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4. Der Mann mit den Teufelsaugen.

Durch die im Dunkel der Nacht liegenden Straßen der Eingebornenstadt von Tientsin schritt lautlos auf weichen Filzsandalen ein Mann in chinesischer Tracht. Er hatte die Hände übers Kreuz in die weiten Aermel seiner blauen Jacke gesteckt, das Haupt hielt er nachdenklich gesenkt. Den Weg, den er einschlagen mußte, schien er genau zu kennen, und lange Zeit war er der einzige Mensch auf der Straße. In den elenden Häusern war allerdings ganz gegen die sonstige Gewohnheit noch Leben, eine seltsame, unheimliche Unruhe, und plötzlich huschten wie auf ein geheim gegebenes Zeichen aus allen Türen männliche Gestalten, eilten schweigend dahin, verschwanden um die Ecke und sammelten sich dort vor einem Hause.

Der einsam zurückbleibende Wanderer fragte einen halbwüchsigen Bengel nach der Ursache. Der bückte sich, hob einen Stein auf, schleuderte ihn durch das nächste Fenster und brüllte laut:

»Kueidzu! Kueidzu!« und »Kueidzu! Kueidzu!« heulte, schrie der fanatisierte Pöbel; ein Steinregen prasselte gegen alle Teile des Gebäudes, Feuerbrände flogen auf das Dach und setzten es in Brand, aber niemand kam zum Vorschein. Die Bewohner mußten abwesend sein. Sie würden bei der Heimkehr nur noch die Brandstätte mit den verkohlten Trümmern finden, die fremden Teufel, die Kueidzu.

Der Frager beteiligte sich nicht an dem Zerstörungswerk. Er bog in eine Seitengasse, stutzte, eilte dann aber um so rascher vorwärts. Ein Hilferuf, ein dumpfer Fall – ein lautes, triumphierendes »Kueidzu!«, darauf der Jammerruf einer Frauenstimme.

Der Heraneilende sah am Boden einen dunklen Körper, daneben ein Weib, bedroht von dem Messer eines Chinesen, das alles blutrot beleuchtet vom Feuerschein.

»Mörder!« Das Mädchen warf sich mutig auf den Angreifer, taumelte sofort zurück, in der linken Schulter verwundet. Der Dolch schwebte bereits zum zweiten Stoße in der Luft, da traf ein Faustschlag das Kinn des Schurken und schleuderte ihn zu Boden. Nur einen Moment, dann raffte der Mann sich auf, rannte brüllend zur Ecke, und im Nu wälzte sich die Masse blutgieriger Menschen gegen den Retter und seinen Schützling. Er wollte fliehen, sich dem andern Ende der Gasse zuwenden – da kamen mehrere Chinesen heran – umringten kreischend ihre Opfer und schnatterten wie wütende Gänseriche.

Der Bedrohte hatte keine andre Waffe als seine Fäuste, und an deren freiem Gebrauch hinderte ihn das junge Mädchen, das ihn zitternd umklammerte. Sie waren verloren. Schon streckten sich ein Dutzend Fäuste gegen sie aus, packten und zerrten die Gewänder der Unglücklichen, und – wie durch Zaubermacht sanken die erhobenen Arme herab, verstummte das wütende Geschrei. Der befehlende Klang einer Stimme hatte dieses Wunder bewirkt. Inmitten des wütenden Pöbels stand ein hochgewachsener Chinese von äußerst würdevollem Aussehen. Er sprach noch einige Worte, ließ seine Augen im Kreise herumgehn, da löste sich der Knäuel erst langsam, dann schneller, und endlich stoben die Feiglinge in wilder Flucht davon.

»Der Mann mit den Teufelsaugen!« Einer hatte es geschrien, andre wiederholten es – dann war die Gasse leer, noch ehe die Bedrohten verstanden, daß sie gerettet waren. Der Hochgewachsene beugte sich zu dem auf der Erde liegenden Körper, legte ihm eine Hand auf die Brust, hob ihn auf, trug ihn seitwärts in den Schatten der Häuser, wendete sich wieder zu den beiden und sah nun, daß das Mädchen bewußtlos in den Armen seines Beschützers ruhte. Diesem winkte er, schritt zu einer der nächsten Türen, klopfte dreimal dagegen und wartete schweigend, bis ein Schieber geöffnet wurde.

»Es gibt nur eine Sonne!« sagte er leise.

»Aber viele Sterne!« tönte es ebenso zurück, und der Eingang ward freigegeben. Sie traten in einen finstern Flur, kamen zu einer andern Tür, diese öffnete sich. Ein uralter Chinese mit mumienartigem Gesicht, auf einen Stock gestützt, empfing den Hochgewachsenen mit tiefer Verbeugung, tauschte einige geflüsterte Worte mit ihm, klatschte darauf in die Hände und überwies der eintretenden Dienerin das gerettete Mädchen, entfernte sich aber auch selber mit ihnen. Die beiden Männer blieben allein und sahen sich schweigend eine Sekunde an; aber alsbald senkte der jüngere die Lider. Er konnte den Blick des andern nicht ertragen. Das waren Augen, die förmlich durch ihn hindurchdrangen, ›Teufelsaugen‹!

»Du bist ein Deutscher?« wendete der Hochgewachsene sich an den Befreiten, und zwar in deutscher Sprache, und dieser war doch ganz entschieden ein echter Sohn des himmlischen Reiches, ebensogut wie der Frager, und trotzdem sagte er sofort ja.

»Walter Barby, Führer des chinesischen Zollkutters Ha-no-schie?«

»Ich bin's, Herr!«

»Kennst du mich?«

»Ich hörte vorhin Euern Namen. Ihr seid der Mann mit den Teufelsaugen!«

»So nennen mich die Chinesen, wie aber die Europäer?«

»Ihr seid der amerikanische Detektiv Nobody,« antwortete Walter Barby.

»Stimmt!« gab der andre zu. »Und wenn heute der Zufall Sie mir nicht in den Weg geführt hätte, würde ich Sie morgen zu mir haben rufen lassen.«

»Mich? Sie haben mich ja noch nie gesehen!«

Nobody lächelte in seiner eigenartigen Weise, deutete mit der Hand auf einen Stuhl, setzte sich selbst, zog Zigaretten hervor, und jeder brannte sich eine an. Ohne auf den Ausruf Walter Barbys zu achten, fuhr der Detektiv dann gleichmütig fort: »Es geht Ihnen nicht besonders, Herr. Wollen Sie sich fünftausend Pfund verdienen? Sie sollen mich auf einer Reise ins Innere begleiten.«

»Und dafür fünftausend Pfund bekommen?«

»So ist es! Haben Sie Lust?«

Der deutsche Chinese machte kein geistreiches Gesicht.

»Ich verstehe Sie nicht!« stieß er endlich hervor.

Nobody lächelte wieder, griff unter seine blau-seidne Jacke und brachte einen schwarzen, ellenlangen Stab zum Vorschein, der über und über mit chinesischen Schriftzeichen bedeckt war.

»Was ist das?« fragte er.

Ja, wenn Barby die Bedeutung dieses Stabes gekannt hätte!

»Haben Sie jemals von den drei Alten vom Berge gehört?«

Freilich, das waren die Obersten eines religiösen Geheimbundes, die in einem Lamakloster in Tibet lebten, und denen die abergläubischen Chinesen übernatürliche Kräfte und Kenntnisse zuschrieben. Das sagte Barby.

»Sie haben recht, doch gibt es gegenwärtig nur zwei Alte vom Berge, der dritte ist spurlos verschwunden, ich aber besitze seinen Stab!«

Der Deutsche schaute sich ängstlich um.

»Seien Sie ohne Sorge!« beruhigte Nobody ihn. »Noch weiß niemand, daß ich ihn besitze, sonst allerdings – doch genug! Wissen Sie auch, warum ich der Mann mit den Teufelsaugen bin?«

»Weil ein Blick von Ihnen genügt, jeden Menschen zu hypnotisieren!«

Der Detektiv lachte.

»Was ist Hypnose? Sehen Sie her!«

Er nahm von einem Nebentischchen eine gefüllte Wasserflasche, schüttete ein gewöhnliches Trinkglas bis zum Ueberlaufen voll und brannte eine Kerze an.

»Geben Sie acht! Beobachten Sie mich genau und erklären Sie mir dann, was Sie gesehen haben!«

Schnell ließ er einen Tropfen flüssiges Wachs auf das Wasser fallen, auf dem derselbe schwamm, dann zählte er langsam bis zwanzig, und dabei verschwand das Wasser aus dem Glase, bis es leer war.

»Ueberzeugen Sie sich, daß kein Tropfen mehr drin ist, aber rühren Sie es nicht an! So! Nun passen Sie nochmals auf!«

Nobody zählte von zwanzig rückwärts, und das Wasser erschien wieder, bis das Glas voll war und der Wachstropfen wieder obenauf schwamm.

»Wenn Sie es jetzt untersuchen wollen, bitte!«

Barby untersuchte das Glas, fand nichts, was den rätselhaften Vorgang erklärt hätte, und gestand das offen. Nobody lächelte.

»Sie waren hypnotisiert! Das Wasser ist nicht aus dem Glase herausgekommen. Aber lassen wir diese Spielereien, gehn wir zum Geschäft! Hören Sie mich an! Ich besitze allerdings nach der Meinung unwissender Menschen verschiedene anscheinend übernatürliche Fähigkeiten, und ich verdanke dieselben einem Buddhistenpriester, mit dem ich auf Ceylon zusammentraf. Er konnte mich freilich bloß in die Anfangsgründe einweihen, mir sozusagen lediglich den Schlüssel zum System geben. Er wies mich an einen chinesischen Kaufmann in Kalifornien, der in die Geheimnisse jener Sekte eingeweiht sei, von der ich vorhin sprach. Ich fand ihn nach langem Suchen und zahlte ihm für jedes Wort, das er mir sagte, ein Pfund. Der Weg, den er mir zeigte, führte mich nach Montevideo, nach der Goldküste, nach Nischnij-Nowgorod, nach Sydney, und dort endlich erlangte ich – durch Gewalt diesen Stab. Er hatte dem spurlos verschwundenen dritten Alten vom Berge gehört, und ich kann mich nicht weiter über das aussprechen, was die Schriftzeichen zu bedeuten haben. Sie enthalten aber noch nicht das volle Geheimnis. Dieses kann ich nur in jenem Lamakloster in den Bergen holen. Sie sollen mich begleiten, denn Sie leben seit Jahren in China, sprechen die Landessprache, beherrschen die Sitten, sind an die Tracht gewöhnt, und allein kann ich meiner Rolle gemäß nicht reisen.«

Walter Barby, ursprünglich deutscher Seemann, hatte nach vergeblichen Bemühungen, ein Schiff als Kapitän zu bekommen, schließlich in der Verzweiflung die Stelle auf dem chinesischen Zollkutter angenommen und sich allmählich eingewöhnt. Wohl fühlte er sich aber nicht unter den schmierigen Zopfträgern.

»Und dafür, daß ich Sie begleite, bekomme ich 5000 Pfund Sterling? Da muß doch ein Haken dabeisein!«

»Natürlich! Es gilt, unser Leben einzusetzen,« lächelte Nobody. »Wenn man uns durchschaut, sind wir verloren!«

»Man erkennt Sie doch sofort an den Augen! Ihr Ruf wird auch nach Tibet gedrungen sein!«

Schweigend zog der Detektiv eine Brille hervor, in welcher die Gläser durch große Scheiben aus geschliffenem Bergkristall ersetzt waren, schob sie auf die Nase und schaute den Zweifler an. Da war das Gesicht auf einmal das eines ehrwürdigen, alten Chinesen. Barby traute seinen Augen nicht; aber schon war die Brille wieder weg. Nobody saß in seiner früheren Maske da.

