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9. Der Indianerkopf.

Im Privatkontor des Mr. World klingelte das Telephon. Er eilte hin und meldete sich.

»Jawohl, der ist da! Wollen Sie selber mit ihm reden? Ja? Ich bitte, Nobody, kommen Sie doch mal her! Sie werden in Washington gewünscht,« wendete er sich an seinen Kompagnon, der eben aus England zurückgekehrt war.

Der Apparat besaß außer dem üblichen Hörer noch jene Vorrichtung, die in den Fernsprechämtern für die Beamtinnen eingeführt ist – zwei durch einen federnden Metallstreifen verbundene Hörmuscheln, die mechanisch an beiden Ohren festgehalten werden, so daß nur die Worte des Sprechenden für den Betreffenden hörbar sind. Nobody schob diesen Apparat über den Kopf, meldete sich und lauschte, ohne seinerseits etwas zu sagen, der Botschaft aus Washington.

Mr. World begann bereits ungeduldig auf seinem Stuhle herumzurutschen, die Sache dauerte ihm offenbar zu lange, da sagte Nobody: »Sie werden von mir hören. Schluß!« Und dann setzte er sich gemütlich wieder nieder, ohne die brennende Neugier seines Kompagnons zu befriedigen.

»Na, erfahre ich denn nichts?« brummte dieser endlich. »Ist denn die Geschichte gar so geheimnisvoll?«

»Sie wissen ja schon alles,« lächelte Nobody.

»Die Zeitungen haben den Fall ausführlich genug erzählt.«

»Was für einen Fall denn?«

»Na, die Selbstmorde in Washington!«

»Aha, von dem Tom B. Kelley und der schönen Ethel Romano? Davon war die Rede? Das ist allerdings schon lange her, ganze drei Tage. Das ist abgetan.«

»Es scheint doch nicht so,« entgegnete der Detektiv, sah nach der Uhr, stand auf, grüßte, ging und ließ Mr. World einfach sitzen, und dieser knurrte wohl ein bißchen, war aber durchaus nicht ungehalten, denn wenn Nobody so kurz angebunden war, dann hatte er etwas ganz Besonderes vor dem Rohre.

Nobody fuhr denn auch bereits mit dem nächsten Zuge nach Washington, das heißt nicht Nobody, sondern der Plantagenbesitzer Miguel Domenico aus der Provinz Rio Grande do Sul in Brasilien, ein graubärtiger, wohlbeleibter Herr mit dunkelbrauner Haut, dem man seinen Reichtum schon von weitem ansah. Miguel Domenico war im Norden gut bekannt; denn er kam öfter nach New-York und auch nach Washington, verkehrte dort in den Kreisen der Upper Four Thousand, der reichsten der Reichen; man munkelte davon, daß er trotz des Verbotes noch Sklaven hielte, sogar weiße, na, und da konnte es nicht fehlen, daß der reiche Haziendero überall, wo er auftauchte, im Mittelpunkt des Interesses stand, daß der alte Junggeselle von den jungen Damen umschwärmt ward, wie das Licht von den Motten.

Wie Nobody dazu kam, gerade als dieser Miguel Domenico aufzutreten, und es überhaupt wagen konnte, wird sich im Laufe der Erzählung aufklären. Als reicher Mann konnte er natürlich nicht ohne Dienerschaft reisen; er hatte einen Kammerdiener bei sich und einen Groom, beides Detektivs aus seinem New-Yorker Bureau, beide genau den Dienern des echten Brasilianers entsprechend, auch deren Namen führend: Nick und Chick.

Im Zuge las Nobody noch einmal aufmerksam die Berichte über jene Vorkommnisse, durch die ganz Washington in höchste Erregung versetzt worden war, zumal es sich um Mitglieder der Gesellschaft handelte. Der Tatbestand war folgender:

Am Sonntag abend gegen ein halb zehn Uhr hatte der Kammerdiener des Mr. Tom B. Kelley seinen Herrn verlassen, um noch einige Aufträge zu besorgen. Dieser war bereits im Abendanzug gewesen, hatte in einem Lehnstuhl gesessen und eine Zigarre geraucht. Gegen dreiviertel elf Uhr war der Diener zurückgekommen, hatte zu seinem Erstaunen gesehen, daß der junge Herr noch da war; er schien eingeschlafen, die brennende Zigarre war seiner Hand entfallen, ein großes Loch im Teppich zeigte, woher der Gestank im Zimmer stammte, und als der Diener nun Tom B. Kelley an der einen Schulter berühren wollte, da fuhr er entsetzt zurück. Auf dem Oberhemd war ein kleiner Blutfleck – er umrahmte einen kaum wahrnehmbaren Schlitz in der Leinwand. Sofort öffnete der erschrockene Mann das Hemd – aus einer Wunde direkt über dem Herzen quollen die roten Tropfen noch hervor – Tom N. Kelley war tot, und neben ihm auf dem Sessel lag die Waffe, mit der die Wunde erzeugt worden war. Ein Glück für den Kammerdiener war es, daß er nicht allein zurückgekommen, sondern ein Herr bei ihm war und seine Entdeckungen mit angesehen hatte, ein Herr, der als vollgültiger Zeuge betrachtet werden mußte: Signor Ferraro, der als Sondergesandter des Königs von Italien seit einigen Wochen in Washington lebte und mit dem Toten gut befreundet gewesen war. Da niemand im Hause den Eintritt einer unbekannten Person bemerkt hatte, da ferner die Entreetür geschlossen gewesen war, und da endlich Tom B. Kelley noch genau so im Stuhle saß, wie der Diener ihn verlassen hatte, so konnte man nur annehmen, daß der reiche und angesehene junge Mann Selbstmord verübt habe, denn er wäre doch gewiß nicht sitzen geblieben, wenn ein bekannter oder ein unbekannter Besucher bei ihm eingetreten wäre.

Das Stilett, das bei dem Toten vorgefunden wurde, war eine kostbare Waffe, das Heft mit Juwelen besetzt. Auf einer goldnen Platte trug es die Initialen E. R. – Signor Ferraro erkannte es sofort als Eigentum der Miß Ethel Romano, der älteren Tochter einer in Washington ansässigen italienischen Familie; und nun kam das Merkwürdige: Auch Ethel Romano endete ihr Leben durch Selbstmord – in derselben Nacht und in derselben Stunde wie Tom B. Kelley, den man allgemein als ihren Verlobten betrachtet hatte.

Als gegen elf Uhr abends die Zofe an die Schlafzimmertür der Miß Ethel klopfte, um dieser bei der Nachttoilette zu helfen, hatte sie keine Antwort bekommen, leise die Klinke niedergedrückt, war eingetreten, hatte die junge Dame auf dem Bett liegend gefunden, das Gesicht der Wand zugekehrt – und dann hatte der Fuß des Mädchens, das die Schläferin wecken wollte, Glasscherben auf dem Teppich berührt – von einem Weinglas herrührend. Miß Ethel Romano hatte sich vergiftet – mit Digitalin – auf dem Tisch stand noch die erst halb geleerte Flasche.

Das Allermerkwürdigste aber erfuhren die Washingtoner zugleich mit der Nachricht von den rätselhaften Selbstmorden – an dem Unglückstage, gegen acht Uhr abends, hatte in aller Stille die Trauung der Miß Mabel Romano, der Schwester Ethels, mit dem italienischen Sondergesandten Signor Ferraro stattgefunden!

Standen diese drei Ereignisse in irgend einem inneren Zusammenhang? Waren etwa die Selbstmorde die unmittelbare Folge der vorangegangenen Hochzeit?

Diese Fragen hatten die Zeitungsschreiber natürlich aufs breiteste erörtert, ohne jedoch eine nur halbwegs genügende Erklärung finden zu können. Was die Herren da zusammensalbaderten, las Nobody natürlich nicht. Er warf sämtliche Zeitungen zum Fenster hinaus und lehnte sich schlafend in seine Ecke zurück. In Washington begab er sich sofort im eignen Wagen, den er vorausgesandt hatte, nach dem Portlandhotel, wurde dort ehrfurchtsvoll empfangen, kleidete sich um und fuhr vor dem Hause der Mrs. Romano vor, in dem der echte Dom Miguel ein gerngesehener Gast war. Er ward sofort empfangen, fand sich einer Dame gegenüber, der man nicht angesehen hätte, daß sie bereits zwei erwachsene Töchter besaß, deren schönes, mildes Antlitz durch den Ausdruck tiefster Kümmernis etwas Hoheitsvolles bekam; doch als Nobody nun als Dom Miguel sein Beileid auszusprechen begann, als er seine Rechte als alter Freund des Hauses geltend machen und etwas mehr über das traurige Ereignis erfahren wollte, da ward Mrs. Romano auf einmal totenblaß, wankte und tastete nach der Lehne eines Stuhles. Ehe Nobody ihr helfen konnte, hatte sie sich indes so weit wieder erholt, daß sie mit leiser Stimme zu sagen vermochte: »Entschuldigen Sie mich, Dom Miguel. Ich bin nicht recht wohl und muß Sie bitten, mir morgen früh noch einmal die Ehre Ihres Besuches zu schenken.«

Nobody war bereits aufgestanden, verbeugte sich jetzt, wünschte der Dame gute Besserung und ging, um am nächsten Morgen in den Zeitungen zu lesen, daß in der verflossenen Nacht Mrs. Romano infolge eines Herzschlages jäh verschieden sei.

»Jetzt wird die Geschichte beinahe unheimlich,« sagte der berühmte Detektiv da zu sich selber; »aber die Urheber der beiden ›Selbstmorde‹ haben doch etwas übereilt gehandelt – so schnell brauchten sie die arme Dame nicht aus dem Wege zu räumen. Ich hätte sie gern geschützt; aber zum Teufel, ich dachte doch nicht, daß sie es so eilig haben würden. Na, wartet, dafür wird euch der Nobody auf die Seele knien, daß ihr vor Angst pfeifen sollt! Diese Schwefelbande!«

Er hatte bereits eine Erklärung der Tragödie gefunden, denn ehe er an diesem Morgen das Hotel verließ, schrieb er in sein Tagebuch: »Mrs. Romano starb durch die Hand eines Mörders, eines Schurken, der seine verruchte Tat ebensogut mit dem Schleier des Geheimnisses zu verhüllen wußte, wie jener Verbrecher, der ihre unglückliche Tochter tötete.«

Das war also Nobodys Meinung, trotzdem ganz Washington fest überzeugt war, daß Miß Ethel und Mr. Keller durch Selbstmord geendet hatten, Mrs. Romano aber einem Herzschlag erlegen war.

Nobody begab sich zum Hausarzte der Familie Romano, einem Dr. Darkley, der noch jung war, aber bereits eine große Praxis besaß. Er hatte am Tage zuvor im Bureau von Worlds Magazine nach Nobody gefragt und diesem darauf persönlich die Vorkommnisse mitgeteilt, hatte jetzt natürlich keine Ahnung, daß der berühmte Detektiv und Dom Miguel Domenico eine und dieselbe Person seien. Er kannte den Brasilianer genau, und nur deswegen war er bereit, ihm eine halbe Stunde seiner kostbaren Zeit zu opfern.

Nobody ging ohne Umschweife auf sein Ziel los.

»Ich komme zu Ihnen wegen des plötzlichen Todes der Mrs. Romano,« sagte er. »Darf ich Sie mit einigen Fragen belästigen?«

»Bitte, Dom Miguel! Stehe ganz zu Ihrer Verfügung!«

»Wissen Sie, daß ich gestern abend noch bei Mrs. Romano war?«

»Ich erfuhr nur von einem Besucher, den aber die neue Dienerin nicht kannte. Man forscht nach ihm. Das waren also Sie?«

»Jawohl, das war ich! Glauben Sie, daß die Dame infolge eines Herzschlages starb?«

»Nein!« antwortete der Doktor kurz und bündig. »Sie starb an Gift!«

Nobody lächelte, obwohl er diese Antwort nicht erwartet hatte.

»Es war ein Narkotikum?« fragte er.

Jetzt stutzte Darkley.

»Woraus schließen Sie das? Sind Sie nicht, was Sie scheinen? Ah – Mr. Nobody! Ich ahnte es beinahe: denn außer Ihnen wäre schwerlich jemand auf den Verdacht einer Vergiftung gekommen.«

Der Detektiv hatte Perücke und falschen Bart abgenommen und dem Arzte einen Moment sein wahres Gesicht gezeigt; jetzt saß er bereits wieder als Dom Miguel Domenico da.

»Mrs. Romano nahm ein Schlafmittel, um Vergessenheit zu finden?« fragte er weiter.

»Ja!«

»Dabei hatte sie das Unglück, eine zu große Dosis in den Wein zu schütten!«

»So muß es sein,« bestätigte Darkley.

»Man fand bei ihr dasselbe Gift, an dem ihre Tochter gestorben war?«

»Es war Digitalin!«

»Also ein starkes Herzgift, das aber nicht unbedingt tödlich wirken muß, wenn der Organismus bereits daran gewöhnt ist, und Mrs. Romano nahm es doch schon längere Zeit!«

»Woher wissen Sie das?« staunte der Doktor.

»Lassen wir das jetzt! Meine Annahme stimmt jedenfalls?«

»Ganz und gar!«

»Sie verschrieben der Dame das Digitalin nicht?«

»Auch das ist Ihnen bekannt? Mr. Nobody, ich muß gestehn –«

»Dom Miguel Domenico, bitte!« unterbrach der Detektiv den ganz verblüfften Arzt. »Noch eine Frage: Was dachten Sie, als Sie die Leiche zuerst erblickten?«

»Daß ein Selbstmord vorliege!«

»Sie glauben das auch jetzt noch?«

»Unbedingt!«

»Genau wie bei der Tochter also?«

»Genau so!«

Nobody schwieg einen Moment, dann fragte er: »Sie glauben, daß Tom B. Kelley nicht durch eigne Hand starb, sondern ermordet wurde?«

»Keineswegs! Er tötete sich selbst!«

»Wie kommen Sie zu dieser Behauptung?«

»Man müßte eine Spur des Mörders gefunden haben. Außerdem hätte derselbe nicht die Waffe zurückgelassen, und dann, Mr. Kelley hätte sich gewehrt!«

»Das ist logisch gedacht!« gab Nobody zu. »Sie kannten die Waffe?«

»Jawohl; sie gehörte Miß Ethel Romano. Sie bot das Stilett einst sogar Kelley als Geschenk an!«

»Nu nee!«

»Doch! Er nahm es nicht an, sagte, daß eine solche Gabe Unglück brächte.«

Dr. Darkley hatte das Stilett noch am Tage der Katastrophe auf dem Tische im Zimmer Ethels liegen sehen.

»Mr. Kelley liebte die junge Dame?« forschte Nobody, natürlich immer seine eignen Gedanken verbergend.

»Nein,« antwortete der Arzt, »ich glaube es wenigstens nicht; er konnte ja auch gar nicht an eine Heirat denken!«

»Warum nicht?«

Darkley zögerte mit der Antwort. Hier schien ein Geheimnis ins Spiel zu kommen. Endlich aber versetzte er: »Mr. Nobody – wollte sagen Dom Miguel, ich rief Sie zu Hilfe, ich muß Ihnen daher alles offenbaren – Mr. Tom B. Kelley war bereits verheiratet!«

Das hatte Nobody allerdings nicht zu hören erwartet. Doch wenn der Arzt gemeint hatte, der Detektiv werde überrascht sein, so sah er sich getäuscht.

»Aha!« erwiderte der falsche Brasilianer nur. »Er vertraute dies Ihnen gelegentlich an?«

»Nein, sondern aus einem bestimmten Anlaß, den ich aber unter allen Umständen verschweigen muß!«

»Seine Frau lebt noch?«

»Ich nehme es an!«

»Wo?«

»Das weiß ich nicht!«

»Sie kam öfter zu Besuch?«

»Nie. Ich habe sie nie gesehen!«

»Da wäre also ein Anhaltspunkt gegeben. Die Frau muß ich finden,« murmelte Nobody so leise, daß der Arzt ihn nicht verstehn konnte.

Derselbe mochte aber doch die Gedanken seines Besuchers erraten haben, denn er meinte: »Sie hat mit der Tat nichts zu tun. Es liegt ganz bestimmt ein Selbstmord Kelleys vor.«

Nobody antwortete nicht, ließ sich nicht weiter auf diesen Punkt ein, fragte vielmehr ganz unvermittelt: »Kennen Sie den Signor Ferraro?«

»Nur wenig.«

»So. Dann habe ich jetzt weiter nichts zu fragen. Ich danke Ihnen, Doktor!«

»Sie werden die Sache im Auge behalten? Es liegt mir als Hausarzt der Familie viel daran, daß unzweifelhaft festgestellt wird, daß wir es hier mit drei Selbstmorden zu tun haben, von denen der eine allerdings auf eine Unvorsichtigkeit zurückzuführen ist.«

»Ich werde dies bestimmt aufklären,« entgegnete Nobody etwas zweideutig.

