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»Nobody!« echote es mit ungläubigem Staunen im Chor.
Schnell schraubte Scott den Helm ab. Da mußte jeder Unglaube schwinden. Er war es. Mit geschlossenen Augen lag er da. Doch im nächsten Moment schlug er sie auf, erhob sich auch gleich, und daß er dann mit verwirrten Blicken um sich schaute, das war begreiflich.
»Wo bin ich? Wer seid ihr?«
»Ich bin es – Edward Scott – und das ist Kapitän Flederwisch – Sie befinden sich auf einem unterirdischen Flusse, zu dem wir an der Küste des Roten Meeres zufällig den Zugang gefunden haben, und bei seiner Untersuchung sind wir hierhergekommen, gerade als Sie dort durch den Wasserfall, der aus dem Loche kommt, herabstürzten.«
Nobody legte beide Hände gegen seine Schläfen, so blickte er zur Decke empor, die hier die Stelle des Himmels vertrat.
»Zufall! Zufall!!« rief er, weiter nichts. Es war die einzige Aeußerung seines Staunens gewesen, dann war er wieder der Nobody, der sich durch nichts aus der Fassung bringen ließ, und dem entsprach auch seine erste Frage.
»Habt ihr nicht etwas zu essen hier? Seit bald zehn Stunden hat mein Magen nichts bekommen, und da ist es kein Wunder, daß er seit vier Stunden knurrt. Und erst einmal trinken, trinken!!«
Er wurde wirklich vom heftigsten Durst geplagt, obgleich er zehn Stunden lang im Brunnenwasser gesteckt hatte. Man sagte ihm, daß neben ihm süßes Wasser flösse, man reichte ihm einen Becher, er brauchte nur zu schöpfen. Nobody tat es denn auch; aber wenn Nobody es sein konnte, so war er ein ganz raffinierter Gourmand; trotz des ihn peinigenden Durstes kostete er nur einmal von dem Wasser, dabei schielte er nach den goldgekapselten Flaschenhälsen, die aus einer Kiste lugten, und erst, nachdem er den Geschmack des Wassers zur Hälfte mit Rotwein verbessert hatte, löschte er seinen Durst.
Dies also war noch in derselben Minute geschehen, da er aus dem Wasserloche geschossen war, und in der nächsten Minute machte er sich mit Heißhunger über die konservierten Speisen her, dabei die Freunde auffordernd, ihm Bericht abzustatten, wie sie hierhergekommen seien.
Es geschah. Scott übernahm den Bericht, so kurz wie möglich, und doch nicht das geringste vergessend. Nobody erfuhr alles, sogar, daß er, wenn er den verschwundenen Kakerlak mit dem Kinde wieder herbeischaffe, als Belohnung Kaiser Meneliks jüngste Schwester mit der üblichen Mitgift zur Frau erhalten solle, wodurch er zugleich zu einem abessinischen Prinzen avancieren würde, und zwar nicht nur zu einem Prinzen ohne Land. An der Hand von Meneliks Schwester baumelte eine ganze Provinz, in die man etwa das Königreich Sachsen ein paarmal hineinsetzen konnte.
»Hm, das wäre gar nicht so ohne – die schwarze Prinzessin an meine linke Vorderhand – da würde sich besonders meine Frau freuen,« brummte Nobody, während er im Scheine der Laterne ein menschliches Gesicht zeichnete.
Es waren die Züge jener wahnsinnigen Frau, die das deutsche Lied gesungen hatte, welche er aus dem Gedächtnis dem Papier anvertraute. Er hatte dieses Gesicht zwar nur einen Augenblick gesehen, und Nobody war kein besonders talentvoller Maler, aber ein vortrefflicher Skizzierer, und besonders im Porträtieren, nur so mit flüchtigen Bleistiftstrichen, suchte er seinesgleichen, wobei ihm sein fabelhaftes Gedächtnis für Physiognomien zustatten kam. Wen er einmal im Leben gesehen hatte, dessen Gesicht vergaß er niemals wieder, konnte zu jeder Zeit sein Porträt wiedergeben. Es kamen ja Ausnahmen und Irrtümer vor, wie wir es zum Beispiel bei Gretchen gesehen haben, die er als die letzte Cherokesin auch nicht wiedererkannt hatte, aber Ausnahmen bestätigen ja nur die Regel.
Während er so mit kauendem Munde skizzierte, wobei er sein Gedächtnis ganz gehörig anstrengen mußte, hörte er doch aufmerksam zu; kein Wort des Berichtes ging ihm verloren, und dabei hatte er noch immer Zeit, über etwas anderes nachzudenken.
Von dem großen Cäsar erzählt man sich ja auch, daß er gleichzeitig einen Bericht anhören, einen Brief diktieren und einen ganz anderen selbst schreiben konnte. Es mag noch andere Menschen geben, die so etwas können, und zu diesen gehörte auch Nobody. Der konnte nebenbei auch noch seinen Hunger stillen und ab und zu einen Witz machen.
Zum dritten war nämlich sein Kopf mit den Beduinen beschäftigt, die sich jetzt über ihm an der Erdoberfläche befanden, die ihn hinterlistig in den Brunnen eingesperrt hatten.
Das wäre ja vortrefflich gewesen, wenn er jetzt, vielleicht ein anderes Loch benutzend, wieder dort oben erschienen wäre, um die guten Leutchen wegen ihrer Hinterlist zur Rechenschaft zu ziehen. Da konnte er sich auch gleich mit dem Rätsel beschäftigen, welches mit dem wahnsinnigen, deutschsprechenden Weibe zusammenhing.
Aber ... das wollte doch sehr überlegt sein, ob er gleich jetzt diese Untersuchung aufnahm. Jetzt hatte er in Wirklichkeit den Beduinen das kaum gefundene Wasser wieder geraubt, und ... es gab auch noch andere Bedenken dabei. Hatte er überhaupt die Möglichkeit, wieder an die Erdoberfläche zu kommen? Das war ebenfalls sehr die Frage.
Scott war mit seinem Bericht fertig, und Nobody mit seiner Skizze, die er in seiner Brieftasche barg, ohne sie jemandem gezeigt zu haben.
Seines Taucheranzuges aus Gummistoff hatte er sich bereits im Anfange entledigt. Unter demselben trug er ein dunkles, zwar nur dünnes und enganschließendes Kostüm, in dem er sich schließlich aber auch in jeder Gesellschaft hätte sehen lassen können. Auf seinem Wüstenritt war es von dem Beduinenburnus verborgen worden.
An der Erdoberfläche hatte er nur seine Schußwaffen mit Munition, und ferner Sextant und Logarithmentafeln zurückgelassen, alles andere hatte er bei sich gehabt, als er in den Brunnen gestiegen war, der Gummianzug schützte ja vor Nässe.
»Nun erzähle mal erst, wie du eigentlich hier aus diesem Wasserloche herauskommst,« begann Flederwisch.
»Wie ich herausgekommen bin, hast du selbst gesehen, und alles andere, mein lieber Flederwisch, brauchst du gar nicht zu wissen,« entgegnete Nobody mit der ihm eigenen Rücksichtslosigkeit, die ihm aber niemand übelnehmen konnte, am wenigsten, wenn man mit ihm befreundet war. »Das werde ich dir später einmal erzählen, wenn ich Zeit dazu habe, und sollte etwas dazwischenkommen, so wirst du dies alles dereinst in meinem Tagebuche lesen können, wenn das erst veröffentlicht wird – natürlich mußt du es dir kaufen, Freiexemplare gibt's nicht, verschenkt wird nischt. Sonst will ich dir nur noch sagen, um deine kindliche Neugier zu befriedigen, daß ich in der Libyschen Wüste einen mit Wasser gefüllten Brunnen untersucht habe, in demselben war ein Deckel, ich hob ihn, da preßte mich der Wasserdruck durch das Loch, und wenn du dich nicht beeilt hättest, darunter wegzukommen, so wäre ich dir gerade auf den Kopf gefallen. So, nun weißt du alles. Und nun wollen wir erst ein bißchen Umschau halten.«
Das Boot hatte in seiner Fahrt, vom letzten Schraubenschlage erzeugt, schon seit längerer Zeit eingehalten, es trieb wieder zurück, aber ganz langsam, die Strömung war nur sehr schwach.
So näherte man sich wieder jenem Loche, aus dem das Wasser noch immer floß, aber jetzt nicht mehr zu vergleichen mit dem ersten Erguß, als der Wasserstrahl die ganze Oeffnung ausgefüllt hatte, als es ein richtiger Sturzbach gewesen war, ein Wasserfall von über einen Meter Durchmesser. Jetzt floß es nicht stärker als etwa, um einen Vergleich herbeizuziehen, eine aufgedrehte Wasserleitung.
Das war also die Menge Wasser, welche oben dem Teufelsbrunnen zufloß, aber aus einem anderen Reservoir. Denn hierdurch wurde es Nobody klar, daß der Teufelsbrunnen wie auch alle anderen Brunnen der Libyschen Wüste gar nichts mit diesem unterirdischen Strome zu tun hatten. Das heißt, dieser hatte wohl die Wassermenge des ursprünglichen Reservoirs, das einmal ausgelaufen war, aufgenommen, aber gespeist konnte er die Brunnen niemals haben.
Es waren Nobodys Augen, welche jetzt Umschau hielten. Alle vier Insassen des Bootes hatten doch das Loch gemustert, dessen Entstehung der Gelehrte erklären wollte, und sie hatten nicht die beiden grünen Drähte bemerkt, welche dort oben herauskamen, über die Decke hin und an einer Wand herabliefen, um dann in dem dunklen Wasser zu verschwinden.
Nobody mußte sie erst darauf aufmerksam machen.
»Nanu!« rief Flederwisch staunend. »Wozu sind denn diese Drähte da?!«
»Das wirst du alles dereinst in meinem Tagebuche lesen, wenn es erst gedruckt ist,« wiederholte Nobody in seiner gemütlichen Weise. »Nun muß ich aber doch noch einmal in meinen Skaphander kriechen.«
Er tat es, seine verbrauchte Luftbombe ward durch eine neue ersetzt; denn zu jedem der beiden Taucherkostüme waren mehrere zur Reserve mitgenommen worden. Er ließ sich in das Wasser hinab, den an der Wand befestigten Drähten folgend.
Schon bei sechs Meter Tiefe hatte er Grund. Die Drähte endeten in einem kleinen, eisernen Kasten – wenn es nicht Aluminium war – der in Kopfhöhe an der Wand angebracht war.
Obgleich der Kasten nicht einem unserer modernen Telephons glich, wie ein solches auch oben an dem Panzerschrank angebracht gewesen, wie Nobody es auch in dem Vulkan nahe dem Nordpol gefunden, so war es doch offenbar ein Telephon, ein elektrischer Sprechapparat, war doch auch ein Trichter und eine Kurbel vorhanden, nur sonst ganz anders konstruiert, eben zum Gebrauch unter Wasser bestimmt.
Ja, jener rätselhafte Mann, wenn er auch zu seiner Zeit in einem ausgetrockneten Brunnen gehaust hatte, mußte sich überhaupt unter Wasser ganz einheimisch fühlen, der hatte wohl noch ganz andere Apparate als nur solch einen Skaphander zu seiner Verfügung.
Sonst entdeckte Nobody nichts weiter. Ja, doch noch etwas. Auf dem schlammfreien Granitboden des Flußbettes zogen sich Riefen hin, ungefähr jenen Wagenspuren ähnelnd, welche die Räder im Laufe der Jahre auch in die härtesten Felsen eingraben. Besonders auf felsigen Gebirgspfaden, wo der Wagen angeschleift werden muß, findet man sie häufig. Die Führer wollen einem dann immer etwas von Kanonen erzählen, die Anno dazumal hier heraufgebracht worden sind, aber das ist Schwindel, hier sind niemals Kanonen, niemals Soldaten gewesen, das sind einfach die von angeschleiften Wagen hinterlassenen Spuren, auch so schon interessant genug.
Solche ähnliche Spuren zeigten sich hier, wenn auch nicht wie von Rädern herrührend, mehr dreikantig eingegraben, und am schärfsten in der Nähe dieses Telephons, das also oben mit dem Brunnen verbunden war.
Wie Nobody noch dastand, empfand er etwas, von dem er sich nicht sogleich eine Rechenschaft abgeben konnte. Eine gewaltige Erschütterung traf ihn, die nur von dem ihn umgebenden Wasser ausgehen konnte. Anders ist es nicht zu beschreiben. Sein ganzer Körper wurde durch Vibrationen erschüttert, nur für einen Augenblick, dann war es wieder vorbei.
Böses ahnend, stieg Nobody sofort empor. Da trieb das Motorboot, und die vier Insassen saßen nicht mehr in demselben, sondern sie lagen am Boden, alle das Gesicht gegen die Planken gepreßt, zwei von ihnen die Hände gegen die Ohren.
Von einer noch fürchterlicheren Ahnung gepackt, schraubte Nobody schnell seinen Helm los, noch ehe er sich in das Boot geschwungen hatte, sich nur daran mit einer Hand festhaltend. Zur augenblicklichen Beruhigung diente es ihm, daß jene wenigstens noch sprechen konnten.
»O Gott, o Gott!« stöhnte Dr. Wolfram.
»Verflucht und zugenäht!« ächzte Flederwisch.
»Nee, so 'ne Gemeenheet!« winselte Jochen Puttfarken.
»Ja ja, ne ne,« stimmte Anok bei.
Der erste, der sich aufrichtete, war Scott, und jetzt ließ auch er sich als letzter vernehmen:
»Das war eine Explosion.«
Nobody hatte es bereits erkannt. Gewiß, auch er hatte den Donnerschlag unter Wasser vernommen, leitet doch das Wasser den Schall noch viel besser fort als die Luft, aber unter Wasser klingt es doch ganz anders, dazu der Taucherhelm – kurz und gut, es war ihm gar nicht zum Bewußtsein gekommen, einen Donnerschlag gehört zu haben, nur die Erschütterung hatte er bemerkt.
Jetzt sah er sofort die Folgen der Explosion hier unten.
In dem betreffenden Loche an der Decke klemmte ein großer Steinblock, das Wasser quoll nur noch zwischen den Fugen hervor, sehr getrübt, ab und zu kleine Felstrümmer mit sich führend.
In dem wieder wasserlos gewordenen Brunnenschachte hatte eine Explosion stattgefunden. Daß Nobody sie nicht veranlaßt hatte, dessen war er sich bewußt. Er hatte eine Erklärung dafür, und sie war ohne Zweifel die richtige. Wenn nicht ein Beduine, so war der unterdessen angekommene, von Assuan geschickte Wasserbauingenieur in den wieder leergewordenen Brunnen gestiegen, die Höllenmaschine hatte funktioniert.
