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Still und langsam verrinnt die Zeit. Tag auf Tag schleicht dahin, einförmig, schwer, von grauer, bleierner Schwermuth erfüllt.
In der ersten Zeit nach Wasilzew's Abreise war Wjeras ganzer Organismus von dem erlittenen nervösen Schlag derart erschüttert, daß sie selbst die große Trauer nicht empfand; jede Fähigkeit, voll zu leben und sich zu erregen, erstarb in ihr. Das vorherrschende Gefühl war eine tiefe, niederdrückende Erschöpfung. Ganze Tage verbrachte sie wie im Schlafe, der geringsten Gedankenthätigkeit unfähig. Es kam auch vor, daß sie mitten in einem Gespräch plötzlich einschlief. In dieser seelischen Apathie tauchten für einen Moment gleichsam physische Erinnerungen an die letzten Minuten auf, die sie mit Wasilzew verbracht hatte.
In ihren Ohren erklang seine weiche, zärtliche Stimme; auf den Lippen spürte sie noch etwas von dem glühenden Kuß. Ueber ihren ganzen Körper lief ein Schauer der Erregung. Und seltsam, nach jeder solchen Minute kam plötzlich über sie eine gewisse Beruhigung, die unerschütterliche Ueberzeugung:
»So kann es nicht enden! Wir werden uns wiedersehen!«
Die Zeit verging, und inzwischen kehrten ihre physischen Kräfte zurück und machten sie für tieferes Leid empfänglich. Mit der Wiederkehr zu der gewohnten Beschäftigung äußerte sich auch das Bedürfniß, Wasilzew zu sehen – ein immer dringenderes und qualvolleres Bedürfniß, aus einer dreijährigen, täglichen Gewohnheit entstanden. Jede Kleinigkeit, jedes nichtige Ding erinnerte sie grausam an ihn; er hatte auf jeden Gegenstand ihrer Umgebung gewissermaßen seinen Stempel aufgedrückt; was sie auch thun, was sie beginnen mochte – sie stieß unvermeidlich auf irgend Etwas, das lebhaft die Erinnerung an die Vergangenheit, an die glücklichen Minuten, an die kleinen bedeutungslosen Episoden erweckte, denen sie damals nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte – aber die Erinnerung daran steigerte jetzt noch ihre heiße, tiefe Verzweiflung.
Am schlimmsten war das Erwachen am Morgen. Sie hatte jetzt so wunderliche, deutliche Träume: sie sah ihn so greifbar, so lebendig, fühlte mit ihrem ganzen Wesen seine Nähe; und dann ging Alles so tatsächlich vor sich, war Alles mit einer Menge kleiner getreuer Details ausgestattet, ganz wie in der Wirklichkeit, daß es ihr sogar widerfuhr, im Traume voller Freude zu sagen: »Nein, jetzt ist das aber kein Traum! Jetzt ist es Wahrheit!« Und auf einmal, wie wenn der Schleier gerissen wäre, verwandelt sich Alles und verschwindet und zerrinnt sofort, eine starke Erschütterung geht durch ihren ganzen Organismus, und es ist nichts mehr da; sie ist wieder allein, im Bett; wieder wird sie von dem qualvollen Bewußtsein ihrer Einsamkeit erfaßt. Wieder liegt sie da und windet sich und zerfließt in hoffnungslose Thränen. Und mit jedem Tage wird es ärger, die Schwermuth immer tiefer.