»Noch eins! Wie kamen Sie dazu, als Dom Miguel Domenico aufzutreten? Vorhin war ich zu sehr überrascht –«

»Doktor, der Mensch braucht nicht alles zu wissen,« lächelte der Detektiv, und hinaus war er.

Während er die Treppe hinabstieg, sagte er zu sich selber: »Ein dreifacher Mord – und ich bin dem Täter bereits auf der Spur!« –

Im Hotel angekommen, schrieb er mehrere Stunden lang, packte dann die beschriebenen Bogen in ein großes Kuvert, schloß es und schrieb darauf: ›Sobald mein Telegramm eintrifft, ist dieses Manuskript zu setzen!‹ Es war der ausführliche Bericht über den dreifachen Mord, und die Ueberschrift lautete seltsamerweise: ›Der Indianerkopf.‹

Was hatte sie mit dem Verbrechen zu tun?

Das war vorläufig noch Nobodys Geheimnis, das aber sogleich aufgeklärt werden soll.

Der Detektiv begab sich zu Fuß in den Almoria-Klub, dem Dom Domenico angehörte, und dessen Mitglied auch Tom B. Kelley gewesen war. Diese englischen und amerikanischen Klubs sind Institute, die ihren Mitgliedern alle möglichen Bequemlichkeiten, vor allem ein eignes Heim gewähren. Die Einrichtungen können hier nicht näher geschildert werden, es sei nur erwähnt, daß in jedem Klub ein sogenannter Carriageclerk angestellt ist, an den man sich wendet, um einen Wagen zu bekommen. Er versorgt denselben pünktlich zur bestimmten Zeit, bezahlt den Kutscher selbst und überreicht den Herren nur allmonatlich die Rechnung. Solche Carriageclerks kennen natürlich nicht nur die sämtlichen Klubangehörigen genau, sondern sind auch in vielen Beziehungen deren Vertraute, namentlich in Liebessachen und galanten Abenteuern.

Dom Miguel winkte den Carriageclerk des Almoria-Klubs zur Seite, fragte, ob er einige Minuten Zeit habe. Der Mann war bereit; die Unterredung dauerte jedoch mehr als eine Stunde, und hier fand Nobody eine weitere Spur von dem Weibe, das mit Tom B. Kelley in Verbindung zu bringen war. Der Clerk hatte den jungen Mann gern gehabt, glaubte auf keinen Fall an einen Selbstmord und behauptete sogar, daß Kelley aus Eifersucht ermordet worden sei. Derselbe habe eines Tages einen Wagen für die Nachmittagsstunden bestellt, denselben aber nicht selber benutzt – eine schwarzgekleidete Dame sei aus dem Hause getreten, und der Kutscher habe sie nach dem Bahnhofe bringen müssen, von wo sie nach New-York gereist sei. Das wäre am 15. des vorigen Monats gewesen, und am 15. des laufenden hatte man Tom B. Kelley tot gefunden!

War hier nur ein Zufall im Spiele?

Der Carriageman behauptete zuversichtlich, daß die Unbekannte den unglücklichen, jungen Mann ermordet habe.

»Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?« fragte Dom Miguel. »Schließen Sie es nur daraus, daß die Dame gerade am 15. bei Kelley war?«

»Nein, ich habe noch einen andern Grund. Mr. Kelley trug an der Uhrkette einen auffallenden Ring, einen engen Goldreif, daran hängend einen aus Stein geschnittenen Indianerkopf, sehr schön gearbeitet, nicht größer als ein Kirschkern. Es mußte ein Amulett sein, ein Talisman. Ich fragte ihn einmal, was der Ring zu bedeuten habe, da antwortete er lange nicht, sagte aber dann: ›Dieses Kleinod hat eine seltsame Geschichte, die ich Ihnen freilich nicht erzählen kann. Jedenfalls werde ich es tragen, so lange ich lebe!‹«

»Na und?« fragte Nobody, ganz die Neugier eines alten Herrn zur Schau tragend.

»Als ich von der Ermordung Mr. Kelleys hörte, forschte ich sofort nach, ob man den Ring bei ihm gefunden hätte. Er war nicht da – klingt es da unwahrscheinlich, wenn ich behaupte: Der, der dem Unglücklichen den Dolch ins Herz stieß, raubte ihm auch das Kleinod?«

»Wen fragten Sie wegen des Ringes?«

»Den Kammerdiener!«

»Ist derselbe noch hier?«

»Jawohl!«

Der Carriageclerk nannte die Adresse.

Nach einigen weiteren, aber nebensächlichen Fragen verließ Dom Miguel den Klub, suchte den Kammerdiener Tom Kelleys auf, dem der echte Brasilianer ja gut bekannt war. Der Mann antwortete prompt auf alle Fragen des Detektivs, bestätigte, daß der Ring mit dem Indianerkopfe verschwunden gewesen, wußte aber nichts davon, daß sein Herr Damenbesuche empfangen habe.

Wo er am letzten Fünfzehnten war? In Nordkarolina, ein Pferd anzusehen, das sein Herr kaufen wollte. Es sei aber nichts wert gewesen. Wo Tom B. Kelley zuletzt am meisten verkehrt sei? Beim Abgeordneten Brown, einem reichen Manne, dem die Aerzte nur noch wenige Tage zu leben gäben, er sei herzleidend. Er veranstalte jeden Tag neue Vergnügungen, wolle den Rest seines Lebens wenigstens in dulci jubilo verbringen, habe alles eingeladen, was zur Gesellschaft zähle.

Als Miguel Domenico mußte Nobody auch diesen Sonderling kennen. Die Krankheit war aber offenbar erst neuerdings ausgebrochen. Es war ein rapider Kräfteverfall. Der sonst so wohlbeleibte Mann war binnen wenigen Tagen in ein nur aus Haut und Knochen bestehendes Skelett verwandelt worden, daß keiner seiner früheren Freunde ihn wiedererkannt haben würde.

Nobody entschloß sich, diesen bedauernswerten Mann sofort aufzusuchen, denn dort verkehrten sicher alle die Personen, die mit dem Mr. Kelley in mehr oder minder vertrauten Beziehungen gestanden hatten. Dort konnte am ersten eine weitere wichtige Spur gefunden werden. Dr. Darkley war auch in der Brownschen Familie Hausarzt. Er mußte Aufschluß über die Ursache des schnellen Kräfteverfalles des Abgeordneten geben können.

Mr. Brown war tatsächlich nur noch ein lebendes Gerippe, aber sein Geist war durch die Krankheit ebenso unberührt wie sein guter Humor. Er besaß zwei Töchter, denen er, wie so viele seiner Landsleute, klassische Namen gegeben hatte, die ältere hieß Eudoxia, die jüngere Daphne, und mit beiden ward der reiche Brasilianer nochmals bekannt gemacht. Derselbe bemerkte unter den Gästen auch den Dr. Darkley im Gespräch mit einem fremdländisch aussehenden, jungen Manne, offenbar Signor Ferraro, der italienische Spezialgesandte, beobachtete beide eine Zeitlang und zog sich dann, um eine Zigarre zu rauchen, in eine Art Wintergarten, unmittelbar neben dem Saale, zurück. Hier nahm er inmitten einer Palmengruppe Platz, wollte eben die Zigarrentasche öffnen, da vernahm er hinter sich das Rauschen von Damenkleidern, und dann sagte eine weibliche Stimme: »Sieh, Fred, das ist die Fingerhutpflanze, aus deren Blüten und Samen das Digitalin gewonnen wird, dasselbe Gift, an dem Mrs. Romano starb!«

»Mrs. Romano ist doch einem Herzschlag erlegen!« antwortete der junge Mann, der Nobody als Neffe des Mr. Brown vorgestellt worden war.

»Glaubst du denn das wirklich? Ich meinerseits kann nicht zu der Ueberzeugung gelangen, daß die drei Todesfälle nicht in einem inneren Zusammenhang miteinander stehn.«

»Na aber, Eudoxia – Kelley wurde erdolcht, Ethel vergiftete sich –«

»Und ich sage, daß alle drei ermordet worden sind!« behauptete die junge, blondhaarige Dame mit großer Entschiedenheit.

Nobody konnte die beiden von seinem Platze aus nicht sehen, wollte eben aufstehn, um sich ihnen zu nähern, da bemerkte er unweit von sich hinter einer Blattpflanze lauschend zusammengeduckt eine ganz schwarzgekleidete Dame, offenbar eine Lauscherin, die sich unbemerkt hier eingeschlichen haben müßte, denn ihre Kleidung paßte nicht zum Feste. Da sah sie sich durch den angeblichen Brasilianer entdeckt, wendete sich hastig ab und verschwand, ehe Nobody noch feststellen konnte, wohin.

Er verließ sofort seinen Platz, kam an Eudoxia Brown und Fred vorüber, entschuldigte sich, daß er sich ihnen nicht widmen könnte, und kehrte in den Ballsaal zurück. Aber nirgends konnte Nobody eine schwarzgekleidete Dame bemerken. Niemand wollte etwas von ihr wissen. Eine Minute später kehrte auch Eudoxia Brown zurück und gesellte sich zu ihm.

In diesem Augenblick traten zwei Herren an sie heran, Signor Ferraro und Dr. Darkley. Ersterer verbeugte sich, sagte, daß ein dringendes Geschäft ihn leider um die Ehre bringe, den nächsten Walzer mit Miß Eudoxia tanzen zu können, Dr. Darkley werde ihn mit ihrer Erlaubnis vertreten. Die junge Dame war einverstanden, nahm den Arm des Arztes und entfernte sich.

Ferraro blieb noch eine Minute stehn, zog dann die Uhr, um zu sehen, wie spät es sei. In demselben Moment fiel ein in Seidenpapier gewickelter Gegenstand, den er in der Westentasche getragen haben mußte, zu Boden, gerade vor Nobodys Füße. Der Gesandte bückte sich hastig, aber die Umhüllung hatte sich gelöst. Der Detektiv erblickte einen Ring mit daranhängendem kunstvoll geschnittenen Indianerkopf. Der Italiener musterte Nobody scharf, als er den Ring wieder einsteckte. Dann verließ er den Saal. Der Detektiv folgte ihm in einiger Entfernung, sah, daß jener zu seinem Wagen trat, dem Kutscher etwas zuflüsterte und dann einstieg. Das Geschirr blieb trotzdem halten.

Unmittelbar daneben stand Nobodys Wagen, auf dem Bock Chick.

»He, Kutscher!« redete der falsche Brasilianer ihn leise an. »Befindet sich außer dem Herrn noch jemand in dem Wagen neben uns?«

»Ja, Herr, eine Dame.«

»Seit wann hält derselbe hier?«

»Etwa seit einer Stunde.«

»Sie kam darin an?«

»Jawohl, eilte ins Haus, kehrte erst vor einigen Minuten zurück.«

»Sie war schwarz gekleidet?«

»Nein, wie alle andern Damen, in Balltoilette.«

Nobody verbarg seine Ueberraschung, gab seinem Gehilfen einige Anweisungen und stieg ein. Er nahm für gewiß an, daß die schwarze Dame, die er im Wintergarten beobachtet hatte, dieselbe sei, welche nach der Aussage des Carriageclerk am 15. des vergangenen Monats Tom B. Kelley besucht hatte. Jetzt saß sie im Wagen des Italieners, und dieser führte genau denselben Ring bei sich, wie der Ermordete einen an der Uhrkette getragen hatte.

In diesem Augenblicke trieb der Kutscher des Italieners die Pferde an. Es ging im flottesten Tempo durch die Connecticut-Avenue nach dem Dupont Circle und von dort über die New-Hampshire-Avenue in die O-Street. Der Wagen Nobodys folgte dem vorausfahrenden, und Chick verstand es, ihn immer in Sicht zu behalten, ohne daß seine Insassen Verdacht schöpfen konnten, hielt an der Ecke der XVII. Straße. Nobody stieg aus, sah, wie der andre Kutscher den Schlag öffnete; eine Dame verließ den Wagen, in großer Toilette, ein Opernglas in der Hand, und trat in das Haus, das dem italienischen Gesandten gehörte. Dann lenkte der Kutscher um und kehrte zu dem Hause Mr. Browns zurück, wo er Signor Ferraro absetzte, der sich sofort wieder unter die Gesellschaft mischte. Auch Nobody tat dies, verabschiedete sich aber bald, war schon nach einer halben Stunde in seinem Hotel, besprach sich dort mit seinem andern Gehilfen, der als Kammerdiener fungierte, und half diesem beim Anlegen seiner Verkleidung.

Wie üblich hatten sich die meisten Gäste Mr. Browns nach Beendigung des Balles noch einmal in den Almoria-Klub begeben. Auch Nobody fuhr hin. Er führte Nick dort als seinen Privatsekretär ein und trat dann zu einer Gruppe, deren Mittelpunkt Signor Ferraro bildete, hielt sich aber hinter derselben, während Nick sich an die Bar stellte und nach amerikanischer Sitte für die Umstehenden eine Runde Brandy und Soda kommen ließ.

In dem Augenblicke, als der Italiener aus der Hand des Gebers sein Glas entgegennehmen wollte, rief Nobody, als Dom Miguel, anscheinend eben erst ankommend: »Hallo, Mr. Ferraro!«, glitt aber, als er ihm die Hand reichen wollte, unversehens aus – ein allgemeines Gedränge entstand – einer der Herren ward gegen den andern geschleudert, alle lachten und stellten, nachdem sie wieder auf ihren Füßen standen, fest, daß Dom Miguel auf ein Stück Orangenschale getreten war, das ihn zu Fall gebracht hatte.

Den Italiener schien der Zwischenfall aber doch verdrossen zu haben, denn er stand auf, zog seine Uhr, starrte erschrocken auf dieselbe, griff noch einmal in die Tasche, suchte darin, ward totenblaß und stieß einen halblauten Fluch aus.

»Ich bin be-« rief er aus, besann sich aber, strich sich mit einer Hand über die schweißbedeckte Stirn und vollendete mit erzwungenem Lachen: »Ich muß bekennen, meine Herren, daß ich bezecht bin! Hahaha! Es ist wahrhaftig höchste Zeit, daß ich gehe!«

Er wendete sich grüßend ab und verließ den Raum. Der Brasilianer aber hatte mit seinem Sekretär in einer Ecke eine leise Unterhaltung, wobei sie gedämpft lachten. – Eine halbe Stunde nach dem Zwischenfalle ward an der Wand neben der Tür folgende Ankündigung befestigt:

»Wenn die Person, die aus der Tasche eines Herrn eine Uhr mit daran befestigtem Ringe stahl, beides dem Eigentümer unversehrt zurückbringt, wird sie den vollen Wert der Gegenstände in bar erhalten. Eine Anzeige braucht sie nicht zu fürchten.«

Diese Ankündigung gab natürlich sofort Stoff zu einem neuen Gespräch, an dem aber Dom Miguel nicht teilnahm. Er verließ den Klub, um nach Hause zu fahren, und erstaunte etwas, als er vor der Tür noch den Italiener antraf. In Wirklichkeit wunderte Nobody sich allerdings nicht darüber; er hatte im Gegenteil vorausgewußt, daß dieses Zusammentreffen stattfinden würde, ließ sich aber nichts merken, als Signor Ferraro nun freudig zu ihm trat und sagte: »Gut, daß ich Sie noch treffe, Dom Miguel, es muß ein Mißverständnis vorliegen –«

»Ihr Wagen ist nicht hier? Bitte, ich schätze es mir als eine Ehre, Sie nach Hause bringen zu dürfen. Wollen Sie nur dem Kutscher die Adresse sagen.«

Das geschah. Die beiden stiegen ein, und kaum hatte der Wagen sich in Bewegung gesetzt, da begann Ferraro: »Wissen Sie, Dom Miguel, was mir vorhin im Klub passiert ist? Ich war natürlich nicht betrunken. Ich wollte rufen: ›Ich bin bestohlen worden!‹«

»Und das ist eine Tatsache?« fragte Nobody so ruhig, als hätte nicht Nick auf sein Geheiß dem Italiener die Uhr mitsamt dem Ringe gestohlen und an deren Stelle eine wertlose Basaruhr placiert.

»Jawohl!« antwortete Ferraro.

