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III.

Nach der Bauernemancipation hat sich mit einemmale Alles im Hause verändert. Die Einnahmen des Gutes verringerten sich derart, daß man die ganze Haushaltung auf einem andern Fuß führen mußte!

Der Dorfälteste hat sich plötzlich aus einem tüchtigen Mann in einen Schuft verwandelt; er wurde mit seinem Herrn grob, er machte bei Allem Schwierigkeiten und brachte das Geld nie rechtzeitig. Man war genöthigt, ihn zu entlassen und einen Andern aufzunehmen, allein mit dem Neuen ging es noch schlimmer. Fast täglich wuchsen wie aus dem Boden alte Schuldscheine und Verpflichtungen hervor, die der Graf schon vor so langer Zeit eingegangen war, daß er ihrer sogar vergessen hatte. Beim Anblick eines neuen Wechsels geräth der Graf außer sich, schreit über Fälschung, aber gezahlt muß doch werden. Es erwies sich als unbedingt nothwendig, Betino, Stipino, die Wasserwiesen und den Wald zu verkaufen; das einzige Borki mit einem unbedeutenden Stück Grund blieb zurück. Die größte Unannehmlichkeit bestand darin, daß sich jetzt wenige Käufer für die Güter fanden und Alles zur Hälfte des Preises abgegeben werden mußte. Ein großer Theil des Gesindes mußte entlassen werden und die Dienstboten, die im Hause blieben und seit ihrer Kindheit das Faullenzen und den Müßiggang gewohnt waren, murrten jetzt auch vom Morgen bis in die Nacht, daß man ihnen neue Arbeit aufgebürdet habe. Und die Herrschaft ärgerte sich – das Aergern und »Uebelgelauntsein« war jetzt der normale Zustand der Herrschaft geworden. Sie zankten auch immer untereinander, aber der Streit glich diesmal so wenig den früheren, wie ein kalter, dichter Herbstregen einem schönen Frühlingsguß gleicht. Nicht aus Eifersucht zankten jetzt der Graf und die Gräfin, sondern nur wegen Geldangelegenheiten. Jedesmal wenn die Gräfin Geld für die Haushaltung verlangte, überhäufte sie der Graf mit Vorwürfen über Verschwendung, Nachlässigkeit und Mangel an Ordnung. Keine einzige Bestellung eines neuen Kleides für sie oder die Töchter ging ohne häusliche Scenen vorüber. Andererseits brauchte der Graf nur etwas von einer Fahrt in die Stadt oder zu einem der Nachbarn verlauten zu lassen und sofort tanzten auch schon die Nerven der Gräfin; aber sie fürchtete jetzt nicht die hübschen Nachbarinnen, sondern nur, daß der Gatte das Geld im Kartenspiel oder anderweitig vergeuden werde. Täglich ging es schlechter. Man mußte sich einen Wunsch nach dem andern versagen und das Geld reichte doch nicht hin. Wie alle unpraktischen Menschen, ließen der Graf und die Gräfin die Sparsamkeit nicht am rechten Platz walten; an den häuslichen Ausgaben sparten sie das Nothwendige, kargten sie ängstlich jedes Stück Zucker, jeden Stumpf Talgkerze; aber alle großen Ausgaben für Haus und Gut blieben die gleichen. Der Dorfälteste, der Verwalter, die Beschließerin, der Koch, der Kutscher – Alle diese bereicherten sich wie früher auf Kosten der Herrschaft, bloß mit dem Unterschied, daß früher Jeder doch noch mit Maß und sozusagen mit Nachsicht gestohlen hatte ,… Jetzt gab es häufig für nichts und wieder nichts Vorwürfe. Fortwährend wurde den Schuldigen und Unschuldigen mit Entlassung gedroht, und so wurde die Dienerschaft nur noch feindlicher gesinnt; die Meisten beeilten sich, noch vor dem Weggehen so viel als möglich zusammenzuraffen, und das herrschaftliche Gut wurde in frecher und boshafter Weise geplündert.

Alles im Hause trug jetzt den ungemütlichen Stempel des Knickerischen. Durch die täglich vorkommenden Streitigkeiten und Unannehmlichkeiten kamen der Graf und die Gräfin gleichsam auf einmal herab. Wenn Wjera in der Folge sich ihrer Mutter erinnerte, hatte sie immer die Vorstellung von zwei verschiedenen und einander gar nicht ähnlichen Frauen: die eine – jung, schön, lebensfroh – ist die Mutter ihrer Kindheit, die andere – launenhaft, zanksüchtig, nachlässig, sich und den Anderen das Leben verbitternd – das ist die Mutter der letzten Periode.

Ganz so ging es bei allen Nachbarn zu. Die Gutsbesitzer verloren den Boden unter den Füßen und begriffen nicht, was mit ihnen vorging. Von Vergnügungen und Belustigungen war keine Spur mehr. Wenn zwei, drei Gutsbesitzer irgendwo zusammentreffen, erleichterten sie ihre Herzen in Klagen über die Bauern und die Regierung. Die Jüngeren und Energischeren ließen die Wirtschaft laufen und reisten nach Petersburg, um Stellung zu suchen. Auf den Gütern blieben nur die Alten zurück.