Wjera hatte sich auch früher von ihren Hausgenossen ferngehalten, jetzt aber wurden ihr die Gesellschaft der Schwestern, ihre kleinlichen Interessen, ihr leeres Gerede unerträglich. Alles erschien ihr farblos, abgeschmackt. Traf sie mit Jemand zusammen, so dachte sie bloß daran, je rascher, je lieber davonzugehen; es schien ihr, sie müßte allein sein, um ernst denken zu können, nur wenn man sie in Ruhe ließ, begann sie wirklich auch sofort zu denken, rasch, leidenschaftlich zu träumen. Ihrer Phantasie erschienen die unsinnigsten Bilder: Sie hat so oft schon im Geiste die Scenen durchlebt, wie sie entflieht, nach Wasilzew sucht, wo immer es sei, auch auf dem Meeresgrund. Die Träume verschafften ihr für wenige Minuten Erleichterung, aber plötzlich taucht von irgend woher ein kalter, ernüchternder Gedanke auf: »Ich habe keine Kopeke Geldes und bis nach Wjatka sind es 3000 Werst! Ja, und wohin gelangt man ohne Paß in Rußland? Von der ersten Station wird man per Etappe zurückgeschickt.« Die Träume verflogen und ließen einen bitteren, widerlichen Nachgeschmack zurück. Nicht die kleinste begründete Hoffnung war vorhanden. Es blieb nur der vage Glaube an ein Wunder.
Anfangs, als der Schmerz sie überwältigte, stellte sich ein Gefühl der Empörung ein. »Man kann nicht so leiden! Das muß ein Ende nehmen!« Allein das Ende kam nicht. Das Leiden wurde zur normalen, alltäglichen Sache. Nun vergrößerte sich bei jedem Paroxismus die verzweifelte Bitterkeit des Momentes noch durch die Erinnerung an das Gestrige und die Gewißheit, daß auch morgen dasselbe sein wird.
Und da, als sich Wjera schon gänzlich der Hoffnungslosigkeit hinzugeben begann, als die trübe, stumpfe, bleierne Schwermuth zur beständigen Stimmung wurde, schimmerte mit einem Male ein Strahl von Glück: sie erhielt von Wasilzew einen Brief. Er konnte ihr nicht in üblicher Weise durch die Post schreiben: die Briefe wären von der Polizei oder den Eltern unterschlagen worden; aber er richtete es so ein, daß er ihr die Nachrichten durch einen bekannten Kaufmann sandte, der mit Wjatka in Handelsbeziehungen stand.
Der Brief war kurz, sehr zurückhaltend, ohne zärtliche Ergüsse; es war klar, daß Wasilzew sich vor Augen hielt, es könnte der Brief in fremde Hände gerathen. Allein nie hat wohl je der längste Brief, das leidenschaftlichste Schreiben eine größere Freude hervorgerufen, als dieses kleine Stück Papier. Wjera kam vor Glück beinahe um den Verstand! Wie es stets geschieht, wenn ein Mensch schon viel gelitten hat, so freute auch sie sich bei der ersten Erleichterung so sehr, daß es ihr vorkam, als sei Alles vorbei; der Schmerz – als ob er niemals gewesen wäre.
Das Wichtigste war, sie besaß Nachricht von ihm. Am schrecklichsten war ihr der Gedanke gewesen, er sei plötzlich irgendwo zugrunde gegangen, gleichsam unter die Erde verschwunden, so daß keinerlei Verbindung mit ihm zurückgeblieben. Jetzt zeigte sich doch wenigstens die Möglichkeit zum Briefwechsel, seine Abfahrt ward zu einer gewöhnlichen Abreise, die Trennung von ihm erschien wie eine vorübergehende Unannehmlichkeit, nicht mehr als solch ein niederdrückendes, aussichtsloses Unglück wie vorher.
Obgleich Wjera schon nach den ersten Minuten Wasilzew's Brief nicht nur auswendig wußte, sondern auch sogar sein äußeres Aussehen ihrem Gedächtniß sozusagen eingeprägt hatte, verging doch kein Tag, ohne daß sie dieses kostbare Papierchen gelesen und wieder gelesen hätte. In der ersten Woche nach Erhalt des Briefes lebte sie dieser Freude; später galt all ihr Sinnen der Erwartung des Künftigen.