»Nun?« lächelte er. »Jetzt sind Sie wohl zufriedengestellt? Ich reise als Oberpriester des Buddhatempels von Hankau – Sie sahen den alten Herrn eben – Sie sind mein Geheimschreiber.«

»Sie wollen Ihr Leben wagen, um die Geheimnisse einer religiösen Sekte zu erforschen? Sind diese dessen denn wert?«

»Sicher! Doch das ist meine Sache! Wollen Sie mit?«

Barby überlegte sich etwas.

»Hm! Die 5000 Pfund nutzen mir verflucht wenig, wenn ich nicht aus dem Innern zurückkehre!«

»Dann können sie Ihren Erben zufallen!«

»Ah, ich bekomme den ganzen Betrag voraus?«

Nobody antwortete nicht, zog aber ein Büchelchen hervor, schrieb etwas, riß das Blatt ab, gab es dem Deutschen. Es war ein Scheck über 5000 Pfund, und der Deutsche konnte noch immer nicht mit seinem Erstaunen fertig werden; dafür aber lockte ihn das Geld, von dessen Zinsenertrag er im Falle der glücklichen Rückkehr sorgenlos leben konnte. Er wollte sie natürlich in der Heimat verzehren. Das himmlische Reich war ihm längst über.

»Ist denn das nicht zu viel?« fragte er.

»Ich habe schon gegen 20.000 Pfund für diesen Zweck ausgegeben – der Stab allein kostet gegen 10.000,« erwiderte Nobody lächelnd. »Ich kriege das schon wieder herein, und verdienen will ich doch auch noch was!«

Nun, wir wissen, welche Summen der berühmte Detektiv allein von Mr. World erhielt, was er sonst noch von seinen Auftraggebern bekam, und diese Einnahmen verdankte er zum großen Teile mit dem Geheimnisse, das er in dem Lamakloster unter vielfacher Lebensgefahr und mit unsäglicher Mühe an sich brachte. Seine ans Wunderbare grenzenden, oft geradezu unglaublichen Taten, die die staunende Bewunderung der ganzen zivilisierten Menschheit wachriefen, konnte Nobody jedoch erst nach der abenteuerlichen Fahrt vollbringen, die hier genau nach seinen Tagebuchaufzeichnungen erzählt werden soll. –

Walter Barby erbat sich keine Bedenkzeit mehr.

Er war bereit. Das Leben hatte er oftmals für weniger gewagt, für ein Nichts, und wer sagte denn, daß sie ertappt und als fremde Teufel erkannt werden würden?

»Wann soll es fortgehn?« fragte er, nachdem er seine Zustimmung gegeben hatte.

»Ich werde Sie rechtzeitig benachrichtigen lassen. Gehn Sie jetzt, doch legen Sie Ihre chinesische Kleidung ab! Hier ist ein Anzug von mir, der Ihnen passen wird. Ziehen Sie sich rasch um. Eine Erklärung erhalten Sie später! Und noch eins! Sie geben mir Ihr Ehrenwort, keinem Menschen auch nur ein Wort von unsern Abmachungen zu verraten?«

»Sie haben es!«

»So ist es gut!«

»Und das Mädchen?« fragte Barby noch.

»Lasse ich zu seinem Schwager nach Schanghai bringen!« erwiderte Nobody ruhig.

»Wie? Sie kennen die Dame? Bei Gott, sind Sie denn –«

»Allwissend? Nein! Sie ist die Tochter des englischen Missionars Wood. Ich kannte ihn! So! Good bye! Glück auf den Weg!«

Der Detektiv schob den Deutschen mit sanfter Gewalt zur Tür hinaus, und wie im Traume schritt dieser seinem Heim zu, unterwegs immer einmal nach dem Scheck in der Brusttasche greifend. Ein sonderbarer Mensch, dieser Nobody, dieser Mann mit den Teufelsaugen, die so freundlich blicken konnten! Es dauerte lange, ehe Walter Barby auch wieder auf die Gegend achtete, in die er geraten war.

Horch! Kam da nicht jemand hinter ihm her?

Richtig! Ein Chinese! Derselbe folgte ihm. Barby stellte das schnell fest. Er blieb stehn; jener auch. Er bog in eine Nebengasse, jener auch. Doch er kam nicht näher als auf fünfzig Schritte. Na, wenn es ihm Vergnügen machte, der Deutsche kümmerte sich nicht darum. Furcht vor den feigen, gelben Gesellen kannte er nicht. Kurz vor seiner Wohnung zog sich rechts an der Straße ein Bretterzaun hin, durch den eine enge Pforte führte. Barby schaute zurück, öffnete sie rasch und verschwand. Eine Minute später kam der Chinese vorbei, ging noch ein Stück weiter, kehrte dann um und tauchte nicht wieder auf. Da huschte Barby aus seinem Versteck und erreichte ohne weiteren Zwischenfall seine Wohnung, wo er sich sofort entkleidete, sich niederlegte und bald in einen unruhigen Halbschlummer verfiel.

Plötzlich erwachte er mit dem unklaren Gefühl, daß jemand Fremdes in dem Zimmer sei. Am Rande seines Bettes hockte tatsächlich ein Chinese!

Sofort richtete der Ueberraschte sich halb auf, griff mit der Rechten unter das Kopfkissen nach dem Revolver, fand ihn aber nicht. Der Mann mochte ihn schon an sich genommen haben.

»Was willst du hier?«

»Folge mir zu dem, mit dem du vorhin sprachst!« entgegnete der Eindringling und stand auf. »Er wartet auf dich!«

»Jetzt schon?« fragte Barby verwundert, kleidete sich aber auch schon an und folgte dem Chinesen auf die Straße. Dort stand ein Palantin bereit. Der Deutsche stieg ein. Die Träger setzten sich in Bewegung und machten nach einer halben Stunde Halt, im Hofe eines ihm unbekannten Gebäudes. Barby stieg aus, ward von einem Kuli in das Haus geführt. Der Flur war ganz dunkel, kein Laut zu hören als das Geräusch ihrer Schritte.

Da fühlte Barby sich auf einmal von hinten am Nacken gepackt. Ein Knebel ward ihm in den zum Schrei geöffneten Mund geschoben, und gleichzeitig fesselten unsichtbare Hände seine Arme auf den Rücken. Er kam nicht einmal zum Versuch einer Verteidigung, sah sich im nächsten Moment in einem hellerleuchteten Raum drei gelb gekleideten Chinesen gegenüber, auf deren Nasen kolossale Brillen thronten, und hier nahm der Führer ihm den Knebel aus dem Munde. Was in dem unglücklichen Gefangenen vorging, erübrigt sich zu schildern.

»Wie ist Euer Befinden?« fragte der mittelste der drei Chinesen, als wenn es sich um einen ganz alltäglichen Vorgang handle, und Barby antwortete äußerlich ruhig, daß er sich wohl fühle.

»Was für ein Geschäft habt Ihr mit Nobody?«

Ei verflucht! Das konnte gut werden! Am Ende war der ganze Plan bereits verraten, ehe noch an die Ausführung gedacht werden konnte.

»Wer ist Nobody?« fragte Barby jedoch, sich unwissend stellend.

»Der, den Ihr heute nacht besucht habt! Was habt Ihr mit ihm gesprochen?«

Na, wenn sie es denn wußten!

»Wir wollen ein Handelsgeschäft in chinesischer Seide abschließen!« entgegnete der Deutsche.

»Ihr lügt!«

»Mehr kann ich nicht sagen!«

»Gut! Wir werden die Wahrheit auf andre Weise erfahren!«

Auf einen Wink erschien ein Kuli mit starken Ketten und eigentümlich geformten Holzringen. Barby wußte, was ihm bevorstand, und er kannte die chinesischen Foltern. Er hatte sie oft genug gesehen. Jetzt sollte er ihre Wirkung am eignen Leibe verspüren.

»Was wißt Ihr von Nobody?« fragte der mittelste abermals und wiederholte diese Frage noch zweimal, ohne daß der Gefangene antwortete. Da ein neuer Wink – einer jener Holzringe ward ihm um den Hals gelegt, er selbst rückwärts zu Boden geworfen. Eine Schraube zog den Ring enger und enger zusammen. Barby atmete bereits stöhnend und mühsam.

»Was wißt Ihr von Nobody?«

Der Gemarterte wollte sprechen, sagen, daß er nichts wüßte, er brachte kein Wort hervor. Er sah nur, daß der Chinese, der ihn befragt hatte, aufstand und zu ihm trat. Zu seinem Erstaunen ward er jedoch nicht vollends erdrosselt, im Gegenteil, der Ring ward entfernt, und die Fesseln wurden gelöst.

»Stehn Sie auf, Mr. Barby! Fürchten Sie nichts!«

»Mr. Nobody, Sie!?« stammelte der Deutsche.

»Jawohl,« lächelte der Detektiv. »Eine etwas sonderbare Art, Sie auf Ihre Verschwiegenheit zu prüfen, nicht? Geschadet hat's Ihnen wohl nichts? Nein? Das ist gut; denn in ein paar Stunden brechen wir auf.« –

Am frühen Morgen des nächsten Tages verließ eine kleine Kavalkade Tientsin. Voraus ritt auf struppigem einheimischen Pony ein älterer, höchst ehrwürdiger Chinese in kostbaren Gewändern, mit dem Abzeichen der Oberpriesterwürde auf Brust und Rücken und dem entsprechenden Knopf auf der Mütze. Hinter ihm, einige Meter zurück, kam ein zweiter Chinese, weniger reich, aber immer noch vornehm gekleidet, und dann folgten Kulis mit Packpferden.

Schweigend suchten die Männer ihren Weg durch die trostlose Sandwüste, welche sie passieren mußten, um von Tientsin nach Peking zu gelangen. Erst nach geraumer Zeit lenkte der zweite Reiter sein Pferd neben das des ersten.

»Mr. Nobody, gestatten Sie mir eine Frage!«

»Bitte, Mr. Barby!«

»Sie sind gegenwärtig Oberpriester des Buddhatempels in Hankau. Dieser Mann ist doch sicher vielen Chinesen bekannt.«

»Sie können sich darauf verlassen, daß ich ihm ganz genau gleiche.«

»Das meine ich nicht. Sie sagten mir, daß wir zunächst in das Lamakloster zu Peking müßten, wo Sie das Paßwort erfahren könnten, welches Ihnen allein die Tore jenes tibetanischen Klosters öffnet. Man erwartet in Peking den Oberpriester.«

»Ganz recht! Er ist auch schon unterwegs!« versetzte Nobody gleichmütig.

»Ja, wenn er aber unmittelbar nach uns ins Kloster –«

»Ohne Sorge! Er kommt nicht! Er gelangt höchstens bis Tientsin. Von dort tritt der fromme Herr eine kleine Lustfahrt aufs Meer an, von der er erst zurückkommt, nachdem wir unsern Zweck erreicht haben.«

»Aber das Verschwinden eines Oberpriesters wird Aufsehen erregen. Man wird nach ihm forschen.«

»Warum? Ich bin ja da! Mich hält man ja für jenen. Und wenn ich studienhalber in die Berge reise, so ist das doch meine Sache!«

»Und Sie kennen alles, was ein buddhistischer Priester wissen muß?« fragte Barby noch, schwieg aber beschämt, als Nobody ihn lächelnd anschaute. Dieser würde schwerlich ein so gefährliches Wagnis unternommen haben, wenn er nicht alles beherrschte, was zu der Rolle gehörte, die er spielte.