»Dann ging die Bekanntmachung von Ihnen aus?«

Auch das bejahte der andre und fügte hinzu: »Sie waren infolge ihres Ausgleitens der allerdings unschuldige Urheber oder Gelegenheitsmacher des Diebstahls, und ich wartete auf Sie, um mit Ihnen reden zu können, denn Sie haben vorhin bei Browns den Ring gesehen, der mir entfiel und jetzt mit gestohlen wurde.«

»Ich? Einen Ring? Ah, richtig! Ich hatte das schon wieder vergessen.«

»Nun, ich habe keinen bestimmten Verdacht, bitte Sie aber dringend, wenn Sie mir in dieser Hinsicht an die Hand gehn können, es zu tun. Die beiden Gegenstände haben für mich einen ideell geradezu unschätzbaren Wert. Ich würde, um sie wiederzuerlangen, gern 10.000 Dollar und mehr zahlen!«

»Und Sie wollen den Dieb straffrei ausgehn lassen?«

»Gern, wenn er mir seine Beute freiwillig zurückbringt; im andern Falle natürlich nicht!«

Nobody hätte jetzt den Italiener fragen können, warum ihm an der Uhr und dem Ringe so viel gelegen sei, ebenso, ob er wisse, daß Tom B. Kelley einen gleichen Ring besessen habe. Er tat es nicht, denn er verfolgte einen ganz bestimmten Plan und spielte deshalb eine Rolle, durch die er Signor Ferraro auf eine falsche Spur locken wollte. Aus diesem Grunde entsprach er auch dessen Einladung, noch eine Zigarre mit ihm zu rauchen, und zwar in der Wohnung des Italieners, wunderte sich nicht, daß dieser trotz der vorgerückten Nachtzeit noch nach seiner Frau schickte, ließ sich von dieser die Hand schütteln, Wein einschenken und brannte dann in Gemütsruhe seine Importe an.

Die Signora Ferraro war, wie erwähnt, die Schwester der unglücklichen Ethel Romano und kurz vor deren Tode mit dem Gesandten getraut worden. Sie war eine echt südliche Schönheit, besaß eine äußerst wohllautende Stimme und die diskreten Umgangsformen der wirklich vornehmen Welt.

Daß Nobody sofort beim ersten Zuge aus der Importe merkte, woran er war, lockte ihm ein verstohlenes Lächeln des Triumphes über seine richtige Kombination ab. Dabei unterhielt er sich aber flott, erst mit beiden, dann nur noch mit der Frau, da der Gatte sich unter einem Vorwande entfernte, hatte freilich Mühe, seine immer schwerer werdenden Lider offenzuhalten, und bat endlich um Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen.

Sofort stand die Signora auf, um ihren Gatten zu rufen. Sie sah nicht, daß Nobody offen hinter ihr her lachte – als sie wiederkam, lag er in tiefer Bewußtlosigkeit in seinem Sessel und schnarchte wie eine Brettsäge.

Jetzt lächelte die Dame, winkte nach rückwärts, ihr Mann kam hinter einem Wandteppich hervor und untersuchte sämtliche Taschen seines Gastes.

»Er hat sie nicht bei sich,« murmelte Ferraro dann. »Ich dachte es mir; aber ich werde sie bei seinem Genossen finden. Ich benutze gleich seinen Wagen. Du wartest hier, bis er erwacht, und entschuldigst dann uns beide!«

Belustigt lachend stimmte die schöne Frau zu, und Nobody, der sich meisterhaft verstellte, hörte, wie Ferraro sich entfernte, wunderte sich nur darüber, daß dieser ihm nicht den falschen Bart und die Perücke genommen hatte; er blieb im übrigen bewegungslos liegen, bis er die rechte Zeit für gekommen hielt – dann wachte er auf, spielte seine Rolle weiter und sah mit Erstaunen, wo er war. Er schob die Schuld an seiner Müdigkeit auf den starken Wein und hörte nun, daß der Gatte Mrs. Mabels sich erlaubt hatte, gleich den Wagen seines Gastes zu benutzen, da er noch einmal in die Gesandtschaft gemußt habe.

Als Nobody zu Fuße seinem Hotel zustrebte, lachte er wieder mehrmals lautlos vor sich hin, betrat dann seine Wohnung und fand im Vorzimmer – genau so, wie er es erwartet hatte – seine beiden Gehilfen, in tiefem Schlafe liegend, oder vielmehr betäubt, vor. Es stimmte alles, und anstatt zu erschrecken oder ärgerlich zu sein, sagte er: »Na, auf die Gesichter der beiden, wenn sie aufwachen, bin ich gespannt. Ein smarter Kerl, dieser Ferraro!«

Er wollte aus dem auf der Waschtoilette stehenden Kruge ein Glas mit Wasser füllen, fand ihn jedoch leer und schellte dem Kellner. Eine Minute später hatte er das Gewünschte, machte mittels eines weißen Pulvers, das er einem Koffer entnahm, einen Trank zurecht und zwang erst Chick, dann Nick, zu trinken.

Sie erwachten fast sofort, und nun mußte Nobody allerdings herzlich über ihre verblüfften Mienen lachen. Die beiden konnten sich nicht erklären, wie es möglich gewesen, daß sie so fest eingeschlafen waren, und ihr Herr gab ihnen vorläufig auch keine Erklärung, fragte nur, wo Signor Ferraro ausgestiegen sei, und befahl dann Chick, ihm die gestohlene Uhr, sowie den Ring mit dem Indianerkopfe zu holen.

Beides war spurlos verschwunden. Der Dieb war seinerseits bestohlen worden; aber als Chick sah, daß sein Herr durchaus nicht ungehalten war, legte sich seine anfängliche Bestürzung rasch. Er erkannte, daß es sich hier um einen klug ersonnenen Trick handelte. Jedenfalls schlief Nobody fest und ruhig bis in den Tag hinein und stand erst auf, als ein Kellner ihm meldete, daß Dr. Darkley den Dom Miguel Domenico zu sprechen wünsche.

Eine halbe Stunde später saßen die beiden sich im Parlour gegenüber, und der Arzt begann die Unterredung, indem er sagte: »Mr. Nobody – pardon, Mr. Domenico, ich habe eine wichtige Entdeckung gemacht!«

»So? Dann schießen Sie los!«

»Ich brauche Ihren Rat!«

»In welcher Hinsicht?«

»In bezug auf den Dolch, den man neben der Leiche Tom B. Kelleys fand. Man hält die Waffe für das Eigentum der ebenfalls verstorbenen Miß Ethel Romano! Ich weiß, daß das nicht stimmt!«

»Aha!« versetzte Nobody. »Wem gehörte das Stilett also?«

»Einer andern jungen Dame, die wir beide sehr gut kennen. Geloben Sie mir, ihren Namen geheim zu halten, wenn ich Ihnen denselben jetzt nennen werde?«

»Selbstverständlich!«

»Sie heißt Eudoxia Brown!«

Langsam, wie in höchster Ueberraschung wiederholte der Detektiv den Namen, in Wirklichkeit wollte er nur das Gesicht des Arztes prüfen, ehe er eine Frage an ihn richtete.

»Sie irren sich nicht?« fragte er dann.

»Nein, ich bin meiner Sache sicher. So schwer es mir fällt, ich bleibe bei meiner Behauptung. Ich hätte Ihnen alles schon bei unsrer ersten Zusammenkunft sagen können, glaubte aber, Miß Eudoxia schonen zu müssen. Heute nacht jedoch drückte mich das Bewußtsein, Ihnen etwas verschwiegen zu haben, tief darnieder. Ich mußte mein Herz erleichtern.«

»Wissen Sie was?« entgegnete Nobody trocken. »Ich an Ihrer Stelle hätte das für mich behalten.«

Dr. Darkley schien aufs äußerste betroffen, wurde auch etwas bleich, sagte jedoch dann lächelnd: »Ihnen mußte ich mich doch anvertrauen.«

»Obgleich Sie Miß Eudoxia lieben?« fragte der Detektiv gelassen, aber seinen Besucher nicht einen Moment aus den Augen lassend.

Dieser sprang auf, errötete über und über, faßte sich wieder und rief: »Wahrhaftig! In bessere Hände als in die Ihrigen hätte ich die Untersuchung nicht legen können. Wie können Sie wissen, was ich als tiefes Geheimnis verwahre?«

»Nehmen wir an, ich hätte es Ihnen an der Nasenspitze abgelesen,« lachte Nobody. »Doch im Ernst! Wie kommen Sie auf die Vermutung, daß jener Dolch der Miß Brown gehörte?«

»Weil der andre aus Miß Romanos Besitz sich noch in deren Hause befindet. Beide gleichen einander allerdings vollkommen.«

»Und die Initialen?«

»Sind ebenfalls dieselben, denn die Mordwaffe gehörte einst auch Miß Ethel. Sie schenkte sie mir, und ich gab sie an Miß Eudoxia weiter, nachdem ich versucht hatte, aus dem eingravierten R ein B zu machen.«

»Wie stellten Sie fest, daß Miß Romano ihren Dolch noch besaß?«

»Ich suchte gelegentlich danach und fand ihn auch.«

»Dann kann allerdings nur die zweite Waffe in Frage kommen. Fahren Sie fort in Ihren Mitteilungen, Doktor!«

Der Arzt stutzte abermals, weil Nobody im voraus zu wissen schien, daß die Hauptsache erst kommen würde. Ehe er jedoch noch weiterzureden vermochte, sagte Nobody so ganz nebenbei: »Miß Eudoxia Brown war an dem Unglückstage bei dem Mr. Tom B. Kelley!«

Das ging Dr. Darkley denn doch zu weit. Er starrte sein Gegenüber an, als wäre es eine übernatürliche Erscheinung, dann rief er: »Mein Gott, vor Ihnen könnte man sich beinahe fürchten!«

»Das haben Sie mit Ihrem guten Gewissen doch nicht nötig,« entgegnete der Detektiv lächelnd, »und übrigens lag der Schluß sehr nahe. Der Dolch der Miß Brown kann doch nicht allein in das Zimmer Kelleys gekommen sein.«

»Ah, so meinen Sie?« atmete der Arzt auf. »Allerdings. Unsereins denkt nicht so logisch wie Sie!«

»Also meine Vermutung stimmt?«

»Jawohl. Miß Eudoxia war an dem betreffenden Abend bei Tom B. Kelley, kam kurz nach dem Weggang des Kammerdieners und verließ das Haus einige Minuten vor dessen Rückkunft.«

»Haben Sie sie dabei beobachtet?« fragte Nobody ohne das geringste Zeichen von Erstaunen über die unerwartete Nachricht.

»Nein. Jemand anders. Mir wurde es nur mitgeteilt.«

»Wer war dieser Jemand?«

»Bedaure!«

»Hm! Was wollte die Dame bei Kelley?«

»Ich weiß nicht, kann es mir nicht einmal denken.«

»War Miß Eudoxia allein?«

»Nein. Sie hatte ihre Zofe mit.«

»Dieselbe ist noch in ihren Diensten?«

»Auch nicht. Sie ist vorgestern nach Paris zurückgereist!«

»Haben Sie mit der Dame über diesen nächtlichen Ausgang gesprochen?«

»Natürlich nicht!«

»Noch eine Frage, Doktor! Erwiderte Miß Eudoxia Ihre Liebe?«

»Das – weiß ich nicht.«

»Sie haben sich ihr also nicht erklärt?«

»Nein.«

»Vermuteten auch nicht, daß sie ihr Herz einem andern geschenkt hatte?«

»Nein, ausgenommen vielleicht Tom B. Kelley.«

»Oho, old fellow! Seien Sie vorsichtig, sonst könnte es Ihnen selber an den Kragen gehn!«

»Mein Herr!«

»Ach was!« entgegnete Nobody fast grob. »Sie lieben ohne Erwiderung eine Dame, ahnen, daß sie mit Kelley intim ist, sehen sie zu diesem gehn, warten, bis sie ihn wieder verläßt, Sie sind außer sich vor Eifersucht, stürmen hinauf – giksss – weg ist er! Na, kann man sich die Sache nicht auch so denken?«

Mehr und mehr erbleichend hatte der Doktor dem Sprecher zugehört. Er kämpfte offenbar mit sich, um den in ihm aufsteigenden Zorn niederzuringen, ebensogut konnte es aber ein heftiger Schreck sein, der ihn bewegte.

»Na, Mr. Darkley, echauffieren Sie sich nicht,« lachte da Nobody, »es hat keinen Zweck. Sagen Sie mir lieber, ob Miß Brown den Mr. Kelley liebte.«

»Nein.«

»Sie haben den Ring gesehen, den letzterer an der Uhrkette trug?«

»Gesehen habe ich das Kleinod nicht, wohl aber davon gehört. Ich könnte es ganz gut beschreiben.«

»Danke, ist nicht nötig. Ich bekam vergangene Nacht einen gleichen Ring zu Gesicht.«

»Nicht möglich!«

»Doch. Der Eigentümer ist Signor Ferraro!« entgegnete Nobody kühl.

»Was?!«

Nur dieses eine Wort stieß Darkley hervor, indem er plötzlich aufsprang, aber der Ton, in welchem er es hervorbrachte, verriet nicht bloß Staunen, Schrecken und Unglauben, sondern auch Aerger. Der Mann vergaß ganz, daß er einem Detektiv gegenüberstand, und noch dazu dem berühmtesten.

»Jawohl!« bestätigte dieser. »Aber es kann ja auch sein, daß ich mich irrte, da ich den Ring Kelleys nie gesehen habe. Ich will Ihnen offen sagen, wie alles kam.«

Nobody erzählte eine aus Wahrheit und Erfindung gemischte Geschichte, deren ersten Teil Darkley aufmerksam anhörte, die ihn dann aber gleichgültig zu lassen schien. Er stand auf, bat den Detektiv noch einmal, alles daranzusetzen, daß das Dunkel aufgeklärt werde, was über den drei Todesfällen lag, und entfernte sich dann.

Kaum war er hinaus, da trat Chick ein und sagte zu seinem Herrn: »Wenn der Doktor die Wahrheit gesagt hat, dann ist die Affäre leicht aufzuklären.«

»Und Sie glauben, daß es die Wahrheit war?« fragte Nobody.

»Nein, höchstens ein Teil. Daß er den Ring nicht kennen wollte, war eine große Dummheit von ihm.«

»So! Warum?«

»Weil der Ring ein Erbstück ist, das seinem Eigentümer noch große Vorteile bringen kann. Der Doktor hatte keine Ahnung, daß auch Signor Ferraro einen solchen Ring besaß. Er glaubte, daß es außer dem seinen keinen weiter gäbe.«

Ohne ein Wort zu sagen, stand Nobody auf, schritt mehrmals im Zimmer auf und nieder, blieb dann vor seinem Gehilfen stehn und lächelte ihn sonderbar an.

»Chick,« versetzte er dann, »Sie werden von heute an aufhören, in meinen Diensten zu stehn – als Kammerdiener meine ich – Mr. Brown braucht einen – ich werde Sie dem Herrn empfehlen.«

Es bedurfte keines weiteren Wortes zwischen den beiden, Nobody begab sich direkt nach dem Hause des Abgeordneten. Der Kammerdiener meldete ihn an und kam dann zurück, um ihm zu sagen, daß er willkommen sei.

»Wie heißen Sie?« fragte der falsche Brasilianer den Mann.

»Clement Gordon, Sir.«

»So! Ich dachte Caulkins.«

Erbleichend wich der Mann zurück. Er wußte nicht, was er sagen sollte, da erlöste ihn der Detektiv aus seiner Verlegenheit.

»Beruhigen Sie sich. Ich bin Nobody. Ich freue mich, daß Sie wirklich ehrlich arbeiten, und es tut mir aufrichtig leid, Sie aus Ihrer Stellung drängen zu müssen. Doch es geht nicht anders. Sie müssen fort, jetzt noch, wie Sie stehn und gehn. Hier sind hundert Dollar. Erwarten Sie mich in New-York. Ich schreibe Ihnen unter dieser Adresse. Ihre plötzliche Abreise entschuldigen Sie telegraphisch, verlangen ebenso Ihr Gepäck und verzichten dafür auf den Lohn. Wollen Sie?«

»Für Sie, Mr. Nobody, tue ich alles, was Sie von mir verlangen,« versetzte der Mann in aufrichtiger Dankbarkeit.

