Miß, daß Sie so gelassen, so heiter sind, nachdem Sie nun wissen, wen Sie vor sich haben. Sie waren doch zuerst so erschrocken, als ich mich Ihnen zu erkennen gab.«
»Im ersten Augenblick, ja. Doch ich sagte Ihnen, wie ich über Nobody denke, und das kam mir rasch in Erinnerung. Ich fragte Sie, ob Sie mir etwas Ehrenrühriges zutrauten, und Sie verneinten mit aller Entschiedenheit, und ich sage Ihnen, daß mein Vertrauen zu Nobody unerschütterlich ist, und es wäre auch zu Ihnen gewesen, selbst wenn ich nicht erfahren hätte, wer Sie in Wirklichkeit sind. Darin bin ich Menschenkennerin.«
Nobody erwiderte mit einer dankenden Verbeugung.
»Doch Sie haben recht,« fuhr sie ernst fort, »lassen Sie uns über die Hauptsache sprechen. Sie sind auf meiner Spur?«
»Man weiß, daß Sie sich unter dem Namen Miß Viktoria Juvenal nach Paris gewendet haben, hier jeden Tag eintreffen müssen.«
»In wessen Auftrag verfolgen Sie mich?«
»Nicht verfolgen, ich soll Sie nur beobachten. Den Auftrag hierzu gab mir meine Gebieterin, deren Champion ich bin, und welche doch sehr nahe mit dem russischen Hofe verwandt ist. Ob sich dieser erst an die englische Königin gewandt hat, weiß ich nicht, aber jedenfalls ist es so.«
»Aber Sie wissen doch wenigstens, was ich verbrochen habe?«
»Sie sind Ihrem hohen Gemahl ent ...«
»Durchgebrannt! Ja. Was weiter?«
»Sie haben Ihr ganzes mütterliches Vermögen, gegen fünfzehn Millionen Rubel, flüssig zu machen gewußt.«
Sie klopfte sich lächelnd gegen den Busen.
»Die habe ich hier bei mir, allerdings nicht in Gold, auch nicht in Tausendrubelnoten, auch dies gäbe noch ein zu großes Paket – aber doch in Objekten, die mir jede Bank der Welt anstandslos in bares Geld umwandelt, und keine Polizei der Welt kann mich daran hindern, denn es ist mein redliches Eigentum, und ich bin mündig. Sind Sie vielleicht dazu abgesandt, mir mein Eigentum wieder abzunehmen?«
»Madame, Sie sagten doch, Sie hätten vor jenem Nobody solche Hochachtung, Sie hielten ihn für einen ...«
»Richtig, richtig! Verzeihen Sie mir. Nein, Ihnen traue ich so etwas am allerwenigsten zu. Und doch! Weshalb sind Sie da auf meine Spur gesetzt worden?«
»Da muß ich zunächst von etwas anderem sprechen, noch für eine andere Person Partei ergreifen. Meine Auftraggeberin in dieser Sache ist die englische Königin. Trauen Sie dieser zu, daß sie deshalb ihren Champion auf die Verfolgung ausschickt?«
»Ich habe vor dem Charakter der englischen Königin die größte Hochachtung.«
»Und das mit Recht.«
»Weshalb hat sie sonst ihre Hilfe zugesagt?«
»Sie stehen im Verdachte der anarchistischen Umtriebe, und das ist allerdings eine internationale Angelegenheit, zu der jeder Souverän, jedes Land gern seine Hilfe zusagt.«
Sie machte eine verächtliche Handbewegung.