Am Abend machten die Reisenden in einer Herberge Rast, in tiefster Ehrerbietung empfangen vom Wirt, aber auch umdrängt und belästigt durch eine Menge Bettler. Alle empfingen aus der Hand Barbys eine kleine Münze und entfernten sich. Nur einer blieb und forderte frech mehr. Da genügte ein Wink Nobodys. Die Kulis packten den Zudringlichen, schleppten ihn in den Hof und gaben ihm dort die Bastonade. Unter tückischen Drohworten schlich der Mann sich fort.

In dieser Nacht fand Barby keinen Schlaf. Er wälzte sich ruhelos auf den Matten umher, die ihm als Lager dienten, und endlich stand er auf, um in dem engen Zimmerchen auf und ab zu wandern; denn er durfte natürlich als Sekretär nicht in einem Raume mit der geweihten Person des Oberpriesters schlafen. Dieser ruhte nebenan.

»Wer hat denn zu dieser Stunde noch etwas auf dem Korridor zu tun?« fragte der Deutsche sich selbst, als er leise Schritte draußen zu vernehmen glaubte. Er schritt zur offnen Tür, spähte vorsichtig hinaus und sah einen Mann auf allen vieren daherkriechen. Sofort schöpfte er Verdacht, schlich sich hinter jenem her und packte ihn mit eisernem Griffe, als er eben in das Zimmer Nobodys schlüpfen wollte. Der Kerl war nackt, hatte sich überdies noch am ganzen Leibe mit Oel oder mit Fett eingerieben, und es war schwer, ihn festzuhalten. Endlich aber kniete Barby ihm doch auf der Brust und schnürte ihm mit einer Hand die Kehle zu.

In diesem Moment erschien Nobody mit einer brennenden Fackel in der Hand auf dem Korridor, beleuchtete die Kämpfer und lachte: »Aha, der Mann wollte sich für die empfangene Bastonade bedanken!«

Es war in der Tat der gezüchtigte Bettler. Auch die herbeieilenden Hausbewohner erkannten ihn. Der Wirt wollte ihn gefesselt fortführen lassen, doch Nobody gebot ihm Halt. Er blickte dem Schurken fest ins Gesicht und sagte dann: »Oeffne den Mund!«

Jener gehorchte.

»So!« bemerkte würdevoll der falsche Oberpriester. »Zur Strafe für deine schändliche Absicht wirst du ihn nicht wieder schließen können. Versuch's!«

Furchtbare Seelenangst malte sich auf dem Gesicht des Bettlers, der sich vergebens bemühte, den Mund zu schließen. Mit ehrfürchtigem Staunen aber schauten die Chinesen auf den heiligen Mann, der solche Zauberkraft besaß, und dieser sagte weiter mit scharf klingender Stimme: »Schließe die Augen! Du kannst fortan nicht mehr sehen, und dazu bist du stumm und taub!«

Das war zuviel für den Mann. Er stürzte vor Nobody nieder und wollte ihn um Gnade anflehn, doch er brachte nur gurgelnde, unverständliche Laute hervor, und Entsetzen befiel die Zuschauer. Nobody sah es mit Befriedigung, er brauchte den Scherz nicht weiterzutreiben.

»Steh auf!« sagte er. »Du wolltest mich töten, aber ich will dich schonen. Du sollst wieder sehen und hören und deinen Mund bewegen können, doch hüte dich! Sobald du deine Tat wiederholen willst, wirst du auf der Stelle taub und blind sein. Geh!«

Der Mann eilte davon, so schnell seine Beine ihn trugen, und auch die Zuschauer machten, daß sie schnell aus der Nähe des Heiligen kamen. Dieser kehrte langsam in sein Zimmer zurück, drehte sich, ehe er es betrat, zu dem Deutschen um.

»Bei erster Gelegenheit werde ich Ihnen den schuldigen Dank abtragen!« versetzte er halblaut, dann verschwand er und kam erst bei Sonnenaufgang wieder zum Vorschein. Nach dem Frühstück ward die Reise fortgesetzt, unterwegs eine kurze Mittagsrast gehalten, und gegen vier Uhr nachmittags sahen die Reiter die Stadtmauer von Peking vor sich auftauchen, jenes weltberühmte, kolossale Bauwerk mit den zahllosen für Kanonen bestimmten Schießscharten, aus denen aber nie ein Geschützlauf hervorragte. Durch eine Nebenpforte lenkte Nobody sein Pferd in ein schmutzstarrendes Eingebornenviertel, zahlte den Zoll und mietete einen Jungen als Führer zu dem Hause des Chinesen, bei dem er nach vorher gefaßten Planen übernachten wollte.

Das Ziel war bald erreicht, und nach kurzem Klopfen ward die Tür geöffnet. Ein riesiger Chinese erschien auf der Schwelle und fragte barsch: »Was wünscht Ihr?«

»Das, was allein Frieden geben kann,« erwiderte Nobody.

Da beugte der Mann sich fast bis zur Erde und sagte demütig: »Eure Heiligkeit werden seit langem erwartet. Erweiset meiner Armut die Ehre, unter mein niedriges Dach zu treten! Alles, was mein Haus enthält, gehört Euch!«

Er ließ die vornehmen Gäste an sich vorüber und geleitete sie dann in zwei Zimmer, in denen er sie allein ließ, um für eine Abendmahlzeit zu sorgen. Nobody benutzte die Zeit, um seinem Begleiter noch einmal einzuschärfen, wie er sich zu verhalten habe, und nachdem sie gegessen, legten sie sich zum Schlummer nieder, der diesmal durch nichts gestört ward. Am zeitigen Morgen aber sammelte sich vor dem Hause bereits eine ganze Karawane von Reitern und Fußgängern, die dem heiligen Mann das Ehrengeleit zum Lamakloster geben wollten.

Um die Gefahr ganz zu verstehn, der Nobody und Barby entgegengingen, muß man bedenken, wie sehr die Chinesen den Europäern feindlich gesinnt sind, und daß sie zwar für gewöhnlich ihren Groll bezähmen müssen, niemand sie jedoch zur Verantwortung ziehen und bestrafen kann, wenn sie einen ›westlichen Teufel‹ erschlagen oder zu Tode martern, der verkleidet in ihre Tempel oder Klöster einzudringen wagte. Verriet Nobody sich nur durch das geringste Versehen, gab er sich eine noch so geringe Blöße in bezug auf die Kenntnis buddhistischer oder schamanischer Religionszeremonien, so war er verloren und sein Begleiter mit ihm. Gerade diese bedrohlichen Aussichten aber lockten den verwegnen Mann erst recht an. Furcht kannte er keinesfalls, und so schritt er würdevoll wie ein wirklicher Oberpriester an den knienden Chinesen vorüber zur Sänfte, nahm in dieser Platz und gab dadurch das Zeichen zum Aufbruch. Der Deutsche folgte seinem Herrn zu Pferde zu dem Lamatempel von Peking, der, in einer Vorstadt gelegen, Europäern vollständig unzugänglich ist. Es ist ein mächtiges steinernes Gebäude, das aber einen unheimlichen Eindruck macht, weil alles Leben in ihm erstorben zu sein scheint. Auch als die Kulis heftig an das geschlossene Tor pochten, ließ sich lange niemand sehen, bis endlich eine Stimme von innen nach dem Begehr der Klopfenden fragte. Geöffnet ward jedoch trotz gegebener Auskunft auch jetzt noch nicht, bis Nobody vortrat und einige Worte mit gedämpfter Stimme sagte. Da flogen sofort die Torflügel auseinander. Der Weg ins Lamakloster stand den kühnen Männern offen, und schon nahte sich ehrerbietig ein Diener, der nicht einmal die Augen zu dem heiligen Manne zu heben wagte.

Nobody warf den chinesischen Begleitern eine Handvoll kleine Münzen zu, wandte sich dann zu dem Diener und fragte, ob auch sein Sekretär mit eintreten dürfe. Das ward erlaubt, und die beiden folgten nun dem Führer über eine lange Treppe in einen geräumigen Saal, in dem sich eine wohl zwanzig Meter hohe Buddhastatue erhob, aus Holz geschnitzt, prächtig geschmückt und in jeder Hand eine große Lotosblume haltend. Im übrigen funkelte und gleißte es in diesem Tempel überall von Gold und Silber und Edelmetallen, doch dürfte eine genaue Beschreibung des Klosters die Leser wenig interessieren.

Nobody erhielt mit seinem Begleiter zwei nebeneinanderliegende Zellen angewiesen, und sie blieben den Tag über allein. Nur daß ihnen ein Diener die Mahlzeiten brachte. Am folgenden Morgen weckte das Dröhnen eines Gongs die beiden aus dem Schlafe. Sie erhoben sich und warteten auf den Ruf zur Audienz beim Abte des Klosters. Endlich wurden sie in die große Halle gerufen, und kaum hatten sie diese betreten, da erschienen auf der Treppe zwei noch junge Mönche, die einen mindestens achtzigjährigen Greis die Stufen herabführten. Alle drei waren in die gleichen groben Stoffe gekleidet, und ihre Köpfe waren vollkommen kahl geschoren. Der Alte trug einen langen, schlohweißen Vollbart und hielt die Augen zugekniffen, als könne er schlecht sehen. Mit zitternder, seltsam hoher Stimme fragte diese menschliche Ruine: »Wollt ihr mir sagen, aus welchem Grunde ihr unsre Gastfreundschaft anrieft?«

»Ich bin der Oberpriester des Buddhatempels in Hankau,« entgegnete Nobody sofort mit großer Würde, »und weshalb ich hier bin, wissen die am besten, die mich herriefen.«

»Woran soll ich dich erkennen?«

»Wenn der Mond untergegangen, scheinen die kleinen Sterne!«

»Das wohl, aber die Morgendämmerung läßt sie alle erbleichen. Und wenn du der bist, den wir seit drei Wochen erwarten, so hast du andre Mittel, dich auszuweisen.«

Da brachte Nobody aus einer Innentasche seiner prächtig gestickten Jacke jenen Stab mit der goldnen Schrift hervor, und kaum hatte der Alte ihn erblickt und mit den Fingern betastet, da fiel er auf die Knie und küßte demütig den Saum des oberpriesterlichen Gewandes.

»Jetzt weiß ich, daß deine Heiligkeit einer der Herren über Leben und Tod ist. Betrachte dieses Kloster und was darin ist als dein Eigentum! Wir sind deine Sklaven.«

Darauf erhob er sich und ward von den beiden Mönchen fortgeleitet. Nobody aber kehrte mit seinem Begleiter in die ihnen angewiesenen Zellen zurück, und dort rief er frohlockend: »Gelungen! Er hat keinen Verdacht geschöpft. Morgen wird er mir das Paßwort sagen, das mir Zutritt ins Kloster der Alten vom Berge verschafft!«

Walter Barby atmete erleichtert auf. Es war ihm bei der Audienz durchaus nicht wohl zumute gewesen. Er verstand ja immer noch nicht, welchen Wert jenes Geheimnis besitzen sollte, um dessentwillen Nobody schon 20.000 Pfund geopfert hatte und nun sogar sein Leben noch aufs Spiel setzte. Der Deutsche konnte eine gewisse bange Unruhe nicht aus seiner Seele bannen. Er ahnte eine Gefahr und hätte viel darum gegeben, wenn er erst wieder außerhalb der Klostermauern gewesen wäre, und er suchte sich zu zerstreuen, indem er die verschiedenen Gebäude durchschritt. So gelangte er auch in einen großen Saal, in dem mehrere Hundert Mönche ihre Freizeit verbrachten. Die meisten saßen in Gruppen beisammen und lauschten einem Geschichtenerzähler.