»Vortrefflich,« dachte Nobody zufrieden, »jetzt kann niemand mehr hinter mein Geheimnis kommen; denn wenn jener geniale Mann Vorkehrungen getroffen hat, daß sein Geheimnis kein Unbefugter zu schauen bekommt, dann hat die Explosion alles, auch alles vernichtet; denn dieser Monsieur Sinclaire hat sicher niemals etwas nur halb getan. Wenn dabei Menschen ums Leben gekommen sind, so ist das sehr bedauerlich, aber mein Gewissen spricht mich frei von jeder Schuld.«
Nun war aber Nobody auch jede Möglichkeit abgeschnitten, von hier aus wieder an die Erdoberfläche zu kommen. Dieser Schacht hier war jedenfalls in einer Höhe von fünfzehn Metern mit Felsblöcken und Trümmern angefüllt, und die anderen Löcher an der Decke führten gar nicht nach oben. Wenn man den Blendstrahl hineinschickte, sah man, wie sie sich nach oben zu immer mehr verengten, bis sie ganz aufhörten. Solche vertikale Trichteröffnungen findet man im Granit sehr häufig. Doch wir wollen Dr. Wolframs langatmiger Erklärung, die er dann später hierfür gab, nicht lauschen. Jedenfalls war der aus dem Brunnenschacht führende Tunnel von Menschenhänden gemeißelt worden, wenn auch unter Zuhilfenahme solch eines Trichters, das sah man der Oeffnung bei genauerer Besichtigung überhaupt auch an.
Nur der Luftdruck hatte die vier Männer zu Boden geworfen, eine Verletzung hatte keiner von ihnen davongetragen, auch kein Trommelfell war geplatzt, wie vor allen der elefantenohrige Nasenkönig konstatierte.
Um irgendeine Erklärung für die Explosion zu geben, sagte Nobody nur, er selbst habe in dem mit Wasser gefüllten Brunnen eine Dynamitbombe hinterlassen gehabt, die ja ihren Zweck erfüllt zu haben scheine. Alles andere würde er später einmal erzählen.
»Nun kommt es darauf an, wohin wir uns wenden, rückwärts oder vorwärts, und das hängt von der Ausrüstung des Bootes, vom Proviant ab.«
»Proviant für vierzehn Tage,« versicherte Flederwisch, »du kannst auch noch mitessen, freilich nicht so viel wie vorhin.«
Nobody war mit dieser Versicherung noch nicht zufrieden, er untersuchte den Proviant persönlich und kam zu dem Resultat, daß er sogar für drei Wochen reiche, und dasselbe galt von dem Petroleumvorrat.
»Und hast du etwas hinterlassen, wann du spätestens zurück sein willst?«
»Ja, dem Proviant entsprechend. Sind wir in vierzehn Tagen noch nicht zurück, dann soll man an Bord annehmen, daß uns etwas zugestoßen ist, dann wird das zweite Motorboot ausgeschickt, um uns zu suchen.«
»Wußtet oder ahntet ihr denn schon, daß dieser unterirdische Flußlauf so unendlich lang sein könnte?«
»Ich nicht. Ich gab, wie schon gesagt, diesen Zeitraum nur mit bezug auf den mitgenommenen Proviant an. Wenn der alle ist, und wir sind noch nicht zurück, na, dann haben wir doch auch mindestens nichts mehr zu essen, dann muß uns sowieso Sukkurs geschickt werden. Sonst ahnte ich für mein Teil nichts, wenn nicht ein anderer schon etwas geahnt hat ...«
Bei diesen Worten warf Flederwisch einen Blick auf den Kanadier, und dieser Blick erzählte Nobody sehr viel, vor allen Dingen, daß Scott dem Freunde von seinen somnambulen Eigenschaften mitgeteilt hatte.
Doch Nobody achtete jetzt nicht weiter hierauf.
»Dann also vorwärts!« rief er. »Und zwar wirklich vorwärts, stromaufwärts! Dieser unterirdische Wüstenfluß muß doch eine Quelle haben oder irgendwo von der Erdoberfläche nach unten eintreten, und diesen Ursprung muß ich finden, sogar zehn Tage halten wir es aus, ehe wir umkehren müssen, und wenn die Zurückgebliebenen auch in Sorge sind – mögen sie uns dann mit dem zweiten Motorboot entgegenfahren!«
Die abenteuerliche Fahrt wurde fortgesetzt, und mit Nobodys Dazwischenkunft sollte sie alsbald eine Wendung erhalten, eine Wendung zum Besseren.
In der nächsten Viertelstunde beschrieb der Fluß noch einige scharfe Krümmungen, einmal hatte er sich sogar wieder ostwärts gewandt, also als wollte er zurückgehen, was ja bei jedem Flusse ab und zu vorkommt, dann aber verlief das Flußbett schnurgerade, wie ein künstlicher Kanal oder Tunnel, und zwar, wie der Kompaß zeigte, immer direkt nach Westen, und dabei sollte es bleiben, bis ... bis zum Ende dieser Fahrt, deren Dauer wir noch erfahren werden. Wir dürfen der Erzählung nicht vorgreifen.
Dieses gerade Fahrwasser hatte natürlich einen Vorteil, daß man bedeutend schneller fahren konnte, und unbekümmert um alle natürlichen oder künstlichen Hindernisse, die unter Wasser mit Verderben hätten drohen können, ließ Nobody das Motorboot bis zu acht Knoten in der Sekunde machen.
Also gegen Mitternacht hatte sich Nobody zu ihnen gesellt. Denn nachmittags gegen zwei Uhr war er in den Brunnen gestiegen und hatte fast zehn Stunden darin zugebracht. An Schlaf dachte jetzt niemand, und hier unten gab es ja keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht.
In den nächsten Stunden nun fanden drei verschiedene Unterredungen statt, welche hier wiedergegeben werden müssen. Die erste knüpfte Nobody gleich nach der Wiederaufnahme der Fahrt mit dem Matrosen an, welcher den Namen Anok führte, ein kleiner, untersetzter Kerl mit semmelblondem Haar und blauen Augen, die Züge nicht gerade besondere Intelligenz verratend, dafür aber die sonnenklarste Ehrlichkeit.
Wer etwas von Namen versteht, hat schon gewußt, welcher Nationalität Anok war, wenigstens ungefähr.
»Du bist doch ein Isländer, Anok,« begann Nobody.
»Ja ja, ne ne,« war die unvermeidliche Antwort.
»Na, meinst du nun ja ja, oder meinst du ne ne? Bist du ein Isländer?«
»Ja ja, ne ne, Master, ich bin wirklich ein geborener Isländer, gar nicht weit von Reikholt her, was die größte Fischerstadt ist.«
»Du bist dort nur geboren, aber nicht immer auf Island gewesen.«
»Immer, Master, immer. Ich bin Fischer gewesen bis vor zwei Jahren, als Kapitän Flederwisch einmal nach Reikholt kam und mich für die ›Wetterhexe‹ anmusterte.«
Nobody kannte die Geschichte dieser Anmusterung. Etwas Besonderes mußte ja stets dabei sein, wenn Flederwisch einen neuen Mann für sein Schiff oder für seine Inseln annahm oder ihn nun gar seiner Leibgarde einreihte. Dieser Isländer hatte sich bei Gelegenheit einmal als tüchtiger Kerl vom Scheitel bis zur Sohle bewiesen.
»Hast du da etwas von Snorri Sturluson gehört?« fragte Nobody weiter.
Wie elektrisiert schnellte der Isländer von seinem Sitze auf, nahm aber auch gleich eine beleidigte Miene an.
»Ob ich den Snorri Sturluson kenne?« rief er in gekränktem Tone. »Alles habe ich von ihm gelesen, die Heimskringla, was den ›Weltkreis‹ bedeutet, die Snorra-Edda, die Weltgeschichte, die Snorri geschrieben hat, die Skallda, die Gylfa-Ginning, den Hattalykill, was der Schlüssel zur Weisheit ist – alles habe ich gelesen, alles!«
Auf Island, wo selbst die begüterten Bauern noch in Erdhütten mit Kühen und Schweinen zusammenwohnen, ist eine Volksbildung zu Hause, wovon sich der Uneingeweihte nichts träumen läßt. Dasselbe gilt aber z. B. auch vom nördlichsten Norwegen.
Doch darf man nicht gleich allzuhoch davon denken. Es hängt mit den langen, einsamen Winternächten und auch Wintertagen zusammen, da man durch Eis und Schnee abgeschlossen ist, selbst von seinem nächsten Nachbar. Da wird gelesen. Und zwar immer die alten Volkssagen, die in Büchern, von Gesellschaften verbreitet, von Haus zu Haus wandern. Sehr viel weiter als auf diese Volkssagen und was sonst mit dem Lokalpatriotismus zusammenhängt, geht die Bildung allerdings nicht.
Immerhin, das ist schon genug, aller Achtung wert! Wie viele ältere Leute, und vielleicht auch jüngere, mögen in Frankreich nicht schreiben und lesen können, weil sie keine Schule besucht haben.
In der Wüste gibt es auch keine Schule, doch kann jeder Beduine ohne Ausnahme lesen und schreiben. Der Vater lehrt es dem Sohne, das ist seine heilige Pflicht, und dasselbe gilt von vielen nördlichen Völkerschaften, wie z. B. von den Norwegern und Isländern.
Soll man einen Isländer suchen, der das Heldenepos ›die Edda‹ nicht gelesen hat! Sie können es alle auswendig. Nun soll man einmal konstatieren, wie viele aus dem deutschen Volke unser größtes, nationales Heldenwerk, ›die Nibelungensage‹, noch nicht gelesen, überhaupt noch gar nichts davon gehört haben! Das ist traurig, aber wahr.
»Na na, entschuldige nur,« meinte Nobody. »Wann hat Snorri Sturluson denn gelebt?«
»Das wissen Sie nicht?« fing aber jetzt Anok zu examinieren an.
»Ja ja, ne ne, und diesmal gilt das letztere,« gestand Nobody.
»Der ist im Jahre 1178 auf dem Hofe Hvamm geboren worden.«
»Hhhhvvvamm – soll der Teufel dieses Wort aussprechen. Und wann ist er gestorben?«
»Der ist gar nicht gestorben.«
»Ich weiß schon, er ist ermordet worden. Aber wann war das?«
»Der und ermordet worden!« machte Anok verächtlich. »Snorri Sturluson war gerade der rechte, der sich von jemandem ermorden ließ! Seine beiden Schwiegersöhne, Kolbein und Chisseur, glaubten wohl, daß sie ihn ermordet hätten, aber da hatte Snorri doch nur ihre Augen geblendet, daß sie etwas anderes für ihn hielten. Gegen Snorri Sturluson sind wir doch alle zusammen Hanswürschte.«
So sprach der patriotische Anok stolz und verächtlich. Aber hinterher erschrak er.
»Dadadadas heißt – Sie – Sie sind natürlich ausgenommen, Master – ja ja, ne ne – u-u-u-u-und der Kapitän natürlich auch – – u-u-u-u-und Doktor ...«
»Schon gut, schon gut. Du brauchst mich gar nicht auszunehmen. Ich selbst bin schon zur Erkenntnis gekommen, daß ich gegen Snorri Sturluson nur ein Hanswurscht bin ...«
»Nicht wahr?« frohlockte Anok. »Ja, das ist ein tüchtiger Kerl, ja ja, ne ne.«
»Na, wenn er aber nun nicht ermordet worden ist – auf irgendeine Weise muß er doch tot gegangen sein.«
»Snorri Sturluson? Der ist nicht tot,« erklang es ganz einfach.
»Der wäre gar nicht gestorben?«
»I wo. Der lebt noch. Der lebt noch heute im Hekla. Ja ja, ne ne.«
»In dem noch heute so furchtbar tätigen Vulkan auf Island?«
»Nu sicher. Da lebt er mit seinen Gefährten noch heute drin.«
Mit der allgemeinen Bildung war es bei diesem Isländer also doch nicht so weit her. Man konnte die Sache aber auch noch von einer anderen Seite aus betrachten. Hier handelte es sich eben um eine alte Volkssage. Man denke z. B. nur an unseren Kaiser Rotbart im Kyffhäuser.
»Sehen Sie,« nahm Anok von selbst wieder das Wort, »die Sache ist ganz einfach so. Sie wissen doch, daß Snorri Sturluson einmal zwölf Jahre lang auf Reisen gewesen ist.«
»Ja, das weiß ich, da hat er ja wohl Skandinavien bereist und die alten Runen studiert und Handschriften gesammelt.«
»Nee, das ist eben nicht wahr. Das war im Jahre 1218, da hat Snorri einmal den Hekla erstiegen, er hat hineingucken wollen, und da ist er hineingefallen oder vielleicht mit Absicht, der hat schon etwas vorher gewußt, der ist in den feuerspeienden Hekla geklettert, und da hat er irgend etwas gefunden, und von hier aus hat er nun seine Reisen gemacht, immer unter der Erde, so wie wir jetzt, überallhin ist er gereist, alle Länder hat er besucht, aber egal unter der Erde, auch unterm Meer unten durch, bis nach Amerika und noch weiter ...«
»Hallo, hallo, hallo, Amerika war ja damals noch gar nicht entdeckt!!«
Nicht etwa Nobody war es, sondern Flederwisch, der diesen Zwischenruf machte. Nobody saß ganz still da.
»Entdeckt, entdeckt!« echote Anok verächtlich, der bei Verteidigung seines Nationalhelden allen Respekt vor seinem Kapitän vergaß. »Ist es nicht erwiesen, daß wir Isländer schon weit vor Kolumbus in Amerika gewesen sind und sogar Kolonien dort gegründet hatten? Und hat man im Felsengebirge nicht chinesische Inschriften gefunden, welche beweisen, daß chinesische Seefahrer schon vor tausend Jahren nach Amerika verschlagen worden sind?«
Anok sprach die Wahrheit, und Flederwisch bereute, nicht lieber seinen Mund gehalten zu haben.
»Ja ja, ne ne, so ist es. Und so ist Snorri Sturluson egal in aller Welt herumgereist, aber egal unter der Erde, in Tunneln und unterirdischen Flußläufen, die alle vom Innern des Hekla ausgehen, denn dort ist der Mittelpunkt der Welt – ich will's nicht behaupten, aber so steht's in der Edda, und da steht doch viel Wahres drin. Nach den zwölf Jahren kam nun Snorri wieder heraus, aber weil er da in der Politik so viele eklige Geschichten gehabt hat, man hat ihn ja auch geächtet, trachtete ihm nach dem Leben, da ist er wieder in den Hekla gegangen, dafür sorgend, daß man glaubte, man hätte ihn ermordet. Und da treibt er nun im Hekla sein Wesen. Manchmal trifft er unter der Erde einen anderen Menschen, und wenn das ein heller Kopf ist und er ihm sonst gefällt, den nimmt er mit, und da machen sie nun Erfindungen zusammen – Erfindungen, ich weiß gar nicht, was für welche – so was gibt's heutzutage immer noch nicht, und Snorri hat sie schon vor achthundert Jahren gehabt – aber er verrät sie nicht, denn so heimlich ist der Snorri immer gewesen. Ja ja, der Snorri Sturluson! Ja ja, ne ne!«
An seines Nationalhelden Unsterblichkeit schien Anok gar nicht zu denken. Das mochte ihm als ganz selbstverständlich erscheinen.
Und Nobody saß noch immer ganz still da.
Es war ja nichts weiter als eine lebendig erhaltene Volkssage, die er da zu hören bekam, Snorri Sturluson war der Doktor Faust der Isländer, die einst erobernde Seefahrer gewesen sind, danach hatten sie ihren Doktor Faust umgemodelt, mit dem Hekla in Verbindung gebracht, aber ...