»Bah! Ich und Anarchistin! Aber ja, ich glaube schon, daß mein Mann mich als staatsgefährliche Anarchistin hingestellt hat, um mich – nein, um mein Geld wieder in seine Gewalt zu bekommen. Ich werde ausgeliefert – ich verschwinde in Sibirien. Und Großfürst Karamsin zittert auch noch vor anderem. Es ist mein Eigentum, meines, auf dem er residiert – es sind die Güter meines Vaters! Aber als Anarchistin gehe ich ja aller Rechte verlustig.«
»Madame, ich bin nur beauftragt, Sie als Anarchistin zu beobachten. Sobald ich erkenne, daß Sie es nicht sind, habe ich mich meines Auftrags entledigt.«
»Halt! Sie bleiben natürlich! Sie wollen ja auch gar nicht gehen. Was wissen Sie denn sonst von unseren Eheverhältnissen?«
»Nichts, absolut gar nichts.«
»Hat Großfürst Karamsin der Welt nicht mitgeteilt, aus welchem wahren Grunde ihm seine Frau davongelaufen ist?«
Nobody war keiner Antwort fähig, so mußte er wieder mit einer Erschütterung kämpfen, während sie im Gegensatz zu vorhin, da sie das erste Geständnis gemacht hatte, ganz ruhig blieb.
»Nun ja,« sagte sie in gleichgültigstem Tone, »mein Mann hat ja auch nichts zu fürchten, sobald ich einmal im Verdacht stehe, ich, eine Großfürstin, eine Anarchistin zu sein, gilt meine Aussage überhaupt nichts mehr.«
»Ist es denn nur wirklich wahr,« fragte Nobody mit leiser, zitternder Stimme, »was – was Sie mir vorhin erzählten?«
»Erzählt habe ich es Ihnen ja noch gar nicht. Nur gesagt habe ich Ihnen etwas, und ich gab eine Erklärung dazu. Aber Sie sollen es hören.«
Und sie behielt den gleichgültigen Gesprächston bei, als sie fortfuhr:
»Ich schicke voraus, daß ich die treueste Gattin gewesen bin. Niemand, niemand kann mir etwas vorwerfen. Meine Heirat mit Großfürst Karamsin war zwar eine politische, ein Ukas des Zaren – aber trotzdem, ich liebte ihn mit aller Glut meines Herzens. Er war mir das Ideal eines ritterlichen Mannes. Im Laufe von vier Jahren kam ich freilich zu anderer Ansicht – na ja, das bringen wohl die meisten Ehen mit sich. Meine Ideale wurden zerstört, ich habe viel, viel gelitten, aber trotzdem – ich sah mit ernüchterten Augen, daß es unter dem russischen Adel überall nicht anders zuging als bei uns, ich ließ ihn seinen Neigungen nachgehen, die zwischen Wein und Weibern hin und her schwankten – ich blieb ihm treu, obgleich es mir an Versuchungen nicht fehlte. Er war der Vater meines Kindes!«
»Sie haben Kinder?« fragte Nobody leise.
»Warten Sie nur. Ich will mich kurz fassen. Es ist erst ein Vierteljahr her. Unser Gutsnachbar, auch so ein Ehrenmann, hatte eine Sklavin. Das heißt, eigentlich war's die französische Erzieherin seiner Kinder, eine hochgebildete Dame, aber in Wirklichkeit – na, Sie weitgereister Mann wissen wohl, wie's auf den Gütern in Ostrußland zugeht. Also seine Sklavin. Und mein Mann wollte sie gern haben. O ja, warum denn nicht – aber der Gutsnachbar wollte mich dafür. Nicht für immer, nur so zeitweilig! Ich bekam's zu hören, und als mein edler Gemahl mir so von hintenherum den Antrag machte, mich seinem Freunde zuführen wollte, da sagte ich ihm, daß ich alles wisse. Ob er sich nicht schäme. Nein, warum denn? Ob ich denn mehr wäre als seine Sklavin? Und um mir das begreiflich zu machen, und um meinen Widerstand zu brechen, hat er sich einen angetrunken und mich kardätscht. Die Spuren sehen Sie noch auf meinem Rücken.«
»Entsetzlich!« hauchte Nobody.
Gerade durch diesen gleichgültigen Ton, mit dem es vorgetragen wurde, wirkte es vielleicht um so entsetzlicher.
»Und Sie?«
»Und ich?«
»Was taten Sie?«
»Was sollte ich tun? Er war stärker als ich. Darum ließ ich es mir auch ganz ruhig gefallen, daß er mir den Rücken zerfleischte. Habe nicht dabei geschrien – aber gedacht habe ich dabei sehr viel – ja, sehr viel!«
Es war fürchterlich, wie sie das so gelassen hervorbrachte. Es war unnatürlich.