Um jeden Verdacht zu zerstreuen und sich gleichzeitig selbst zu prüfen, nahm Barby in einer solchen Gruppe Platz und begann selbst in tadellosem Chinesisch ein Märchen vorzutragen. Aufmerksam hörten ihm alle zu, doch plötzlich war es dem Deutschen, als wenn einer der Mönche, ein Kerl mit einem echten Verbrechergesicht, ihn verstohlen mit tückischen Blicken musterte, und je genauer er seinerseits den Mann betrachtete, desto mehr kam er zu der Ueberzeugung, daß er denselben schon früher gesehen habe. Unwillkürlich stockte er im Erzählen, verlor den Faden und erhob sich endlich mit einer Entschuldigung. Er wagte nicht mehr, jenen Mönch anzusehen, und so gewahrte er nicht, daß dieser, als er an ihm vorüberging, rasch den einen Fuß etwas vorschob. Barby stolperte, stürzte zu Boden und blieb einen Moment wie betäubt liegen. Da war auch schon der Mann bei ihm und faßte ihn, als wenn er ihm aufhelfen wollte, am linken Handgelenk.

Sofort war der Deutsche auf den Beinen, stieß jenen zurück und eilte in seine Zelle, wo er Nobody vorfand.

»Wir sind verraten!« rief er diesem zu. »Einer der Mönche hat mich erkannt!«

Ruhig schaute der Detektiv auf, als wenn nicht auch sein Leben in Gefahr sei.

»Erzählen Sie!« sagte er.

»Als ich in Schanghai wohnte,« berichtete der Deutsche hastig, »versuchte man nachts bei mir zu stehlen, ich aber ertappte den Dieb, es kam zum Kampfe, und er stach mich ins linke Handgelenk. Dann entfloh er. Ich habe die Narbe heute noch, und vorhin habe ich den Einbrecher als Mönch in diesem Kloster wiedergefunden.«

Bald wußte Nobody alles, und nach kurzem Nachdenken sagte er: »Das ist allerdings schlimm; denn der Mann wird seine Entdeckung dem Abte mitteilen, und dieser wird Ihr Handgelenk untersuchen. Findet er die Narbe, so sind wir tote Leute.«

»Wir müssen fliehen!« rief Barby.

»Die Tore des Klosters sind geschlossen und werden scharf bewacht. Sie haben es gesehen, als wir Einlaß begehrten. Nein, fort können wir nicht. Ich verlasse dieses Haus auch nicht eher, als bis ich das Paßwort weiß.«

»Aber man wird uns zu Tode martern!«

Nobody lächelte.

»Wenn wir keinen rettenden Ausweg finden! Keinesfalls wird der Abt die Anklage vor morgen früh erheben. Uns bleibt also die Nacht, und die wollen wir benutzen. Fürchten Sie sich, allein hierzubleiben? Nein? Dann ist es gut! Verlassen Sie unter keinen Umständen die Zelle! Auf Wiedersehen!«

Ehe Barby noch eine Frage an Nobody richten konnte, war derselbe bereits hinausgeeilt. Der Deutsche blieb allein zurück, und es läßt sich denken, daß ihm durchaus nicht behaglich zumute war. Er hatte keine Ahnung, was der Detektiv zu ihrer Rettung tun wollte, und so verstrichen ihm die Stunden in qualvollster Langsamkeit. Weiter und weiter schritt trotzdem die Zeit. Bald mußte der Tag anbrechen, und wenn Nobody dann noch nicht zurück war –!

Ah, da kamen leise, schleichende Schritte näher! Die Boten des Abtes, die den Deutschen zum Gericht holen wollten!

»Mr. Nobody!« klang es jubelnd aus Barbys Munde, und er war es – der kühne Mann war wieder da. Er hatte einen fremden Chinesen mitgebracht. Ohne vorläufig eine Erklärung abzugeben, forderte er den Deutschen auf, seine Kleider mit denen des Unbekannten zu vertauschen, dann ließ er beide nebeneinander niederknien und begann seine Arbeit am Gesicht des Chinesen. Nach kaum fünf Minuten war dasselbe nicht mehr von dem Barbys zu unterscheiden, und da drangen die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont. Es war höchste Zeit gewesen, aber Nobody hatte den einzigen Weg zur Rettung gefunden.

In seinem Tagebuche finden wir die Erklärung. Er hatte sich unter dem Schutze der Nacht auf die Umfassungsmauern des Klosters geschlichen, an eine Stelle, wo sich jenseits ein Baum erhob. An diesem war er zu Boden geklettert, hatte aus dem umzäunten Raum, wo die Ponys untergebracht waren, eins herausgeholt, war nach Peking gejagt und hatte unter unsagbarer Anstrengung die Stadtmauer erklettert. Jenseits führte eine Treppe hinab. Nobody schnell hinunter, will um die Ecke, da tritt ihm ein chinesischer Soldat entgegen. Schweigend drückt Nobody ihm mehrere Goldstücke in die Hand und kann passieren. Er eilt zum Hause Laoyungs, eines befreundeten Chinesen, findet ihn nicht, sucht ihn in mehreren Spielhöllen, entdeckt ihn endlich in einer Opiumspelunke, schleppt den halb Bewußtlosen mit fort, bringt ihn zur Ernüchterung und sagt ihm, um was es sich handelt. Für hundert Pfund ist Laoyung bereit. Sie klettern wieder über die Stadtmauer. Der Chinese besteigt das Pferd, Nobody rennt nebenher, und so kommen sie noch vor Tagesanbruch ins Kloster zurück. –

Der Gong dröhnte und rief nicht nur die Mönche, sondern auch den falschen Oberpriester und seinen Sekretär in die große Halle. Barby mischte sich unerkannt unter die zu den Toren hereinströmenden Bettler. So konnte er von weitem der Gerichtssitzung beiwohnen. Er sah, wie der Abt auf einem erhöhten Stuhle Platz nahm, neben ihm Nobody, und dann trat der Ankläger vor; sicher und schadenfroh war seine Aussage. Darauf erhob sich Nobody.

»Lügner!« rief er mit schneidender Stimme. »Du verdächtigst aus teuflischer Bosheit meinen treuen Diener; aber ich sage dir, du wirst der verdienten Strafe nicht entgehn! Tritt vor, mein Taotse!« (So nannte er seinen Sekretär.)

Laoyung näherte sich demütig dem Abte, und noch einmal wiederholte der Mönch seine Anklage. Dann stand der Greis auf, schaute den Verklagten lange an, sagte endlich: »Komm mit!« und führte ihn hinaus in einen Nebenraum. Eine halbe Stunde verstrich in fast lautlosem Schweigen, und unbeweglich saß Nobody als Oberpriester da. Niemand hätte ihm anzumerken vermocht, daß diese Minuten über sein Leben entschieden.

Da kehrte der Abt mit Laoyung zurück, setzte sich wieder und sprach.

»Ich habe diesen Mann geprüft und keine Schuld an ihm gefunden. Es geschehe der Wille des gerechten Gottes! Deine Heiligkeit sage die Strafe!«

Langsam stand Nobody auf.

»Tritt näher zu mir, Elender!« und als jener gehorcht hatte, fuhr er fort: »Das Gift deiner Seele ist übergeflossen in deiner falschen Anklage. Du warst ein Dieb und wolltest ein Mörder werden. Darauf steht der Tod! Stirb!«

Das letzte Wort stieß er mit so furchtbar klingender Stimme hervor, daß es den Hörern durch Mark und Bein ging, und ein halbunterdrückter Schreckensruf ward laut, als der Mönch, wie vom Blitze getroffen, leblos zu Boden stürzte.

Ehrfurchtsvoll schaute der Abt auf den heiligen Mann, zitternd die versammelte Menge.

»Er ist gerichtet! Er ist tot!« begann Nobody da wieder. »Aber er soll morgen um diese Stunde wieder erwachen und sein elendes Leben weiterschleppen in steter Angst vor der Strafe der Götter, deren Liebling ich bin!«

Wie auf ein Kommando fielen alle Anwesenden auf die Knie nieder; der Abt aber stand auf und rief, daß alle es hören konnten:

»Du bist wahrhaftig der, den wir erwarteten. Befiehl deinem Knechte, er wird dir gehorchen.«

»Laß uns allein miteinander reden!« entgegnete Nobody und verließ mit dem Abte den Saal, während die Menge sich zerstreute und Laoyung in die Zelle Barbys zurückkehrte. Dieser gelangte unbemerkt ebenfalls dorthin, tauschte schnell die Kleider wieder mit dem Chinesen, und nachdem dieser sein Gesicht von der Schminke gereinigt, sowie die 100 Pfund empfangen hatte, entfernte er sich, ohne daß jemand ihn aufhielt.

Nobody erschien erst nach mehreren Stunden wieder. Sein Antlitz strahlte.

»Mr. Barby,« rief er freudig, »es ist gelungen! Ich habe alles erfahren. Ich kenne das Paßwort und ebenso den Weg zum Kloster. Morgen brechen wir auf, sobald es Tag wird!«

Daß er eben mit knapper Not dem Tode entronnen war, und daß ihm auf dem weiteren Wege noch die schlimmsten Gefahren drohten, daran dachte der kühne Mann nicht, und seine Furchtlosigkeit übertrug sich auf den Deutschen. Nobody hätte, wenn er als Feldherr an der Spitze einer Armee gestanden hätte, alle seine Soldaten zu Helden gemacht.

 

Beim ersten Tagesgrauen verließen er und Barby das Lamakloster in der Richtung nach dem Gebirge zu. Eine Schar Kulis mit Packpferden folgten ihnen in einiger Entfernung. Der Detektiv war in bester Laune, fiel aber trotzdem nicht ein einziges Mal aus der Rolle, die er als Oberpriester zu spielen hatte. Was er mit seinem Begleiter sprach, konnten die Chinesen ja nicht verstehn, weil sie zu weit zurück waren. Er erzählte dem Deutschen, wie er Laoyung in das Kloster gebracht habe, und entwickelte seine Zukunftspläne, soweit er sie verraten durfte.

»Nein, Mr. Barby,« sagte er unter anderm »der Zufall und ich, wir haben nichts miteinander gemein. Was ich tue, das will ich tun, und deshalb, allein deshalb geschieht es. Wenn ich mir vorgenommen hätte, einen bestimmten Menschen ausfindig zu machen, und derselbe flöhe vor mir von Erdteil zu Erdteil, er könnte sich verbergen, wo er wollte, ich würde ihn doch finden! Jetzt will ich ein Geheimnis ergründen, das nur zwei Menschen außer mir kennen, und ich bin sicher, daß ich mein Ziel erreiche –«

»Oder zuvor sterbe!« unterbrach der Deutsche ihn.

Nobody lachte halblaut.

»Dazu verspüre ich noch durchaus keine Lust, ebensowenig wie Sie!«

Am dritten Tage nach dem Aufbruch aus Peking erreichten die Reisenden das Gebirge und drangen auf ziemlich guten Pfaden in dasselbe ein. Bisher war ihnen keinerlei unliebsamer Zwischenfall zugestoßen, man hatte in allen Dörfern, die passiert wurden, dem priesterlichen Kleide die höchste Ehrerbietung gezollt. Die Nächte verbrachte man in am Wege stehenden Wirtshäusern, erst am Abend des vierten Tages mußte Nobody mit seinen Begleitern die Gastfreundschaft eines kleinen Bergklosters in Anspruch nehmen, das außer dem Vorsteher nur von fünf Mönchen bewohnt wurde. Diese geleiteten den vermeintlichen Oberpriester und seinen Sekretär in die in einem Nebengebäude gelegenen Gastzimmer, von denen aus der Hof zu übersehen war.