War Nobody nicht Zeuge geworden, daß es Erfindungen gibt, von denen die Welt noch nicht einmal etwas ahnt? Wollte jener Mann, der sich Sinclaire genannt, an sich schon ein geheimnisvolles Rätsel, diese Erfindungen nicht von einem anderen Manne erst geerbt haben? Und hatte auf dem Deckel des Tagebuches nicht der Name Snorri Sturluson gestanden? Und aus dem Brunnenschacht ging es direkt in diesen unterirdischen Fluß, dessen Aus- und Eingang vermauert war, und auch dort oben nahe dem Nordpol hatten elektrische Drähte in einen mit Wasser gefüllten Schacht geführt ...
Nobody hatte viel, viel zu denken!
»Nun, haben Sie unterwegs etwas gefunden?« fragte neben ihm Scott leise.
Nobody erwachte aus seinem Grübeln. Er wußte sofort, was jener meinte, und er erzählte laut, alle konnten es hören, denn er erzählte vorläufig ja nur seinen Wüstenritt von Edfu nach dem Tale der Verwirrung, wo er einen Brunnen untersuchen wollte, eben jenen, der ihn vorhin nach unten ausgespuckt hatte, und wie er nach dem Verluste seines Kamels die menschliche Hand aus dem Sande hatte ragen sehen und dieses Pennal hier mit dieser Zeichnung gefunden hatte.
Das Pergamentpapier ging von Hand zu Hand, Nobody sorgte dafür, daß es auch von den beiden Matrosen besichtigt wurde.
»Das ist ein Situationsplan,« sagte Dr. Wolfram, »auf den Punkt, wo sich die beiden Linien kreuzen, kommt es an.«
»Das ist ganz offenbar. Mit der Kirche und der Fichte werden wir auch schnell fertig. Aber was bedeutet die Frau, was der Stiefel mit der Strippe?«
Darauf, daß dort einmal eine Frau gestanden, ihr gegenüber ein alter Stiefel gelegen, von dessen Strippe aus man die Verbindungslinie gezogen hatte, auf diese Vermutung kam niemand.
»Das ist ein Berg oder ein Felsen, der entweder wie eine Frau aussieht oder doch solch einen Namen führt, und dasselbe gilt von dem Stiefel. Von diesem aber, wenn es ein Felsgebilde ist, kann man mit Sicherheit annehmen, daß er eine deutlich erkennbare Strippe hat, und daraus wiederum läßt sich schließen, daß der Felsen wirklich wie ein Stiefel aussieht.«
So lautete das allgemeine Urteil, nacheinander abgegeben. Nobody, der sehr gern in gewissen Fällen das Urteil von ganz einfachen Leuten hörte, hatte sogar die beiden Matrosen zuerst sprechen lassen, beide hatten dies gesagt, nur mit weniger gewählten Worten.
Flederwisch und Dr. Wolfram hatten dem nur noch beistimmen können.
»Kennt jemand von euch eine Gegend, auf welche dieser Situationsplan paßte? Es wäre ja ein sehr großer Zufall; denn wo auf der Erde kann denn das sein, aber immerhin, der Zufall ist möglich.«
Kirche, Fichte, Stiefel, Frau oder Weib oder Jungfrau oder so etwas Aehnliches? Nein, unbekannt.
»Sie, Edward?« wandte sich Nobody an den Kanadier, und ein besonderer Augenaufschlag sagte noch mehr.
»Nicht jetzt, aber wenn es so weit ist, wenn es im Buche des Schicksals verzeichnet ist, daß Sie es erfahren dürfen und sollen und müssen – dann kann ich es Ihnen sagen, nicht eher,« entgegnete Scott bedeutungsvoll, dunkel für die anderen, selbst für Flederwisch, völlig verständlich aber für Nobody.
»Trotzdem werde ich aus eigner Kraft tun, was ich kann. Es ist selbstverständlich, daß Sie alle Stillschweigen hierüber beobachten, und dennoch wollen wir unter der Hand Erkundigungen einziehen, wo in der Welt sich diese vier Bilder zusammenreimen. Auch ihr beide könnt dabei behilflich sein, Jochen und Anok. Daß ihr nicht überall mit der Tür ins Haus fallt, weiß ich von euch. Wegen der Kirche kann wohl nur eine zivilisierte Gegend in Betracht kommen, in der das Christentum herrscht, und auch nur eine nördliche, wo Fichten wachsen, die im heißen Süden nicht gedeihen.«
Wir werden aber später sehen, daß sich auch Nobody manchmal sehr irren konnte. Hier lag etwas ganz anderes vor, was er freilich jetzt nicht ahnen konnte.
Ehe Nobody das Pergament einsteckte, machte der Nasenkönig noch eine Bemerkung, die seinem Verstande sehr zu Ehren gereichte.
»Aber vergraben liegt da nichts.«
»Weshalb denn nicht?«
»Nehmen Sie doch nur an – so ganz dicht werden die vier angegebenen Punkte doch nicht zusammenliegen – und dann kann man doch auch nur so visieren, die Linien durch die Luft ziehen – und wenn man sich da nur um eine Idee irrt – Herr du meine Güte, wo soll man denn da überall paddeln, wenn da etwa eine Kriegskasse vergraben ist, da kann man doch gleich ein ganzes Feld umackern, und die Kriegskasse liegt – nun vielleicht gerade daneben.«
»Ja ja, ne ne, so ist es,« stimmte Anok seinem Kollegen bei.
Jetzt begriffen auch gleich die beiden anderen, daß Jochen Puttfarken ganz recht hatte. Nein, vergraben konnte dort nichts sein. Hier handelte es sich um etwas anderes. Aber allein wären sie nicht sogleich darauf gekommen.
Nobody hatte dies selbst schon in Erwähnung gezogen, und er wiederum konnte Puttfarken nicht so ohne weiteres recht geben. Er wußte doch etwas, zu dessen Vergraben man ein ganzes Feld und noch mehr Land braucht. Aber er sprach jetzt nicht darüber.
Dann erzählte er weiter, wie er an den Teufelsbrunnen gekommen war, den er untersuchen wollte, ohne vorläufig einen Grund hierfür anzugeben, schilderte, wie die Beduinen die neue Wasserfülle einer ›delherrah Fatme‹ zuschrieben, einer Fee aus dem Paradiese, offenbar einer Wahnsinnigen, die aber außer Arabisch noch eine andere Sprache sprechen mußte.
»Ich war begierig, das Weib zu sehen. Wie ich nun mit dem Scheich im Zelte sitze, fängt draußen plötzlich eine Mädchenstimme zu singen an: Ein Vöglein singt im Fliederstrauch ...«
Nobody hatte es wirklich gesungen, auf deutsch, seine schmiegsame Stimme etwas hoch schraubend und dabei leicht tremulierend.
Hätte er auch weitersingen wollen, er hätte es nicht getan, wäre sofort verstummt, um sich mit Scott zu beschäftigen.
Denn bleich wie der Tod war dieser zurückgefahren.
»Was – was – hat sie – gesungen?« stammelte er mühsam hervor.
Noch ehe Nobody eine Antwort geben konnte, ließ jener noch ein ›Ach!‹ hören und machte eine Handbewegung, als sei die Sache hiermit erledigt.
Jetzt war Nobody aber nun einmal stutzig gemacht worden.
»Es war offenbar eine Deutsche.«
»So? Haben Sie sie gesehen?«
»Gewiß! Hier ist ihr Konterfei.«
Nobody zog die Skizze hervor; nur einen Blick daraufgeworfen, und Scott schlug die Hände vor die Augen und sank schwer in das Boot zurück.
»Agathe!«
Solche Situationen sind schwer zu beschreiben. Man schreibt einfach das Wort ›Agathe‹ hin und macht dahinter ein Ausrufungszeichen.
Nobody ließ das Motorboot stoppen.
Eine Totenstille herrschte über dem dunklen Wasser unter der Erde.
Der ächzende Laut kam aus Nobodys Brust, und dann fand er auch Worte.
»O, Edward, Edward, warum bist du nicht mit mir gegangen?«
Der junge Mann benahm sich gefaßter als man erwartet hätte. Als er die Hände abnahm, zeigte er wieder ein ganz ruhiges Gesicht.
»Weil es nicht bestimmt war, daß ich Agathe wiederfinden sollte,« sagte er ebenso ruhig.
Da aber war es Nobody, welcher wild auffuhr.
»Und ich glaube nicht an diesen verdammten Fatalismus, ich glaube nicht daran, daß des Menschen Schicksal unwiderruflich bestimmt ist, daß er sich nicht dagegen auflehnen kann!!!«
»Aber ich glaube daran.«
»Magst du! Ich nicht! Der direkte Weg nach oben ist uns versperrt – also zurück!!«
Und schon drehte Nobody das Steuer, um das Boot zu wenden, da legte sich eine andere Hand auf den Steuerhebel, mit Riesenkraft wurde er festgehalten.
»Narr!!« zischte es in Nobodys Ohr. »Was mischest du dich in mein Schicksal ein? Weißt du denn, ob ich jenes Weib überhaupt wiedersehen will?! Ob ich nicht vielleicht Gott danke, daß ich nicht mit dir gegangen bin, weil ich ihr sonst begegnet wäre?!«
Da ließ Nobody das Steuer los, er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn – – und die Fahrt stromaufwärts ward fortgesetzt.
Granit, nichts als Granit, und westlich, westlich, immer westlich!
»Jetzt sind wir unbedingt schon unter dem Niltal hinweggefahren, jetzt geht es schon in die Wüste Sahara hinein,« sagte Nobody zwölf Stunden später.
»Es ist doch haaahnebüchen,« meinte Flederwisch langgedehnt.
»Mir bleibt der Verstand stehen,« fügte der geologische Gelehrte hinzu.
»Ich kann schon gar nicht mehr mit den Ohren wackeln,« mußte sich nun auch Jochen Puttfarken vernehmen lassen, und dann durfte auch sein Kollege nicht schweigen.
»Ja ja, ne ne, so was kommt nicht alle Tage vor.«
Es war gar nicht so hahnebüchen, und dem Doktor als Geologen sollte der Verstand eigentlich nicht stillstehen bleiben.
Daß die Sahara mit unterirdischen Wasserläufen durchzogen ist, das haben die Beduinen schon seit uralterszeiten her gewußt. Man hat es so lange nicht geglaubt, bis die Franzosen jetzt endlich in Algier anfangen, artesische Brunnen zu bohren. Tief müssen sie allerdings bohren, aber Wasser kommt überall hervor. Und wenn die Wüste dadurch auch nicht gleich fruchtbar gemacht werden kann, weil sich das Wasser gleich wieder im sterilen Sande verläuft, so ist doch eben wenigstens Trinkwasser vorhanden.
Die Männer aßen, sie tranken und schliefen abwechselnd. Sonst konnten sie sich gegenseitig oder die Granitwände ansehen. Diese zeigten jetzt auch keine Risse und Löcher mehr.
Am dritten Tage, nach der Abfahrt vom Eingänge aus, nachmittags in der zweiten Stunde, streckte Anok seinen Arm aus und sagte:
»Ja ja, ne ne, da schwimmt enne Mitze.«
Sie wurde aufgefischt. Es war zwar keine ›Mitze‹, wohl aber ein Turban aus weißer Baumwolle, die letzte Windung mit einer kupfernen Nadel zusammengesteckt. Sonst nichts weiter.
»Eine Kupfernadel? Das sieht schon ganz saharanisch aus. Solche Kupfernadeln bekommen die Beduinen und Oasenbewohner von den Stämmen Innerafrikas, die als einziges Metall Kupfer verarbeiten.«
Ein Schluß, wie lange der Turban schon im Wasser gelegen hatte, war nicht zu ziehen. Obgleich voll Wasser gesaugt, schwamm das sehr poröse Gewebe noch.
Am Abend desselben Tages, gegen sieben Uhr, wurde Nobody aus dem Schlafe geweckt. Schon allen Gesichtern sah er an, daß etwas Außergewöhnliches passiert sein mußte, und er selbst sah auch noch die ziemlich hochgehende Welle, welche dort hinten stromabwärts rollte und auf deren Nachläufern das Motorboot jetzt tüchtig schaukelte.
Ein Phänomen, für welches auch Dr. Wolfram mit all seiner Weisheit keine Erklärung fand.
Im Scheine der Blendlaterne war die meterhohe Woge angerollt gekommen, war unter dem Boot hinweggegangen – dort hinten verschwand sie, um nicht wiederzukommen, sich nicht zu wiederholen. Das Wasser beruhigte sich wieder, und vorbei war alles.
»Das war am Ende gar so ein unterirdischer Walfisch oder so ein ähnliches Ungeheuer,« meinte Jochen Puttfarken.
Vielleicht hatte er recht. Wenigstens widersprach ihm niemand.
Am Tage darauf kam etwas anderes getrieben, nichts so Harmloses wie ein Turban oder eine ›Mitze‹ – ein menschlicher Leichnam!
Auch er wurde aufgefischt, sogar ins Boot gezogen, um ihn näher zu untersuchen. Es war ein Mann, ein Neger, völlig unbekleidet, ohne jede Verletzung, wahrscheinlich ertrunken.
Er zeigte verschiedene Tätowierungen, aber keiner der fünf Bootsinsassen war in der Völkerkunde Afrikas so bewandert, um sagen zu können, welchem großen Stamme der Mann angehöre. Das ist auch eine gar schwierige Sache.
Lange konnte die Leiche noch nicht im Wasser gelegen haben, sie zeigte kaum den ersten Grad der Verwesung, und diese Erkenntnis war schließlich die Hauptsache. Dann konnte der Mann also doch auch noch nicht vor langer Zett von der Erdoberfläche verschwunden sein, also mußte man sich nahe der Stelle befinden, wo dieser Fluß unter die Erde trat.
»Vorwärts, diese Stelle müssen wir noch erreichen!« rief Nobody.
Gleich darauf aber wurde er tiefsinnig, und Dr. Wolfram sprach die Gedanken aus, die ihn plötzlich tiefsinnig gemacht hatten.
»Was soll denn das für ein Fluß sein, schon mehr Strom, so breit und tief wie dieser hier, der in der Wüste Sahara unter die Erde tritt?«
Nobody blickte auf, er hatte eine Erklärung gefunden.
»Der Neger ist in einen Schacht gestürzt, welcher von der Erdoberfläche hier hinabführt.«
»Sollte es solch einen Schacht in der Sandwüste geben?« meinte Wolfram, der immer etwas Spöttisches an sich hatte.
»Zum Teufel, irgendwoher muß der Kerl doch gekommen sein, und das will ich ergründen!« rief Nobody ungeduldig und gab Volldampf.
Die Leiche war wieder über Bord geworfen worden.
Und weiter ging es westwärts, immer westwärts, direkt in die Sahara hinein!
»Wie lange dauert es denn noch, bis wir auf der anderen Seite von Afrika wieder herauskommen?« fragte Puttfarken einmal.