Gleich allen Menschen, die ausschließlich einem einzigen Gedanken, einem Interesse leben und sich deshalb unwillkürlich auf eine passive, zuwartende Rolle zu beschränken gezwungen sind, wurde Wjera auf einmal ungeheuer abergläubisch. In jeder Kleinigkeit erblickte sie jetzt eine gute oder schlechte Vorbedeutung, ein gutes oder schlechtes Zeichen. Es zeigte sich bei ihr plötzlich die kindische Gewohnheit, zu errathen. Wenn sie des Morgens erwachte, kam ihr von ungefähr der Gedanke in den Kopf: »Wenn Anisjas erste Handlung beim Betreten des Zimmers sein wird, mich zu begrüßen, so wird das ein Zeichen sein, daß Alles glücklich ablaufen und bald ein Brief kommen wird; wenn sie aber kein Wort sprechen, vorerst zum Fenster gehen und den Vorhang aufziehen wird, dann ist dies ein böses Vorzeichen.« Es brauchte bloß ein so dummer Gedanke aufzuschimmern, so begann Wjera, gegen ihren Willen aufgeregt, mit pochendem Herzen das Erscheinen der Dienerin zu erwarten, und nachher war sie den ganzen Tag fröhlich oder traurig, je nach der Antwort, welche ihr Pythia gab.
Ungeachtet der Schwierigkeit der Correspondenz fand Wasilzew die Möglichkeit, Wjera im Laufe des Sommers und des folgenden Herbstes drei Briefe zu schicken. Als er sich vergewissert hatte, daß die Briefe unversehrt an die Adressatin gelangten, begann er immer ungezwungener und inniger zu schreiben. Der letzte Brief war besonders zärtlich und ermuthigend. Wasilzew klagte allerdings nebenbei über einen hartnäckigen Husten, den er auf keine Weise loswerden konnte, aber im Allgemeinen schien er aufgeräumter Stimmung; zum ersten Male berührte er sogar bestimmte Pläne für die Zukunft. »Man gibt mir Hoffnung,« schrieb er, »daß meine Verschickung ein Ende haben wird. Aber selbst wenn sich diese Hoffnung nicht bewahrheiten sollte, wirst Du doch binnen zweieinhalb Jahren volljährig, und dann kannst Du selbst über Dein Schicksal entscheiden. Mein theures Kindchen! Wenn Du nur wüßtest, welchen wahnsinnigen Träumen sich manchmal Dein alter, mürrischer, Dich liebender Freund hingibt!«
Wjera konnte sich vor Freude nicht fassen, als sie diesen Brief erhielt. Jetzt verzweifelte sie nicht mehr an der Zukunft. Zweieinhalb Jahre – keine Ewigkeit; sie vergehen, und dann hält nichts, nichts in der Welt sie ihrem Geliebten fern.
Aber ach! Auf diesen frohen Brief folgten keine anderen. Der bekannte Kaufmann verreiste unglücklicherweise für längere Zeit in Geschäftsangelegenheiten. Er versprach zwar, daß in seiner Abwesenheit sein Commis die Briefe übergeben werde, aber eine Woche nach der anderen verstrich – es kam keine Nachricht. Wjera glaubte jetzt so fest an das Glück, daß sie anfangs beim Ausbleiben der Briefe sogar nicht sonderlich besorgt war; sie ersann alle möglichen Ursachen, um hiefür eine Erklärung zu finden. Nach und nach wuchs ihre Unruhe, und bald wurde sie zu einem sie völlig ausfüllenden Gefühl. Alle ihre Gedanken richteten sich auf Eines – einen Brief zu erhalten. Tagsüber horchte sie, ob nicht etwa der Kaufmann Jemanden hergeschickt habe; Nachts träumte ihr, man übergebe ihr ein Couvert mit der lieben Handschrift.