»Und dann?«
»Und dann? Mein Kind war todkrank, das mußte ich pflegen. Während man meinen Rücken mit Oel und Salbe behandelte, saß ich Tag und Nacht an Leos Bettchen – und dabei dachte ich – dachte – dachte.«
Noch immer kein Zeichen der Aufregung, der Wehmut, auch nicht, als sie jetzt beide Hände gegen die Schläfen preßte, als wollte sie die Gedanken bannen, die ihr damals durch den schmerzenden Kopf gegangen waren.
Da plötzlich glitt sie vom Stuhle herab, auf die Knie nieder, sie beugte den Oberkörper vor, bis ihre Stirn die auf dem Boden liegenden Hände berührte, und in dieser Stellung erklang es in unsäglich klagendem, in herzzerreißendem Tone:
»Fern an der Newa Strande wölbt sich ein kleiner Hügel ...«
Der Mensch in Nobody, der ein so gefühlvolles Herz in der Brust hatte, kam nicht zum Ausbruch: denn mit einem Sprunge war sie wieder auf, und nichts war ihr anzusehen, ja, in ihrem Auge zeigte sich sogar etwas wie ein freudiger Glanz, und so klang auch ihre Stimme:
»Sehen Sie, da war es mit mir vorbei! Aber ganz anders, als Sie vielleicht denken. Da hatte ich es hinter mir, da hatte ich es überstanden! Mit mir ist nämlich etwas ganz Merkwürdiges vor sich gegangen! Ach, wenn Sie wüßten, was für ein heiteres Geschöpf ich gewesen bin! Und noch in den ersten Jahren der Ehe – und dann lernte ich meinen Mann immer mehr in seiner wahren Gestalt kennen – und da wurde ich so traurig, wurde verbittert – und dann wurde ich Mutter – und da faßte mich des Weibes ganze Seligkeit – da konnte ich wieder singen und jauchzen – aber mit einem ganz anderen Gefühl, als da ich Mädchen gewesen war – da hatte ich meinem Manne alles, alles verziehen, was er mir angetan – und unter meines Mannes Knute wurde ich ein wildes Tier – aber der menschliche Geist behielt die Oberhand – und dann, als ich mein Kind begrub, tränenlos begrub – ein Schneegestöber – da sah ich plötzlich dennoch die Sonne aufgehen – eine neue Sonne – die Sonne der Freiheit – und ich war wieder dasselbe heitere Geschöpf ...«
Mit ehrfürchtigem Staunen blickte Nobody auf das Weib, das mit blitzenden Augen und lachendem Munde so sprach. Und er verstand sie! Nobody wußte, was sie meinte, was sie durchgemacht und was diese Umwandlung zustande gebracht hatte! Mit Worten ist das nicht weiter zu erklären, das muß eben verstanden, gefühlt werden.
»Ach,« begann sie nochmals mit denselben Worten, »wenn Sie wüßten, was für ein heiteres, übermütiges, tolles Ding ich früher gewesen bin! Auf unsern unermeßlichen Steppengütern, in Petersburg, in Moskau, auch hier in Paris bin ich schon gewesen – in einem Pensionat – wie wir es da getrieben haben – wir vier Mädels – die Irma, die Clarence – diese kennen Sie wohl nicht ... aber sollten Sie nicht schon vom Kosaken gehört haben?«
»Vom Kosaken?« wiederholte Nobody staunend, im ersten Augenblick nicht glauben könnend, daß hier eine beiderseitige Bekanntschaft vorliegen sollte.
»Prinzeß Turandot – Sie haben vielleicht davon gehört, wie sie seinerzeit aus dem Pariser Pensionat nach Monte Carlo durchgebrannt ist.«
Und ob Nobody davon gehört hatte! Doch sei nochmals darauf aufmerksam gemacht, daß dem Publikum nicht bekannt war, daß Nobody mit den Schwefelinseln in irgendwelcher Beziehung stand.