»Wenn es immer so schnurgerade weiterginge, noch elf Tage, denn wir machen innerhalb vierundzwanzig Stunden zweihundert Seemeilen. Achthundert Meilen haben wir schon hinter uns, sind schon zum dritten Teil drin in Afrika. Doch sollte es denn nur wirklich solch einen unterirdischen Kanal geben, mit Süßwasser gefüllt, der quer durch Afrika läuft? Nein, ich kann es nicht fassen!«
Am anderen Tage, am fünften der unterirdischen Fahrt, änderte sich das Aussehen der Granitdecke. Es zeigten sich Risse, Spalten und ganze Löcher.
»Die sind vom Wasser ausgewaschen,« erklärte Dr. Wolfram, nachdem er solch ein Loch genügend beäugt hatte.
»Doktor,« meinte Flederwisch, »Sie haben offenbar Ihre unglücklichen Tage, oder Sie passen nicht unter die Erde. Bei dem einen Loche erklären Sie, daß da niemals ein Tropfen Wasser herausgekommen ist und niemals einer herauskommen wird, und in demselben Augenblick, da Sie das sagen, kriegen Sie aus demselben Loche gleich eine ganze Dusche über den Kopf, und hier nun sagen Sie wieder, diese Löcher könnten nur von Wasser ausgewaschen sein. Woher soll denn in der Wüste Sahara das Regenwasser kommen?«
Der Schiffsarzt zuckte die Schultern und blieb bei seiner Behauptung, sprach etwas von angesammeltem Tau und warf mit Millionen von Jahren um sich.
Das war am frühen Morgen gewesen. Gegen Mittag begann es zu regnen. Nämlich von der Decke. Erst tröpfelte es, dann begann es aus den Rissen und Spalten und Löchern zu gießen.
»Ich denke, in der Wüste Sahara regnet's überhaupt niemals?« meinte Jochen.
»Ja ja, ne ne.«
Die anderen drei Männer, die gebildeten, sagten überhaupt nichts. Sie erwähnten dieses Rätsel lieber mit keinem Worte.
Das Regnen hörte bald wieder auf. Aber geregnet an der Erdoberfläche mußte es doch haben, mitten drin in der Sahara, und ... es war einfach unfaßlich.
Wieder hatte Anok die Petroleumlampe zu bedienen, und daher auch das Amt, scharf vorauszuspähen, auf alles, was er sah, rechtzeitig aufmerksam zu machen, und auf die blauen Augen dieses Isländers konnte man sich verlassen.
»Ja ja, ne ne, da hängt enn Emmer!!« erscholl sein Ruf.
Nobody stoppte ab und brachte das Boot durch Rückwärtsdrehen der Schraube zum augenblicklichen Stillstand.
Tatsache! Dicht vor dem Boote hing an einem Seile ein ›Emmer‹, ein Eimer aus Leder. Er hing nicht still, sondern er ward aus einem Loche durch die Decke herabgelassen. Nobody konnte gerade hineinblicken und sah darin zwei ziemlich große Steine liegen, dazu berechnet, den ungefüllten Eimer in das Wasser hinabzudrücken, und so geschah es denn auch.
Es läßt sich begreifen, daß sich der unterirdischen Schiffer keine geringe Erregung bemächtigte. Ueber ihnen befanden sich Menschen, welche durch einen Schacht aus diesem Flusse Wasser schöpften!
»Sollen wir den Eimer festhalten? Sollen wir eine Mitteilung mit nach oben gehen lassen?« erklang es flüsternd.
Nobodys Handbewegung hielt vor jedem Eingreifen zurück. Der gefüllte Eimer ging wieder hoch, Nobody betrachtete ihn aufs aufmerksamste.
»Roh gegerbtes Antilopenleder, das Seil ist von Bast,« lautete sein Urteil, und dann war der Eimer in dem Schachte verschwunden.
Das Boot wurde direkt darunter gelenkt, jetzt konnte man ihn wieder sehen, wie er in dem von oben erleuchteten, schnurgeraden Schachte, der etwa drei Viertelmeter im Durchmesser hatte, hin und her schwankte. Nobody beobachtete ihn mit der Uhr in der Hand.
Endlich hatte der Eimer das obere Ende des Schachtes erreicht, wie ein offenes Rohr lag dieser vor dem Auge des Beschauers, und obgleich es heller Mittag war, konnte man am blauen Himmel mehrere Sterne deutlich erblicken. Es ist dies eine Merkwürdigkeit, welche jeder Fabrikschornsteinmaurer kennt. Durch solch einen langen Schornstein kann man von unten aus auch am hellen Tage die Sterne sehen, welche vor der Oeffnung stehen. Es hängt dies mit einem physikalischen Gesetze der Optik zusammen.
Wie hoch der Schacht war, das von hier unten aus zu bestimmen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Da konnte man sich gleich um hundert Meter irren.
»Ich schätze die Schnelligkeit des Emporgehens auf einen Viertelmeter in der Sekunde,« sagte Nobody. »Vier Minuten zweiunddreißig Sekunden befand er sich im Schacht, das habe ich genau konstatiert. Angenommen, die Schnelligkeit bliebe dieselbe, so wäre der Schacht ungefähr siebzig Meter lang.«
»Ach wo, das sind doch wenigstens zweihundert Meter!« meinte Flederwisch.
»Irrtum, optische Täuschung. Meine Berechnung kommt der Wahrheit näher. Und die dort oben würden es wohl bleiben lassen, einen mit Wasser gefüllten Eimer an einem zweihundert Meter langen Bastseile von dieser Stärke so weit heraufzuziehen. Da gehörten ganz besondere Maschinerien dazu.«
Was war das nun dort oben für eine Stelle? Man konnte nur an eine Oase denken, oder eigentlich nur an eine Brunnenstation, wo das Wasser eben mittels eines Eimers auf langwierige Weise aus der Tiefe geschöpft wurde. Eine Vegetation gab es dort oben jedenfalls nicht.
Nobody bedauerte, im Boote keine Landkarte von Afrika mit Höhenangaben des Terrains zu haben. Keiner hatte auch nur die geringste Ahnung, welche Niveauunterschiede die Wüste Sahara zeigt. War die tiefste Stelle einen oder hundert oder fünfhundert Meter über dem Meere, ohne dabei an Gebirge zu denken? Wer kümmert sich um so etwas, wenn er nicht gerade ein Geograph ist, der sich speziell mit Nordafrika beschäftigt?
Der Eimer kam nicht wieder.
»Wir müssen uns die Stelle merken, dann weiter.«
Sich diese Stelle zu merken, daß man sie wiederfand, war nicht allzu schwer, zumal nicht für Nobody. Er betrachtete aufmerksam die Risse an der Decke, dann ging es weiter.
Uebrigens war es ja auch die erste Oeffnung gewesen, durch welche man den Himmel gesehen hatte. Doch man konnte solch ein Loch schon passiert haben, ohne darauf geachtet zu haben. Jetzt schenkte man der Decke doppelte Aufmerksamkeit, fuhr manchmal im Zickzack, um in jedes Loch zu blicken, doch kam solch ein Lichtschacht nicht wieder – bis nachmittags gegen fünf.
»Ja ja, ne ne, hier hängt enne Letter!«
Richtig, eine Leiter, welche aus einem Loche herabhing und bis ins Wasser ging, halb fest, halb schlaff wie eine Strickleiter, nämlich aus starkem Kupferdraht. Die Sprossen waren stark nach unten gebogen, ein Zeichen, daß sie benutzt wurde. Auch durch diesen Schacht konnte man blicken, allerdings war die Beleuchtung schon schwach, aber doch konnte man noch erkennen, daß die Leiter bis oben hinaufführte.
Es war ein großer Moment, unvergeßlich in dem Leben dieser fünf Männer, wie sie so schweigend an der Leiter hinaufblickten. Was war dort oben?
»Na, dann mal los,« brach Nobody das Schweigen. »Alle kommen mit, wir wollen uns in diesem Falle nicht trennen, ich mag auch niemanden hier unten allein beim Boot lassen.«
»Wird uns die Leiter alle zusammen tragen?«
»Sicher. Sie hängt nicht frei, sie ist, wie ich bemerke, etwa aller fünf Meter mit Eisen in der Granitwand befestigt. Jede Abteilung trägt für sich. Wir können uns ja auch einmal alle zusammen daranhängen.«
Sie taten es. Schon das frei herabhängende Ende trug alle sechs Männer zusammen, es war gar kein Nachgeben des Kupferdrahtes zu bemerken.
Nobody bestimmte die Ausrüstung. Jeder hatte bei der Abfahrt ein Repetiergewehr und einen Revolver mitgenommen. Da Nobody seine Waffen bei den Beduinen zurückgelassen hatte, wurden ihm zwei Revolver abgegeben. In der Erwägung, daß man oben Eingeborene finden würde, deren Freundschaft zu gewinnen war, wurden die Tabaksbeutel vollgestopft.
»Wo ist der Sextant und die Logarithmentafel?«
»Ich habe keinen Sextanten mitgenommen,« entgegnete Flederwisch kleinlaut.
»Was, du bist abgefahren, ohne dafür gesorgt zu haben, eine Ortsbestimmung machen zu können?!« fragte Nobody vorwurfsvoll.
»Der erste Steuermann hatte den Sextanten von diesem Motorboot gerade benutzt, die Abfahrt ging auch so schnell, und es ging doch in einen unterirdischen Tunnel, wo keine Gestirne zu sehen sind ...«
»Na, egal,« unterbrach Nobody leichthin diese Entschuldigungen, »wir werden das ›Wo bin‹ oben schon erfahren. Ich steige voran, dann du, dann Anok, dann Mr. Scott, dann der Doktor, den Schluß bildet Jochen. Einer hinter dem anderen in drei Meter Abstand. Vorwärts!«
Aus dem an der Leiter angebundenen Boote ging die Karawane in die Höhe. Diesen Schacht schätzte Nobody ebenso wie den vorigen auf rund 70 Meter, und es zeigte sich, daß er recht gehabt.
Der Aufstieg war sehr bequem. Dieser Schacht, von der Natur geschaffen, doch offenbar nachgemeißelt, hatte im Durchmesser drei Viertelmeter; zum Ausruhen hätte man sich gegen die Wand lehnen können, nirgends war die Leiter defekt. Aber Nobody glaubte konstatieren zu dürfen, daß sie schon seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden war.
Nur der Doktor keuchte. Der gutmütige Nasenkönig nahm es mit der vorgeschriebenen Entfernung nicht so genau, er stemmte seinen dicken Schädel gegen das Hinterteil des Gelehrten und half so nach.
In fünf Minuten hatte Nobody das Ende des Schachtes erreicht. Hier oben war er mit Quadersteinen ausgesetzt, die einen Rand bildeten.
»Alle Wetter, hier sieht es ja nett aus!« flüsterte er, als er nur den Kopf oben herausgesteckt hatte.
In dieser Stellung verharrte er. Die Kletterkarawane stockte. Flederwisch hatte die erste Bemerkung gehört.
»Was gibt es?«
»Eine schöne Aussicht!«
»Was siehst du?«
»Köpfe, nichts als Köpfe.«
»Menschen?«
»Ja, Menschen genug, aber gewesene – Totenschädel und Knochen.«
Trotz dieser wenig angenehmen Entdeckung kletterte Nobody hinaus und winkte, daß ihm die anderen folgen sollten.
Es herrschte Dämmerung, welche in der heißen Zone nie lange währt. Gleich mußte die Nacht anbrechen. Noch aber war alles zu erkennen.
Ja, hier oben sah es nett aus! Zuerst wagte keiner zu sprechen.
Die ganze Umgegend sah aus wie etwa ein Hopfenfeld, auf dem nur noch die Stangen stehen, und auf jeder Stange grinste ein Totenschädel. Ebenso war der Boden über und über mit menschlichen Knochen bedeckt, daß man nur hier und da seine sandige Beschaffenheit erkennen konnte.
Die Stangen standen nicht allzu nahe zusammen, aber ihre Masse hinderte die Aussicht. Doch trat man auf die Umfassungsmauer des Brunnens, so konnte man über sie hinwegschauen, und da sah man, daß dieses Totenfeld etwa einen Quadratkilometer einnahm, in der Mitte befand sich dieser Brunnen. Darüber hinaus gewahrte man Vegetation, eine sehr üppige, auch viel hohe Bäume, und noch weiter nach allen Seiten wurde die Szenerie von Bergen abgeschlossen, die sich ohne Uebergang eines Hügellandes jäh aus dem ebenen Boden erhoben, von jener quadratischen, tafelähnlichen Struktur, wie man sie bei deutschen Gebirgen, am ausgeprägtesten in der Sächsischen Schweiz findet, nur daß die Tafelberge hier viel mächtigere Dimensionen hatten.
Vor allen Dingen natürlich wurde das Auge von diesen Totenschädeln und Knochen gebannt, weiter sah man zunächst nichts. Nur Nobody war schon einmal auf den Brunnenrand gestiegen.
»Sapperlot, wir sind zwischen Menschenfresser geraten!«
»Das ist nicht unbedingt notwendig, es können auch Siegestrophäen sein, erschlagene Feinde, es kann auch eine ehrliche Begräbnisstelle sein.«
»Ja, aber wo befinden wir uns?«
»In einer großen Oase der Wüste Sahara. Ringsumher ist alles grün.«
»Eine große Oase in der Sahara, wo mit menschlichen Knochen solch ein Kultus getrieben wird?« meinte Doktor Wolfram. »Davon ist mir nichts bekannt.«
»In der Sahara mag es genug ungeheure Gebiete geben, die noch kein Fuß eines Europäers betreten hat.«
»Aber dieses Gebirge, das könnte sich doch nicht der Beachtung entziehen.«
»Leicht genug. Besehen Sie sich nur die genaueste Spezialkarte, die wir bisher von Nordafrika besitzen.«
Zweifelt auch der geneigte Leser daran, daß es in der Sahara solch ein Gebirge geben kann, von dem man noch gar nichts weiß, so nehme auch er einmal die Landkarte zur Hand – und den Zirkel!
In der Gegend der Libyschen Wüste, in der sich Nobody zu befinden glaubte, sehen wir zum Beispiel die Oasen Tibesti und Bilma liegen. Wie groß ist die scheinbar so kleine Entfernung zwischen beiden? Allein schon sechshundert Meilen! Und ringsumher in einem Umkreis von einigen tausend Meilen ist auf der Karte einfach gar nichts angegeben!
Da darf man wohl glauben, daß es in der Sahara noch ganze Gebirge geben kann, von denen absolut gar nichts bekannt ist. Eine Karawane verfolgt genau denselben Weg wie die andere, und was links und rechts davon liegt, entzieht sich der Kenntnis. Und jeder Forschungsreisende kann doch auch immer nur die Wüste durchqueren und nicht weiter sehen, als sein Auge reicht, und ist die Straße so groß, daß das Kamel nicht einmal seinen eigenen Wasserbedarf mitschleppen kann, dann hört das Durchqueren überhaupt auf.
Dies sagte jetzt auch Nobody zu seinen Gefährten, und alle stimmten ihm bei. Dr. Wolfram äußerte sich noch ausführlicher darüber, wie wenig wir bisher von der Wüste Sahara wissen, besonders von diesem östlichen Teil.