»Dann all right! Ich werde mich Ihnen erkenntlich zeigen.«

Caulkins verschwand, und am Nachmittag bereits war Chick an die Stelle des Verschwundenen gesetzt. Er kannte seinen Herrn nicht, als dieser sich zu einem neuen Besuch einstellte, und Nobody begab sich sofort in den Wintergarten, auf denselben versteckten Platz, den er am Abend zuvor eingenommen. Er tat dies, weil er gesehen hatte, daß Dr. Darkley ebenfalls das Haus betreten, und in der Tat, kaum hatte er sich gesetzt, da ertönten Schritte, der Arzt und Miß Eudoxia Brown traten ein, blieben unweit von ihm stehn, und letztere begann etwas hochmütig: »Nun, Mr. Darkley, was haben Sie mir zu sagen?«

»Daß es höchste Zeit für uns ist, uns zu verständigen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie wissen, daß ich Sie liebe, ich habe es Ihnen oft genug gesagt.«

»Um so weniger brauchen Sie es jetzt zu wiederholen.«

»Verzeihung! Ich liebe Sie von ganzem Herzen, und Sie müssen mein Weib werden!«

»Ich muß?«

»Jawohl!«

»Lassen Sie doch nicht alle Pflichten eines Gentleman außer acht, Sir.«

»Bah! Sie zwingen mich dazu. Eudoxia, hören Sie mich! Ich kenne Ihr Geheimnis!«

Ein halblauter Schreckensruf erklang. Miß Brown taumelte einen Schritt zurück, aber Darkley erfaßte eine ihrer abwehrend vorgestreckten Hände und raunte der Zitternden zu: »Ich weiß alles, alles! Der Dolch, mit dem Tom B. Kelley getötet wurde, gehörte nicht –«

»O, still, still! Haben Sie doch Erbarmen!« wimmerte Eudoxia.

»– Miß Ethel Romano,« fuhr der Arzt unerbittlich fort, »sondern –«

»Schweigen Sie! Ich kann, ich mag nichts mehr hören!«

»Dann willigen Sie ein, meine Frau zu werden!«

Sie antwortete nicht. Nur ein Seufzer unterbrach das eintretende Schweigen. Den feinen Ohren Nobodys aber entging nicht ein leises Geräusch. Er sah Miß Daphne Brown eintreten und lauschend stehn bleiben. Jetzt mußte eine Katastrophe kommen. Darkley begann von neuem: »Ja, ich weiß, wem das Stilett gehörte, ich weiß auch, daß Sie an dem Abend, als Kelley getötet wurde, bei ihm waren.«

»So schweigen Sie doch!«

»O, es hört uns niemand. Das, was ich sage, bleibt vorläufig noch unter uns. Nur wenn Sie sich noch länger weigern, werden Sie die Folgen Ihres Tuns zu tragen haben.«

»Feigling, elender!« schrie Miß Eudoxia, dann sank sie plötzlich ohnmächtig zu Boden.

Darkley starrte einen Moment verblüfft auf sie nieder, schrak dann zusammen und schaute erschrocken in das haßerfüllte Auge Daphnes, die ihr Versteck verlassen hatte.

»Was bedeutet das?« fragte sie kalt.

»Sie haben es ja gehört,« entgegnete er spöttisch.

»Ich will wissen, was die Drohungen zu bedeuten hatten.«

»Ah, Daphne, du hast es gehört?« murmelte da Eudoxia, indem sie sich aufrichtete. »Glaubst du ihm?«

»Wo warst du an dem Abend, an dem Kelley ermordet wurde?« fragte die Angeredete streng.

»Ich war – war – zu Hause – in meinem Zimmer!«

»Das lügst du. Denn ich wartete von sieben bis zehn Uhr vergeblich auf dich!«

Eudoxia erbleichte von neuem, setzte mehrmals zum Sprechen an und sagte endlich: »Wo ich gewesen bin, das kümmert niemanden!«

Dann verließ sie den Wintergarten.

Daphne wendete sich dem Arzte zu.

»Warum drohten Sie ihr?«

»Weil ich ein Geheimnis von ihr kenne, geradeso wie von Ihnen.«

»Von mir?«

»Jawohl, obgleich Sie bemüht waren, es aufs sorgfältigste zu verbergen. Sie liebten Tom B. Kelley. Nein?«

»Sie haben recht,« gab sie ohne weiteres zu, »aber ich halte das Andenken des Verstorbenen für viel zu heilig, um mit Ihnen darüber zu sprechen!«

»Ah!«

»Meinetwegen können Sie dieses Geheimnis aller Welt verkünden!«

»Wer brachte ihn um?« fragte da Darkley plötzlich.

»Wer? Ein Feigling, der sich heimtückisch hinter den Arglosen schlich und ihn meuchlings erstach! O, wenn ich den Mörder finden könnte, ich würde ihn der strafenden Gerechtigkeit überliefern, sofort, ohne Erbarmen, und wenn es mein eigner Vater wäre! Und jetzt, Doktor, sagen Sie mir alles, was Sie von meiner Schwester und Tom wissen!«

»Wenn ich es nicht tue?«

»Dann zwinge ich Sie vor Gericht!«

Der Doktor lachte zur Antwort nur spöttisch auf. Er war offenbar fest entschlossen, keinerlei Rücksicht mehr zu üben. Er wollte sein Ziel unter allen Umständen erreichen. Daphne aber richtete sich hoch auf und rief ihm mit blitzenden Augen zu: »O, lachen Sie jetzt immer! Ich weiß doch, wie ich Sie bestimmt dahin bringen kann, mir die Wahrheit zu sagen, und ich schwöre Ihnen in dieser Minute, daß ich dieses Mittel anwenden werde!«

Ehe Darkley etwas entgegnen konnte, war die Dame aus dem Wintergarten hinausgerauscht, den Mann einfach stehn lassend, und dieser folgte ihr mit einem bösen Lächeln auf den Lippen. Nun konnte auch Nobody aufstehn. Das, was er heute gehört hatte, war wichtig genug gewesen, um ihm einen bedeutenden Schritt auf seinem Wege vorwärts zu helfen.

Doktor Darkley hatte ihn wiederholt belogen, denn derselbe kannte nicht nur genau den in Frage kommenden Ring mit dem kunstvoll geschnittenen Indianerkopf, sondern er hatte auch entgegen seiner Versicherung der Miß Eudoxia Brown wiederholt seine Liebe gestanden und war stets abgewiesen worden. Ein weiterer wichtiger Punkt war, daß auch Daphne den Mr. Tom B. Kelley geliebt hatte, mit geradezu leidenschaftlicher Glut, daß sie wußte, Eudoxia sei zweimal bei ihm gewesen. Sie konnte das nur erfahren haben, indem sie ihr nachschlich und vielleicht die Zofe ausfragte, welche die Schwester begleitet hatte und am Tage nach dem Morde entlassen worden war. Es sollte eine Französin gewesen sein, und sie mußte Nobody vor allem finden, denn sie konnte jedenfalls viel zur Aufhellung des Dunkels beitragen. Am wichtigsten aber war, daß sowohl Darkley, wie die beiden Schwestern nicht ein einziges Mal von einem Selbstmord Kelleys, sondern immer nur von dessen Ermordung gesprochen hatten.

Als Nobody den Wintergarten verließ, begegnete er zufällig Daphne. Sie sah ihn sonderbar prüfend an, als wolle sie feststellen, ob er schon länger in dem Raume gewesen sei, der Detektiv aber benutzte die sich ihm darbietende Gelegenheit sofort.

»Ah, Miß Brown, darf ich eine Frage an Sie richten?«

»Bitte!« erwiderte die junge Dame ihm etwas kühl und von oben herab.

»Ich interessiere mich ungemein für Kriminalsachen, schon von Jugend auf. Jetzt läßt mir der Fall Kelley keine Ruhe. Ich grüble oft darüber nach und möchte gern den Mörder ausfindig machen.«

»Sie, Dom Miguel?« lächelte Daphne spöttisch.

»Ja, und ich glaube, es wird mir gelingen. Ist Ihnen bekannt, daß der Ermordete stets einen sonderbaren Ring an der Uhrkette trug?«

»Ja.«

»Warum schätzte Mr. Kelley denselben so hoch?«

»Es war ein altes Erbstück, wohl drei Jahrhunderte alt, und es gab nur sieben solche Ringe.«

Nobody bedankte sich höflich und verließ das Haus. Unten begegnete er dem italienischen Sondergesandten, der ihn höflich und mit markierter Herzlichkeit grüßte, ganz so wie einen guten Freund, den man wider Willen beleidigt hat und gern wieder versöhnen möchte.

»Ich muß mich noch vielmals wegen der peinlichen Vorgänge von vergangner Nacht entschuldigen.«

»Bitte, nicht nötig! Das tat bereits Ihre Frau Gemahlin,« wehrte Nobody ihn ab.

»Die Verwechslung hat Ihnen nichts geschadet?«

»Nicht das geringste!«

»Das wird meine Frau freuen. Sie ist vor Erregung über den fatalen Irrtum krank geworden.«

»Das bedaure ich lebhaft.«

»Doch, Dom Miguel, ich kam hierher, um Ihnen etwas mitzuteilen, was auch Sie interessieren wird,« fuhr der Italiener fort. »Sie entsinnen sich, daß mir gestern Uhr und Ring gestohlen wurden?«

»Natürlich!«

»Nun, ich gab der Polizei eine genaue Beschreibung beider Gegenstände und bat, bei allen Pfandleihern nach ihnen zu forschen. Heute morgen schon hatte ich beide zurück!«

»Ah!« rief Nobody, bei sich aber dachte er: »Lüge du und der Teufel, Junge!« Dann fuhr er fort: »Sie sprachen davon, daß der Ring eine große Seltenheit sei. Darf man ihn einmal sehen?«

»Gewiß! Hier ist er!«

Signor Ferraro zog ein Kästchen aus der Tasche, öffnete es und gab Nobody einen Ring. Es war allerdings auch eine altertümliche Arbeit, aber nicht der echte, eine Schlange mit Diamantaugen, und es entging Nobody nicht, wie der Italiener verstohlen lächelte. Er ließ sich jedoch nichts anmerken, sondern betrachtete das Kleinod aufmerksam und sagte, als er es zurückgab:

»Der Ring muß noch einen besondern Wert als Andenken für Sie haben; jedenfalls ein Familienerbstück, was?«

»Sie haben es erraten. Er entstammt einem alten Geschlechte meiner Heimat, mit dem ich allerdings nur entfernt verwandt bin. Mir ist er nur deshalb so wert, weil ich ihn aus den Händen meines sterbenden Vaters empfing, gleichzeitig mit der Uhr.«

Er brachte auch diese zum Vorschein, und Nobody sah sofort, daß es die richtige war.

»In der Tat, Signor Ferraro,« sagte er, »Sie sind ein Glückskind!«

»Es scheint so!«

»O, es muß interessant, aber auch gefährlich sein, ein solches altes Erbstück zu besitzen. Man sagt ja, daß auch der arme Mr. Kelley einen sonderbaren Ring an der Uhrkette trug, und daß derselbe nach dem Tode des Unglücklichen nicht mehr aufzufinden war.«

»Ja, ich kannte diesen Ring. Kelley deutete mir einmal an, daß eine Liebesaffäre dabei sei. Doch ich will Sie nicht länger belästigen. Werden Sie uns die Ehre erweisen, morgen bei uns zu speisen? Ich würde es als einen Beweis ansehen, daß Sie mir und meiner Frau vollständig verziehen haben.«

»Ich nehme Ihre freundliche Ginladung mit Dank an.«

Kaum war Nobody allein, da setzte er sich an den Schreibtisch und verfaßte einen Brief, eine Erkundigung über die Familie Ferraro. Dann schritt er nach seiner Gewohnheit mehrmals im Zimmer auf und nieder und sagte dabei: »Dieser Italiener weiß nicht, mit wem er es zu tun hat, sonst würde er nicht mit solcher bodenlosen Frechheit auftreten; aber gerade, weil er mich unterschätzt, verrät er mir seine Pläne. Warte, Freund, dich werde ich in eine Falle locken, von der du keine Ahnung haben sollst.«

Nobody bestellte sich ein Bad, verschwand, als es fertig war, für eine halbe Stunde, und als die Tür des Raumes sich nach dieser Zeit wieder öffnete, trat ein junger Mann heraus, einer von jenen arbeitsscheuen Burschen, die sich tagsüber auf den Straßen, nachts in Spelunken herumtreiben und gelegentlich zu Dieben, ja, selbst zu Räubern werden. Diese Verkleidung hatte Nobody speziell zur Ausführung des Planes gewählt, den er heute ausführen wollte.

Gegen 11 Uhr verließ er das Hotel, indem er an der vor seinen Fenstern angebrachten Rettungsleiter in den Hof hinabkletterte, kam unbemerkt ins Freie und wanderte langsam dem Hause des Italieners zu, der um diese Zeit gewiß wieder im Hause des Mr. Brown weilte, wo er ja ständiger Gast war.

Das Unternehmen, das Nobody plante, war überaus gefährlich, aber er hatte trotzdem keine Waffe zu sich gesteckt; er tat das nie, denn er verließ sich viel mehr auf seine Geistesgegenwart und auf seine ans Uebernatürliche grenzenden Fähigkeiten, als auf einen Revolver oder einen Dolch.

Vor dem Hause Signor Ferraros angekommen, durchschritt er den Vorgarten, dessen Bäume den Weg in tiefe Finsternis hüllten, trat zur Haustür, prüfte mit raschem Griffe die Konturen des Schlüsselloches und schob dann in dasselbe seinen verstellbaren Schlüssel. Ein leises Knacken, der Eingang stand offen. Nobody verschwand darin und sah sich in einem matt erleuchteten Flur, in dessen Hintergrund eine Treppe nach oben führte.

Ohne Zögern, aber doch mit äußerster Vorsicht, schritt er auf dieselbe zu und stieg empor, nachdem er an ihrem Fuße das Licht seiner Blendlaterne in Brand gesetzt hatte. Ertappen lassen durfte er sich auf dieser Expedition natürlich nicht; denn in diesem Falle stand dem Hauseigentümer nach amerikanischer Anschauung das Recht zu, ihn als räuberischen Eindringling ohne weiteres niederzuschießen oder der Polizei zu übergeben.

Da Nobody die Räumlichkeiten kannte, brauchte er sich nicht erst zu orientieren. Er stieg ohne Aufenthalt bis zum dritten Stockwerk empor, das zu schönen, geräumigen Mansarden ausgebaut war, und öffnete dort mittels seines Apparates eine bestimmte Tür, auf die er geradeswegs zuschritt. Er trat ein, lehnte sie hinter sich wieder an und beleuchtete mit einem Strahl der Blendlaterne den Raum, in dem er sich befand.

Er war an die rechte Stelle gekommen, denn er befand sich in dem Arbeitszimmer des Italieners und begann sofort, den hier stehenden Schreibtisch zu untersuchen.

Eine große Rolle Papier fiel Nobody zuerst in die Hände. Er wickelte sie auf, stieß einen leisen Ruf der Ueberraschung aus und murmelte dann: »Hier habe ich das Geheimnis des Ringes. Das ist der Stammbaum des erbberechtigten Geschlechtes!«

Schnell zog er die Vorhänge an den Fenstern so dicht zusammen, daß kein Lichtstrahl ins Freie dringen konnte, kehrte dann zum Schreibtisch zurück, und wollte eben das Studium des Stammbaumes beginnen, da lauschte er und sprang auf.

Er hatte das Geräusch von leisen, ganz leisen Schritten gehört und wußte sofort, woran er war.

Einen raschen Blick warf er noch auf das Dokument, las die als Ueberschrift dienende Zeile und wußte genug.

In diesem Moment ward die Tür hastig aufgerissen. Signor Ferraro stand in der Oeffnung, und die Mündung seines Revolvers bedrohte Nobodys Stirn. Die Augen des Italieners verrieten, daß er entschlossen war, den vermeintlichen Einbrecher bei der geringsten Bewegung ohne Erbarmen niederzuschießen.

Und Nobody?

Er spielte seine Rolle als Räuber geradezu meisterhaft. Auf seinem bartlosen Gesicht prägten sich Angst und Furcht, aber auch Trotz und Entschlossenheit aus, und dabei spähte er noch umher, als wenn er eine Gelegenheit zur Flucht entdecken wollte.

»So,« sagte da Ferraro mit bösartigem Lächeln. »Es scheint mir, als hätte ich die Maus in der Falle gefangen.«

»Mir auch,« antwortete Nobody kaltblütig.