Die Qual dieser vergeblichen, ermüdenden Erwartung in jedem Augenblick ward oft so unerträglich, daß es ihr ganzes Wesen erschütterte. Manchmal zeigte sich bei ihr sogar Bitterkeit und Groll gegen Wasilzew. »Wäre ich ihm nicht begegnet, ich lebte ruhig für mich, wie meine Schwestern leben!« dachte sie mit Bedauern in Anfällen kleinmüthiger Schwäche. Einmal erhob sich in ihrer Seele ein solcher Sturm einander widersprechender, quälender Gefühle, daß sie in einem Anfalle von Zorn seinen letzten Brief ergriff und in kleine Stücke zerriß. Aber, als das weiße, zerrissene Papier wie Schnee die Diele besäete, erwachte in ihr auf einmal Reue und zeigte sich eine Art Ekel vor sich selbst, als hätte sie die Hand erhoben gegen das, was ihr am theuersten war. Eine ganze Stunde verbrachte sie damit, die kostbaren Stückchen zu sammeln und sie auf einem reinen Papierbogen aneinanderzukleben.
Draußen ist wieder Frühling, und noch immer sind keine Nachrichten da. Bei schönem Wetter bestieg Wjera den Abhang, von dem sie auf das Nachbargut sehen konnte, und saß stundenlang auf der alten, halbzerfallenen Bank in stumpfer, schwermüthiger Apathie.
Einmal saß sie so wie gewöhnlich dort; plötzlich erblickte sie den Posttarantaß, der von der Landstraße her in der Richtung nach Wasilzew's Haus zurückkam. »Was bedeutet das? Wohin fährt er?« dachte sie, und ihr Herz schlug heftig und rasch. »Fährt er vielleicht vorbei, ins Nachbardorf? Nein! Sieh da, er eilt lärmend über die alte, morsche Brücke. Jetzt ist er in die Allee eingebogen. Dort gibt's keinen anderen Weg mehr ,… Gott, wer ist das?«
Die Erregung, die sie ergriff, war so stark, daß ihre Füße schlotterten und sie kaum im Stande war, sich zu erheben. Das Herz that ihr weh von einer krankhaften Ahnung und gleichzeitig lief ein Freudenschauer über sie. »Ich werde doch wenigstens erfahren ,… Alles ist besser als Ungewißheit!«
Rasch das Tuch um die Schulter werfend, schlug sie laufend die Richtung zum Nachbargut ein. Aber als sie dem Hause näher kommt, werden ihre Schritte langsamer und langsamer; immer schmerzhafter, qualvoller krampft sich ihr das Herz zusammen. Im hohen Gras vor dem Thore steht der leere Tarantaß. Der Kutscher zieht die Mütze ab, wischt sich den Schweiß vom Gesicht und macht sich an den Pferden zu schaffen. Die Hauptthür auf der Terrasse, so lange Zeit verschlossen, steht jetzt weit offen. Wjera tritt ins Vorzimmer, in den Salon – Niemand da. Es riecht nach Nässe, nach unbewohnten Räumen; durch die halbgeöffneten Läden fällt schwaches Licht herein.
Die Möbel, die Stühle, der Tisch, der Divan stehen ganz so wie am Tage seiner Abreise herum. Die Erinnerung an jenen furchtbaren Morgen erfaßt sie auf einmal ganz.
Aus seinem Arbeitszimmer vernimmt man das Geräusch von Stimmen. Wjera geht hinein, der alte Hausverwalter beschäftigt sich mit den Fensterläden, die nicht nachgeben, weil die Schrauben verrostet sind. Die ehemalige Köchin, einen großen Bund Schlüssel in der Hand, trocknet mit der Schürze ihre Thränen. Im Halbdunkel kann Wjera nur mit Mühe noch drei Gestalten am Schreibtisch unterscheiden. In der einen erkennt sie endlich den Kreisrichter, die beiden Anderen – ein Mann und eine Frau – in Reisekleidern sind ihr gänzlich unbekannt.
Als endlich die Läden geöffnet sind, erkennt auch der Kreisrichter Wjera und geht auf sie zu.