Lena und Lisa waren jetzt erwachsene Fräulein. Beide vergingen vor Langweile und murrten gegen das Geschick. Es hat ihnen in der That einen bösen Streich gespielt. Was ist aus allen ihren glänzenden Hoffnungen geworden? Ihre ganze Jugend, ihre ganze Erziehung waren sozusagen nur eine Vorbereitung auf jenen glücklichen Tag, da man ihnen ein langes Kleid anziehen und sie in die Gesellschaft einführen sollte. Und nun ist dieser Tag gekommen und hat nichts gebracht außer Langeweile.

Wjera lebte auch nicht sonderlich froh. Die erste Maßregel der Sparsamkeit der Familie Baranzow bestand darin, daß man das ganze Personal der Kinderstube entließ. Mme. Night wurde unter einem passenden Vorwände verabschiedet. Mlle. Julie wurde es langweilig und sie reiste freiwillig ab. Die Eltern waren der Ansicht, daß es ihren Mitteln nicht entspreche, für Wjera allein eine Gouvernante zu halten. In der Gouvernementstadt wurde gerade um diese Zeit das erste Mädchengymnasium eröffnet; aber dahin kamen zumeist Bürgerliche, die Töchter kleiner Beamten und Kaufleute, und die Gräfin Baranzow hatte von allem Anfang an einen Widerwillen gegen diese Anstalt.

Es wurde beschlossen, Wjera ins Smolna-Institut zu bringen. Darüber wurde fast ein Jahr gesprochen. Endlich schrieb die Gräfin einer alten Freundin nach Petersburg und ersuchte sie, sich genau um die Aufnahmsbedingungen zu erkundigen; sie erhielt aber bald die unerwartete und ärgerliche Antwort, daß Wjera nicht mehr in dem Alter sei, um im Smolna-Institut Aufnahme finden zu können.

Der Graf trug jetzt Lena und Lisa auf, sich mit der Erziehung der jüngeren Schwester zu beschäftigen. Aber dieser Beschluß war gar nicht nach dem Geschmacke der jungen Fräulein. »Hat man uns zu Gouvernanten erzogen?« murrten sie, und gingen unwillig an die Sache. Nach ihrer Ansicht war Wjera dumm und faul und wenig intelligent. Keine einzige Lection verging ohne Thränen. Lehrerinnen und Schülerin benützten jeden Vorwand, die Stunde abzukürzen, und da die Eltern die unselige Erziehungsfrage ihrer jüngsten Tochter sichtlich bald vergaßen, hörten die Lectionen nach und nach ganz auf und mit vierzehn Jahren war Wjera vollständig auf sich selbst angewiesen.

Im Sommer ging es noch an. Ganze Tage verbrachte sie in dem verwilderten Park oder lief in den Feldern und Wäldern umher. Die Bauernkinder gingen ihr scheu aus dem Wege, und die Wahrheit zu gestehen, hat sie dieselben nicht weniger gescheut. Wenn sie zufällig durchs Dorf ging, schien es ihr immer, daß sie Alle auslachen und verachten. Es entstand in ihr ein instinctiv feindliches Gefühl gegen die Bauern.

Im Winter lebte Wjera noch schlechter als im Sommer. Sie lief in den großen, leeren Räumen von einem Winkel in den anderen herum und fand keine Beschäftigung. Vor Langeweile begann sie im Bücherschrank zu wühlen, aber da gab es bloß französische Romane und Wjera hatte die französische Sprache, in der sie mit fünf Jahren so gut zu plaudern verstand, bereits ganz vergessen. Das Allerschlimmste war, daß Alle im Hause immer schlechter Laune waren. Wohin sie sich auch immer wenden mochte, gab es Streit, und von Allen wurde Wjera ausgezankt. Sah sie die Schwestern an, so stritten sie wegen einer Kleinigkeit, eines Fetzens wegen, den sie unter sich nicht theilen konnten. Stimmten sie wider Erwarten einmal gütlich überein, dann klagten sie gewiß Beide über die Eltern: »Laß gut sein, die haben nicht so gelebt, als sie jung waren. Das Vermögen haben sie verschwendet, und wir hocken und langweilen uns jetzt auf dem Lande.«

Kam Wjera zur Mutter, so stieß sie auf einen Auftritt mit dem Stubenmädchen oder mit der Beschließerin. Und in der Gesindestube ging es noch weit schlimmer zu. Kurz, es schien, als ob Alle nur dazu da sind, um sich gegenseitig zu quälen und aneinander zu zehren. Die Einzige im Hause, die Niemanden quälte, Niemanden stichelte und über nichts klagte, war die alte Njanja (Kinderfrau). Sie hatte nur eine Sorge auf ihrer Seele: daß das Lämpchen vor dem Heiligenbild im Winkel ihres Stübchens nicht erlösche. Sie war glücklich und zufrieden, wenn man ihr einige Kopeken gab, um Oel zu kaufen. Die beinahe erblindete Alte, die nicht mehr im Dienst stand, hatte man im Hause belassen, aber es schien, daß Alle sie hinter der Bretterwand, wo sie sich aufhielt, vergessen hatten, tagelang sah man nicht nach ihr, nur die Magd erinnerte sich manchmal und brachte ihr etwas zu essen, oder ihr ehemaliger Liebling Wjera kam Abends zu ihr. Beim Eintritt in die winzige Kammer der Njanja, wo immer ein eigener Geruch – ein Gemisch voll Weihrauch, Leinöl und Kampher – zu verspüren war, überkam Wjera jedesmal ein seltsam friedliches Gefühl.