»Sie wissen, was mit Ihnen geschehen wird?«

»Das sieht ein Blinder!«

»Glauben Sie etwa, daß ich Sie laufen lassen werde?«

»Wenn nicht, warum schießen Sie nicht?«

»O, dazu ist noch Zeit.«

»So!«

»Ich denke, daß Sie mir etwas zu sagen haben!«

»Ich wüßte nicht, was!«

»Ich erschieße Sie, wenn Sie nicht reden!«

»Und wenn ich den Schnabel auftue, geht es mir nicht anders.«

»Doch!«

»Bah! Eins ist so gut, wie das andre!«

»Ich versichere Ihnen, daß Sie nicht das geringste zu befürchten haben, wenn Sie mir offenbaren, weswegen Sie hier sind!«

»Na, so was! Das wissen Sie nicht?«

»Sie meinen, um zu stehlen? Belügen Sie mich nicht! Sie sind nicht so dumm, daß Sie Wertsachen hier oben suchen.«

»Hm, das stimmt!«

»Also, wer sind Sie?«

»Sie konnten ebensogut fragen, was ich bin,« lachte Nobody, dem das Abenteuer Spaß zu machen begann, der aber insgeheim doch diesen Italiener bewunderte, wenigstens in gewissem Sinne, der sein Geheimnis so sorgsam zu hüten verstand.

Ferraro schwieg eine Weile, ohne jedoch den Eindringling aus dem Auge zu lassen oder den Revolver zu senken.

»Sie wollen also sagen, daß Sie nichts weiter sind als ein Dieb?« fragte er dann.

»Sie können mich, wenn es Ihnen beliebt, auch für etwas andres halten,« entgegnete Nobody spöttisch.

»Das tue ich allerdings. Sie sind in fremdem Auftrage hier, und wenn Sie mir nicht sagen, wer Sie schickte, werde ich Sie töten.«

»Das werden Sie hübsch bleiben lassen.«

»Ich befehle Ihnen zum letzten Male, zu reden!«

Nobody schien einen Moment nachzusinnen.

»Und wenn ich's tue?«

»Dann schone ich Ihr Leben!«

»So beweisen Sie mir erst, daß Sie es ernst meinen!«

»Wie?«

»Indem Sie Ihre Waffe senken. Sie dürfen es tun, denn ich selbst besitze keine, wie Sie sehen!«

»Dann werden Sie sprechen?«

»Ja.«

Der Italiener trat noch etwas zurück, so daß er die Türöffnung vollkommen versperrte, senkte den Arm mit dem Revolver, rief aber warnend: »Sobald Sie eine einzige Bewegung zur Flucht machen, erschieße ich Sie!«

Nobody zuckte die Achseln.

»Also wer schickte Sie in mein Haus?«

»Ein Mann, der großes Interesse –« er brach plötzlich ab, blickte anscheinend betroffen auf den dunklen Flur hinter Ferraro und stieß flüsternd hervor: »Ah, Signor, Ihre Gattin!«

Sofort wendete jener den Kopf. In demselben Moment schnellte Nobody in gewaltigem Sprunge vorwärts, zu dem er schon seine Muskeln angespannt hatte – ein Griff – der Italiener lag auf dem Boden, auf seiner Brust die Knie des Detektivs.

»So,« sagte derselbe halblaut. »Jetzt hat das Blättchen sich gewendet.« Dabei hatte er dem vor Zorn und Wut erbleichten Manne bereits den Revolver entrissen, durchsuchte ihm die Taschen, fand noch einen zweischneidigen Dolch, den er ebenfalls weit ins Zimmer hineinschleuderte. Dann richtete er sich auf, deutete auf einen Stuhl und befahl mit einer Stimme, gegen die es keinen Widerspruch gab: »Nehmen Sie dort Platz!«

Ferraro gehorchte denn auch ohne Zögern, lächelte sogar schon wieder. Er war vollkommen überzeugt, daß der Unbekannte, der ihn so rasch überwältigt hatte, sein Meister sei.

»Sie verstehn Ihr Geschäft!« sagte er mit einem Anflug von Humor.

»Das will ich meinen,« lachte Nobody. »Wo haben Sie denn Ihre Diamanten und Edelsteine?«

»Sie suchten solche hier oben? Da irrten Sie sich!«

»So? Dann haben Sie vielleicht eine wertvolle Uhr. Erlauben Sie!«

Nobody griff in die Westentasche des Italieners, hoffte, den Ring mit dem Indianerkopf dort zu finden, aber der war nicht da. Oder doch! Er stak in einer Innentasche. Sofort hatte Nobody ihn in der Hand und dazu noch jenen andern, den Ferraro ihm am Nachmittage im Hotel gezeigt hatte.

»Na also,« sagte er. »Da wären ja schon zwei Ringe! Was baumelt denn da dran? Ein Indianerkopf? Sonderbar!«

»Es ist ein altes Erbstück,« sagte der Italiener. »Lassen Sie mir dasselbe! Ich gebe Ihnen hundert Dollar dafür. Mehr ist es nicht wert. Verkaufen können Sie es ja doch nicht.«

»Das stimmt! Ich fürchte nur, Sie bieten zuwenig.«

»So gebe ich Ihnen fünfhundert Dollar!«

»Bah! Sie haben sie doch nicht bei sich. Wissen Sie was? Hier haben Sie die beiden Ringe wieder. Ich gebe mich nicht gern mit Kleinigkeiten ab. Ich komme lieber einmal wieder und habe dann hoffentlich mehr Glück. Da! Suchen Sie sich Ihr Eigentum zusammen!«

Nobody schleuderte die Ringe in eine Ecke, und sofort sprang der Italiener auf, um sie aufzuheben. Seine Augen funkelten dabei tückisch, denn sie lagen unmittelbar neben dem Revolver.

Da gab es einen Krach. Die Tür war ins Schloß geflogen. Der Detektiv war verschwunden. Er hatte seinen Zweck erreicht.

Mit einem wilden Fluch stürzte Ferraro ans Fenster, den Revolver mit gespanntem Hahn in der Rechten, beugte sich weit hinaus – jetzt tauchte unten im Portal ein Kopf auf – jedenfalls Nobody, der erst vorsichtig lauschte, ehe er ins Freie trat. Ein Schuß krachte. Der Detektiv stürzte, und im Nu verschwand oben der Italiener vom Fenster, sprengte gewaltsam die Tür, eilte die Treppe hinunter, höhnisch vor sich hinlachend, kam ans Portal und – fand nichts – weder den Leichnam des vermeintlichen Einbrechers, noch eine Blutlache.

»Verdammt!« knurrte er enttäuscht. »Der Kerl war doch klüger als ich. Möchte wissen, wer er war!«

Nobody hatte sich eiligst auf dem gleichen Wege, wie er es verlassen, ins Hotel zurückbegeben, dort schnell wieder die Maske des reichen Brasilianers angelegt und war dann sofort zum Hause Mr. Browns geeilt, wo ja, wie alle Nächte, die Festlichkeit noch in vollem Gange war.

Chick trat ihm als neuer Kammerdiener entgegen, nahm ihm Hut und Ueberrock ab und flüsterte ihm dabei zu: »Beeilen Sie sich! Ich erwarte Sie in der Bibliothek, habe Ihnen viel mitzuteilen!«

»Gut! In spätestens einer Stunde bin ich da. Jetzt will ich mich erst einmal den Herrschaften zeigen.«

Er eilte in den Saal und fand dort den Italiener bereits im Gespräch mit Eudoxia Brown, auch Dr. Darkley war da. Ferraro trat sofort auf den Detektiv zu.

»Ah, Sie kommen spät!« rief er.

»Es ging nicht eher, hatte eine Abhaltung!«

»So? Ich bin gleichfalls eben erst eingetroffen. Ich hatte ein kleines Abenteuer zu bestehn!«

»Weiber?«

»Nein, mit einem Einbrecher, den ich in meinem Arbeitszimmer ertappte,« lachte der andre.

»Oho!«

»Jawohl.«

»Und wie –?«

»Ich erschoß ihn,« log Ferraro. »Der Kerl stiehlt nicht wieder.«

»All right! Bitte, entschuldigen Sie mich, Signor, ich begrüßte Mr. Brown noch nicht.«

Nobody ließ den Italiener stehn. Er durchschaute denselben, wußte, daß er glaubte, er, Dom Miguel Domenico, habe den Einbruch angestiftet, um abermals in den Besitz des Ringes zu kommen.

»Na, Chick, was gibt's?«

»Miß Eudoxia will entfliehen! Kommen Sie!«

»Wohin?«

»In ihr Zimmer!«

Nobody fragte nicht erst lange, er kannte seine Leute, und so folgte er seinem Gehilfen die Treppe hinauf. Oben klopfte letzterer leise an eine Tür, dann stärker – keine Antwort! Die Klinke ward niedergedrückt. Die beiden traten ein und prallten erschrocken zurück.

Vor ihnen auf dem Teppich lag mit weit von sich gestreckten Armen, mit verglasten Augen im entstellten Gesicht ein totes Weib, eine Unbekannte, am Halse die deutlichen Spuren der Erdrosselung.

»Die Türe zu und den Riegel vor!« befahl Nobody. »Ganz still!«

Er kniete neben der Toten nieder, brauchte nicht erst nach dem Herzschlag zu fühlen, zog an einer Kette, die um den Nacken der Ermordeten geschlungen war, brachte ein Medaillon zum Vorschein – nur eine Hälfte, die andre war offenbar mit Gewalt abgerissen worden. Dann ein Griff in die Kleidtasche; ein Bündel Briefe stak darin; sie verschwanden gleich dem Medaillon in Nobodys Rock. Weiter gab es nichts. Im Zimmer selbst sah es toll aus; alle Kästen aufgerissen, der Boden bedeckt mit Wäsche und Kleidern.

»Fort, Chick!« rief Nobody aufstehend, und beide verließen den Raum, kehrten nach unten zurück.

Dort trennten sie sich. Besprechen konnten sie sich später. Der Brasilianer suchte sofort Mr. Brown auf, raunte ihm einige Worte zu, merkte anscheinend zu spät, daß Signor Ferraro sie mit hörte, und konnte so nicht verhindern, daß derselbe ihnen folgte, als sie sich abermals nach dem Mordzimmer begaben.

Beim Anblick der Leiche stieß der Hausherr einen lauten Schreckensruf aus, der sofort alle Gäste alarmierte. Sie stürzten herbei, drängten sich an der Tür und auf dem Flur. Nobody sah mit einem Blick, daß Miß Eudoxia nicht darunter war. Dann wanderten seine Blicke zu Ferraro, der ihn mit offnem Hohne betrachtete. Der Mann glaubte immer noch, die besseren Trümpfe in den Händen zu haben. Er wußte ja nicht, wer sich unter der Maske des Brasilianers verbarg.

»Was – wer – ist das?« stöhnte Mr. Brown fassungslos.

»Sie kennen die Tote nicht?« fragte Nobody.

»Ich? Nein!«

»Aber Sie!« rief da Ferraro laut.

»Da irren Sie sich!«

»Und Sie lügen!«

»Herr, vergessen Sie sich nicht!«

»Nicht im geringsten, ebensowenig wie, daß Sie noch vor kurzem in diesem Zimmer waren!« entgegnete der Italiener mit teuflischem Triumph. »Ja, Sie waren hier, Dom Miguel! Ich sah Sie mit dem Kammerdiener Mr. Browns dieses Zimmer betreten. Nun, wissen Sie immer noch nicht, wer die Tote ist?«

»Sie sind wohl nicht ganz klar im Kopfe?« lächelte Nobody.

»O, so klar, daß ich Ihnen auch ins Gesicht sage: Sie töteten dieses Weib!«

Der Italiener hatte kaum ausgesprochen, da traf Nobodys Faust ihn an die Schläfe, daß er zusammenstürzte und bewußtlos liegen blieb.

»Entschuldigen Sie, Mr. Brown,« sagte Nobody dann, »ich kann mich nicht ungestraft beschuldigen lassen. Ich gehe, um Polizei zu holen.«

Unaufgehalten entfernte er sich. Ein Wink rief Chick an seine Seite, und von dieser Stunde an war der reiche Brasilianer Dom Miguel Domenico aus Washington verschwunden.

 

Am folgenden Morgen schon saß Nobody in New-York in seinem Arbeitszimmer und schrieb eifrig. Es war sozusagen das Resümee dessen, was er bisher über das dreifache Geheimnis in Erfahrung gebracht hatte, und es war genug, um bald die Schlinge um den Hals der Schuldigen zuziehen zu können. Vor allem kannte Nobody die Bedeutung der Ringe, hatte festgestellt, daß deren im ganzen noch fünf vorhanden waren. Warum sie den Indianerkopf trugen, das kam vorläufig noch nicht in Betracht, Hauptsache war, daß jeder Besitzer eines solchen Ringes Anteil hatte an einer Erbschaft, die sich in die Millionen belief. Die Auskunftsbureaus, die Nobody in allen Großstädten der Erde unterhielt, hatten bald festgestellt, daß die Erben gesucht wurden, allerdings nicht in amerikanischen Zeitungen. Die Behörde, welche die Hinterlassenschaft verwaltete, glaubte jene in Europa verstreut. Jedenfalls war aber diese Ausschreibung auch in den Vereinigten Staaten gelesen worden, von Gaunern, die sofort ihren Plan entwarfen, sich der Ringe zu bemächtigen. Drei der echten Erben waren schon aus dem Wege geräumt: Tom B. Kelley, Mrs. Romano und ihre Tochter. Wer waren die Mörder? Wo hielten sich die andern Erben auf?

Weiter hatte Nobody erfahren, daß Eudoxia Brown nur das Stiefkind des Abgeordneten war. Derselbe hatte als Witwer mit einem Kinde, Daphne, eine Witwe mit ebenfalls einem Kinde geheiratet, Eudoxia, letztere aber hieß eigentlich Mazzani, denn ihr Vater war Italiener gewesen. Die beiden Stiefschwestern waren im Alter einige Jahre auseinander.

Jetzt war Nobody eben dabei, folgende Fragen niederzuschreiben, die sozusagen seine Disposition bilden sollten. Sie lauteten:

1. Wer ist die erdrosselte Frau in Eudoxias Zimmer? 2. Wie kam sie unbemerkt dorthin? 3. Weshalb war sie dort? 4. Wer tötete sie? 5. Wodurch wurde Mr. Browns plötzliche Krankheit veranlaßt? 6. Warum beschuldigte Ferraro den vermeintlichen Brasilianer des Mordes? 7. Warum heiratete er so plötzlich die junge Tochter der Mrs. Romano? 8. Wem gehört der Dolch, den man bei Tom B. Kelley fand? 9. Wer nahm den Ring des Ermordeten? 10. Wer war die Frau, die am Todestage bei ihm gewesen? 11. Warum war Eudoxia Brown geflohen? 12. Warum entließ sie ihre Kammerzofe? 13. In welcher Beziehung stand sie zu Kelley? 14. Warum behauptete Doktor Darkley, daß in zwei Fällen nur Selbstmord vorliege? 15. Log er, als er behauptete, Kelley sei verheiratet? 16. Hatte ihm wirklich jemand geschrieben, daß Eudoxia Brown am Mordabend bei Kelley gewesen war? 17. Hatte letzterer noch einen Bruder? 18. Warum ließ er kurz vor seinem Tode nach Ferraro rufen? 19. Wo stecken die beiden überlebenden Erben?

Schon aus diesen Fragen ist zu sehen, wie logisch Nobody vorging, um das Geheimnis zu enthüllen. Wie aber sollte er die richtigen Antworten finden?

Nobody nahm die Briefe zur Hand, die er aus der Tasche der unbekannten Toten in Eudoxias Zimmer gezogen hatte. Aus ihnen ging hervor, daß sie von der Hand einer Frau geschrieben waren. Die Adresse lautete bei allen:

Mademoiselle Blanche Meunier
                12 Rue de St. Estèphe
                                Paris.

Sie waren in tadellosem Französisch verfaßt, aber nur mit Initialen unterzeichnet. Aufgegeben waren sie in den verschiedensten Städten des Kontinentes, in Italien, Frankreich und Deutschland. Der Inhalt sämtlicher Briefe aber betraf – ein Kind, das dem Fräulein Blanche Meunier zur Erziehung übergeben war, von dessen Existenz aber niemand etwas wissen sollte, bevor der Vater in die Lage käme, es zu sich zu nehmen und anzuerkennen.

Diese Blanche war nun nach Amerika gekommen – aus irgend einem Grunde, hatte Miß Eudoxia aufgesucht, war in deren Zimmer ermordet worden, die junge Dame selber war geflohen. Da lag der Verdacht nahe, daß sie die Mörderin war. Jawohl, nur nicht für Nobody, der wußte jetzt schon, wie der Besuch zu erklären war, und wenn er auch sofort erkannt hatte, daß der Mord von einem weiblichen Wesen verübt worden, so dachte er dabei doch nicht an Miß Eudoxia, sondern – an jene Unbekannte, welche den Mr. Tom B. Kelley vor seinem Tode noch besucht hatte, und diese Dame sollte doch eben Miß Brown gewesen sein. Das behauptete wenigstens Dr. Darkley.