Die Nacht brach an, nur die Sterne verbreiteten ein unsicheres Zwielicht. Schon vorhin war nichts Lebendiges zu sehen gewesen, auch die Stille der Nacht wurde durch keinen Laut unterbrochen. Selbst kein Feuer war zu sehen.
Wie sehr bedauerte jetzt Nobody, die Instrumente nicht zu haben, mit denen er nach den Sternbildern die Lage dieses Ortes hätte bestimmen können! Aber mit wiederholten Vorwürfen gab sich Nobody nicht ab.
»In einer bewohnten Gegend befinden wir uns trotzdem,« sagte er, »dieser Ort hier ist offenbar ein geheiligter, darf wahrscheinlich nur zu gewissen Zeiten von Menschen betreten werden.«
»Dort – dort – ein Feuer!« flüsterte Flederwisch mit ausgestreckter Hand.
Er hatte es zuerst gesehen, das zwischen den Stangen flackernde Lichtchen. Es konnte soeben erst angezündet worden sein, sonst hätte man es schon eher erblickt. Es konnte sich nur außerhalb des Pfahlkreises befinden, aber in dessen dichter Nähe.
Nobodys Entschluß war schnell gefaßt.
»Ich werde dieses Feuer untersuchen. Ihr wartet hier auf mich. Wie lange ihr wartet, falls mir etwas Menschliches zustoßen sollte, bleibt eurer Beratung überlassen.«
Aufrechten Ganges schritt er zwischen den Stangen hindurch, die ihn mit ihren Totenschädeln nur wenig überragten. Schon sein dunkles Kostüm schützte ihn davor, so leicht gesehen zu werden. Erst nahe dem Rande des Totenfeldes, als er an einem Feuerchen, das schon im Gebüsch brannte, zwei Gestalten unterscheiden konnte, warf er sich zu Boden und näherte sich in schlangenähnlichen Bewegungen seinem Ziele.
Das Totenfeld um den Brunnen herum schien künstlich in eine kleine Sandwüste verwandelt worden zu sein und als solche erhalten zu werden, denn gleich hinter den letzten Pfählen prangte die Gegend in üppigster Vegetation. Doch solche scharfe Grenzen kommen in der Natur auch oft genug vor, man findet sie schon sehr häufig in Aegypten. Ringsumher das fruchtbarste Land, in der Mitte eine kleine Sandfläche, die jeder Urbarmachung spottet.
Mit Leichtigkeit schlängelte sich Nobody durch das Laubwerk bis dicht heran an das Feuer. Kein Zweig hatte geknackt, kein trockenes Blatt raschelte unter seinem Leibe. Dieser Detektiv konnte sich in einen wesenlosen Schatten verwandeln.
An dem von trockenen Zweigen genährten Feuerchen kauerten zwei Männer. Der eine war ein bis auf den Schurz nackter Neger, der andere, schon älter, hatte ein gelbbraunes, arabisches Gesicht und war in einen dunkelbraunen Kaftan gehüllt. In seinem Gürtel steckte als einzige Waffe ein krummer Dolch, dessen Scheide reich mit Goldverzierungen ausgelegt war.
Die beiden sprachen eifrig zusammen unter lebhaften Gestikulationen. Es war eine für Nobody unbekannte Sprache, ihm gänzlich fremd, hatte mit dem Arabischen nicht die geringste Aehnlichkeit.
Jede Sprache hat ihren besonderen Klanglaut, ihre Eigentümlichkeit. Man mag kein Wort eines Sängers verstehen – man hört doch heraus, in welcher Sprache er singt. Man kann auch jede Sprache charakterisieren. zzziyyy Kolotti bumbano frikantessazzz/iyyy – – das ist nicht etwa Italienisch, das ist gar nichts, aber es klingt wie Italienisch. Und wenn man dreimal ausspuckt und einmal niest, das ist Polnisch.
Bei dieser Sprache hier herrschte neben dem a das s und ein schnarrendes r vor. Es klang immer wie: sarrsarra sarrss sarrarra.
Ein Weile hörte Nobody diesem Zischen und Schnarren zu.
Jetzt schien sich das Gespräch um den kostbaren Dolch zu drehen, der Neger deutete darauf, der Araber nahm ihn aus dem Gürtel.
Mit einem Male horchte Nobody doch auf. Hatte er denn wirklich recht gehört? Wurde da nicht sein ... jawohl, da abermals!
»Sarrassa sarrasa Nobody sarrsarrassa ...«
An Gehörshalluzinationen litt Nobody nicht. Sein Name wurde hier ganz deutlich ausgesprochen. Oder konnte das Wort ›Nobody‹ in dieser Sprache irgend etwas bedeuten? Sicher nicht. Es war in dieser zischenden Sprache ein Fremdwort. Nein, hier wurde das Wort ›Nobody‹ als Name gebraucht, und zwar immer wieder, das ganze Gespräch drehte sich um Nobody, der wertvolle Dolch schien ein Kaufpreis zu sein.
Himmel, hier in der unbekannten Oase, fast im Zentrum der Wüste Sahara, hier hörte Nobody seinen Namen nennen, hier sprach man von ihm!
Er konnte stolz sein. Vor allen Dingen aber war er jetzt wißbegierig, um nicht gleich zu sagen neugierig. Was die beiden sich von ihm zu erzählen hatten, das mußte er wissen.
Jetzt, im Eifer des Gesprächs, fingen die beiden einmal Arabisch an.
»Allah will es.«
»Und ich sage: Nobody ist gar kein Mensch, sondern ein unsichtbares Wesen, welches die Anglisi anbeten. Er ist überall und nirgends.«
Daraufhin begannen sie wieder zu schnarren und zu zischen.
Nobody hatte genug gehört. Sie sprachen Arabisch und wirklich von ihm.
»Salam aaleikum. Wenn ihr von Nobody sprecht ...«
Die dunkle Gestalt sehen, aufspringen und mit einem gellenden Schrei ins Gebüsch stürzen, das war für die beiden ein Werk des Augenblicks.
Nobody hatte diese Flucht nicht erwartet, hatte er sich doch mit höflichem, friedlichem Gruße genähert. Nun aber dachte er auch an keine Verfolgung, die zudem in dem finsteren Walde sehr schwierig gewesen wäre.
Der Araber hatte seinen Dolch aus der Hand fallen lassen. Nobody hob ihn auf, betrachtete ihn und steckte ihn zu sich. Dann blickte er noch einmal um sich, betrachtete prüfend die Blüten eines Busches, hob ein Baumblatt auf, dann trat er das Feuer aus und machte sich auf den Rückweg. In zehn Minuten war er wieder bei seinen Gefährten.
»Wir sind in einer noch unentdeckten Oase der Wüste Sahara, in der aber der Detektiv Nobody bereits einen berühmten Namen hat.«
So begann Nobody scherzhaft, und dann erzählte er sachlich.
»Unglaublich!« sagte Flederwisch.
»Laß dein Unglaublich. Denkst du etwa, ich erzähle Märchen?«
»Ja, da weiß man aber nicht mehr, was man dazu sagen soll.«
»Wir werden das Rätsel schon noch lösen.«
»Konntest du nicht wenigstens einen der beiden festhalten?«
»Schwerlich. Diese erschrockene Flucht hatte ich nicht erwartet, außerdem wollte ich mich durchaus friedlich verhalten, und ich hätte ihn doch nur mit Gewalt festhalten können. Schadet nichts, entgehen können sie uns doch nicht. Morgen werde ich ihre Spur verfolgen. Kennen Sie den Baum, Herr Doktor, zu dem dieses Blatt gehört?«
Helles Licht wollte man nicht machen, ein Streichholz mußte genügen.
Nein, dem Gelehrten war dieses Blatt unbekannt.
»Ich bin leider zu wenig Botaniker,« sagte auch Nobody. »Mir kommt die Vegetation recht tropisch vor, tropischer, als ich sie in einer Oase der nördlichen Sahara erwartet hätte.«
Es wurde beschlossen, die Nacht im Boote zu verbringen. Als der Abstieg schon ziemlich beendet war, vertrat sich Dr. Wolfram den Fuß, daß er ihn gar nicht mehr gebrauchen konnte. Die Lampen wurden wieder angezündet, der Stiefel mußte ihm aufgeschnitten werden, Nobody konstatierte eine Flechsendehnung.
»Ja, das ist schlimm. Ich hatte für morgen ein Expedition vor.«
»Ich bleibe eben im Boot.«
»Und ich leiste Ihnen Gesellschaft,« sagte Scott sofort, und ein dankbarer Blick traf ihn.
Hier unten allein sein zu müssen – entsetzlicher Gedanke! Nobody hätte dies auch gar nicht zugelassen.
»Dann wird die ganze Bootsbesatzung überhaupt in zwei Hälften geteilt. Jochen und Anok, wer von euch will hierbleiben?«
Freiwillig keiner! Oben war es doch jedenfalls interessanter. Das Los mußte entscheiden, es fiel auf Jochen Puttfarken. Nun gab es aber auch kein Murren weiter, kein verdrießliches Gesicht.
Man setzte sich zum Abendessen nieder. Anstatt sich in Erwägungen zu ergehen, die doch gar keinen Zweck hatten, erzählte Nobody ein humoristisches Abenteuer aus seinem Leben, in Paris spielend, und er erzählte es in einer Weise, daß auch der junge Kanadier lachen mußte, während besonders Anok brüllte, daß die Felswände widertönten, und Nobody mahnte ihn nicht zur Mäßigung. Hier unten konnten sie Spektakel machen, wie sie wollten.
Da aber, als Anok noch so unbändig brüllte, hob Nobody plötzlich mit verändertem Gesichtsausdruck den Finger, augenblicklich trat lautlose Stille ein, und da hörten sie es alle.
»Hilfeee!« erklang es langgedehnt in weiter Ferne, und zwar auf deutsch.
Schon war das Motorboot im Gange, es steuerte stromaufwärts, von wo der röchelnde Hilferuf gekommen war, der Blendstrahl suchte das Wasser ab.
»Dort, dort schwimmt er!«
Der Schwimmer machte die letzten schwachen Bewegungen, das Boot hatte ihn erreicht, Nobody packte ihn beim Kragen und hob ihn herein.
Ein neues Wunder, ein neues Rätsel! Ein junger Mann oder vielmehr Herr, das Haar hatte auch im Wasser noch den sorgfältigen Scheitel in der Mitte behalten, das Kinn glattrasiert, Oberhemd, hoher Stehkragen, weiße Halsbinde, Manschetten, tadelloser Frackanzug, Lackschuhe.
»Nun brate mir jemand 'nen Storch, aber die Beene recht knusprig!«
Er brach etwas Wasser aus, stöhnte – dann blickte er mit wirren Augen um sich, nach den Granitwänden, und starrte dann seine Retter an.
»Wer – wer seid ihr? Wie kommt ihr denn hierher?«
Jetzt bediente er sich des Englischen, aber mit einem österreichischen Akzent. Es war überhaupt unverkennbar ein Oesterreicher, wahrscheinlich sogar ein ›Weaner‹.
»Er sah aus wie ein Wiener Zahlkellner,« sagt nämlich Nobody in seinem Tagebuch.
»Diese Frage darf ich wohl erst an Sie richten. Wer sind Sie?«
»Ich – ich ...,« der junge Mann kreuzte die Arme über der Brust, »ich sage nichts.«
»So! Sind Sie über Bord irgendeines Fahrzeugs gefallen?«
»Ich sage nichts.«
»Wie lange sind Sie im Wasser gewesen?«
Der Gerettete gab gar keine Antwort mehr, er blickte zur Decke empor.
»So! Nun aber, mein Herr, muß ich Ihnen eine sehr überraschende Mitteilung machen. Kennen Sie mich vielleicht?«
Selbstverständlich blickte der Gefragte Nobody sofort wieder an, und das hatte dieser nur gewollt, um seine Augen fest in die des anderen versenken zu können.
Vergebens, das Hypnotisieren gelang nicht.
»Kennen Sie mich?«
»Nein.«
»Desto besser. Aber diesen hier werden Sie wohl kennen?«
Es war das Porträt von Monsieur Sinclaire, welches Nobody jenem entgegenhielt, und mochte er auch noch so ruhig verneinen – kannte er dieses Gesicht, Nobody hätte es sofort gemerkt.
»Nein.«
Er hatte die Wahrheit gesprochen, Nobody wußte es ganz bestimmt.
»Dann kennen Sie vielleicht diese junge Dame hier.«
Die letzte Skizze war es, die Nobody gezeichnet, die des wahnsinnigen Weibes, das Scott als seine Jugendgeliebte erkannt hatte.
»Nein.«
Ruhig hatte er es gesagt, ruhig hatte er das Bild betrachtet.
Und doch kannte er dieses Weib! Nobody hatte es gemerkt! Er war erschrocken zusammengefahren, und wenn sich dieser junge Mensch auch noch so außerordentlich in seiner Gewalt hatte, und wenn es auch sonst für das Auge keines anderen Menschen bemerkbar gewesen wäre – dem Blicke dieses Detektivs war der tödliche Schrecken nicht entgangen!
»Sie kennen dieses Weib aus dem Teufelsbrunnen also nicht?«
Wieder hatte es gewirkt, diesmal das Wort ›Teufelsbrunnen‹. Und mochte das Gesicht dieses Mannes auch mit keiner Muskel zucken, Nobodys Auge ließ sich nicht täuschen.
»Nein, mir gänzlich unbekannt, von jetzt an sage ich aber überhaupt kein Wort mehr.«
»Haben Sie Hunger?«
Der Fremde hielt sein Wort, er antwortete nicht – aber er nickte.
»Dann teilen Sie mit uns das Abendessen.«
Zweimal ließ sich der Fremde nicht dazu auffordern, er setzte sich hin und langte mit Appetit zu, als ob er zu der Gesellschaft gehöre.
Der erst nachträglich bereitete Tee war fertig, er wurde mit Rum getrunken.
»Bitte!« sagte Nobody, dem unfreiwilligen Gaste die Tasse präsentierend.
Mit einem leichten Kopfneigen wurde sie angenommen, der Fremde führte den ersten Schluck mit dem Löffel zum Munde und ... ließ Löffel und Tasse gleich fallen, sank schwer zurück und blieb regungslos liegen.
»Betäubt. Jetzt mache ich den letzten Versuch, den Störrischen zum Sprechen zu bringen, und wenn der mißlingt, dann ... ist meine Kunst zu Ende.«
Wir haben schon bei Monsieur Sinclaire gesehen, wie Nobody es machte. Er hypnotisierte den Bewußtlosen, und dieser war tatsächlich im hypnotischen Zustande. Aber hier dasselbe Resultat wie damals. Auch in der willenlosen Hypnose verweigerte der Mann den Gehorsam, jede Auskunft, war überhaupt nicht zum Sprechen zu bringen.
»Sie wollen mir nicht antworten?«
Der Hypnotisierte schüttelte den Kopf.
Nobody atmete schwer.