So bejahte Nobody, daß er jene Geschichte, die sich damals in Monte Carlo abgespielt hatte, recht wohl kenne.
»Auch sie ist die Tochter eines russischen Fürsten,« fuhr Miß Juvenal fort. »Wir lernten uns in einem Petersburger Pensionat kennen. Es war eine ideale Freundschaft, die wir schlossen, ein Schutz- und Trutzbündnis. Da hatten sich vier revolutionäre Geister zusammengefunden. Ach, was für weltumstürzende Pläne haben wir Mädels ausgesponnen. Vor allen Dingen gab's kein Heiraten. Krieg allen Männern, welche uns Frauen beherrschen wollen!«
Sie lachte, als sie sich wieder setzte, um nach einer der noch daliegenden Zigaretten zu greifen, und so war sie ganz dieselbe wie zuvor.
»Turandot war die jüngste unter uns, ganz bedeutend jünger. Trotzdem war sie die erste, welche ihre exzentrischen Pläne in Taten umsetzte. Ich will Ihnen nicht erzählen, wie alles gekommen ist – kurz und gut, der kleine Kosak, Prinzeß Turandot meine ich, wagte es, mit allen Adelstraditionen zu brechen. Auch sie war schon für einen russischen Edelmann bestimmt, sollte in Paris noch den letzten Schliff erhalten – sie brannte durch und heiratete frischweg einen Mann, der sich einen berüchtigten Namen als Schmugglerkapitän gemacht hatte.«
Ach ja, dies alles kannte Nobody recht gut! Zum Glück wurde die Erzählerin nicht ausführlicher.
»Der Kapitän, unter den Seeleuten als Flederwisch bekannt, war zwar ein Abenteurer, aber sonst ein Ehrenmann. Die beiden haben sich dort unten bei China auf einer Insel angesiedelt, führen ein äußerst idyllisches, glückliches Leben. Ich stand mit Turandot immer im Briefwechsel. Als sich nun am Grabe meines Kindes eine neue Welt vor mir öffnete, da sah ich ganz deutlich die liebreizende Gestalt des wilden Kosakenmädels vor mir stehen. Und sie winkte mir. Zu ihr, so rief mein Herz, dort findest du alles, was du bisher vermißt hast, wonach du schmachtest: Liebe, Freundschaft, Freiheit!
»Mit einem Raffinement, dessen ich mich bis dahin gar nicht für fähig gehalten hatte, wußte ich mein mütterliches Vermögen zu erheben und mir einen Paß zu verschaffen. Ich floh. Doch gleich auf der ersten Station merkte ich, daß man mir schon auf der Spur war. Man kannte eben meinen Briefwechsel mit Turandot, man ahnte wohl, daß ich mich zu ihr wenden würde, man verlegte mir den Weg. Und nun will ich Ihnen etwas sagen.«
Sie stand auf und legte plötzlich ihre Hand auf Nobodys Schulter, ihn mit blitzenden Augen anschauend.
»Was in mir vorgegangen ist, weiß ich selbst nicht, aber das eine ist mir plötzlich bewußt geworden: daß ich ein freier Mensch bin! Und diese neugewonnene Freiheit, die mir auch meinen alten Jugendmut wiedergegeben hat, werde ich mir zu wahren wissen! Ehe ich mich zurückschleppen lasse, lieber ... mit einem Wort: ich habe Gift bei mir.«
»Aber Madame,« rief Nobody erstaunt, »warum sagen Sie denn das mir?!«
Sie setzte sich wieder.