»Jetzt muß ich erst einmal die Verschwundenen finden, nämlich Miß Eudoxia und ihre frühere Kammerjungfer, die Schwester der ermordeten Blanche,« sagte Nobody zu sich selber. »Vor allem aber muß ich diesem ehrenwerten Doktor das Handwerk legen, denn sonst stirbt Mr. Brown, ohne daß noch eine Rettung für ihn möglich ist.

»Dieser Darkley ist ohne Zweifel durch Mrs. Romano selbst mit dem Geheimnis bekannt gemacht worden, das sich auf die Ringe mit den Indianerköpfen bezog. Ebenso weiß Ferraro darum. Er heiratete die eine Miß Romano, nicht aus Liebe, sondern aus Berechnung, und ich möchte fast für gewiß annehmen, daß sie mit ihrem Gatten gemeinsame Sache macht, seine Verbrechen kennt und ihn dabei unterstützt. Heute haben wir Mittwoch. Morgen muß ich auch die letzte Unklarheit, die noch vorliegt, beseitigt, meine schriftlich fixierten Fragen genau beantwortet haben. Am Abend geht mein Bericht nach New-York, wird in der Nacht gesetzt und erscheint am Freitag früh zu derselben Stunde, da ich die Mörder entlarve. Eigentlich könnte ich mir einen entsprechenden Anteil an der Millionenerbschaft sichern, doch das will ich lieber unterlassen. Ich habe in der letzten Zeit Geld genug verdient.«

Er kleidete sich in die Tracht eines gewöhnlichen Bürgers und wanderte durch die Straßen New-Yorks, anscheinend zwecklos dahinschlendernd, in Wirklichkeit aber scharf umherspähend, denn er nahm für sicher an, daß Miß Eudoxia Brown sich bei ihrer Flucht nach New-York gewendet habe, und der Zufall war ihm wieder einmal günstig.

Als er in die 28. Straße einbog, fiel ihm an dem Eckhause ein blankgeputztes Messingschild ins Auge. Unwillkürlich las er den darauf eingravierten Namen, stutzte und klingelte.

Die Tür wurde fast sofort geöffnet. Die alte Frau, die es tat, mußte schon im Flur gewartet haben. Sie warf nur einen flüchtigen Blick auf den Einlaß Begehrenden, winkte ihm dann, einzutreten, stieg die Treppe empor, von Nobody gefolgt, und geleitete ihn in ein Zimmer, in dem merkwürdigerweise die Gardinen dicht geschlossen waren. Es war vollständig finster darin und nichts zu unterscheiden.

Nobody sagte sich sofort, daß die Alte ihn mit irgend jemandem verwechselt habe, den sie erwartete. Da blitzte ein Streichholz auf, das Gas wurde angebrannt, und auf den ersten Blick sah Nobody, daß er sich in einem Sterbezimmer befand.

Auf einem Bett, das an der Hinterwand stand, lag eine bleiche, abgezehrte, weibliche Gestalt, das Gesicht entsetzlich eingefallen, aber die Züge noch immer kenntlich.

Es war die Leiche Miß Eudoxia Browns!

Die Alte hatte den Detektiv mit dem Undertaker verwechselt, der alle Vorbereitungen für Begräbnisse übernimmt; sie merkte zwar bald ihren Irrtum, beantwortete dem Detektiv aber doch verschiedene Fragen, durch die er feststellte, daß er die Mutter der ersten Gattin Browns vor sich hatte, und daß die Tote ihre Enkelin sei. Das genügte. Nobody entfernte sich, um durch einen Doktor den Totenschein für Miß Eudoxia Brown ausstellen zu lassen.

Als er die Treppe betrat, sah er eben noch eine dunkelgekleidete, weibliche Gestalt unten aus der Tür auf die Straße treten, er eilte nach, kam jedoch zu spät.

Der Wagen, den die Unbekannte benutzte, fuhr schon davon.

Nobody spähte ihm nach, lächelte plötzlich, bückte sich, hatte etwas Glänzendes in der Hand, griff in die eine Tasche und hielt beide Hälften eines Medaillons aneinander. Die eine hatte er der ermordeten Blanche Meunier abgenommen, die andre aber gefunden, und sie enthielt das wohlgetroffene Bildnis eines dreijährigen Knaben.

Nobody wußte sofort, daß es jenes Kind sei, von dem in den Briefen die Rede gewesen war.

Wer war die dunkelgekleidete Dame? Hatte sie der unglücklichen Französin, nachdem sie diese ermordet, die Hälfte des Medaillons mit dem Bilde entrissen? Hatte sie es erst aus zweiter oder dritter Hand bekommen?

Vorläufig beantwortete sich Nobody diese Fragen nur flüchtig. Er wußte bereits, woran er war, und begab sich nur noch zu Margot Meunier, der Schwester der Ermordeten, traf sie auch an, erfuhr aber von ihr, daß sie gar keine Schwester habe. Da ließ er sich nicht weiter auf eine Verfolgung der falschen Spur ein. Er stand auf und ging, ehe noch die überraschte Französin eine weitere Frage an ihn richten konnte. –

Am nächsten Morgen traf in Washington ein junger Mann ein, dem man sofort ansah, daß er aus dem Westen stammte. Er trug die dort übliche Kleidung eines reichen Ranchers, eines Farmbesitzers, und hatte nicht nur die Finger mit blitzenden Brillantringen beladen, auch in dem bunten Seidentuche, das er um den Hals geschlungen, trug er einen großen Diamanten. An der Uhrkette hatte er einen Ring hängen, der ihm offenbar zu eng war. Es war ein schmaler Goldreifen, daran mit einem Kettchen befestigt ein aus rotem Edelstein geschnittener, sehr fein ausgeführter Indianerkopf.

»Das beste Zimmer in Eurer Bude!« forderte der junge Westmann mit lauter Stimme vom Hotelclerk, sich dabei prahlerisch und selbstbewußt umschauend.

»Mit Parlour und Bad?« fragte der Angestellte.

»Na, was denn sonst? Oder glaubt Ihr etwa, Frank Petersen hätte nicht genug Moos mitgebracht? Da seid Ihr schief gewickelt! Ich will mal den Leuten hier zeigen, wie ein Westmann zu leben versteht! Hahaha! Und wenn der ganze Zimt alle wird! Verdammt will ich sein, wenn ich nicht eine Million schwer nach Nebraska zurückkehre!

»Gottsdonner!« schrie er dann. »Blind will ich werden, wenn das nicht Fred Cockley ist! He, old fellow, wie tut's?«

Ein junger Mann, der Neffe des Mr. Brown, war in den Vorraum des Hotels getreten. Der Westmann stürzte auf ihn zu, schüttelte ihm die Hand, als wollte er ihm den Arm aus den Gelenken reißen.

»Na, seid Ihr etwa nicht Fred Cockley?«

»Jawohl!«

»Aus Kolorado?«

»Auch das stimmt.«

»Und kennt mich nicht mehr! Glaub's! Haben uns nur flüchtig gesehen bei einer Partie im Hause des Mr. Allan! Na?«

»Dort verkehrte ich allerdings. Entschuldigt –«

»I was! Entschuldigt! Wir genehmigen eins!«

Frank Petersen, natürlich kein andrer als Nobody, zog Fred Cockley mit sich fort in eins der Zimmer, die ihm durch einen Kellner angewiesen wurden, bestellte Wein, schenkte die Gläser voll. Sie stießen an, und dann sagte Nobody in größter Gemütsruhe: »Mr. Cockley, Sie wollen meine Vertraulichkeit entschuldigen. Ich kenne Sie nur vom Hörensagen. Ich redete Sie an, weil ich hoffe, daß Sie einem halben Landsmann gern einige Fragen beantworten werden.«

Er ließ also seine Maske noch nicht fallen, räumte nur ein, daß er mit dem andern heute das erstemal in dieser Weise beisammen war, und dieser war nicht einmal besonders erstaunt darüber.

»Ich dachte es mir,« versetzte er.

»Ich suche nämlich hier meine Verwandten und hoffe, Sie können mir dabei behilflich sein.«

»Wie heißen sie?«

»Romano die einen, Brown die andern.«

Fred Cockley sprang auf, seine Blicke auf den Ring an der Uhrkette des vermeintlichen Westmannes heftend, und dieser fragte: »Sie kennen den Ring?«

»Ja. Bitte, wer gab Ihnen denselben?«

»Meine Mutter.«

»Ich kenne eine Dame, die den gleichen Ring besitzt, Miß Eudoxia Brown.«

»Dann ist sie mit mir verwandt, denn es handelt sich hier um ein Erkennungszeichen von Erben. Es ist eine ganze, lange Geschichte.«

»Die ich kenne!« versicherte Cockley.

»Wie hieß Ihre Frau Mutter?«

»Allan natürlich.«

»Ich meine den Mädchennamen.«

»Betsy Kelley.«

Nobody hatte sich dies alles zurechtgelegt, warum, werden wir gleich sehen.

»Mr. Petersen,« sagte da Fred Cockley, »ich will Ihnen gern behilflich sein bei dem, was Sie in Washington suchen, aber bitte, halten Sie mich nicht zum Narren.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Nobody unschuldig.

»Daß Sie mich täuschen wollen!«

»Inwiefern?«

»Ich kenne den Sohn Betsy Kelleys ganz genau.«

»Aha!«

»Jawohl. Sie wissen ganz gut, daß Miß Ethel Romano tot und Miß Eudoxia Brown verschwunden ist. Ich will Ihnen etwas sagen. Sie sind Detektiv!«

»So was!«

»Ich irre mich schwerlich. Geben Sie es ruhig zu, dafür werde ich Sie mit dem Sohne Betsy Kelleys bekannt machen.«

Nicht nötig! dachte Nobody. Der sitzt vor mir.

»Der Handel gilt!« sagte er laut und bot Fred Cockley die Hand. »Ich bin der Nobody!«

»Ah, der König der Detektivs! Das, freut mich. Weswegen sind Sie hier?«

»Ich will die Mörder Tom B. Kelleys und der Romanos finden.«

»Verdammt gefährliche Sache!«

»Das geht an!«

»Wußten Sie, daß Miß Eudoxia Brown einen solchen Ring hat?«

»Nein!«

»Sie besitzt einen. Ich selbst gab ihn ihr. Ich bin der Sohn Betsy Kelleys!«

Nobody lächelte.

»Sie sagen mir damit nichts Neues,« versetzte er. »Ein guter Spieler zeigt seine Karten nicht ohne Not. Sie lieben Miß Eudoxia?«

Fred Cockley errötete. Er glaubte, das Geheimnis seines Herzens gut gehütet zu haben, und sah es nun bereits durch den Detektiv entdeckt, ahnte freilich nicht, daß derselbe bloß auf den Strauch geschlagen hatte.

»Wo ist Miß Eudoxia jetzt?« fragte Nobody.

»Ich glaube, in New-York!«

»Warum?«

»Ich empfing gestern nachmittag von dort eine Depesche, diese hier!«

Er gab Nobody das Telegramm. Es lautete:

»Falls Sie hören, Eudoxia Brown sei tot, so glauben Sie es nicht. Teilen Sie das Vater mit. Er wird es verstehn. Andern Leuten gegenüber bestätigen Sie jedoch die Wahrheit des Gerüchtes!

                             Fatum.«

»Das ist ein Faktum. Ich sah die Tote, die für Miß Eudoxia ausgegeben wurde,« äußerte Nobody, das Telegramm zurückstellend.

»Aha! Es war eine Aehnlichkeit vorhanden?«

»Jawohl, aber nicht groß genug, um jemanden zu täuschen, der gute Augen hat. Uebrigens, was wissen Sie von Miß Eudoxias Flucht?«

»Nicht mehr, als daß sie gerade in meine Arme lief, als sie die Treppe herunterstürmte. Sie war aufgeregt, doch keineswegs infolge des erwachenden bösen Gewissens, und – Ihnen darf ich es ja sagen – küßte mich. Dann raunte sie mir zu, daß ich ihr vertrauen solle, was auch immer kommen möge, und seitdem hörte ich nichts wieder von ihr bis auf das Telegramm, welches Sie eben gelesen haben.«

»Von der Toten in ihrem Zimmer erwähnte sie also nichts?«

»Nein!«

»Dann kann ich mir denken, wie die Sache zusammenhängt. Ihre Braut ist Zeuge des Mordes gewesen, hätte Ihnen auch den Täter nennen können, tat es aber nicht, weil es eine Person war, die ihrem Herzen nahe stand.«

»Mein Gott, wenn Sie recht hätten!«

»Dann hat Miß Eudoxia auch nichts zu befürchten. Niemand wird ihr verargen, wenn sie ihre Stiefschwester nicht verraten will.«

»Ihre Stiefschwester? Sie meinen Miß Daphne?«

»Nein, eine Schwester, die ich noch ausfindig machen muß, denn sie tötete nicht nur jene Frau in Eudoxias Zimmer, sondern stieß auch dem armen Mr. Kelley den Dolch ins Herz.«

»Woher können Sie das wissen, Mr. Nobody?« rief Fred Cockley in staunender Bewunderung.

Nobody stand auf, zog aus der Tasche einen breiten, aber sonst schmucklosen Ring, gab ihn dem Frager und sagte: »Lesen Sie die Inschrift!«

Fred tat es, stutzte, las noch einmal, diesmal laut: »›Florenz, 2. Juli, T. B. K. an F. M.‹

»Das ist ja ein Trauring!«

»Er kann auch zur Verlobung gegeben und später als Trauring benutzt worden sein,« entgegnete der Detektiv. »Was bedeuten nach Ihrer Ansicht die Buchstaben?«

»Die ersten sind unbedingt die Initialen Kelleys, Tom B. Kelley – aber die andern?«

»Bedeuten Fiametta Mazzani, das heißt die Frau des Ermordeten, die Mutter dieses Jungen« – Nobody brachte das Medaillon heraus – »die Mörderin ihres Gatten und der angeblichen Blanche Meunier – die Stiefschwester Eudoxias.«

Das Staunen und die Bewunderung Fred Cockleys hatten den höchsten Grad erreicht. Er schien Nobody für allwissend zu halten.

»So, mein werter Freund und halber Landsmann,« sagte dieser, wieder die Redeweise als Westmann annehmend, »jetzt tun Sie mir den Gefallen und begeben sich zu Miß Daphne Brown, fragen sie, ob sie diese Fiametta Mazzani kannte, und ob dieselbe der Miß Eudoxia recht ähnlich sah. Vermutlich werden Sie hören, daß beide Freundschaft miteinander schlossen, und dann brauche ich Ihnen wohl keine weitere Erklärung darüber zu geben, wie es kam, daß Ihre Braut diese Fiametta nicht als Mörderin verraten wollte.

»Und noch eins! Ich habe noch einen kleinen Weg zu besorgen, möchte dann aber einige Worte mit Miß Daphne sprechen. Bitte, bewirken Sie, daß sie mich empfängt!«

»Als Frank Petersen?« fragte Fred Cockley.

»Ja. Wer ich in Wirklichkeit bin, soll sie aus meinem Munde erfahren.«

Die beiden schüttelten sich die Hände und trennten sich. Nobody begab sich in die Polizeihauptwache, ließ sich dort dem Inspektor unter dem angenommenen Namen melden, ward vorgelassen und legte dem Herrn einige Fragen vor, die so beantwortet wurden, wie er es erwartet hatte. Er entfernte sich mit Dankesworten und begab sich nach dem Hause Mr. Browns.

Der Diener, den er bat, ihn Miß Daphne zu melden, machte ein sehr ernstes Gesicht. Es war überhaupt, als wenn hier das Unglück nun vollständig seinen Einzug gehalten habe, und so staunte Nobody, der sofort die Ursache dieser trüben Stimmung erriet, nicht im geringsten, als er beim Eintritt in den Empfangssalon bemerkte, daß die ihn dort begrüßende Miß Daphne geweint hatte. Es wäre nicht nötig gewesen, daß Fred Cockley ihm zuflüsterte: »Mr. Brown liegt im Sterben. Der Tod kann jede Minute eintreten.«

Nobody verbeugte sich vor der jungen Dame, fragte dann, ob sie sich des Brasilianers Dom Miguel Domenico noch erinnere, und als sie stutzte, bemerkte er lächelnd, daß er das gewesen sei, im übrigen heiße er Nobody.