Nach eingenommener Abendmahlzeit hatten Nobody und Barby sich Pfeifen gestopft und angebrannt und saßen rauchend am Fenster, als noch zwei berittene Chinesen ankamen. Sie stiegen im Hofe aus dem Sattel und wollten die Pferde eben zum Brunnen führen, da gewahrte der eine von ihnen den Oberpriester. Sofort wendete der Mann sichtlich betroffen sein Gesicht ab und trug Sorge, daß Nobody dasselbe nicht mehr sehen konnte. Dadurch zog er natürlich des Detektivs Aufmerksamkeit gerade erst recht auf sich, aber derselbe verriet keinerlei Erregung, sagte auch seinem Begleiter kein Wort, sondern legte sich, nachdem es vollkommen dunkel geworden, zum Schlafe nieder – freilich nur zum Schein, denn kaum vernahm Nobody die regelmäßigen Atemzüge Barbys, so erhob er sich, schlich sich lautlos hinaus und rings um das Haus.

»Ich dachte es mir,« murmelte er leise vor sich hin, dann huschte er schnell unter die Fensteröffnung, aus der ein spärlicher Lichtschimmer ins Freie drang. In dem fast ganz kahlen Räume lag auf einer Matte jener Chinese, der Nobodys Verdacht erregt hatte. Jetzt erkannte dieser das Gesicht. Es war einer von den Dienern Laoyungs. Nobody hatte den Mann in jener Nacht gesehen, als er aus dem Lamakloster nach Peking geeilt war. Was wollte der Mensch hier? War er ihnen heimlich gefolgt, um sie bei passender Gelegenheit zu verraten? Das schien unmöglich, denn noch hatte niemand die Maske Nobodys durchschaut und erkannt, daß er ein Kueidzu war, ein westlicher Teufel. Jedenfalls mußte der Mann scharf beobachtet werden.

Nobody wollte eben in sein Zimmer zurückkehren, denn er konnte vorläufig nichts weiter tun, da sah er einen zweiten Chinesen in den Raum treten und sich niedersetzen.

»Wir haben Glück gehabt,« sagte der Mann ziemlich laut, »denn wir haben sie gefunden. Sie argwöhnen nichts, und wenn wir morgen abend den Ming-jan aus dem Kloster der Alten vom Berge treffen, dann werden wir ihm den Brief übergeben und haben die versprochene Belohnung verdient.«

»Aber den Stab müssen wir auch in unsre Hände bringen,« entgegnete der andre. »Wenn wir ohne ihn nach Peking zurückkehren, sind wir des Todes!«

»Unser wartet dort die höchste Ehre, die fremden Teufel aber werden zu Tode gemartert werden.«

»Wie sie es verdient haben! Ich wollte nur, ich könnte die Folterung mit ansehen.«

»O, ich auch! Die Klosterleute haben Martern erfunden, die wir uns nicht einmal träumen lassen. Aber wir dürfen nicht hinein, weil wir das Paßwort nicht wissen. Es ist nur gut, daß Laoyung verraten hat, was die Kueidzus von ihm verlangten. Aber sie werden den Tod dafür erleiden.

»Doch sag! Wo treffen wir Ming-jan?«

»Am Flußübergang in den Bergen!«

»Woran werden wir ihn als Boten der Alten vom Berge erkennen?«

»Er reitet auf einem Kamel mit rotem, silbergesticktem Sattel, hat nur einen Arm, den linken, und eine große Narbe quer über die Stirn.«

»Und er wartet nur auf uns?«

»Keineswegs! Er kommt monatlich einmal herab, um Nachrichten und Briefe für seine Herren zu holen. Morgen ist sein Tag. Er wird diese Botschaft von uns mitnehmen.«

Der Sprecher zog eine kleine, sorgfältig verschnürte Papierrolle hervor, zeigte sie seinem Kameraden und verbarg sie dann wieder. Darauf fuhr er fort: »Doch jetzt wollen wir ruhen, daß wir morgen bei Kräften sind, wenn die großen Dinge geschehen.«

Die Lampe ward ausgeblasen, und Nobody verließ seinen Lauscherposten, legte sich in seinem Zimmer auf das Bett und schlief so ruhig wie nur je in seinem Leben. Er erwachte frühzeitig, weckte Barby, hieß ihn sich zur Weiterreise fertig machen, sagte ihm aber kein Wort von seiner Entdeckung. Eine Stunde später setzte sich die kleine Kavalkade bereits wieder in Bewegung und drang weiter in das Gebirge ein. Gegen Mittag ward eine Karawanserei passiert und dort ein Mahl eingenommen; dann ging es weiter. Kaum aber waren die Gebäude außer Sicht, da wendete Nobody sich an seinen Begleiter: »Hier in der Nähe, links vom Wege, liegt ein Dorf. Ich werde jetzt dorthinreiten. Den Zweck erfahren Sie später. Sie werden Ihren Weg fortsetzen und auf einen Fluß stoßen. Sie warten an dessen Ufer, bis jenseits ein Mann auf einem Kamel erscheint, das einen roten, silbergestickten Sattel trägt. Er ist ein Bote aus dem Kloster, welches wir aufsuchen wollen. Sie geben ihm diesen Brief und dieses Geld, warten, bis er Ihnen aus den Augen gekommen ist, und folgen ihm in genügender Entfernung. Treffen Sie unterwegs auf einen geeigneten Lagerplatz, so warten Sie dort, bis ich zu Ihnen stoße!«

Wieder ließ Nobody seinen Begleiter, ohne ihm eine nähere Erklärung zu geben, zurück, und Barby hatte auf dem weitern Ritt Muße genug, darüber nachzugrübeln, was für ein Rätsel hier wieder vorlag. Er fand natürlich keinen Schlüssel zu dem Geheimnis und mußte sich in Geduld fassen. Er erreichte den Bergfluß, befahl den Kulis, hinter einem Felsenvorsprung zu bleiben, und lagerte sich selbst am Ufer. Er hatte keine Ahnung, daß die beiden Verräter ihm, allerdings in weiter Entfernung, folgten, und so war er ohne ernstliche Besorgnisse.

Lange brauchte er auf den Boten nicht zu warten. Derselbe erschien schon nach einer halben Stunde, genau so, wie Nobody ihn beschrieben hatte, und ohne Zögern trieb Barby seinen Pony ins Wasser, das kaum bis an den Sattel reichte. Drüben stieg er ab, näherte sich dem Einarmigen und verbeugte sich tief.

»Ich erwarte hier einen Boten der großen Alten vom Berge,« sagte er. »Bist du der, den ich suche?«

»Wer schickt dich?« lautete die Gegenfrage.

»Der Priester des Lamaklosters in Peking! Ich bringe einen wichtigen Brief.«

»Zeige ihn!«

Barby gab dem Kamelreiter den Brief. Der Bote prüfte das Siegel und die Aufschrift sehr sorgfältig, nickte befriedigt.

»Es ist in Ordnung, allein ich muß hier warten, bis die Nacht hereinbricht.«

»Die Botschaft ist wichtig. Ich soll dir dieses Geld geben, damit du sie schnellstens deinen Herren überlieferst!«

Der Einarmige nahm das Geld, wunderte sich offenbar darüber, sagte aber: »Ich bleibe hier, bis die Nacht hereinbricht. Eher reite ich nicht zurück.«

Da Barby, wie gesagt, keine Ahnung der ihm drohenden Gefahr hatte, so erhob er keinen Einspruch mehr, sondern streckte sich neben jenem am Flußufer aus.

Tiefer und tiefer sank die Sonne und verschwand endlich hinter den schneebedeckten Bergen. Niemand hatte sich jenseits des Wassers gezeigt, und so stieg der Einarmige endlich wieder in den Sattel.

»Willst du mich begleiten?« fragte er den Deutschen.

»Ich muß hier auf meinen Herrn warten.«

Da ritt der Bote schweigend davon, und nach einiger Zeit rief Barby die wartenden Kulis durch das verabredete Zeichen zu sich. Sie durchritten den Fluß ebenfalls ohne Mühe, und nachdem sie gelandet, führte Barby sie an einen Platz am Eingang einer Schlucht, den er als Lagerstätte auserkoren hatte. Dieselbe lag abseits vom Wege, und während die Leute das Abendessen zubereiteten, kehrte der Deutsche zurück, um Nobodys Rückkehr zu erwarten. Doch er erschrak nicht wenig, als plötzlich aus dem Dunkel der Kamelreiter von neuem auftauchte. Hatte der Mann irgend einen Verdacht geschöpft?

Barby hatte keineswegs die Absicht, sich zu verbergen. Er wartete, bis der Mann bei ihm war.

»Dicht neben Ihnen liegen einige große Felsblöcke!« sagte da der Einarmige mit Nobodys Stimme. »Verbergen Sie sich dahinter, und halten Sie Ihren Revolver schußbereit. Wenn Sie sehen, daß ich Ihres Beistandes dringend bedarf, so kommen Sie mir zu Hilfe, eher nicht!«

»Sie sind's!« stieß Barby in höchstem Erstaunen hervor. »Was hat das alles zu bedeuten? Waren Sie auch der vorige Kamelreiter?«

»Nein, der war echt!« entgegnete Nobody leise. »Doch jetzt ist keine Zeit zum Reden. An Ihren Platz!«

Schweigend legte der Deutsche sich an dem ihm bezeichneten Platz nieder, den Revolver schußbereit in der Rechten. Nobody aber ritt bis unmittelbar an das Wasser, und als er es erreichte, da tauchten jenseits dunkle Gestalten auf, schwammen und ritten durch den Fluß, und einer von ihnen trat, sich entschuldigend, zu Nobody. Die Pferde seien unterwegs erkrankt, dadurch seien sie aufgehalten worden. Dann fragte der Mann, ob schon eine andre Kavalkade den Fluß passiert habe.

»Jawohl,« antwortete der Kamelreiter, »sie irren jetzt vermutlich irgendwo im Gebirge umher, denn sie fragten mich nach dem Wege, und ich wies ihnen den falschen.«

»Wieviel Männer waren es?«

»Fünf! Die Teufel, die in den Bergen wohnen, mögen sich ihrer bemächtigen! Uebrigens – wer seid ihr?«

»Wir kommen von Peking mit Briefen vom Abte des Lamaklosters an die Alten vom Berge. Zwei westliche Teufel haben sich ins Kloster geschlichen, nachdem sie den Oberpriester von Hankau ermordet, und einer spielt die Rolle des Toten. Es waren jene Männer, welche du in die Irre geschickt hast!«

Da lachte Nobody gehässig auf.

»Sie werden nicht mehr weit kommen. Ihre Herzen werden den jungen Adlern zum Fräße dienen. Was habt ihr mir sonst zu sagen?«

Der Chinese brachte einen zusammengerollten Brief zum Vorschein und händigte ihn dem vermeintlichen Boten ein.

»In diesem Schreiben steht alles.«

»Gut! Ich werde es bestellen. Jetzt aber verlaßt diesen Platz, denn die Geister der Abgründe steigen in stillen Nächten empor, und wer sie erblickt, der muß sterben!«

Nobody wendete sein Kamel, und die Chinesen ihrerseits beeilten sich, über den Fluß zurückzukommen. Sie verschwanden bald in der Finsternis, und nun verließ Walter Barby sein Versteck und trat zu Nobody, der ihn erwartete.

»Mein Gott, was hatte denn das nur zu bedeuten? Wir sind abermals verraten worden?«

»Leider! Doch Sie haben ja gehört und gesehen, daß man einem Nobody nicht so leicht den Weg verlegt. Dieser Zwischenfall hat uns im Gegenteil nur genützt, denn jetzt glaubt man, uns unschädlich gemacht zu haben.«

»Aber der echte Bote aus dem Bergkloster?«

»Hat von Ihnen den Brief empfangen, in welchem den Alten vom Berge die Ankunft des frommen und hochgelehrten Oberpriesters von Hankau gemeldet wird. Das verräterische Schreiben besitze ich. Sie können es nachher in Muße lesen.«

Darauf erzählte Nobody kurz, wie er die beiden Chinesen belauscht hatte. Er hatte sofort seinen Plan gefaßt, den Pferden der Boten ein langsam, aber sicher wirkendes Gift beigebracht, sich in dem Dorfe ein Kamel, sowie einen roten, silbergestickten Sattel gekauft, sich äußerlich jenem erwarteten Boten ähnlich gemacht und im übrigen damit gerechnet, daß die Verräter erst lange nach Sonnenuntergang an dem Flusse anlangen konnten, so daß er sie dort zu empfangen vermochte. Er hatte seine Rolle trefflich genug gespielt, daß jene nicht den geringsten Argwohn gefaßt hatten und nach ihrer Heimkehr gewiß triumphierend meldeten, daß die westlichen Teufel ihre verdiente Strafe erhalten hätten.