»Hier, erlauben Sie, die Herrschaften Golubinski vorzustellen, die Verwandten unseres armen Michail Stepanowitsch. Dieser Tage erhielten sie die amtliche Nachricht, daß ihr Cousin in Wjatka an Schwindsucht gestorben ist. Gestern kamen sie zu uns in die Stadt und wandten sich an mich, daß ich sie auf das Besitzthum bringe; nach dem Gesetze gehört das Stammgut ihnen ,…«
Diesmal erwies sich die Natur erbarmungsvoll für Wjera. Als sie die entsetzliche Nachricht vernahm, verlor sie das Bewußtsein. Sie wurde von einem Nervenfieber ergriffen. Wochenlang lag sie im Delirium. Die Genesung schritt langsam fort.
Wjera kehrte allmälig zum Leben zurück und sie empfand jetzt, wie alle Reconvalescenten nach einer schweren Krankheit, im höchsten Grade die physische Freude an der Existenz. Mit dem den Genesenden eigenen Instinct der Selbsterhaltung hielt sie jeden wichtigen, ernsten Gedanken von sich fern; alle ihre Sinne und Wünsche concentrirten sich jetzt auf kleinliche Freuden und Leiden, woran das Leben der Kranken reich ist, und diese Kleinigkeiten erhielten in ihren Augen eine seltsame, unverhältnißmäßige Bedeutung; Alles bekam für sie wieder den Reiz der Neuheit – wie für ein Kind. Sie freute sich, wenn die Bouillon gut zubereitet, und weinte, wenn ihr Kopfkissen nicht so zurecht gelegt war, wie es sein sollte. Es war geradezu ein Ereigniß im Hause, als ihr gestattet wurde, zum ersten Male wieder das Flügelchen eines Brathuhns zu essen.
Als endlich die Zeit der vollständigen Genesung herankam und das Leben wieder den gewohnten Gang annahm, kam ihr die Vergangenheit wie in einer Entfernung, wie unter einem Schleier vor.
Einmal, als sie bereits im Bette aufrecht sitzen konnte, brachte ihr der Vater Papiere, die sie unterfertigen mußte. Wjera zeichnete mit schwacher, zitternder Hand ihren Namen; in der Ahnung von etwas Schrecklichem, fragte sie sogar nicht, wozu dies nöthig sei.
Einige Wochen darauf, als sie schon völlig hergestellt war, theilten ihr erst die Eltern mit, daß Wasilzew vor seinem Tode ein Testament geschrieben habe, demzufolge er ihr einen Theil seines Vermögens vermachte.
Der Vater hielt sich aus Dankbarkeit für verpflichtet, ihr den Brief zu übergeben, den ihr Wasilzew vor seinem Tode geschrieben. »Du warst mir eine Tochter und eine Geliebte, Wjera!« schrieb er ihr, »und jetzt, im Sterben, denke ich nur an Dich, Du wirst gleichsam eine Fortsetzung von mir sein. Mir selbst gelang es nicht, auf Erden etwas zu vollbringen. Mein Leben lang war ich ein müßiger, unnützer Träumer; ich sterbe – und meine Spuren bleiben nicht – wie das Gras auf dem Felde, wovon in den Liedern die Rede ist, abgemäht und getrocknet wird und man die Stelle, wo es wuchs, nicht mehr sieht. Du aber, meine Wjera, bist noch jung, bist kräftig. Ich weiß, ich fühle, daß Du zu etwas Hohem berufen bist. Das, wovon ich nur geträumt, wirst Du vollbringen, das, was ich nur dunkel geahnt, wirst Du erfüllen!«
Mit einer tiefen, ihr ganzes Wesen erfassenden Andacht las Wjera diese Zeilen, die geschrieben waren von der nun für die Ewigkeit erkalteten Hand. Es schien ihr, daß die Stimme aus jener Welt zu ihr spreche. Sie empfand jetzt nicht die leidenschaftliche, entrüstete Verzweiflung von ehedem; es war ihr, als hätte sich ein schwarzer Schatten über ihr ganzes Leben ausgebreitet und ihr für immer die Möglichkeit jedes persönlichen Glückes abgeschnitten.