Der berühmte Name verfehlte auch auf Miß Daphne seine Wirkung nicht.

»Mr. Nobody!« rief sie. »Sie waren bereits als brasilianischer Minenbesitzer bei uns? Weswegen?«

»Um Ihren Herrn Vater vor dem Tode zu retten,« entgegnete er ruhig.

»Wie? Sie sind auch Arzt? Wir haben ja bereits den Dr. Darkley. Er genießt das volle Vertrauen meines Vaters!«

»Leider!« bemerkte Nobody.

Sowohl die junge Dame, wie Fred Cockley horchten hoch auf. Das klang ja, als wenn der Arzt –

»Wer gibt Ihrem Herrn Vater die Arznei?« fragte Nobody, ehe die beiden ihren zweifelnden Gedanken Ausdruck zu geben vermochten.

»Eine eigens dazu bestellte Wärterin.«

»Das Rezept zu der Medizin besitzen Sie nicht?«

»Nein, Dr. Darkley bringt dieselbe persönlich. Er ist so liebenswürdig, uns die Wege nach der Apotheke zu ersparen.«

»So?«

Nobody sann einen Moment nach.

»Miß Daphne, können Sie mir eine der leeren Arzneiflaschen versorgen?« fragte er dann.

»Ja.«

»Die Medizin selbst ist farblos?«

»Ja.«

»Dann bitte!«

Die junge Dame verschwand, kehrte alsbald zurück, gab dem Detektiv die Flasche. Dieser entkorkte sie, roch daran, trat darauf zu einem Tischchen, auf dem eine Wasserkaraffe stand, füllte jene daraus, reichte sie Miß Brown zurück und sagte: »Es liegt mir viel daran, daß Sie Gelegenheit finden, die Wärterin auf kurze Zeit aus dem Krankenzimmer zu entfernen und diese Flasche mit der zu vertauschen, welche die Medizin enthält. Selbstverständlich muß der Inhalt beider genau übereinstimmen. Sie brauchen ja nur entsprechend Wasser abzugießen. Wollen Sie das tun?«

»Gern!«

»Ich danke Ihnen. Wir werden uns jetzt entfernen, aber nach einer halben Stunde wiederkommen, über die Dienstbotentreppe. Wir begeben uns direkt hierher. Sie haben die Güte und senden uns dann die Wärterin, sagen ihr aber nicht, daß sie von uns. erwartet wird, sondern erfinden irgend einen Vorwand. Wird das angehn?«

»Sicher, nur weiß ich nicht –«

»Was ich damit bezwecke? Gedulden Sie sich! Binnen jetzt und einer Stunde werden Sie vollkommen klarsehen!«

Da fragte Miß Daphne nichts mehr, sondern geleitete die Besucher hinaus und verschwand dann in den untern Räumen. Nobody aber kehrte mit Fred Cockley ins Hotel zurück, öffnete dort einen seiner inzwischen angekommenen Koffer, untersuchte flüchtig den Inhalt, steckte verschiedenes von demselben zu sich und verließ dann mit seinem Begleiter das Hotel.

Der Portier mußte ihnen einen geschlossenen Wagen versorgen, Nobody gab dem Kutscher die Weisung, derart umherzufahren, daß sie pünktlich nach zwanzig Minuten vor dem Hause des Abgeordneten Mr. Brown ankämen, und die beiden stiegen ein.

»Jetzt müssen Sie mir gestatten, eine kleine Veränderung mit Ihnen vorzunehmen,« begann Nobody sofort. »Erlauben Sie?«

Fred Cockley hatte nichts einzuwenden, fragte auch nichts, denn er sah, daß der Detektiv mehrere Fläschchen und Schachteln, sowie eine Perücke und einen falschen Bart zum Vorschein brachte.

Nach kaum zehn Minuten hielt der Detektiv dem Erstaunten einen kleinen Spiegel vor die Augen, und Fred Cockley wäre beinahe vor Staunen vom Sitze gefallen. Er erblickte in dem Glase das Gesicht des Doktors Darkley – wenn dieser jetzt neben ihm gesessen, hätte niemand die beiden voneinander zu unterscheiden und zu sagen vermocht, wer der echte Doktor sei.

»Ich soll die Rolle des Arztes spielen?« fragte Cockley fast bestürzt.

»Jawohl. Zu sagen werden Sie allerdings nichts haben. Ich kann Ihnen jetzt auch keine weiteren Erklärungen geben. Ich instruiere Sie nachher, sobald wir uns im Parlour befinden.«

Damit mußte der junge Mann sich vorläufig also zufrieden geben. Nobody schob die blauen Gardinen an den Wagenfenstern zurück, überzeugte sich, wo der Wagen sich befand, setzte sich mit dem Kutscher in Verbindung und gab ihm neue Anweisungen.

Wenige Minuten später stiegen sie vor dem hintern Eingang des Brownschen Hauses aus, der nur für die Dienstboten und Händler bestimmt war. Miß Daphne hatte sie trotzdem kommen sehen, stand wartend im Flur, prallte erschrocken zurück, als sie den Detektiv in Begleitung des Doktors Darkley kommen sah, unterdrückte aber den Aufschrei, den sie ausstoßen wollte, denn Nobody legte mit bedeutungsvollem Blick einen Finger auf seinen Mund.

Schweigend begaben sie sich in das Empfangszimmer, und hier rief Fred Cockley halblaut und lachend: »Nun, Miß Daphne, ist meine Verkleidung nicht tadellos? Unser Mr. Nobody –«

»Bitte, Frank Petersen!« unterbrach der Detektiv ihn.

»Ah, pardon – ist ein wirklicher Hexenmeister!«

»Sie sind's, Fred!« atmete die junge Dame erleichtert auf. »Ich hätte darauf geschworen, den Mr. Darkley vor mir zu sehen.«

»Glückte die Vertauschung der Arzneiflaschen?« fragte Nobody. »Ja? Das ist gut! Und nun bitte, senden Sie die Wärterin genau nach fünf Minuten hierher!«

»Ich darf nicht wissen, was Sie vorhaben?«

»Bedaure, jetzt noch nicht! Ich bin eines Erfolges meines Planes durchaus noch nicht sicher.«

Da entfernte sich Miß Daphne. Nobody aber nahm den falschen Mr. Darkley her, zog ein Fläschchen, mit purpurfarbener Flüssigkeit gefüllt, heraus, pinselte ihm davon auf die Stirn und auf die linke Wange; aus einem Schächtelchen puderte er ihn weiß, fuhr ihm mit beiden Händen durch die Haare, dieselben so in Unordnung bringend, hielt aber Fred zurück, als derselbe in den Spiegel blicken wollte.

»Ja, was haben Sie denn nun wieder mit mir gemacht!« jammerte der junge Mann in komischer Verzweiflung. »Ich muß ja beinahe aussehen wie ein kriegerisch bemalter Siouxhäuptling!«

»Genau wie der Indianerkopf hier, jawohl!« lachte Nobody. »Jetzt aber legen Sie sich mal recht gemütlich auf diesen Diwan: So! Nun eine Decke drüber! Sie rühren sich nicht, bevor ich Ihnen die Erlaubnis dazu gebe, bemühen sich auch, Ihre Atemzüge möglichst wenig bemerklich zu machen. Also still und regungslos!«

Fred Cockley lag vollständig verhüllt auf dem Diwan, als die Tür geöffnet ward und die Wärterin eintrat.

Es war eine ziemlich kräftig gebaute Frau, von vielleicht dreißig Jahren, nicht häßlich, nicht hübsch, aber mit einem eigenartigen Zug um den Mund und seltsam unstet flackernden Augen. Zur Krankenpflege schien sie nicht besonders geeignet zu sein, verdankte ihre Stellung wohl nur der Empfehlung Mr. Darkleys.

Nobody hatte sich unmittelbar neben dem Eingang des Parlours aufgestellt, halb verdeckt durch eine schwere Tuchportiere. Das Weib bemerkte ihn nicht, sondern schritt an ihm vorüber bis fast in die Mitte des Zimmers, um anscheinend etwas von dem dort stehenden Tisch zu nehmen.

Mit einem Satze trat Nobody vor, drehte den im Schlosse steckenden Schlüssel ab und versperrte somit den Ausgang.

Das Geräusch, das dabei entstand, ließ die Frau zusammenfahren. Sie wendete sich um und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Mann, der sie lächelnd betrachtete.

»Fürchten Sie sich nicht,« sagte Nobody, »ich bin weder ein Mörder, noch ein Räuber!«

Er sprach diese beiden Worte allerdings mit einer auffallenden Betonung aus.

»Was tun Sie hier? Wer sind Sie?« stieß das Weib da hervor, nachdem es mit sichtlicher Anstrengung die verlorene Fassung wenigstens etwas zurückerlangt hatte.

Nobody war unmittelbar vor sie hingetreten, schaute sie jetzt fest an und sagte mit erhobener Stimme: »Ich bin Ihretwegen hier, Madame!«

»Meinetwegen? Ich kenne Sie ja gar nicht!«

»So will ich mich Ihnen als Detektiv vorstellen!«

Das Frauenzimmer erbleichte von neuem, noch mehr als zuvor, und taumelte zurück, als hätte es einen Schlag auf den Kopf empfangen. Es schien einer Ohnmacht nahe zu sein, und daher geleitete Nobody es galant und ritterlich, wie er es einer Dame gegenüber getan hätte, zu einem Stuhle und ließ es darauf niedersinken. Im Gegensatz zu seinem höflichen Benehmen stand freilich der spöttische Ton, den er anschlug.

»Na, wie steht's, liebe Frau, wollen Sie mir nicht eine kleine Geschichte erzählen?«

»Ich? Sie beleidigen mich!«

»O, doch nicht! Ich meinte eine Geschichte von dem Dr. Darkley und dem Tode der Mrs. und Miß Romano! Vielleicht fügen Sie dann noch eine Erklärung hinzu, warum Sie dem ehrenwerten Herrn Abgeordneten Brown, in dessen Hause wir uns befinden, nach dem Leben trachteten!«

Das klang alles so gemütlich, gar nicht, als wenn dieser Mann von einem Doppelmorde rede und von einem Mordversuche, aber die Wirkung der wenigen Worte auf das Weib war geradezu furchtbar.

»Sie wollen mich verderben!« ächzte es endlich.

Nobody lächelte kalt, verächtlich.

»An Ihnen dürfte nichts mehr zu verderben sein,« entgegnete er mit schneidender Stimme. »Ich will Ihnen aber etwas sagen, was Sie geneigt machen wird, zu sprechen, die Wahrheit zu offenbaren: Vergangene Nacht versuchte Dr. Darkley mit Miß Eudoxia Brown zu fliehen!«

Sofort richtete die Frau sich empor, blickte ihn tückisch-triumphierend an und rief: »Jetzt weiß ich bestimmt, daß Sie lügen!«

»So? Sind Sie so fest davon überzeugt, daß Sie sich nicht irren? Ich weiß genau, daß er Sie betrog. Er wollte Sie im Stich lassen, denn er liebte Miß Eudoxia. Wir aber hatten einen Verhaftsbefehl gegen ihn, trafen ihn noch an – er widersetzte sich und ward – erschossen –! Ehe er starb, bekannte er seine Verbrechen!«

»Und ich glaube Ihnen kein Wort!«

»Nicht? Nun, was sagen Sie dazu?«

Nobody war schnell zu dem Diwan getreten, hatte die verhüllende Decke von dem daraufliegenden Manne gerissen, und Fred Cockley, der ja jedes Wort der Unterredung mit angehört hatte, begriff, was für eine Rolle er spielen sollte.

Starr, mit blutüberströmtem Antlitz, in dem die gebrochenen Augen mit verglastem Ausdrucke sichtbar waren, lag er da. Jeder, der ihn sah, mußte glauben, die Leiche eines Erschossenen vor sich zu haben – den leblosen Körper Dr. Darkleys.

Die Frau stieß einen markerschütternden Schrei aus, stürzte vorwärts, sank aber, ehe sie den Diwan erreichte, ohnmächtig zu Boden.

Fred Cockley machte eine Bewegung, als wenn er aufspringen wollte, doch sofort raunte Nobody ihm einige Worte zu, und der junge Mann sank anscheinend leblos in seine frühere Lage zurück.

»Meine Rechnung stimmte,« sagte Nobody zu sich selber. »Sie ist die Gattin Dr. Darkleys und seine Helfershelferin bei den von ihm verübten Verbrechen.«

Er verdeckte Fred Cockley wieder, hob dann die Ohnmächtige auf, trug sie mit starken Armen zu einem Stuhle und bemühte sich, sie wieder zum Bewußtsein zu bringen.

Das gelang ihm nach kurzer Zeit. Er trat zurück und beobachtete, daß ihr erster Blick dem von der Decke verhüllten Körper auf dem Sofa galt. Sie wollte abermals aufspringen, doch Nobody drückte sie in den Stuhl zurück.

»Jetzt glauben Sie mir wohl?« versetzte er. »Ihr Gatte ist tot –«

»Mein Gatte?«

»Ja. Lügen Sie nicht! Er war es. Sie waren Dr. Darkleys Frau, und wenn Sie vernünftig sind, dann bekennen Sie jetzt die volle Wahrheit!«

Die Frau schlug aufstöhnend beide Hände vor das totenblasse Gesicht und ächzte: »Tot! Erschossen!«

Sie weinte nicht. Die Wohltat der Tränen blieb ihr versagt; doch Nobody nahm keinerlei Rücksicht mehr auf die Verbrecherin.

»Warum halfen Sie Ihrem Manne bei der Ausführung seiner Mordpläne?« fragte er.

»Warum? Das wissen Sie nicht, Sie, als Detektiv? Warum? Weil ich ihn liebte! Ich hätte seinetwegen alles getan, was er von mir verlangte.«

»Und wenn er ein andres Weib zur Frau nahm?« entgegnete Nobody mit bestimmter Absicht.

»Ah, es würde nicht lange gelebt haben! Sobald er ihr Geld besaß, hätte er sie aus dem Wege geräumt und mich zu sich gerufen. O, wie glücklich wären wir dann gewesen! Und nun ist alles, alles aus!«

»Um der Liebe willen!« murmelte Nobody fast unhörbar vor sich hin. »Wie furchtbar sind doch diese Worte! – Und Sie glauben wirklich, daß er Sie niemals verlassen hätte?«

»Er hat es mir hoch und heilig versprochen.«

»Armes Weib!«

»Ah, warum nennen Sie mich so?«

»Weil er Sie betrogen hätte. Er liebte Miß Eudoxia Brown geradezu wahnsinnig, und nicht diese, sondern Sie wären sein nächstes Opfer geworden.«

»Es ist nicht wahr! Sie täuschen mich. Jedes Ihrer Worte ist eine Lüge! Er hat Ihnen auch keine Geständnisse gemacht. Er konnte es gar nicht, denn die Wunde, die er im Haupte hat, mußte sofort tödlich wirken. Nein, nein, er hat nichts verraten!«

Da lächelte Nobody.

»Aber Sie!« rief er spöttisch.

»Ich? Nun, meinetwegen! Ich war unvorsichtig, doch was nützt Ihnen das? Sie müssen mir alles erst beweisen! Kein Richter glaubt Ihnen, denn niemand außer Ihnen hörte und sah, was sich hier zwischen uns abspielte!«

Sie hatte ihre volle Kaltblütigkeit wiedererlangt, schaute nicht einmal mehr nach der Leiche, sondern blickte triumphierend auf den Detektiv.

Dieser trat zum zweiten Male zu dem Diwan, zog wieder die Decke hinweg, und sofort sprang Fred Cockley auf, riß Perücke und falschen Bart ab und wischte sich die Schminke und rote Farbe aus dem Gesicht.

Das Weib prallte bestürzt zurück. Es war aufgesprungen, sank aber nun mit einem halblauten Schrei in den Stuhl nieder.

»Mister Cockley!« stammelte sie in höchster Verwirrung.

»Jawohl, habe die Ehre, Mrs. Darkley!«

»Ah – er ist also nicht tot! O, Gott, was habe ich getan!«

Plötzlich wendete sie sich um, hastete der Tür zu, kam aber nicht weit – Nobody hatte sie mit eisernem Griffe gepackt.

»Immer langsam!« lächelte er. »Hinaus können Sie ja doch nicht, denn dort ist zugeschlossen!«

Dabei schnürte er blitzschnell ihre Hände mittels einer feinen, aber haltbaren Schnur zusammen, und fesselte auch noch die Füße der Verbrecherin.