Dies alles brachte Nobody so gleichmütig vor, als handle es sich um irgend etwas, was ihn persönlich gar nichts anginge; und doch hatte es sich hier abermals um Leben und Tod für ihn gehandelt.

Sie begaben sich zu den Kulis, die inzwischen ein Feuer angezündet und eine Mahlzeit bereitet hatten, aßen und schliefen und setzten am frühen Morgen die Reise fort. Immer tiefer drangen sie in das unwirtliche Gebirge ein, das vor ihnen noch kein Europäer betreten hatte, immer stärker ward die Kälte, und endlich setzte ein so gewaltiger Schneesturm ein, daß selbst Nobody nicht mehr wußte, wo sie sich befanden. Drei Tage irrten sie in den Felseneinöden umher, und als am vierten Morgen das Unwetter sich legte, da begruben die beiden kühnen Männer den letzten Kuli ihrer Begleitung unter dem Schnee; die armen Kerle waren ebenso wie die Pferde erfroren.

Nobody mußte allein mit Barby den Weitermarsch antreten und zunächst den verlornen Pfad wieder suchen. Er fand ihn nicht; abermals verstrichen zwei Tage unter unsagbaren Strapazen, doch Nobody verlor den Mut nicht. Er dachte nicht an Umkehr – entweder – oder!

Hungernd erhoben sie sich aus dem Schnee, als der neue Tag anbrach. Sie hatten nichts mehr zu essen, und wenn sie heute das Kloster nicht zu Gesicht bekamen, dann war alles vergebens gewesen, dann hatten sie nutzlos allen Gefahren getrotzt.

»He, Barby,« sagte Nobody lachend, »ich glaube, jetzt wären wir beide zufrieden, wenn wir eine Portion Essen aus der schmutzigsten chinesischen Volksküche hätten! Zum Teufel, daß der Mensch so sehr der Sklave seines Magens ist!«

Er hatte den Humor also noch nicht verloren. Das war viel wert, und als er nun von einem Felsblock aus Umschau hielt, da winkte er plötzlich Barby.

»Na, wer sagt's denn? Dort liegt das Kloster!«

Ja, da lag es oder vielmehr ragte es, auf einem mindestens 1000 Meter hohen, isolierten Felsen stehend, in den Himmel empor, und zwischen ihm und den beiden Männern zog sich ein tiefes Tal hin – kein Pfad führte hinab – überall nur die fürchterlich steile Wand. Wie sollten sie das Ziel erreichen, von dem sie kaum noch auf Büchsenschußweite entfernt waren?

»Jetzt könnte ein Vogel Greif kommen und uns als Fraß für seine Jungen davontragen, ich wäre ihm nicht böse: das heißt, wenn das Kloster dort drüben kein Horst wäre. Ja, mein lieber Barby, das hilft nischt, wir müssen klettern. Runter kommen wir auf alle Fälle! Uebrigens müssen die drüben uns bereits gesehen haben. Sie werden sich eins feixen, wenn wir noch länger so dastehn wie Ochsen am Berge. Also los! Seine Heiligkeit der Oberpriester von Hankau wird sich mit aller ihm eignen Würde bemühen, mit ganzem Hosenboden vor den Alten vom Berge zu erscheinen!«

Der Deutsche mußte trotz der fatalen Situation laut auflachen; dann aber beeilte er sich, seinem Herrn zu folgen, der bereits in den furchtbaren Abgrund hinunterkletterte, ohne daß man sah, wo und wie er einen Halt für Hände und Füße fand. Es war im vollen Sinne des Wortes eine wagehalsige Kraxelei, aber das Glück war auch hier wieder dem Mutigen hold. Die beiden kühnen Männer kamen glücklich auf der Sohle der Schlucht an. Die Hosen hatten sie sich auch nicht zerrissen, und daß das Blut aus den zerschundenen Fingern quoll, hatte nichts zu sagen. Ohne sich aufzuhalten, näherte Nobody sich dem Felsen, auf dessen Plateau sich das mächtige Kloster erhob, und suchte nach einem Wege, der in die Höhe führte. Nirgends war einer zu entdecken, und zu erklimmen war diese Wand nicht.

»Wer seid ihr, daß ihr euch unsrer Felsenwohnung naht?«

Eine sanfte, wohltönende Stimme fragte es von irgendwoher.

»Ich bin der, dessen Ankunft euch gemeldet ward!« antwortete Nobody ohne Zögern.

»Tretet unter jenen Felsvorsprung links und wartet!«

Die beiden gehorchten, ohne daß sie wußten, wo sie den geheimnisvollen Sprecher zu suchen hatten; und während sie sich noch vielsagend anschauten, stand auf einmal unmittelbar neben ihnen ein so seltsames Wesen, wie auch Nobody es schwerlich je in seinem Leben schon gesehen hatte. Das war eine Art Puttfarken ins Chinesische übersetzt. Ein Kerlchen, kaum meterhoch, riesig breite Schultern, Beine, so krumm, daß er auf den Fußkanten gehn mußte, und ein unförmlicher Kürbis, an dem aber auch ein Zopf baumelte, als Kopf.

»Eure Heiligkeit belieben mir zu folgen!« piepste dieser chinesische Puttfarken, dem bloß noch Jochens Rüsselnase und Elefantenohren fehlten, wendete sich um und verschwand in einem Loche, das die beiden nun erst entdeckten, und durch das sie alsbald in eine große Höhle gelangten. Sie war von Fackellicht erhellt, und an jeder Seite standen noch je ein Dutzend solcher possierlicher Männchen, einander so sehr ähnelnd, als wenn sie allesamt auf Bestellung gefertigt worden waren. Jedenfalls boten sie in dem blutroten Lichtschein einen fast unheimlichen Anblick, der auch nicht dadurch gemildert ward, daß sie sich tief verbeugten und dann mit den Fackeln sorgsam die Felsentreppe zu beleuchten suchten, welche in zahllosen Windungen Tausende von Stufen emporführte.

Jetzt erst konnten Nobody und Barby ganz ermessen, was sie wagten, indem sie in dieses Felsenkloster eindrangen. Hier mußten ihrer noch ganz andre Abenteuer warten als in dem Kloster zu Peking, und wenn man hier ihre Verkleidung durchschaute, dann gab es wohl kaum noch eine Möglichkeit zu entfliehen; denn sie gelangten endlich an eine mächtige, verschlossene Eisentür, die den Eingang, aber auch den Ausgang versperrte. Ein dahinterstehender Wächter öffnete sie auf das Klopfen des führenden Zwerges. Es ging einige Schritte eben fort, dann kam wieder eine Treppe; die aber mitten in einer mächtigen natürlichen Halle von mehr als fünfzig Meter Höhe zu einer Art Plattform führte. In einer Wand befand sich eine Oeffnung, mit einer roten Glasscheibe verschlossen, durch die ein schauriges Halblicht hereindrang.

Während die andern Zwerge am Fuße der Treppe zurückblieben, geleitete der Führer Nobody und Barby zur Plattform empor, bedeutete ihnen, oben angelangt, stehn zu bleiben, und nun verstrich eine geraume Zeit in lautlosem Schweigen. Es ward ganz unvermittelt unterbrochen durch eine sanfte Musik, die allmählich anschwoll und wieder erstarb. Als der letzte Ton kaum verklungen war, öffnete sich rechts und links je eine Tür, und eine Schar schwarz gekleideter Gestalten, Kapuzen mit Augenlöchern über den Köpfen, die Hände verborgen in weiten, über der Brust gekreuzten Aermeln, schritt herein. Die unheimlichen Gestalten stellten sich in bestimmter Ordnung rechts und links auf, warfen sich dann wie auf Kommando schweigend nieder und blieben so liegen, die Stirn gegen den Steinboden gepreßt.

Eine Viertelstunde verstrich, ohne daß einer der Vermummten sich rührte; dann erhoben sie sich und entfernten sich in ebenso lautloser, feierlicher Prozession, wie sie gekommen waren.

Nobody schaute sich um. Auch der Zwerg war von ihrer Seite verschwunden. Die beiden waren allein.

»Was in aller Welt hat denn das zu bedeuten?« flüsterte Nobody dem Deutschen zu. »Warum nimmt uns niemand in Empfang?«

»Bei Gott, ich komme mir vor wie ein Angeklagter vor dem Femgericht,« antwortete Barby ebenso leise.

»Still! Man kommt!« unterbrach Nobody ihn.

Ein Vorhang, der eine dritte Tür verhüllte, rauschte seitwärts. Ein Vermummter erschien, verbeugte sich und winkte den beiden, ihm zu folgen. Sie taten es, kamen in einen langen Gang mit vielen Zellen an beiden Seiten, durchschritten denselben und gelangten in einen mit schießschartenähnlichen Oeffnungen versehenen Raum, ihre Wohnung während des Aufenthaltes im Kloster. Der Führer entfernte sich sofort wieder, ohne ein Wort gesprochen zu haben.

»Da wären wir also!« sagte Nobody. »Es handelt sich nur noch darum, das Geheimnis zu erlangen, das ich suche, und dann wieder hinauszukommen.«

»Eins erscheint mir so unmöglich wie das andre,« entgegnete Barby, und er schien recht zu haben. Doch Nobody lächelte in der ihm eignen Weise, sagte aber nichts mehr, sondern versank in tiefes Nachdenken, in dem der Deutsche ihn nicht zu stören wagte. Er zog es vor, sich im Schlafe von den Anstrengungen des Marsches zu erholen; so vergaß er auch den Hunger, der ihn marterte.

Nobody weckte ihn. Es war finster geworden.

Eine brennende Fackel stak in einem Eisenringe an der Wand. Auf dem Holztische stand eine mächtige Schüssel.

»Unsre Mahlzeit!« sagte Nobody. »Die Löffel hat man freilich vergessen.«

Es war eine dünne Suppe ohne sichtbare feste Bestandteile, aber Nobody zog einen zusammenlegbaren Becher aus der Tasche, füllte und leerte ihn zweimal.

»Auf Krankenkost sind wir schon gesetzt,« brummte Nobody, ehe er sich wieder niederlegte. »Ein Grund mehr, daß wir unser Geschäft schnell zu Ende führen.«

Kaum hatte er ausgesprochen, da erschien in der Türöffnung ein Mann in gewöhnlicher chinesischer Tracht, eine brennende Fackel in der erhobenen Rechten.

»Kommt!« sagte er. »Die Alten vom Berge erwarten euch!«

Er führte die beiden wieder durch Gänge und über Treppen in einen großen Raum, dessen Eingang von einem Mönche bewacht wurde. Hier mußten sie warten. Sie wurden angemeldet, durften endlich in das nächste Zimmer und sahen vor sich auf hohen Stühlen zwei Gestalten in Kapuze und Kutte, so daß die Gesichter verborgen waren. Barby blieb neben der Tür stehn. Nobody aber schritt vor, verbeugte sich und wartete auf die Anrede.

»Wer bist du, daß du unsre Einsamkeit störst?« fragte der eine der Vermummten, aufstehend.