»Jener Mephistopheles,« murmelte er, »verstand sich selbst und seine ihm untergebenen Geister in einen Zustand zu versetzen, der mir noch viel rätselhafter ist als die Hypnose, obgleich ich sie doch selbst handhabe. Ja, der verstand überhaupt etwas mehr als ich. Schade, jammerschade, daß ich ihn in den Tod treiben mußte.«
Während seines bewußtlosen Zustandes wurden die Taschen des Fremden visitiert. Man fand absolut nichts weiter als ein Schnupftuch, ein Taschenmesser mit Korkzieher und eine silberne Uhr.
Dann suchte Nobodys fragender Blick den jungen Kanadier auf.
»Edward, dürfte ich dich jetzt einmal bitten, mir mit deiner Gabe behilflich zu sein?«
»Nein!« entgegnete Scott kurz, fast schroff. »Nein,« setzte er sanfter hinzu, »es würde mir auch gar nicht gelingen. Wenn dir dieser Mann etwas genommen hätte, dessen Verlust dir großen Schmerz verursachte – dann sofort, dann könnte ich dir helfen. Aber in diesem Falle – nein. Ich habe nicht genug Interesse daran. Da mußt du dich auf deine eigene Kraft verlassen.«
»Auf meine eigene Kraft,« wiederholte Nobody, und ein Zug von wahrhaft furchtbarer Energie trat in seinem Gesicht hervor. »zzziyyy Wellzzz/iyyy – und Kraft und zarte Rücksicht reimen sich nicht zusammen.«
Er zog aus der Westentasche ein winziges Kristallfläschchen, entfernte den eingeschliffenen Stöpsel, brachte die Oeffnung unter die Nase des Bewußtlosen, und fast sofort schlug dieser die Augen auf, er richtete sich empor.
Er merkte, daß etwas mit ihm vorgegangen war.
»Wa ...!«
»Was haben Sie mit mir getan?« hatte er jedenfalls fragen wollen. Doch sofort erinnerte er sich seines Versprechens, er war ganz genau wieder derselbe, und dabei mußte er wissen, was man mit ihm versucht hatte, und er kannte die Fruchtlosigkeit dieses Versuchs; denn Nobody sah ein spöttisches Lächeln und wurde auch von solch einem Blicke getroffen.
»Warten Sie, das Lächeln soll Ihnen gleich vergehen.«
Mit diesen Worten hatte Nobody schnell beide Hände des ihm Gegenübersitzenden ergriffen, er schaute ihm fest in die Augen.
»Wollen Sie mir Antwort geben? – Nun? – Oder vielleicht so? – Wollen Sie mir jetzt endlich antworten? – Noch etwas?«
Wer Nobodys Methode nicht kannte, der hätte gar nicht gewußt, was er eigentlich wollte, was er tat. Denn scheinbar hatte er nur des Mannes beide Hände fest ergriffen, eine Kraftanstrengung war ihm nicht anzumerken, und bei dem anderen sah man nur, daß er plötzlich einen ganz roten Kopf bekam, und dann begann er spöttisch zu lächeln, und dann wurde er mit einem Male ganz bleich, aber noch immer sah er Nobody an und lächelte dabei, und Nobody hatte ihm doch eben dieses Lächeln vertreiben wollen.
Nobody fühlte es: noch einen Druck, dann hatte er nur zermalmte Knochen in der Hand. Und dieser Mensch lächelte ihn noch immer so höhnisch an!
Er gab ihn wieder frei, dabei etwas murmelnd, was fast wie ein Fluch klang.
Der junge Mann im Frackanzug machte seine zusammengeklebten Finger wieder auseinander, und plötzlich hielt er den rechten Zeigefinger über die große Petroleumlampe, neben welcher er saß und augenblicklich machte sich ein brenzlicher Geruch bemerkbar, und immer noch so spöttisch lächelnd, blickte er nach dem Manne, der ihm die Hände hatte zerquetschen wollen.
»Martere mich, wie du willst – von mir bekommst du nichts zu hören.«
Das sagte er aber nicht mit dem Munde, sondern eben durch diese Tat.
Im nächsten Moment hatte ihm Nobody den Arm von der Flamme geschlagen, und doch zeigte sich schon eine böse Brandwunde.
»Dieser Beweis von Standhaftigkeit ist nicht mehr nötig. Glauben Sie aber nicht etwa, daß ich Sie deshalb bewundere. Sie stehen offenbar unter dem Einflusse eines fremden Willens. Lassen Sie sich verbinden.«
Ruhig ließ der Fremde geschehen, daß Nobody ihm die Brandwunde wusch und mit Heftpflaster verklebte.
»Geht schlafen, ich werde wachen. Nein, ganz allein. Wenn mich jemand ablösen soll, werde ich ihn wecken.«
Aber Nobody weckte niemanden, er wachte die ganze Nacht allein. Flederwisch hatte sich auch mit Zigarren versehen, und Nobody rauchte, in Gedanken versunken, eine Zigarre nach der anderen, seinen Blick immer auf den Fremden gerichtet, welcher gleichfalls in friedlichem Schlummer dalag, und erst als Nobody die zehnte Zigarre geraucht hatte, den Stummel nicht über Bord, sondern ins Boot werfend, da weckte er sie alle, und da war es früh um fünf Uhr. In solch acht Stunden, wenn man so allein auf der Wache sitzt, kann man gar viel grübeln – besonders, wenn man zehn Zigarren dazu raucht.
»Ans Tagewerk! Die Sonne muß bald aufgehen. Jochen, dir übergebe ich diesen Gefangenen. Binde ihn oder binde ihn nicht, wie du willst. Ich überlasse dir alles. Aber wenn ich zurückkomme, und ich finde dich noch lebend, dann will ich auch noch diesen Fremden bei dir finden. Verstanden?«
»Zu Befehl, Master!«
Nobody, Flederwisch und Anok stiegen empor, mit schweren Sorgen um die Zurückbleibenden. Als sie die Oberwelt erreichten, rötete soeben die Morgensonne den östlichen Horizont, und als sie den ersten Blick über die Erde warf, befanden sich die drei bereits an jener Stelle, wo gestern abend das Lagerfeuer gebrannt hatte.
Die Spur der Flüchtlinge war für den erprobten Fährtensucher deutlich erkennbar, zuerst aber fesselte etwas anderes seine Aufmerksamkeit.
Affen und Kakadus – sieht denn das einer Oase in der Sahara ähnlich?
»Es muß eine sehr große Oase sein, vielleicht viele Quadratmeilen groß, welche eine eigene Tierwelt ernähren kann.«
»Merkwürdig, daß wir gestern, als es doch noch hell war, gar nichts von Affengeschrei und Papageiengekreisch gehört haben!« meinte Flederwisch.
»Das ist gar nicht merkwürdig,« entgegnete Nobody. »Wenn das lebenspendende Himmelslicht sich verabschiedet, schweigt stets die ganze Schöpfung in ängstlichem Schauern, bis sich die Tiere der Nacht wieder bemerkbar machen. Wir aber haben uns ja alsbald wieder unter die Erde begeben.«
Die Verfolgung der einen Fährte begann. Bald hatten sich die beiden, zuerst auseinandergesprengt, wieder zusammengefunden, und nicht lange währte es, so stieß Nobody auf einen gut angelegten und sorgsam erhaltenen Weg, welcher durch den von Schlingpflanzen durchwucherten Wald führte.
Diesen hatten die beiden Männer eingeschlagen, auch auf dem harten Wege konnte Nobody noch immer ihre Spuren ab und zu erkennen. Dann aber, als der Boden gar zu hart wurde, hörte das doch auf, da hätte nur noch die Nase eines Jagdhundes spüren können.
Mit solch einem Wege hatte Nobody freilich nicht gerechnet. Nun, so wurde eben dieser nach Südwesten führende Weg verfolgt, einmal mußte er doch nach einer menschlichen Behausung führen.
Aber so bald sollte dies nicht werden. Drei Stunden marschierten sie nun schon mit weitausgreifenden Schritten, und keine Hütte war zu sehen, kein menschliches Wesen wollte ihnen begegnen.
Da vernahmen sie in der Ferne ein mißtönendes Geschrei, sie näherten sich ihm, immer lauter erklang es.
»Das sind die Stimmen von Schakalen und Geiern,« sagte der lauschende Nobody, sie streiten sich um eine Beute, ich kenne das.«
Als sie weiter gingen, kam das Geschrei von der Seite.
»Wir wollen einmal untersuchen, um was sich die Raubtiere streiten.«
Sie drangen wieder in das Gebüsch. Mit einem Male standen sie vor einer Felswand. Sie drängten sich durch die Büsche an ihr entlang, und als sie eine Waldblöße erreichten, sahen sie vor sich einen himmelhohen Felsen aufsteigen, hundert Meter sicherlich, die Wand vollständig glatt, dabei wie aus dem Boden gewachsen. Den Umfang konnte man von hier aus gar nicht ermessen.
»Das ist ein seltsames Naturspiel,« meinte Flederwisch, »mitten aus dem Urwald steigt so plötzlich ein ganzes Gebirge empor, als hätte ein Riesenkind es als Spielzeug hingesetzt.«
»Ich kenne ein Land,« entgegnete Nobody sinnend, »wo derartige Gebirgsbildungen zum Charakter der ganzen Gegend gehören, einzig in der Welt vorkommend ... aber nein,« unterbrach er sich selbst, »wir sind ja immer direkt nach Westen gefahren. Nun wollen wir erst einmal die Streitursache dieser vierbeinigen und geflügelten Aasjäger ergründen.«
Sie verfolgten die Felswand weiter, welche zwar durchaus glatt war, aber doch pfeilerartige Vorsprünge hatte, und als sie um solch einen Pfeiler bogen, flüchteten von einem grasigen Platze Schakale und Geier, letztere erst nach einem Anlaufe sich zum Fluge aufschwingend. Andere, von Heißhunger geplagt, zeigten sich nicht so furchtsam, sie ließen die Menschen erst dicht herankommen, ehe sie die Flucht ergriffen, einige mußten fast mit Gewalt vertrieben werden.
»Ein Mensch!!«
Der Anblick war ein so schrecklicher, daß wir ihn lieber mit keinem Worte beschreiben wollen. Und dies allein war noch nicht einmal das Schrecklichste.
»Um Gottes willen, er lebt noch!«
Ja, der formlose Fleischklumpen bewegte sich, röchelte auch noch.
Hier war der Mensch vor die furchtbare Alternative gestellt, wenn er nicht feige entfliehen wollte, entweder tatenlos zuzusehen oder aus Mitleid einen Mord zu begehen.
Einen Mord? Ist es denn wirklich ein Mord, wenn der Arzt einem unheilbar Kranken oder gar einem rettungslos Verbrühten, der sich in seinen namenlosen Schmerzen windet, ein erlösendes Tränklein gibt?
Flederwisch konnte nicht mehr hinsehen, auch der Matrose mußte sich abwenden. Nur Nobody beugte sich hinab.
»Er hat bereits ausgelitten,« sagte er eine Minute später, und als er sich wieder aufrichtete, sah er totenbleich aus.
»Woher mag der ...«
Ein furchtbares Geprassel erfolgte in den Zweigen der Bäume; instinktartig wußten alle drei, daß etwas von oben käme, sie duckten sich und hielten die Arme schützend über den Kopf, eine Reflexbewegung, im nächsten Augenblick wußten sie, daß die Gefahr vorbei war, sie blickten in die Höhe – dort oben in den Zweigen eines hohen Baumes lag die Gestalt eines Menschen, der Sturz war noch nicht beendet, ein Zweig gab nach, die um sich greifenden Hände fanden keinen Halt, kopfüber stürzte der Körper noch zehn Meter tiefer und schlug so auf den harten Boden auf.
»Sarrsarrassasassas ...«
Er streckte sich und war tot. Es war ein Neger, mit einem Stück Kattun umwickelt.
»Da da da da da!« kreischte Anok förmlich auf.
Die beiden anderen folgten seinem entsetzten Blick, von hoch oben her aus der Luft kam eine menschliche Gestalt herabgesaust, umschlug sich mehrmals und verschwand im Walde. Man hörte noch den dumpfen Aufschlag.
Und da kam schon ein zweiter, ein dritter Mann von dem himmelhohen Felsen herabgesaust, der aber in horizontaler Richtung durch die Luft wirbelte, und die menschliche Gestalt, die ihm nachfolgte, war offenbar ein Weib, und jetzt kam ein Kind ...
»Wache oder träume ich denn nur?« flüsterte Flederwisch geistesabwesend.
»Dort oben auf dem Felsen wütet ein Kampf!« schrie Nobody. »Die Gegner schleudern einander herab!«
Es konnte nicht anders sein, wenn auch von einem Kampfgeschrei nichts zu hören war. Hundert Meter sind auch eine ganz bedeutende Höhe, und vielleicht war der Felsen noch viel höher.
»Da muß ich hinauf!!«
Sie eilten die Felswand entlang. Irgendwo mußte doch ein Aufstieg sein. Sie fanden keinen. Glatt wie gemauert stieg überall die Wand empor. Aber wer wußte denn, welchen Umfang dieser Felsen hatte? Vielleicht war auf der anderen Seite ein ganz bequemer Aufstieg.
Ueberall stießen sie auf Opfer des oben herrschenden Kampfes um Leben und Tod, schrecklich anzuschauen, und das Ringen dort oben, wer den anderen in den Abgrund hinabstieß, hielt noch immer an.
Entsetzt prallten die drei zurück. Dicht vor ihnen war wiederum eine menschliche Gestalt aufgeschlagen, ein Weib, und es hatte noch ein kleines Kind im Arme. Also auch Frauen und Kinder wurden dort oben nicht verschont.
Die Frau war eine formlose Masse, ihr Blut und Gehirn hatte die drei Männer bespritzt – das Kind streckte die schwarzen Aermchen nach den Männern aus.
»O Wunder, o Wunder!« schluchzte Nobody plötzlich, als er das Kind aufhob und es mit zitternder Hand untersuchte. Dem kleinen Jungen fehlte offenbar nichts, der zerschmetterte Leib der Mutter hatte es vor Schaden bewahrt.
»Nein, sein Schutzengel!« schluchzte Nobody noch immer.
Da erschollen langgedehnte Hörnersignale, nicht von oben kommend, sondern aus südlicher Ferne.
»Dort sind endlich Menschen, mit denen ich mich wohl verständigen kann. Nimm das Kind, Paul, ich will zuerst allein auskundschaften, ihr bleibt hier, stellt euch unter einen Baum oder schmiegt euch dicht an die Felswand, da seid ihr noch sicherer vor allem, was von oben gestürzt kommt.«
Nobody gab den kleinen Negerjungen seinem Freunde und eilte nach Süden. Zuerst hatte er noch etwas Wald, dann kam Steppe mit übermannshohem Grase.
Die Hornsignale währten fort. Dieser Richtung folgte er. In seiner Phantasie malte er sich aus, wie diese Hornsignale jetzt braune und schwarze Krieger zusammenriefen, um zum Sturm gegen den vom Feinde besetzten Felsen vorzugehen, und er sah schon die wilden Truppen angerückt kommen.
Allein das blieb nur in seiner Phantasie bestehen.
Was war denn das für ein fröhliches Lachen? Was waren das für helle Menschenstimmen, welche wie Hunde bellten?