»Mister Cockley, Sie haben wohl die Güte, Miß Daphne Brown herzubitten?«

Der junge Mann entfernte sich, brachte die Dame, und wenn diese auch auf eine Ueberraschung gefaßt gewesen war, den Anblick, der sich ihr bot, hatte sie doch nicht erwartet.

»Was – bedeutet das?«

»Daß Ihr Herr Vater durch dieses Weib, die Gattin Doktor Darkleys, langsam vergiftet werden sollte, genau so wie Mistreß und Miß Romano!«

»Vergiftet? Sie ist Darkleys Frau?«

Mit wenigen Worten erklärte Nobody die Situation, denn er durfte keine Zeit verlieren, er mußte auch den Arzt unschädlich machen, und nachdem die Gefangene in einem separaten Zimmer untergebracht war, bewacht von dem Hausmeister, trennten Nobody und Cockley sich von Daphne Brown.

Unterwegs instruierte ersterer seinen Begleiter, der sich vollständig von der Schminke wieder gereinigt hatte, begab sich in eine in der Nähe liegende Apotheke und kaufte sich ein stark wirkendes Brechmittel, das er sofort einnahm. Darauf eilten sie, so rasch sie konnten, zu dem Hause des Doktors Darkley.

Fred Cockley klingelte, während Nobody sich schwer auf dessen Arm stützte. Ein Diener öffnete.

»Schnell, Mann! Mein Freund ist ganz plötzlich schwer erkrankt. Melden Sie uns Ihrem Herrn!«

»Ihr Name?«

»Cockley! Rasch, nur rasch!«

Der Mensch verschwand, kam gleich wieder, ließ sie eintreten. In der Türöffnung stand bereits der Arzt.

»Holla, Mr. Cockley, was ist denn los?«

»Mein Freund, ich weiß nicht, was ihm ist! Sehen Sie ihn nur an!«

Er geleitete den totenblassen Nobody, dessen Stirn mit kaltem Schweiß bedeckt war, zu einem Sessel, ließ ihn darauf niedergleiten und erschrak beinahe selbst über das entstellte Gesicht des Detektivs, bei dem sich nun auch bereits die Wirkung des genossenen Brechmittels geltend machte. Dadurch gelang die beabsichtigte Täuschung vollkommen, und doch entging Nobody nicht, wie der Doktor seine Augen nicht von dem Ring mit dem Indianerkopf abwenden konnte, den der vermeintliche Kranke an der Uhrkette trug.

Darkley ging ahnungslos in die ihm gestellte Falle.

»Ihr Freund ist fremd in Washington?« fragte er Cockley.

»Ja, aber er ist ein alter Bekannter von mir, aus dem Westen. Ich begegnete ihm zufällig.«

»Hat er in den letzten Stunden etwas gegessen?«

»Nein. Wenigstens nicht in meinem Beisein.«

»Aber getrunken?«

»Ein Glas Wein, weiter nichts!«

»Das dürfte auch genügen. Erzählen Sie, bitte, wann, wo und wie!«

»Vor einer Viertelstunde, es kann allerdings auch fast eine halbe sein, im Hotel. Signor Ferraro lud uns ein.«

»Ah, Signor Ferraro! Kannte er denn Ihren Freund ebenfalls? Doch lassen wir das vorläufig, wir haben Wichtigeres zu tun. Sehen Sie nur, da ist unser Patient bereits ohnmächtig geworden. Kommen Sie, wir wollen ihn bequem legen!«

Nobody spielte seine Rolle so ausgezeichnet, daß wohl die meisten Aerzte ihn in der Tat für bedenklich erkrankt gehalten hätten.

Fred Cockley seinerseits war ein nicht minder guter Schauspieler, er stellte sich überaus besorgt um seinen Freund und blickte denselben betrübt an.

»Seit wann fühlte er sich denn unwohl?« begann Dr. Darkley wieder.

»Er sagte es mir, nachdem Signor Ferraro sich entfernt hatte. Wir verließen darauf das Hotel, weil Frank glaubte, an der frischen Luft würde ihm besser werden, gingen auch durch mehrere Straßen, bis es ihm auf einmal ganz schlecht wurde; glücklicherweise war das in unmittelbarer Nähe Ihrer Wohnung, und so brachte ich ihn hierher.«

Der Arzt trat noch einmal zu dem anscheinend Bewußtlosen, fühlte den Puls, untersuchte ihn auch sonst genau, begab sich an seinen Schreibtisch, nahm ein Rezeptformular, schrieb einige Worte darauf, gab es Fred Cockley und sagte dabei: »Hier haben Sie das Rezept. Die Apotheke liegt in der zweiten Straße, Sie werden dieselbe schnell finden; doch bitte, beeilen Sie sich! Sagen Sie dies auch dem Provisor! Es ist Gefahr im Verzuge. Das Leben Ihres Freundes hängt davon ab, daß wir ihm baldigst die verschriebene Arznei reichen.«

Nobody lachte bei diesen Worten innerlich. Er wußte, ohne daß er das Rezept sah, ganz genau, daß das verschriebene Medikament gewiß nicht in so kurzer Zeit hergestellt werden konnte, wie es im Ernstfalle nötig gewesen wäre. Es kam dem Schurken offenbar nur darauf an, möglichst lange allein mit dem vermeintlichen Kranken zu bleiben, und wenn Fred Cockley mit der Arznei zurückkam, dann wollte Darkley sein finsteres Werk bereits vollendet haben.

Betroffen schaute der junge Mann den Doktor an.

»Was ist denn eigentlich mit meinem Freunde passiert?« stieß er ängstlich fragend hervor.

Der Gefragte zog die Schultern fast bis zu den Ohren empor, machte ein überaus ernstes Gesicht und erwiderte: »Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen die Wahrheit nicht verschweigen. Dieser Herr – wie heißt er doch? – ah, richtig – Mr. Petersen ist vergiftet!«

»Vergiftet?«

»Ja, ich befürchte es wenigstens. Indes fragen Sie mich jetzt nichts mehr! Beeilen Sie sich lieber, sonst könnte jede Hilfe zu spät kommen.«

»Sie sorgen einstweilen für ihn?« wollte Cockley trotzdem noch wissen, aber Darkley schob ihn gewaltsam zur Tür hinaus, lauschte dann an derselben, bis die Schritte des sich Entfernenden auf der Treppe verklangen, trat auch noch ans Fenster und sah ihn die Straße hinunterlaufen.

Ein düsteres Lächeln umspielte die zusammengekniffenen Lippen des Doktors. Nobody bemerkte es, unter den gesenkten Lidern hervorblickend, und wußte, was jener jetzt dachte. Doch schon näherte Darkley sich ihm, musterte ihn noch einmal scharf prüfend und betrachtete vor allem den Ring mit dem Indianerkopfe lange und aufmerksam.

»Das Kleinod ist echt,« murmelte er dann vor sich hin. »Ich habe den letzten Erbberechtigten gefunden, und er ist hilflos und wehrlos in meiner Gewalt. Ferraro hat ihn allerdings auch schon kennen gelernt, hat ebenfalls den Ring zu Gesicht bekommen und in schnell gefaßtem Entschlusse den Eigentümer aus dem Wege räumen wollen, indem er ihm Gift in den Wein mischte. Nun, er hat nicht geahnt, daß er mir nur in die Hände arbeiten würde. Ich brauche bloß zu vollenden, was er begann, ich kann es ohne Furcht tun, denn man wird die Schuld an dem Tode dieses Mannes nicht mir, sondern Ferraro zuschreiben.«

Dr. Darkley war also, nach diesem Selbstgespräch zu schließen, in der Tat fest überzeugt, einmal, daß der vermeintlich so schwer Erkrankte wirklich ein Westmann, und dann, daß derselbe durch Signor Ferraro vergiftet sei.

Er trat zur Tür, verriegelte sie von innen, immer, ohne daß er es merkte, beobachtet von Nobody, und verschwand dann in einem Nebenzimmer, in dem an einer Wand ein Regal mit zahlreichen Flaschen, Tiegeln und Büchsen aufgestellt war, die Giftkammer des verbrecherischen Arztes, und dieser überlegte lange, ehe er eine Flasche ergriff und herabnahm.

»Dies hier wird es tun,« sagte er dabei, schüttete darauf mehrere Tropfen der vollkommen farblosen Flüssigkeit in ein Glas Wasser, hielt dasselbe gegen das Licht, nickte befriedigt und kehrte in das andre Zimmer zurück.

»Nun gilt es nur noch dem Bewußtlosen das Gift einzuflößen. Wenn er es hinunterschluckt, dann gibt es keine Rettung mehr für ihn, und wenn Fred Cockley mit der Arznei eintrifft, dann wird er seinen Freund tot vorfinden.«

Das Glas mit der todbringenden Flüssigkeit in der Hand, näherte er sich der Chaiselongue, auf der Nobody lag, beugte sich nieder und versuchte mit der freien Hand den Mund des angeblich Bewußtlosen zu öffnen.

Es gelang ihm nicht, denn Nobody hatte die Zähne fest aufeinandergebissen, und um sie auseinanderzubringen, wäre ein Brecheisen nötig gewesen.

»Damn't!« fluchte Dr. Darkley. »Es ist ein Kinnladenkrampf hinzugetreten. Ich kann ihm das Gift nicht einflößen; aber es schadet auch nichts. Fred Cockley kommt vor einer Viertelstunde nicht zurück, und ich habe noch mindestens zehn Minuten Zeit, die Wirkung des Giftes abzuwarten, das Fred dem Manne beibrachte. Ist er nach dieser Frist noch nicht tot, dann werde ich mein Mittel doch noch zur Anwendung bringen.«

Nach diesen Worten wendete der Arzt sich um und stellte das Glas auf den Tisch.

In demselben Moment schnellte Nobody lautlos empor, war mit einem Satze hinter dem Ueberraschten, und ehe derselbe sich noch von seinem furchtbaren Schrecken erholen konnte, lag er am Boden und sah seine Hände gefesselt.

Sofort stand der Detektiv wieder auf, faßte das Glas, und es war nicht eine Sekunde zu früh. Was er vorausgesehen hatte, trat ein.

Darkley hob den einen Fuß und stieß ihn mit aller Gewalt gegen das ihm zunächst befindliche Bein des Tisches, daß dieser ins Wanken kam und alles, was sich auf ihm befand, herabstürzte, ohne daß der Fall auf den weichen Teppich ein derartiges Geräusch verursacht hätte, daß dadurch der Diener aus dem Vorzimmer angelockt worden wäre.

»Das kam ein bißchen zu spät, Doktor!« lachte Nobody, froh darüber, daß sein Plan so tadellos gelungen war. Er hätte selbstverständlich auch die Füße Darkleys fesseln können; er tat es nicht, denn derselbe sollte eben dadurch, daß er das Glas herabwerfen wollte, bezeugen, daß es Gift enthielt.

Nobody stellte es auf den Sims des Kamins und sagte dabei: »Das wollen wir vorerst in Sicherheit bringen, mein Lieber. Es dürfte ein wichtiges Beweisstück bilden, wenn die Jury gegen Sie wegen Doppelmordes und Mordversuches verhandelt!«

Der Gefangene knirschte die Zähne aufeinander und schoß furchtbare Zornesblicke auf seinen Ueberwältiger.

»Verflucht! Wer sind Sie?« stieß er dann keuchend vor Wut hervor.

»Ah, entschuldigen Sie, ich vergaß, mich vorzustellen. Nobody ist mein Name. Sie lernten mich jedoch bereits unter anderm Namen kennen. Dom Miguel Domenico – Sie wissen, der brasilianische Minenbesitzer!«

Dr. Darkley wurde erst rot vor Zorn, dann aber geisterbleich.

»Sie können mir nichts beweisen,« sagte er nach einer Weile höhnisch.

»Das glaubte Ihre werte Frau Gemahlin auch, Doktor,« entgegnete Nobody trocken.

»Meine Frau!?« kam es ächzend über die Lippen des Verbrechers.

»Jawohl, ich habe mir erlaubt, sie ebenfalls festzunehmen. Es war höchste Zeit; denn sonst wäre der arme Mr. Brown an den heilsamen Folgen der ihm durch Sie verordneten Medizin gestorben.«

Der Arzt wollte noch etwas erwidern, da ertönte die Vorsaalklingel. Der Diener öffnete. Fred Cockley kam zurück. Selbstverständlich war er nicht in der Apotheke gewesen.

»Hurra!« schrie er erfreut, als er Darkley gefesselt am Boden liegen sah. »Das ist ja famos gegangen.«

»Ganz wie auf Bestellung!« lachte Nobody, sprang dabei aber schon vorwärts.

Er kam zu spät!

Dr. Darkley hatte die Minute, während der er unbeachtet dalag, benutzt, hatte sich trotz der gebundenen Hände aufgerafft, war zum Kamin geeilt, und das auf dessen Sims stehende Glas mit Gift mit den Zähnen ergreifen und austrinken war eins.

Nobody entriß es ihm zwar noch, doch schon schlug der Verbrecher mit voller Wucht rückwärts zu Boden, wie vom Schlage getroffen. Er war tot.

Ohne ein Wort zu verlieren, hoben die beiden den Leichnam auf die Chaiselongue, gaben ihm das Glas in die bereits erstarrende Hand und entfernten sich dann unaufgehalten. Im Grunde genommen war es Nobody allerdings lieb, daß es so gekommen war, denn, wie bekannt, übergab er nur ungern einen von ihm ertappten Verbrecher der Polizei, und während er jetzt mit Fred Cockley zum Brownschen Hause zurückkehrte, hoffte er, daß er auch die Frau des Toten nicht mehr am Leben finden werde. Darkley hatte sie gewiß für alle Fälle ebenfalls mit einem rasch wirkenden Gifte versehen.

Und es war so. Auch Mrs. Darkley war tot. Eine geöffnete Kapsel an einem ihrer Ringe bewies, wie sie geendet hatte.

Fred Cockley empfing aus der Hand des Detektivs die Ringe mit den indianischen Köpfen. Er besaß nun alle sieben.

Mit dem nächsten Zuge kehrte Nobody nach New-York zurück, nachdem er noch festgestellt hatte, daß der angebliche italienische Sondergesandte Signor Ferraro nebst Frau es mittlerweile vorgezogen hatte, den Schauplatz seiner Taten heimlich zu verlassen. Er fiel trotzdem dem Detektiv noch in die Hände, wie und wann, das ist eine überaus interessante Geschichte für sich.

Wie aber starb Tom B. Kelley, wie jene Blanche Meunier?

Das stand genau in ›Worlds Magazine‹. Wir geben es kurz wieder.

Tom B. Kelley hatte mit den Browns eine Europareise gemacht, in Italien die Stiefschwester Miß Eudoxias kennen und lieben gelernt, eben jene Fiametta Mazzani, hatte sich heimlich mit ihr trauen lassen. Ein Kind war ihnen geboren worden, ein Knabe; aber bei der Mutter hatten sich Zeichen geistiger Störung bemerkbar gemacht. Sie war in eine Anstalt gebracht, der Knabe Blanche Meunier in Erziehung übergeben worden. Diese wollte heiraten, den Jungen gern lossein, fuhr nach Amerika zum Vater und fand ihn ermordet. Die Wahnsinnige war entflohen, hatte ihren Gatten aufgesucht – er lag betäubt von dem Genusse einer vergifteten Zigarre im Sessel. Ferraro hatte sie ihm gegeben, er wollte gerade an diesem Abend den Ring stehlen – die Verrückte hatte aus dem Zimmer ihrer Stiefschwester nicht nur deren Dolch, sondern auch Kleider genommen, war so mit Eudoxia verwechselt worden, hatte den Schlafenden als Räuber ihres Kindes erdolcht. Miß Brown war ihr zwar nachgeeilt, aber zu spät gekommen und hatte geglaubt, das Geheimnis wahren zu müssen.

Die Wahnsinnige wollte immer noch ihren Jungen haben, hielt sich im Brownschen Hause verborgen, hörte wie eines Tages Blanche Meunier kam und Eudoxia fragte, wem sie das Kind, dessen Vater ermordet war, übergeben sollte, stürzte aus ihrem Versteck hervor, erdrosselte zum Entsetzen Eudoxias die Unglückliche, entriß ihr die Hälfte des Medaillons und flüchtete zu ihrer Großmutter nach New-York. Dort starb sie. Nobody fand sie nur noch als Leiche – und Miß Brown, die ebenfalls bei Frau Mazzani gewesen war, benutzte die Aehnlichkeit der Toten, ließ sich als verstorben melden, um in Sicherheit zu sein. Das war alles; Nobody hatte wieder einmal ein Meisterstück vollbracht, das nicht nur die Washingtoner in bewunderndes Staunen versetzte.


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