»Der aus Hankau, den du erwarten sollst!«

»Kannst du dich ausweisen?«

»Du empfingst den Brief des Abtes vom Lamakloster, und hier, sieh diesen Stab!«

»Was forderst du von uns?«

»Die letzte Erkenntnis, die ihr allein hütet.«

»Es ist gut!« sagte der Mann und setzte sich.

Doch sofort stand der andre Vermummte auf und fragte: »Bist du gefaßt auf alles, was deiner wartet?«

Nobody bejahte es.

»Du kennst keine Furcht?«

Nein, die kannte der Gefragte nicht.

»Du bist ein Eingeweihter?«

»Ja; aber ich kenne das letzte Geheimnis noch nicht.«

»Es ist gut! Morgen nacht sollst du geprüft werden!«

Der Mönch erschien wieder und geleitete Nobody und Barby in ihre Zellen zurück; doch so gern der Deutsche hier Nobody gefragt hätte, ob er sich der bevorstehenden Prüfung gewachsen fühle, er kam nicht dazu, denn Nobody schlief bereits den Schlaf des Gerechten, ehe noch die Schritte des Führers auf dem Flur verhallt waren. Ebensowenig gab er am folgenden Tage eine Erklärung, was er tun wollte, und so kam die verhängnisvolle Nacht. Jeden Augenblick konnte der Bote der Alten vom Berge erscheinen. Und er kam – kurz vor Mitternacht. Es war der Zwerg. Er führte sie diesmal noch mehr kreuz und quer, deutete endlich auf eine Oeffnung im Boden, aus der eine Leiter hervorragte. Nobody mußte hinunterklettern. Der Zwerg folgte. Barby mußte zurückbleiben. Er bekam nicht einmal eine Fackel. Tiefe Finsternis umgab ihn, und in banger Sorge lauschte er – es war nichts zu hören.

Stunde auf Stunde verstrich, ohne daß Nobody zurückkehrte. Bestand er die Prüfung – und welcher Art war dieselbe? Ward er bereits in das Geheimnis eingeweiht, dessentwegen er so viel Geld geopfert hatte und nun zum dritten Male sein Leben aufs Spiel setzte? Die Ungewißheit war schrecklich, und zu gern wäre Barby seinem Herrn gefolgt, um ihm im Notfalle beistehn zu können – es war unmöglich. Der Zwerg hatte die Leiter entfernt.

Endlich, endlich tauchte in der Tiefe wieder ein matter Lichtschein auf, es ward heller und heller, und dann kam Nobody die Leiter empor, ruhig, unbewegten Gesichtes wie immer, hinter ihm der Zwerg. Nichts verriet, ob das Wagnis geglückt war oder nicht. Schweigend ging es wieder in die Zellen zurück.

»Mr. Barby,« sagte Nobody, als sie allein waren, »ich kann Ihnen nicht erzählen, was ich erlebt habe, ich will nur wünschen, daß nichts Schlimmeres nachfolgt!«

Wenn dieser Mann solche Worte brauchte, dann mußte die Prüfung allerdings schrecklich gewesen sein.

»Sie haben aber bestanden?« fragte der Deutsche.

»Morgen wird man mich feierlich zum dritten Alten vom Berge ernennen,« antwortete Nobody ausweichend und doch genügend, dann drehte er sich auf die Seite und schlief bald ein, um erst spät am Morgen zu erwachen. Er rührte das Essen nicht an, sagte auch nichts, sondern beschäftigte sich mit seinen Gedanken, bis gegen Mittag der Zwerg beide in jene große Halle führte, wo sie bei ihrer Ankunft die Mönchsprozession gesehen hatten. Der mächtige Raum war durch unzählige Fackeln erleuchtet, und im Hintergrunde erhoben sich dicht nebeneinander drei thronartige Sessel. Wieder ertönte die Musik. Die Mönche erschienen und warfen sich zu Boden. Dann öffnete eine unsichtbare Hand eine Seitentür. Die Zwerge traten ein, hinter ihnen andre Mönche, dann Priester mit langen grauen Bärten und endlich die beiden Alten vom Berge, die auf zweien der Sessel Platz nahmen.

Die Feierlichkeiten begannen. Sie brauchen hier nicht geschildert zu werden. Sie endeten damit, daß die beiden Alten vom Berge sich Nobody näherten und seine Hände erfaßten, um ihn zu dem dritten Stuhle zu geleiten.

Sie kamen nicht dazu. Eine seltsame Unruhe entstand plötzlich. Zwei Mönche führten einen sichtlich erschöpften Mann herein, und dieser warf sich vor den Thronsesseln nieder.

»Wie darfst du wagen, uns zu stören?« fragte einer der Alten vom Berge.

»Erbarmen, Herr! Ich konnte nicht anders,« keuchte der Mann.

»Wer bist du, und was willst du?«

»Ich bin der Oberpriester des Buddhatempels zu Hankau, und ich fordere Gerechtigkeit!« schrie jener.

Nobody trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Barby ward totenbleich. Jetzt war alles verloren – verloren in zwölfter Stunde.

»Der Oberpriester von Hankau steht hier,« sagte der Alte vom Berge und deutete auf Nobody.

»Er ist es nicht. Er ist ein fremder Teufel, der mich überwältigen und auf ein Schiff bringen ließ, damit er an meiner Stelle eure Geheimnisse erforschen möge. Er ist ein Betrüger! Ich entkam meinen Wächtern, eilte nach Peking, erfuhr alles, und nun bin ich hier. Der dort – wißt ihr, wer er ist? Es ist der Mann mit den Teufelsaugen!«

Ein Tumult schien ausbrechen zu wollen. Dieser Name war selbst hier bekannt und gefürchtet.

»Nein, er lügt!« rief da Nobody, und seine Stimme zitterte nicht. »Ich sandte euch den Brief des Abtes vom Lamakloster! Ich bin der, der zu euch kommen sollte. Ich habe den Stab!«

»Ich besitze ebenfalls ein Schreiben von ihm,« sagte der echte Oberpriester und reichte es dem Alten vom Berge, der es nahm und las. Dann flüsterte er seinem Genossen etwas zu, stand wieder auf und befahl Nobody, vorzubringen, was er zu seiner Verteidigung zu sagen hätte. Dieser aber antwortete nur: »Ihr habt mich geprüft und habt mich würdig befunden, in euern Bund aufgenommen zu werden. Kann ein Kueidzu wissen, was ich weiß? Vermag er zu tun, was ich vor euern Augen tat?«

»Nun wohl, wenn du der Oberpriester des Buddha bist, so mußt du seinen Tempel genau kennen. Welche Inschrift trägt die goldne Tafel an der Wand der Vorhalle?«

»Die Götter lenken die Wege der Menschen und wissen allein, was diesen nützt!«

Eine Bewegung, die der Alte vom Berge machte, zeigte, daß Nobody das Richtige getroffen hatte. Barby atmete erleichtert auf. Vielleicht –!

»Und welche Worte sind in die Stufen eingemeißelt, die zum Tempel emporführen?«

»Mein Friede möge dich umfangen!« antwortete Nobody, ohne zu zögern.

»Jetzt weiß ich, wer von euch beiden der Betrüger ist,« rief der Alte mit scharfer Stimme. »Du bist es! Zum Tempel des Buddha in Hankau führen überhaupt keine Stufen empor! Schafft ihn hinweg! Bewacht ihn gut! Morgen früh sollen er und sein Begleiter den Tod erleiden, den sie verdient haben!«

Schweigend verbeugte Nobody sich, wandte sich um und schritt, begleitet von vier handfesten Mönchen, hinaus. Ihm folgte Barby unter derselben Bedeckung.

Das Spiel war zu Ende, und die kühnen Männer hatten es verloren. An eine Flucht war nicht zu denken. Sie konnten nichts tun, als sich auf das furchtbare Ende vorzubereiten. Sie durften nicht einmal ein Wort miteinander sprechen, aber selbst in dieser schrecklichen Lage verlor Nobody die Fassung nicht eine Minute. Kein Zug seines Gesichtes verriet, was in ihm vorging, ob er sich in sein Schicksal ergeben hatte oder noch auf Rettung sann. Es war natürlich das letztere der Fall. So schnell verzagte ein Nobody nicht, er war in seinem bewegten Leben schon in weit gefährlicheren Situationen gewesen, und vor allem – er glaubte an seinen Glücksstern! Sollte ihn dieser verlassen, wo er nun endlich in den Besitz des so lange ersehnten Geheimnisses gelangt war!?

Barby seinerseits war gefaßt auf alles, und er wunderte sich nur über eins, daß man ihnen nicht die falschen Zöpfe abgerissen und sie so tatsächlich als Europäer entlarvt hatte. Das wäre doch ein viel besserer Beweis gewesen, als er durch die Fragen nach der Einrichtung jenes Tempels erlangt werden konnte.

Die Nacht verstrich – die letzte Nacht, die den beiden zu leben vergönnt war. Noch vor Tagesanbruch erschienen Mönche, um die Verurteilten abzuholen, die noch nicht wußten, auf welche Art man sie hinrichten würde. Sie sollten es bald erfahren.

Eine Tür tat sich vor ihnen auf – eisigkalte Luft strömte ihnen entgegen, das grelle Licht der eben über die Gipfel emporsteigenden Wintersonne blendete sie, dann aber erkannten sie, daß sie auf einem kleinen Plateau standen. Vor ihnen öffnete sich ein dunkler Abgrund, und dicht an demselben standen die Alten vom Berge, neben ihnen der echte Oberpriester.

»Fremde Teufel,« sagte der eine der Alten feierlich, »ihr seid Betrüger! Ihr müßt sterben! Habt ihr uns noch etwas zu sagen?«

Nobody schüttelte mit stolzer Bewegung das Haupt; da schwieg Barby ebenfalls. Was sollten sie denn auch sagen? Ihr Leben war verwirkt.

»So bereitet euch zum Tode!«

Sie mußten etwas zurücktreten. Die Tür ward abermals geöffnet. Wieder wälzte ein Schar Mönche sich daraus hervor – sie führte einen Gefangenen in ihrer Mitte, einen ihrer Brüder. Anscheinend sollte er zuerst gerichtet werden, damit die westlichen Teufel noch mehr Todesangst ausstehn müßten.

Kaum merklich wendete Nobody den Kopf, während der Verurteilte vor die Alten vom Berge geführt ward. Ein einziger Blick überzeugte den Detektiv, daß das ins Kloster führende Tor nicht wieder verschlossen worden war, dann schaute er seinen Leidensgefährten bedeutungsvoll an.

Barby verstand. Ihr Leben stand sowieso auf dem Spiele, da konnten sie auch einen Fluchtversuch wagen. Gelang er nicht, dann blieb ihnen wenigstens noch die Möglichkeit, sich bis aufs äußerste zu wehren und kämpfend zu sterben. Sie brauchten sich nicht wie Verbrecher abschlachten zu lassen. Gefesselt waren sie nicht. Das hatte niemand für nötig gehalten, und das kam ihnen nun natürlich sehr zustatten.

Der Mönch stand vor seinen Richtern. Aller Augen richteten sich auf ihn, schon jetzt hätte Nobody forteilen können – er tat es nicht.

»Du hast deinen Bruder ermordet,« redete der vorige Sprecher den am ganzen Körper zitternden Menschen an, und diesmal klang seine Stimme hohl, als wenn sie aus einem Grabe käme. »Hast du einen Grund vorzubringen, der deine Tat entschuldigt?«

Anstatt zu antworten, warf der Unglückliche sich plötzlich heulend und schreiend vor den beiden Alten vom Berge zu Boden. Die Mönche sprangen vor, um ihn zurückzureißen. Die allgemeine Aufmerksamkeit lenkte sich ihnen zu, da wendete Nobody sich blitzschnell um und jagte in weiten Sätzen dem Tore zu, dicht hinter ihm Barby.