»Gut. Wenn Sie nicht Nobody wären, hätte ich es Ihnen nicht gesagt. Ich hätte immer nur gehandelt. Schon auf der Fahrt von Rußland nach hier hatte ich als alleinreisende Dame mit allerlei Widerwärtigkeiten zu kämpfen. Nicht etwa als Verfolgte, sondern auch sonst. Ich brauchte einen Begleiter. In Paris wollte ich einen durch Annonce suchen. Ich tat es; heute abend, gleich nach meiner Ankunft, gab ich die Annonce auf. Was für einen Mann ich suchte, haben Sie wohl durch die Prüfungen gemerkt, die ich Ihnen auferlegte. Ich hätte Ihnen morgen auch eine große Summe Geldes anvertraut, Ihnen etwa einen Pfandbrief zum Wechseln gegeben, und wären Sie mit dem Gelde nicht wiedergekommen, so wäre mir das nur lieb gewesen. Verstehen Sie, weshalb?«
»Natürlich verstehe ich das. Es ist besser, er wird Ihnen bei einer Geldsumme untreu, als daß er Sie später verrät. Sie wollten eben durchaus seinen Charakter prüfen.«
»So ist es. Bei Nobody habe ich das alles nicht mehr nötig. Wird mich aber nun der Champion der englischen Königin auch weiter begleiten?«
»Wohin?«
»In Sicherheit.«
»Sie wollen mir vorläufig noch Ihr Ziel verschweigen? So hören Sie denn, ich brauche es auch nur zu wiederholen: als Ihr treuer Freund in Not und Tod bis ans Ende der Welt!«
Zum ersten Male fanden sich ihre Hände, ein herzlicher Druck, und sie fuhr fort:
»Ich habe schon die Vornamen von zwei anderen Freundinnen erwähnt. Die eine hieß Irma Janowitsch, die Tochter eines russischen Barons, die andere Clarence Laboche, die Tochter eines sehr reichen Franzosen, der sein Geschäft in Petersburg hatte. Exzentrische Ideen, wie junge Mädchen sie haben, führten uns zusammen. Und wirklich, gleiche Seelen finden sich immer. Wir schwuren hoch und heilig, niemals zu heiraten, wir waren schon Mädchen von achtzehn Jahren und wußten alle vier noch gar nicht, was das Heiraten eigentlich zu bedeuten hat. So grundnaiv waren wir noch. Andere Pensionärinnen, viel jünger als wir, wagten das Wort Heirat gar nicht in den Mund zu nehmen, und waren dabei schon grundverdorben. Verstehen Sie?«
»Ich verstehe schon. Ihren Schwur haben Sie aber doch nicht gehalten.«
»Eben darum, weil wir noch gar nicht wußten, was wir schwuren. Baroneß Irma heiratete zuerst, einen Amerikaner von der Gesandtschaft in Petersburg, folgte ihm nach Amerika, wo Mr. Bellow im wildesten Teile des Staates Kolorado eine große Farm besaß. Clarence, die damals gerade elternlos geworden war, begleitete die Freundin. Wir hatten einander natürlich Briefwechsel versprochen, ich habe auch oft genug hingeschrieben – nie eine Antwort erhalten. Gott weiß auch, wie dort die Post beschaffen sein mag. Bis zuletzt. Es hat wohl so sein müssen. Am letzten Tage, als ich mich zu meiner Flucht vorbereitete, erhielt ich diesen Brief. Er machte mich zuerst nicht in meinem Entschlusse irre, mich zu Turandot zu begeben, erst dann, als die Notwendigkeit eintrat, dachte ich daran. Hier, lesen Sie ihn!«
Sie hatte aus ihrem Busen einen vielseitigen Brief gezogen, schon mehr ein kleines Aktenbündel: Nobody begann Seite um Seite zu lesen.
Dabei zuckte keine Muskel in seinem Gesicht, es schien ihn gar nicht zu interessieren. Bis zum Schluß, da lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und brach in ein unauslöschliches Gelächter aus, nur daß dieses ganz geräuschlos war, und dann schlug er sich klatschend auf den Schenkel.
»Das ist ja köstlich! Da gehen wir beide hin!«
Zum Schluß dieses Kapitels sei nur noch bemerkt, daß die beiden noch vor Tagesanbruch das Hotel verließen, und daß Nobody seine Begleiterin sicher nach Havre und auf ein Schiff brachte, aber vergebens darüber nachgrübelnd, wie diese oder ihre Freundinnen dazu beitragen könnten, ihn auf eine Spur zu führen, welche ihn der Lösung des geheimnisvollen Rätsels, das mit jenem Sinclaire und den ›Udlindschis‹ zusammenhing, näherbrachte.