Plötzlich hörte das hohe Gras auf, und Nobody sah ein Bild, so friedlich, daß es gegen jene Gräuelszenen, die er soeben geschaut, gar keinen größeren Kontrast geben konnte.
Durch die Steppe floß ein krystallklares Wasser. Auf dieser Seite, wo Nobody stand, war im hohen Grase ein Viereck herausgemäht worden, das zum Badeplatz von einem halben Dutzend schwarzer Mädchen diente.
Sie spielten. Ein Spiel, das wohl auch unsere Kinder beim Baden machen. Das eine Mädchen stand am Ufer und warf immer einen Stock ins Wasser, die anderen fünf Mädchen waren die Hunde, welche jauchzend und bellend ins Wasser dem Stocke nachsprangen, und wer ihn schwimmend zuerst erreicht hatte, nahm ihn zwischen die schneeweißen Zähne und schwamm ans Ufer zurück, brachte ihn, als Hund natürlich auf allen vieren laufend, der Herrin wieder, die sich jedesmal bückte, aus einem Körbchen etwas nahm und es dem braven Hundemädchen in den Mund steckte, worauf das Spiel von neuem begann, bellend, jubelnd, lachend, kreischend vor Lust.
Es waren nicht etwa kleine Mädchen. Es waren junge Weiber. Und sie trugen kein Badekostüm, weder mit noch ohne Spitzen, sondern sie gingen so, wie seinerzeit Eva im Paradiese, sie prangten in ihrer völligen schwarzen Unschuld, ohne sich vor den Männern zu genieren, welche dem Spiele zuschauten, wenn sie nicht eine andere Beschäftigung trieben.
So blies der eine auf einem kleinen Horn, übte sich in Signalen, und der hohe Ton des Instrumentes war ein derartiger, daß Nobody geglaubt hatte, in weiter Ferne ein tiefgestimmtes Büffelhorn zu vernehmen.
Und diese Zuschauer waren nicht etwa die Männer der badenden Frauen. Es wäre nicht nötig gewesen, daß Nobody zwei von ihnen mit Fistelstimme sich unterhalten hörte, Nobody hatte schon zu tiefen Einblick in das orientalische Leben bekommen, um hier nicht gleich das Richtige zu treffen – das waren Eunuchen, Haremswächter!
Solche Wächter, deren Augen getrost auch der eifersüchtigste Gatte die Reize seiner Frau preisgeben kann, werden natürlich nur von vornehmen und reichen Personen gehalten, und daß Nobody hier solche vor sich hatte, erkannte er auch an den abgeworfenen Gewändern der Weiber. Die feinste indische Seide aus der Provinz Lahore, welche das kostbarste Gespinst liefert, das gar nicht nach Europa kommt – solch einen Unterschied zwischen indischer und chinesischer Seide machte das Auge dieses Detektives sogar auf so weite Entfernung! – und die abgelegten Korallenschnuren, Arm- und Fußspangen und andere Schmuckgegenstände, alles Gold und von Juwelen schimmernd, bildeten ein ganzes Arsenal.
Am meisten aber wurde Nobodys bewundernder Blick von jenem Weibe gefesselt, welches immer am Ufer stand und den Hunden gegenüber die Herrin spielte, wohl auch wirklich die Herrin war.
Was für ein herrlicher Wuchs! Diese Pracht der schwellenden Glieder! Wie von einem gottbegnadeten Künstler aus tiefschwarzem Ebenholz geschnitzt! Nobody konnte sich nicht sattsehen an diesen edlen Linien. Dabei diese Kraft und Sicherheit jeder Bewegung, verbunden mit der Geschmeidigkeit einer Katze, obgleich sie doch nichts weiter tat, als daß sie ab und zu den Stock fortschleuderte und dann sich bückte, um dem Körbchen ein Stück Zucker zu entnehmen. Schon diese einfachen Bewegungen waren von einer kraftvollen Grazie, welche das künstlerlisch blickende Auge des Kenners von Frauenschönheit entzückte.
Dazu kam nun noch die ganze Fremdartigkeit, es war doch eine pechschwarze Negerin, nun auch dieses kindliche Spiel in paradiesischer Unschuld – kurz, Nobody konnte keinen Blick von ihr wenden, er war wie geblendet, nur nicht von einer schneeweißen, sondern von einer tiefschwarzen Haut, die aber wie Samt glänzte, die sich auch wie Samt anfühlen mußte.
Auch ihr Gesicht bekam er hin und wieder zu sehen. Nicht die geringste Spur von jener charakteristischen Physiognomie, welche uns das Gesicht der Neger und vielleicht mehr noch der Negerinnen fast immer abstoßend macht. Das Gesicht nicht eckig sondern oval; der Mund nicht breit und aufgeworfen, sondern klein und nur mit vollen Lippen, hinter denen zierliche Perlenzähnchen blitzten; die Nase nun gar stolz und edel.
Eigentümlich war es auch, wie Nobody noch nie bei Negern gesehen hatte, daß ihr schwarzes Haar nicht wollig, sondern lang, schlicht und jedenfalls sehr weich war.
Wie alt sie war, konnte auch Nobody nicht taxieren. Es war ein gereiftes, vollbusiges Weib, aber eben da ihre Formen durch nichts verhüllt waren, hielt Nobody sie eher noch für ein Mädchen. Nach unseren Begriffen mochte sie vierundzwanzig Jahre alt sein, als Aethioperin vielleicht achtzehn, und dann hatte sie als solche das Alter, da sie heiratsfähig geworden, schon um sechs Jahre überschritten.
zzziyyy Où est la femmezzz/iyyy, sagt der Franzose, wenn irgendein Verbrechen geschehen oder auch nur ein Kassierer durchgebrannt ist. Wo ist die Frau. Der Franzose nimmt an, daß stets eine Frau dahinterstecken muß. An allem Unglück ist die Frau schuld. Und zum guten Teil hat der Franzose da ja auch recht.
Hier bei unserem Nobody traf es zu. Er war in den Anblick dieser schwarzen, nackten Schönheit so vertieft gewesen, daß auch sein Ohr nichts mehr hörte. Nobody hatte sich einmal von hinten beschleichen lassen.
Er merkte es erst, als er von zwei muskulösen Armen umschlungen wurde.
»Ich habe den weißen Hund gefangen, ich, ich, Ateff ben Labil,« quäkte zugleich eine hohe Stimme, die eher einem Weibe anzugehören schien denn einem Manne, der solche Arme besaß, »ich, Ateff ben Labil, und die Gnade der Fadinah wird mir leuchten!«
Bei diesen Worten war Nobody zugleich etwas vorgedrängt worden, aus dem Grase heraus, so daß er jetzt allen sichtbar war.
So sehr groß war das Unglück ja nicht, welches diesmal ›la femme‹ angerichtet hatte, nicht für Nobody. Der Kerl, dem diese Fistelstimme angehörte, sollte ihn nicht lange so von hinten festhalten können, und wenn er auch noch so muskulöse Arme besaß. Da wußte Nobody noch andere Kniffe, und es lag nur an ihm, so wäre er Herr der ganzen Situation gewesen.
Aber dann hätte er sich alles entgehen lassen, was nun weiter geschah. Nein, er ließ sich ruhig festhalten von Ateff ben Labil, der seinen Namen zweimal als Retter des Vaterlandes oder doch der Tugend seiner Herrin so hervorgehoben hatte, um in aller Bequemlichkeit Zeuge der weiteren Szenen zu werden.
Die Aufregung beim Anblicke des weißen Fremdlings war eine ungeheuere.
Die fünf Mädchen, welche die Hunde spielten, hatten sich eben wieder auf dem Lande befunden, kreischend stürzten sie sofort wieder in das Wasser und versteckten sich darin bis an die Nasenspitze, was nun freilich nicht viel von ihren schwarzen Leibern verhüllte, denn das Wasser war kristallklar.
Die vier Eunuchen hingegen waren aufgesprungen und schon in vollem Laufe, um sich auf den Frevler zu stürzen, der eine hatte auch bereits seinen Dolch gezogen. Stechen wollte sich Nobody nun freilich nicht lassen, auch nicht mißhandeln, und er berechnete schon, welchem der Angreifer er den ersten Fußtritt verabreichen solle, um sich doch lieber schnellstens seiner Klammer zu entledigen, als dieses Vorhaben schon von anderer Seite prompt ausgeführt wurde.
Hinter seinem Körper kam ein schwarzes Bein zum Vorschein, welches dem Eunuchen mit dem Dolche einen wohlgezielten Fußtritt in den Bauch gab, daß der Kerl sich gleich überschlug.
»Ich, ich habe ihn gefangen, ich, Ateff ben Labil,« quäkte wieder die Fistelstimme in Nobodys Ohr, »und wehe dem, der ihn anfaßt, bis die Fadinah über ihn entschieden hat!«
»Muskee!! Halt!!«
Hier wurde sich der arabischen Sprache bedient, und die Negerin, welche Fadinah genannt wurde, war es, die dieses ›Halt‹ gerufen hatte, worauf die Eunuchen wie die Mauern standen, nur der eine sich stöhnend den Bauch reibend.
Diese hatte sich anders benommen. Sie war ihren keuschen Kolleginnen nicht nachgesprungen, sondern hatte sich schnell gebückt und ein langes, seidenes Tuch umgeworfen, das ihren Körper völlig einhüllte, und so war sie vor den Augen des Fremden schneller und besser geschützt als ihre Gespielinnen.
Dann freilich waren es furchtbar drohende Augen, welche sich auf den vermessenen Frevler richteten.
»Mensch, wer bist du, daß du es wagst, mich und meine Gespielinnen beim Baden zu überraschen!?« begann die Fadinah mit unheilvoller Stimme.
Nobody hatte dieses schwarze Gesicht nun schon studiert, das war keine gewöhnliche Negerin, das waren hochintelligente Züge, das war ein Weib, das sich bewußt war, ein Weib zu sein, und Nobodys Plan war fertig.
»Der Zufall, ein Hörnerklang, dem ich folgte, führte mich hierher, da sah ich dich, und lange, lange Zeit habe ich dort im hohen Grase verborgen gestanden und habe dich angeschaut.«
Als habe sie nicht recht gehört, so beugte sie sich vor.
»Du hast – mich – und meine Freundinnen – heimlich – beobachtet?!«
»Nicht deine Freundinnen – ich sah keine anderen – ich sah nur dich – und ich konnte den Blick nicht von dir wenden.«
Das schwarze Gesicht der Negerin wurde noch dunkler – ein Zeichen, daß ihr das Blut in die Wangen stieg. Aber die drohende Haltung behielt sie bei.
»Mensch, Mensch, und das wagst du mir auch noch zu gestehen!?«
»Eben, weil ich ein Mensch bin, wußte ich nicht, was ich tat, dein Anblick betäubte mich.«
Das schöne Gesicht wurde noch dunkler, offenbar wurde sie jetzt auch verlegen, und Nobody weidete sich an dieser ihrer Verlegenheit. Aber aus ihrer Rolle fiel sie doch nicht.
»Weißt du, wer ich bin?«
»Du bist ein schönes Weib.«
»Ich bin die Fadinah von Godscham!«
»Für mich bist du das schönste Weib, das ich je geschaut habe, und ich bin die ganze Welt durchreist und habe schon viele schöne Frauen gesehen, aber keine kann sich mit dir vergleichen.«
Die Verlegenheit wurde noch größer, und doch wollte sie zürnen.
»Mensch, du bist des Todes!!«
»Nachdem ich dich geschaut habe, hat der Tod keine Schrecken mehr für mich.«
»Du wirst eines martervollen Todes sterben!«
»Wenn du dabei zugegen bist, so werde ich dich anblicken und alle Martern mit freudigem Lächeln ertragen, denn dann darf ich doch wenigstens zu deinen Füßen sterben.«
Hastig wandte sich das Weib, welches sich selbst die Fadinah nannte, von dem Gefangenen ab.
Sie rief etwas in jener zischenden Sprache, und alsbald plätscherten die fünf schwarzen Jungfrauen im Evakostüm davon, während die vier Eunuchen die Kleider und die Schmucksachen ergriffen und in dem hohen Grase verschwanden. Dort mochten die Mädchen Toilette machen. Niemand kam wieder.
Nobody hatte gesiegt, nur durch Worte, vielleicht auch schon durch seine Stimme, der er einen solch schmeichelnden Klang verleihen konnte.
In diesem Augenblick hatte er einen eigentümlichen Gedanken: ob mir das jener Monsieur Sinclaire, der die spanische Tänzerin gebändigt hatte, wohl auch nachmachen könnte?
Doch noch immer wurde er von dem einen der Eunuchen von hinten festgehalten, und gerade deswegen konnte Nobody stolz auf seinen Sieg sein, denn gerade sehr edel war diese seine Stellung nun nicht, die er vor dem Weibe einnahm.
Diese hatte ihn, während sich die anderen entfernten, heimlich von der Seite beobachtet. Dann trat sie wieder auf ihn zu.
»Wer bist du? Wie kommst du in mein Land, dessen Grenzen so eng mit Wachen besetzt sind?«
»Ich bin ein Mann, den keine Wachen aufhalten können.«
»Oho! Wer bist du denn?«
»Ich bin ein Mann, dessen Name in deinem Reiche schon sehr bekannt ist.«
Die Negerin stutzte. Dann machte sie ein sehr ungläubiges Gesicht.
»Ich sehe dich zum ersten Male.«
»Das mag wohl sein. Und trotzdem ist mein Name in deinem Lande schon bekannt, die Leute deines Volkes sprechen ihn schon geläufig aus.«
»Wie ist denn da dein Name? So nenne ihn doch.«
»Nobody!«
»Du lügst!« fuhr da das Weib wild auf. »Du kannst nicht Nobody sein!«
Also doch! Nobody war unterdessen zu der Ansicht gekommen, daß mit dem ›nobody‹, das er gestern abend aus dem Munde der beiden vernommen hatte, er doch nicht gemeint sein könne. Wie sollte sein Name denn hier in der weltentrückten Oase bekannt sein! Jetzt hatte er nur einmal auf den Busch klopfen wollen – und siehe da, es war wirklich so, auch dieses Weib mußte mindestens schon von dem anglo-amerikanischen Detektiven gehört haben!
Dadurch mehrten sich die Rätsel nur noch. Nun, Nobody war ja jetzt auf dem besten Wege, sie zu lösen.
»Weshalb soll ich lügen? Weshalb könnte ich denn nicht Nobody sein?«
»Weil Nobody kein gewöhnlicher Mensch ist. Nobody ist ein unsichtbares Wesen, und Nobody ließe sich nicht von einem Eunuchen gefangennehmen und wie ein Kind festhalten,« erklang es verächtlich zurück.
»Du meinst, dieser Eunuche könnte mich festhalten, wenn ich nicht wollte?«
»Beweise, daß es anders ist!«
»So sage dem Manne, daß er mich recht fest packen soll.«
Eine Aufforderung dazu war nicht nötig, der Eunuche hatte die arabisch geführte Unterhaltung verstanden, und der riesenhafte Mann packte mit seinen muskulösen Fäusten, die Nobodys Handgelenke umspannten, während er ihm zugleich die Arme an den Leib preßte, erst recht fest zu.