Es war ein tollkühnes Wagnis, denn die Flüchtlinge mußten ja durch das ganze Kloster, in dem jeder sie kannte, jeder wußte, daß sie zum Tode verurteilt waren, und wenn ihnen auch niemand begegnete, niemand sie aufhielt, dann war es doch noch eine große Frage, ob sie den Weg wiederfanden, den die Zwerge sie bei ihrer Ankunft geführt hatten. Gelang ihnen aber auch das, dann mußten sie immer erst den Wächter an der eisernen Tür überwältigen, ehe sie ins Freie gelangen konnten. Und dann? Gab es einen andern Ausweg aus dem Tale als den, der über die steile Felswand führte?

Einen Moment waren die Mönche wie gelähmt vor Bestürzung, als sie ihre Gefangenen in wilder Flucht davoneilen sahen, dann aber rafften sie sich auf und rannten schreiend, einander hemmend hinter ihnen her. Wenn die im Kloster Zurückgebliebenen diesen Lärm nicht hörten und nicht dadurch stutzig wurden, so war das als ein Wunder zu betrachten.

Nobody erreichte das Tor, ließ seinen Gefährten an sich vorbei, schmetterte dann mit Riesenkraft die beiden Flügel zu und schob die schweren innern Riegel vor.

»So!« lachte er zufrieden. »Nun mögen sie die Tür mit den Schädeln einrennen. Uns kriegen sie nicht so bald wieder!«

»Nur weiter, weiter!« drängte Barby. »Wir sind noch nicht in Sicherheit!«

»So was!« entgegnete Nobody mit leichtem Spott. »Gefiel's Ihnen etwa draußen besser? Nur hübsch langsam! Wenn wir durch die Gänge dahinstürmen, müssen wir den Verdacht jedes Mönches erregen, der uns in den Weg kommt. Schreiten wir aber so recht gemächlich einher, dann möchte ich den sehen, der uns für Flüchtlinge hält, die eben den Henkern entronnen sind.«

Draußen polterten die Ausgesperrten gegen das verschlossene Tor, und hier stiegen die beiden kühnen Männer langsam die in tiefem Dunkel liegende Treppe empor, kamen auf den Gang, an dem ihre Zellen lagen, schritten an denen der Klosterbewohner vorüber, ohne daß ihnen jemand begegnete, und erreichten die große Halle. Nun waren sie schon sicherer.

»Jetzt schnell! Wir brauchen uns nicht mehr zu verstellen,« raunte Nobody dem Deutschen zu.

»Und der Wächter?«

»Bah, den nehme ich auf mich!«

Jeden Augenblick in Gefahr, die steile Treppe hinabzustürzen und sich den Hals zu brechen, stürmten beide dieselbe hinunter, kamen glücklich unten an. Der Wächter trat ihnen mit drohender Gebärde entgegen. Ein Faustschlag Nobodys streckte ihn nieder. Der Schlüssel ward dem Bewußtlosen entrissen, die Tür geöffnet- und wieder verschlossen. Der Weg zur Freiheit stand den Flüchtlingen offen. Nach einigen Minuten erreichten sie die Höhle, welche den Eingang bildete, und rannten das Tal entlang, so schnell ihre Füße sie trugen, bis sie endlich einmal stehn bleiben mußten, um Atem zu schöpfen.

Nobody spähte an den Felswänden empor, die zu beiden Seiten emporragten.

»Dort hinauf!« sagte er dann. »Wir müssen uns verstecken, können nur nachts unsre Flucht fortsetzen!«

Sie klommen mit letzter Kraft den Hang hinauf, duckten sich hinter einem Felsenvorsprung, den das scharfe Auge des Detektivs entdeckt hatte, auf das Gestein und warteten in höchster Spannung das Weitere ab.

»Sie kommen!« flüsterte Nobody nach etwa einer Stunde, und gleich darauf wurden unten im Tale die Schritte und Stimmen der Verfolger hörbar. Sie eilten an dem Versteck vorüber.

Wieder verstrich eine Zeit in peinlichster Erwartung. Die Flüchtlinge zitterten vor Kälte, aber sie spürten dieselbe nicht. Ihre Pulse flogen, und da kamen die Mönche zurück, schritten wieder ahnungslos vorüber, verschwanden.

Eine Weile verharrten die Flüchtlinge noch regungslos, dann erhob sich Nobody.

»Weiter!« sagte er lakonisch, kletterte wieder ins Tal hinab, Barby folgte, und fort ging die wilde Jagd. Sie gönnten sich keine Ruhe, bis die Natur selber ihnen Halt gebot. Das Tal war zu Ende. Eine hohe, aber nicht besonders steile Felsenmauer schloß es ab. Sie mußte erstiegen werden.

Ein ziemlich dichter Wald erhob sich oben. Unter seinen Stämmen sanken die beiden Männer todmüde zu Boden, und eine Minute später war Barby vor Ermattung in einen an Bewußtlosigkeit grenzenden Schlaf gesunken – Nobody wachte. Seine eiserne Natur hätte noch ganz andre Strapazen ohne Mühe ertragen.

Die Nacht war längst hereingebrochen. Der Deutsche schlief noch immer, aber plötzlich ward er unsanft aufgerüttelt.

»Rasch empor! Hunde!«

Weiter sagte der Detektiv nichts. Es genügte ja auch. Sie kannten beide die Berghunde, die so groß und gefährlich wie Wölfe waren. Im Kloster mußte es welche geben. Man hatte sie auf die Spuren der Flüchtlinge gesetzt, und erreichten die bösartigen Tiere sie, dann waren sie doch noch verloren, dann wurden sie von den Zähnen der Bestien zerfleischt.

Es war ein fürchterlicher Weg durch den in tiefster Finsternis liegenden Wald. Mehr als einmal stürzten die beiden über Baumwurzeln, rafften sich wieder auf, rannten weiter, lauschten auf das immer naher kommende Gebell, und vorwärts, nur immer vorwärts ging's in rasender Eile.

»Wasser! Gott sei Dank, Wasser!« keuchte Nobody.

Am Fuße des Berges schoß ein reißender, breiter Bergstrom dahin. Ohne einen Moment zu zögern, sprangen die beiden in die eiskalten Fluten und wurden im Nu von ihnen fortgerissen; aber sie blieben dicht nebeneinander, und hinter sich vernahmen sie das wütende Geheul der Bestien, welche die Spur verloren hatten. Ehe die Mönche an den Strom kamen, waren die Flüchtlinge weit fort. Jetzt konnten sie sich als gerettet betrachten.

Der Tag brach an. Die Sonne beschien die blassen Gesichter der beiden Schwimmer. Gestern um dieselbe Zeit hatten sie den Tod vor Augen gesehen, und heute?

»Ans Ufer!« schrie Nobody. »Ans Ufer! Vor uns liegt ein Wasserfall!«

Allerdings! Jetzt hörte auch Barby das Tosen und Brüllen des über die Felsen hinabstürzenden Stromes; aber vergebens kämpfte er gegen die reißenden Fluten. Er ward unaufhaltsam vorwärtsgerissen. Nur wenige Meter trennten ihn noch vom Abgrunde, da sah er vor sich zwei dicht nebeneinanderliegende Klippen auftauchen.

Wenn er sich daran anklammern konnte! Sie waren schlüpfrig, aber mit der Kraft der Verzweiflung krallte er sich an einem Zacken fest, schwang sich empor und stand unmittelbar über dem Abgrunde, umtost von der dahinschießenden Flut.

Wo war Nobody? Ah, er war ans Ufer gekommen. Dort oben stand er. Jetzt winkte er mit beiden Armen und hob einen vom Sturm entwurzelten Baum auf, schleppte ihn an den Strom, ließ ihn ins Wasser gleiten.

Barby verstand sofort, wie das gemeint war.

Wenn es ihm gelang, den treibenden Stamm festzuhalten, so daß derselbe sich quer vor die beiden Klippen legte, dann mußte das andere Ende bis ans Ufer reichen und dort einen Halt an den vielen Vorsprüngen des Felsenhanges finden, so eine gefährliche, aber immerhin benutzbare Brücke bildend.

Weit beugte Barby sich vor, den Stamm erwartend.

Da war er schon – jetzt – er drehte sich im Kreise, richtete sich für einen Moment fast senkrecht auf und stürzte dann in den brodelnden Kessel des Falls hinunter.

Doch Nobody gab sein Vorhaben noch nicht auf. Ein andrer Stamm mußte in das Wasser – diesmal glückte es – er lag vor den Klippen, von der reißenden Flut so fest gegen dieselben gedrückt, als wenn er mit Eisenketten darangebunden wäre.

Langsam glitt der Deutsche von dem Felsen herab, setzte sich rittlings auf den Stamm und rutschte vorsichtig hinüber.

Am Ufer stand Nobody, hielt ihm einen großen Ast entgegen, Barby packte ihn, kam ans Land und – brach bewußtlos zusammen.

 

Drei Wochen später trat der leitende Arzt des englischen Hospitals in Schanghai an das Bett eines Kranken, der, wie ihm gemeldet worden, seit dem Morgen das Bewußtsein wiedererlangt hatte. Es war Walter Barby, und der Doktor erzählte ihm kurz, daß Mister Nobody ihn hier abgeliefert hätte. Hier den Brief hätte er zurückgelassen. Derselbe lautete:

 

»Werter Mister Barby! Das war ein verteufeltes Stück Arbeit, Sie zu transportieren – erlassen Sie mir die Beschreibung – daß es mir gelungen ist, Sie in vollkommene Sicherheit zu bringen, merken Sie ja sowieso, wenn Sie dies lesen. – Warten, bis Sie genesen waren, konnte ich nicht. Man braucht den Nobody zu notwendig. So leid es mir tut, muß ich das himmlische Reich verlassen. Es muß sich fortan ohne den »Mann mit den Teufelsaugen« behelfen, und ich glaube schwerlich, daß mir jemand eine Träne nachweint. Sie aber werden gut daran tun, sofort nach Europa zurückzukehren – die Hand der Alten vom Berge reicht weit. Sie verstehn!? Mich packt sie freilich nicht mehr. Auf Wiedersehen, falls ich Sie nochmals brauchen sollte.

             Ihr Nobody.«

Das war alles, und es braucht zum Schlusse nur noch gesagt zu werden, daß Walter Barby keine Lust hatte, noch einmal Nobodys Gefährte zu sein. Er kehrte in seine Heimat zurück, wo er noch heute als angesehener Mann lebt. Nobody hat er nicht wieder getroffen, aber jede Nummer von Worlds Magazine trifft sofort nach Erscheinen pünktlich bei ihm ein, und wenn er die schier unglaublichen Taten liest, die der Detektiv vollbringt, dann schüttelt Barby den Kopf.

Es muß sich doch gelohnt haben, daß wir wegen jenes Geheimnisses unser Leben wagten. Besäße Nobody es nicht, dann wären ihm solche Sachen unmöglich, denn mit rechten Dingen geht das nicht zu!«

Ist es nötig, das Geheimnis der Alten vom Berge hier zu verraten? Findet es der aufmerksame Leser von »Nobodys Taten und Erlebnissen« nicht selbst heraus? Sagt Nobody nicht oft in seinem Tagebuche, daß er nur mit natürlichen Kräften arbeitet!?

Womit erzielte er seine Riesenerfolge? Er hatte seinen Geist und Körper in einer solchen Gewalt, wie kein andrer Mensch, und vermochte mit dieser seiner Willensstärke andre in einer Weise zu beeinflussen, die allerdings ans Unnatürliche grenzt!

Darin bestand sicher ein Hauptteil des Geheimnisses der Alten vom Berge, die heutige Wissenschaft nennt es – Hypnose!


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