»Es ist langweilig, Njanja,« sagte sie und ließ sich traurig auf den niederen Stuhl nieder, ihren Kopf an den einfachen Holztisch lehnend.

»Warum sich langweilen, Schätzchen! Man muß zu Gott beten,« antwortete die Njanja ruhig, zärtlich, mit demselben Ton, mit dem sie Wjera zuzureden pflegte, als diese fünf Jahre alt war.

Und Wjera befolgt wirklich den Rath der Njanja und beginnt zu beten. Sie betet heiß, leidenschaftlich, mit Inbrunst. Die Begeisterung für die Religion, für ihre äußerlichen Gebräuche beginnt nach und nach das müßige, langweilige Leben des sich selbst überlassenen Kindes auszufüllen.

In diesem Jahre hielt Wjera drei Wochen vor Weihnachten streng das Fastengebot ein und selbst an dem Tag des Christabends aß sie nichts, bis die Sterne sichtbar waren. Deshalb fühlte sie, als zu Beginn der Dämmerung wie gewöhnlich die Popen kamen und vor dem in einem Winkel des Speisezimmers improvisirten Altar den Nachtgottesdienst zu verrichten begannen, eine so angenehme Schwäche in allen Gliedern, als ob sie keinen Körper mehr hätte und jeden Augenblick im Stande wäre, sich von der Erde zu trennen.

Blaue Rauchwolken, die aus dem Räucherfaß aufstiegen, erfüllten das Zimmer mit dichtem Qualm, durch welchen die Flammen der Wachskerzen matt schimmerten. Der penetrant süßliche Geruch des Weihrauchs verursachte Kopfschwindel.

»Ruhiges Licht! Heiliger Ruhm,« stimmten die Sänger an und Wjera glaubte den Gesang aus der Ferne zu vernehmen.

»Nichts, nichts mehr wünsche ich auf der Welt, als nur Dir zu dienen, Herr!« denkt sie voll Rührung. Ihre Seele ist erfüllt von einer wunderbaren, Hellen Freude, ein Schluchzen der Extase entringt sich ihrer Brust.

An demselben Tage hat sich an Wjera ein Wunder vollzogen – sie selbst hat es wenigstens als Wunder erkannt, was sich mit ihr zugetragen.

Obwohl die alte Njanja weder lesen noch schreiben konnte bewahrte sie bei sich wie ein Heiligthum einige Bücher religiösen Inhaltes und bat manchmal ihr kleines Fräulein, ihr laut vorzulesen. Unter diesen Büchern befand sich »das Leben der vierzig Märtyrer und der dreißig Märtyrerinnen«. Wjera war, als sie zu lesen begann, davon so hingerissen, daß sie sich das Buch von der Njanja erbat und stundenlang darin las.

»Warum bin ich nicht zu jener Zeit geboren?« dachte sie oft mit Bedauern. Aber an demselben Christabend, als sie in der Seele das Gelübde gethan, das ganze Leben Gott zu weihen, ereignete sich mit ihr Folgendes: Sie saß des Abends allein im gewesenen Classenzimmer und ihr Blick fiel von ungefähr auf eine alte Nummer der »Kinder-Lectüre«, die man in früherern Jahren für ihre Schwestern abonnirt hatte. Aus Langeweile begann sie zu blättern und das erste, was sie aufschlug, war die rührende Erzählung von den drei englischen Missionären in China, die von den ergrimmten Heiden auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Und das geschah vor kaum fünf, sechs Jahren. »In China gibt es noch Heiden! Dort kann man sich jetzt die Märtyrerkrone erwerben. Gott, das hast Du selbst für mich ersonnen! Du selbst zeigst mir den Weg und rufst mich zu einer Heldenthat!«

In der Erregung und Extase warf sich Wjera auf die Knie. In der Thatsache, daß die alte Zeitschrift ihr gerade heute wie eine Antwort auf ihr heißes Gebet zur Zeit des nächtlichen Gottesdienstes in die Augen fiel, sah sie die unzweifelhafte Bestätigung der göttlichen Vorsehung. Von diesem Tage an war in ihren Augen ihr Schicksal beschlossen. Alle ihre Träume nahmen eine bestimmte Form und Richtung an. Alles, was China betrifft, interessirt sie lebhaft und die Röthe steigt ihr ins Gesicht, wenn zufällig beim Diner die Rede darauf kommt. Bloß Eines befürchtet Wjera: wenn nur China sich nicht vorher zum Christenthum bekehrt, ehe sie ganz erwachsen ist.


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