Wjeras Krankheit hatte gleichsam auf einmal die ganze Richtung des Baranzow'schen Hauses geändert und der langweiligen Periode der Ruhe und öden Stille ein Ende bereitet. Nach der Krankheit kam eine Veränderung nach der anderen. Die erste war ein sehr angenehmes Ereigniß, ein solches, das Alle schon längst wünschten und erwarteten – Lena wurde Braut. In die Gouvernementsstadt war ein neues Regiment verlegt worden, einer der Officiere war der Urheber dieser glücklichen Veränderung. Das junge Ehepaar mußte jedoch bald nach der Hochzeit verreisen, da das Regiment in eine ganz andere Gegend Rußlands versetzt wurde. Lisa langweilte sich jetzt noch mehr als früher, fuhr zur Schwester mit der geheimen Hoffnung, unter den Kameraden des Schwagers für sich einen Bräutigam zu finden.
Derart vertheilte und zerstreute sich die Familie Baranzow auf einmal. Die allgemeine Ruhe im alten Herrschaftshause erschien jetzt noch eintöniger als früher.
Aber dann gab es wieder ein neues, unerwartetes Ereigniß, weit entfernt ein fröhliches zu sein. Der Graf bekam eine Lähmung. Dieses Mal hat der Tod nur ans Fenster geklopft und ist vorbeigegangen, unheilbare Spuren zurücklassend. Dem Grafen wurden die Füße steif und das Gedächtniß schwach. Zum zweiten Male wurde er zum Kinde. Er lag in einem großen Voltaire-Stuhl, hatte den ganzen Tag Launen, weinte, verlangte, daß man ihn wie ein Kind zerstreue. Der Umgebung wurde seine Manie, endlose Geschichten zu erzählen, immer lästiger. Er sprach stundenlang, mit Mühe die Zunge bewegend, die Worte verdrehend, hundertmal ein und dasselbe erzählend und sich bitter gekränkt fühlend, wenn man ihm nicht zuhörte. Bloß Wjera hatte die Geduld, den kranken Alten zu pflegen und wußte seine immer mehr zusammenhangslos werdenden Reden zu verstehen. Die Stimmung der Gräfin, welche sich seit Lenas Hochzeit ein wenig erheitert hatte, fiel jetzt ganz; sie wurde ungeheuer fromm, umgab sich mit Gottesdienern, Mönchen und Pilgerinnen, und wandte sich von allem Weltlichen ab. Wjera, die beim kranken Vater Wärterin sein mußte, konnte jetzt an eigene Thätigkeit nicht einmal denken. Sie wurde allmälig von einer ergebenen, hoffnungslosen Apathie ergriffen. Es war das Ende ihrer gegenwärtigen Lebensweise nicht abzusehen, da die Aerzte sich dahin aussprachen, daß der Graf noch zehn Jahre leben könne.
Diese Vorhersage hat sich jedoch zum Glücke nicht bewahrheitet. Drei Jahre später erschien eines schönen Tages ganz unerwartet der Tod. Der Graf schlief einmal ruhiger als gewöhnlich ein; als Wjera, über seinen anhaltenden Schlaf verwundert, den Vater wecken kam, fand sie ihn schon erkaltet.
Bei dem Leichenbegängnisse traf die Familie zum letzten Male zusammen und dann ging sie nach verschiedenen Richtungen gänzlich auseinander.
Die Gräfin berichtete ihren Töchtern, sie habe beschlossen, ins Kloster zu gehen. Der frühere Verwalter kaufte das Familiengut; beim Verkaufe blieb für jede der Töchter ein Capital von zwanzigtausend Rubeln. Die älteren Schwestern nahmen das Leben der Officiersfrauen wieder auf.
Wjera blieb jetzt allein in der Welt, vollständig Herrin ihrer selbst. Sie sann nicht lange nach und entschloß sich, nach Petersburg zu gehen und dort nach einer Thätigkeit zu suchen.