»Paß auf, im nächsten Augenblick wird sich das Blatt gewendet haben.«
Es war nur ein kleiner Kniff, den Nobody anwendete. Freilich muß er gelernt sein, wenn so etwas überhaupt zu lernen geht.
Blitzschnell hatte er seine Füße nach hinten um die Beine seines Gegners geschlungen, und indem er seinen Oberkörper mit Macht nach rückwärts warf, zog er jenem die Füße vom Boden weg, mit einem gewaltigen Plauz schlug der Riese auf den Rücken, Nobody lag auf seinem Leibe, und ob es nun Absicht war oder nicht, Nobodys Hinterkopf schlug jenem ins Gesicht, daß das Blut gleich aus der Nase spritzte und der Eunuche nicht mehr daran dachte, seinen Gefangenen festzuhalten.
Es ging dies alles schneller, als es sich hier erzählen läßt, im nächsten Augenblick stand Nobody schon wieder auf den Füßen, man hatte ihn eigentlich gar nicht stürzen sehen – und damit nicht genug, er bückte sich noch einmal mit einem blitzschnellen Griffe, und da sauste auch schon der Eunuche trotz seiner Schwere wie ein Federball durch die Luft und verschwand in dem hochaufspritzenden Wasser des Flusses.
Ruhig, als ob nichts geschehen wäre, stand Nobody da.
»Wenn du glaubst, daß sich nur Nobody von diesem Manne hätte befreien können – genügt dir da dieser Beweis, daß ich es wirklich bin?«
Die Negerin kämpfte mit der furchtbarsten Aufregung, was sich besonders durch das Wogen des Busens unter dem dünnen Gewande verriet, während sie Nobody mit glühenden Blicken betrachtete, die ihn zu verschlingen drohten.
Dann streckte sie den Arm aus, er deutete flußabwärts.
»Geh – geh jetzt,« stieß sie atemlos hervor, »dort wirst du eine Brücke finden – dort warte, bis ich dich abholen lasse!«
»Du gestattest wohl, daß ich erst meine Gefährten hole.«
»Du hast Gefährten?«
»Zwei.«
»Wo sind diese?«
»Sie warten auf mich dort an jenem Felsen, auf welchem ein Kampf tobt.«
Die Aufregung des Weibes verwandelte sich sofort in Bestürzung.
»Ein Kampf – ein Kampf sagst du!?«
Sie spähte in die Ferne, Nobody drehte sich um. Zum ersten Male sah er jenen Felsen in einiger Entfernung, so daß er einen Gesamteindruck bekam.
Es war solch ein Tafelberg, wie er sie schon von dem Brunnen aus gesehen hatte. Das Wort ›Tafelberg‹ sagt alles. Nur seltsam war es, wie er sich so plötzlich jäh aus der Ebene erhob.
Doch von dem oberen, flachen Teile war auch von hier aus nichts zu sehen, und selbst wenn sich die Kämpfenden dicht am Rande befunden hätten, wären sie kaum mit dem bloßen Auge zu erkennen gewesen. So groß war die Höhe des Tafelberges.
»Ein Kampf findet dort oben statt?« wiederholte die Negerin.
»Ich vermute so. Ich kam vorhin vorbei, es stürzten Menschen herab, sie wurden mit Gewalt herabgeschleudert, Männer und Frauen und Kinder ...«
»Wehe, wehe, die Udlindschis haben auch meinen Rassamharra besetzt!!«
Mit diesem Rufe des Entsetzens stürzte das Weib davon, verschwand in dem hohen Grase. Nobody blickte ihr nach, folgte ihr, weniger um ihr nachzugehen, als erst einmal die Brücke zu sehen, denn in dieser angedeuteten Richtung war auch sie davongestürzt.
Er brauchte nur wenige Schritte zu gehen, so hörte das hohe Gras auf, es war abgemäht, und richtig, dort befand sich eine Brücke, sehr primitiv aus Bambusstäben gebaut.
Auf der anderen Seite des Flusses war im Gegensatz zu dieser dichter Wald. Nobody glaubte zwischen den Stämmen etwas wie Hütten zu sehen, genauer unterscheiden konnte er es nicht. Von der Brücke aus mußte er einen freieren Blick haben. So begab er sich dorthin.
Richtig, der Wald bestand, wenigstens auf der Flußseite, nur aus einem dichten Saum von Bäumen, meist Akazien, deren eigentliche Heimat Afrika ist; sie umschlossen ein Hüttendorf, schon mehr eine Stadt, es waren recht ansehnliche Gebäude darunter.
Der festgestampfte und von allem Gras befreite Weg führte aus dem Dorfe heraus über diese Brücke und weiter nach Norden, von wo Nobody gekommen war, er hatte ihn vorhin nur nicht gesehen.
Jetzt verfolgte er ihn rückwärts, und er führte denn auch direkt auf jenen Felsen zu, den das Weib in der schnarrenden Sprache, die hier die des Volkes zu sein schien, während das Arabische von den Gebildeten gesprochen wurde, Rassamharra genannt hatte – ›mein‹ Rassamharra.
Dann aber, wollte er zu seinen Freunden stoßen, mußte er den Weg doch wieder verlassen. Er kam an mehreren zerschmetterten Leichen vorbei, er glaubte indes in der Nähe des Felsens, wo er schon einmal gegangen war, konstatieren zu können, daß keine weiteren Opfer hinzugekommen waren.
Dort, wo er sie verlassen, waren Flederwisch und Anok nicht zu sehen. Aber da lag auf einem Felsblock ein Stück Papier, mit einem Stein beschwert.
»Wir marschieren einmal um den Felsen herum und kommen hierher zurück,« stand mit Bleistift darauf geschrieben.
Nobody fand es nur lobenswert, daß Flederwisch hier nicht tatenlos gewartet hatte. Manch anderer hätte sich doch lieber an die Wand geschmiegt oder gar unter einem Busche verkrochen.
Da kamen die beiden schon wieder. Flederwisch hatte noch immer das Kind auf dem Arm, wiegte es nach allen Regeln der Kunst hin und her.
»Fünfhundert Meter im Durchmesser hat dieser Berg mindestens,« rief er schon von weitem, »wir haben zu seiner Umgehung eine gute halbe Stunde gebraucht. Auf der anderen Seite liegt noch ein ganzer Haufen Leichen, dort sind sie summarisch heruntergeworfen worden, und zwar auch schon Tote und Verwundete. Du, nun verschaffe aber mal erst mit deiner Weisheit diesem kleinen Schreihals Milch, ich kann ihm keine geben.«
Das Entsetzen über die herabgeschleuderten Menschen hatte nicht lange gewährt. Flederwisch sprach schon ganz gleichgültig darüber; denn auch er hatte so wie Nobody schon zu viele Schlachtfelder und Blut und Leichen in anderer Weise gesehen, um noch vor dem Tode in irgendwelcher Gestalt zurückzuschrecken, wenn deswegen auch durchaus von keiner Gefühllosigkeit die Rede zu sein brauchte. Nur gerade diese Art des Todes, wie die lebenden Menschen von oben herabgesaust kamen, wie man sie sich erst noch in der Luft überschlagen sah, um dann vor ihren Augen am Boden jählings zu zerschmettern, das war ihnen neu gewesen, so etwas hatten sie noch nicht erlebt, und daher auch zuerst ihr namenloses Entsetzen. Nun war das schon wieder vorbei.
»Welcher Art sind die Verwundungen?« fragte Nobody zunächst.
»Ja, das wollte ich dir auch gleich sagen. Außer Hieb- und Stichwunden, die man nicht weiter beurteilen kann, auch viele Schüsse. Nun sieh hier diese Kugel. Sie lag am Boden neben einem Kerl, der eine Wunde in der Brust hatte, die schwere Kugel hat sich wahrscheinlich herausgesenkt.«
Nobody nahm das ihm gereichte Geschoß.
»Hm. Das ist eine neunmillimetrige Spitzkugel aus dem modernsten Hinterlader.«
»Das denke ich auch, und eben das wollte ich dir mitteilen.«
Nobody blickte an der steilen Felswand empor.
»Hast du Schüsse gehört?«
»Keinen einzigen.«
»Hm. So hoch ist das nicht, daß man keinen Schuß hören sollte, und der Kampf hat offenbar gerade zu der Zeit stattgefunden, als wir vorhin an den Felsen kamen. Sehr merkwürdig! Hast du einen Aufstieg gefunden?«
»Nichts derartiges. Die Wand ist überall glatt wie eine Mauer.«
»Nun, wir wissen wohl, wie jene Leute, welche diese Spitzkugeln verschießen, dort oben hinaufgekommen sind, wie?«
»Das denke ich auch. Unten vom Flusse aus, und der Oesterreicher gehört mit zu der Schwefelbande, die ihre Eroberungszüge im Frack und in Lackschuhen zu machen scheinen. Hast du jemanden getroffen? Weißt du denn nun, wo wir uns eigentlich befinden?«
»Komm mit, ich erzähle es dir unterwegs.«
Nobody nahm das Kind auf den Arm, betrachtete es noch einmal.
Auch dieser etwa einjährige Junge war ein Neger mit pechschwarzer Haut, zeigte aber nicht das den Negern sonst eigentümliche wollige Haar, das richtig wie bei den Schafen in Büscheln zusammensteht, sondern es war schlicht und weich. Am Körper war das Kind nicht tätowiert, dagegen sehr reichlich im Gesicht, doch nur mit einfachen Strichen und Punkten.
Nobody suchte den Weg wieder auf und erzählte sein Abenteuer.
»Ach, wäre ich doch nur dabeigewesen!« rief Flederwisch ein Mal übers andre. Denn die badenden Frauen, das war ja nun so etwas für den!
»Im übrigen habe ich bisher weiter nichts erfahren, als daß diese große Oase Godscham heißt und daß das Weib oder die Tochter des Scheichs, welcher über die Oase herrscht, den Titel Fadinah führt, wenn hier nicht gar ein weibliches Regiment herrscht und ich die verheiratete oder wahrscheinlich jungfräuliche Königin im Bade gesehen habe. Seltsam dünkt es mich, daß die dort noch gar nicht gewußt haben, daß hier oben auf dem Felsen ein Massaker stattfindet, obgleich man wohl im Lande Feinde weiß, welche den Namen ›Udlindschis‹ führen.«
Flederwisch interessierte sich im Augenblick wenig für alles dies, der hatte jetzt nur die badende Königin im Kopfe.
»Paß auf, Alfred, die hat sich in dich verliebt!«
»Am wunderbarsten aber ist es, mir noch immer ein vollkommenes Rätsel, daß man hier in der weltverlassenen Oase schon so gut meinen Namen kennt. Ja, ich komme immer mehr zur Ueberzeugung, daß man mich hier schon erwartet hat.«
»Paß auf, Alfred,« fing Flederwisch wiederum an, »die will dich heiraten! Würdest du darauf eingehen? Das heißt nur so nebenbei? Sonst könntest du sie mir überlassen. War sie denn nur wirklich so hübsch? Stramm?«
»Himmelbombenelement noch einmal!« wurde Nobody jetzt wild. »Mensch, du bist doch kein Jüngling mehr, bist ein verheirateter ...«
Um die Ecke des hohen Grases, welches den Weg eingrenzte, bog ein langer Zug, aber nicht ein solcher von Kriegern, welche sich zur Erstürmung des Felsens anschicken wollten, wenigstens zeigten sie keine Waffen, dagegen trugen die Männer zwischen sich Bahren.
Für Nobody war sofort alles klar. Es war ein trauriges, ein unrühmliches Geschäft, welches diese Männer vorhatten. Sie wollten nur die zerschmetterten Leichen ihrer vom Feinde herabgeschleuderten Kameraden abholen. Sonst dachten sie an keine Wehr, an keine Rache. Das sah man schon diesen niedergeschlagenen Gesichtern an.
Doch mit einem Male sollte sich das Bild ändern.
Erst hatte es ausgesehen, als wolle der Zug stumm an den drei weißen Fremdlingen vorbeipassieren. Deren Hiersein mochte nun schon bekannt geworden sein, sie wurden in jenem Dorfe erwartet, sie waren geschützt, als Gäste der Königin verschonte man sie auch mit jeder Neugier.
Aber kaum hatte der Erste des Zuges, ein alter, kostbar gekleideter Mann, das Kind auf Nobodys Arm erblickt, als er daraufzustürzte, noch ein prüfender Blick in das Gesicht des Kindes, und jauchzend erklang es:
»Der Fadin ist gerettet!! Gelobt sei Allah und Esau, sein Prophet – der Ras Fadin ist gerettet!!«
Nobody hatte sich das Kind vom Arme nehmen lassen. Er war zur Statue erstarrt. Was hörte er da? Allah und Esau sein Prophet?
Esau bedeutet im Arabischen genau dasselbe wie Jesus. Unseren Jesus Christus aus Nazareth nennen die Araber Esau.
Und auch die Mohammedaner verehren unseren Jesus, auch er ist ihnen ein Prophet, deshalb ist ihnen auch Jerusalem als die Begräbnisstätte dieses Propheten heilig.
Aber Jesus oder Esau kommt bei den Mohammedanern erst an zweiter und dritter Stelle. Ueber Mohammed geht nichts, und ja nur deswegen hassen uns die Mohammedaner, weil wir ihren ersten Propheten nicht anerkennen.
Niemals wird man von einem Mohammedaner so etwas hören wie ›gelobt sei Allah und sein Prophet Esau.‹
In Nobodys Kopfe begann es mit einem Mal zu dämmern. Er kannte ein afrikanisches Volk, welches Gott Allah nennt, nicht aber Mohammed, sondern Jesus als ihren ersten Propheten anerkennen, von Mohammed überhaupt gar nichts wissen wollen, weshalb man sie Christen nennt, allerdings ganz fälschlicherweise, obgleich sie sogar unsere Bibel haben.
Nobody konnte den Gedanken, der sich ihm aufdrängte, nicht fassen, und doch ... er hatte auch schon einen anderen Namen gehört!
»Wie heißt dieses Land hier?« wandte er sich an den Alten.
»Godscham.«
»Ist das ein ganzes Land für sich oder nur ein Teil davon?«
»Nur ein Teil davon, das ganze Land heißt Muran,« erklärte der Alte, machte aber ein sehr erstauntes Gesicht, daß die nicht einmal wußten, wo sie sich befanden.
»Muran, Muran ... den Namen kenne ich nicht,« murmelte Nobody, und dann fuhr er mit Fragen fort:
»Wie heißt die Herrscherin über diesen Bezirk?«
»Fadinah Theodora.«
Flederwisch schnellte wie eine Feder auf. Diesen Namen hatte er nämlich schon in anderer Verbindung gehört.
»Und wie heißt der Herrscher über dieses ganze Land?«
»Negus Menelik, und das hier ist der Ras Fadin, sein Sohn, und Fadinah Theodora ist des Negus jüngste Schwester.«
Da machte Nobody eine Bewegung, als wolle er die Hände über dem Kopfe zusammenschlagen.
»Flederwisch, meine Ahnung! Der Kompaß hat uns getäuscht! Wir sind nicht westlich, sondern immer südlich gefahren! Wir befinden uns nicht in einer Oase der Sahara, sondern in Abessinien!!«