Wladimir Korolenko
Die Geschichte meines Zeitgenossen – Erster Band
Wladimir Korolenko

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Ein Gebet unter dem Sternhimmel.

Von Gebeten hat man uns frühzeitig das Vaterunser und das Ave Maria beigebracht. Ich besaß ein gutes Gedächtnis und hatte rasch beide Texte: den polnischen und den altslavisch-ukrainischen auswendig gelernt. Freilich hatte ich mir die Worte nur mechanisch wie eine Reihenfolge von Lauten eingeprägt. Das Vaterunser z. B. lautete für mich ursprünglich so: Vater unser, der du bis zum Himmel . . . Später kam ich einmal darauf, nachzuprüfen, wie andere Knaben, die ich kannte, denselben Text hersagten. Einer von ihnen, ein stämmiger Bursche, der um einige Jahre älter war als ich, leierte den Anfang folgendermaßen herunter: Vater unser, der du büßt den Himmel . . .

Als der Vater das papageienhafte unseres Morgengebetes gemerkt hatte, versammelte er uns in seinem Zimmer und ging daran, uns die richtige Aussprache und den Sinn des Gebetes beizubringen. Seitdem verdrehten wir den Text nicht mehr und verstanden auch seine wörtliche Bedeutung. Unsere Gebete blieben trotzdem eine trockene Äußerlichkeit, die mit unserem Innenleben gar keine Berührung hatte.

Eines Tages beschloß der Vater, es sei jetzt für mich und meinen Bruder an der Zeit, zur ersten Beichte zu gehen, und er nahm uns beide mit in die Kirche. Wir kamen zur Abendmesse. In der fast menschenleeren Kirche war nur hier und da ein vorsichtiges, schüchternes, pietätvolles Raunen vernehmbar, wie gewöhnlich, wenn sich nur wenige Fromme zur Beichte einfinden. Von der dunklen Gruppe der Wartenden löste sich von Zeit zu Zeit eine Gestalt und kniete nieder, der Priester bedeckte ihren Kopf und beugte sich aufmerksam vor. Dann begann ein leises, ernstes, inniges Flüstern.

Mir wurde bange zu Mute, und ich blickte mich unwillkürlich nach dem Vater um. Infolge seiner Lahmheit vermochte er nicht lange aufrecht zu stehen und betete weiter im Stuhl sitzend. Auf seinem Gesicht lag ein besonderer Ausdruck von Trauer, Ergriffenheit und innerer Sammlung. Die Trauer war freilich deutlicher als die Rührung ausgeprägt, am deutlichsten war in seinen Zügen eine innere Anstrengung zu lesen. Der Vater schien etwas droben unter der Kuppel mit den Augen zu suchen, wo in leichten Schwaden der bläuliche Dunst des Weihrauchs schwebte, von den letzten Strahlen des sinkenden Tages erleuchtet. Seine Lippen flüsterten immer nur das eine Wort.

»Vater . . . Vater . . . Vater . . .«

Es war, als könnte er über dieses erste Wort nicht hinwegkommen. Als er bemerkte, daß ich ihn mit unwillkürlicher Verwunderung betrachtete, wandte er sein Gesicht mit leichtem Ärger ab, sank mit Mühe in die Knie und betete eine Zeitlang fast auf dem Boden liegend. Als er sich wieder aufrichtete, waren seine Züge ruhig, seine Lippen flüsterten gleichmäßig die Worte des Gebetes und die feuchten Augen, in denen ein stilles Leuchten lag, waren in irgendeine Vision hoch oben im schwachen Dämmerschein der Kuppel versunken.

Nochmals beobachtete ich häufig auch dasselbe zu Hause, wenn Vater beten wollte. Mitunter erhob er seine zusammengelegten Finger zum Zeichen des Kreuzes an die Stirn, ließ sie sinken und legte sie dann wieder mit sichtlicher Anstrengung an die Stirn, als wollte er seinem Kopfe etwas mit Gewalt einprägen oder als hindere ihn etwas, das Begonnene zu beenden. Dann schlug er das Zeichen des Kreuzes und flüsterte wieder mehrmals hintereinander: Vater . . . Vater . . . Vater . . ., bis sein Gebet endlich ruhig und gleichmäßig dahinfloß. Zuweilen wollte ihm dies nicht gelingen. Dann erhob er sich müde mit tränenden Augen und ging lange Zeit aufgeregt und traurig in der Wohnung auf und ab, worauf er das Gebet von neuem versuchte.

Einmal sagte der Vater, ich weiß nicht mehr aus welchem Anlaß, eine seiner Sentenzen:

»Beten, Kinder, muß man so, daß man sich dabei direkt an Gott wendet, als stände er dicht vor euch . . . Ganz so, wie wenn ihr bei mir oder bei der Mutter um etwas bittet.«

Und nach einer Weile fügte er noch hinzu:

»In der Schrift ist gesagt: bittet, so wird euch gegeben. Es ist auch gesagt: wenn ihr Glauben habt als ein Senfkorn, so könnt ihr Berge versetzen . . .«

Diese Worte sprach er mit trauriger Nachdenklichkeit: er ließ es an heißen Gebeten wahrlich nicht fehlen und doch war sein Leben fehlgeschlagen . . . In meinem Hirn flossen jene beiden Sentenzen plötzlich zusammen, wie das Flämmchen des Zündholzes mit der Flamme des angezündeten Lichtes in eins fließt. Die seltsame Stimmung des Vaters beim Beten wurde mir klar: er wollte also Gott vor sich fühlen, wollte fühlen, daß er eben zu ihm spräche und daß Gott ihn höre. Und bittet man Gott in dieser innigen Weise um etwas, so kann er die Bitte nicht verweigern, auch wenn der Mensch Berge versetzen wollte . . .

Berge gab es bei uns nicht, und so erübrigte es sich, sie zu versetzen. Bald jedoch fand sich für mich Gelegenheit, bei einem anderen Unternehmen die Macht des Gebetes zu erproben.

Mein ältester Bruder verfiel eines Tages darauf, zu fliegen. Seine Idee war äußerst einfach: man brauchte etwa nur auf einen hohen Zaun zu klettern, einen Luftsprung zu machen und dann immer höher zu springen. Er war überzeugt, daß, wenn man es nur fertig brächte, den ersten Luftsprung abzusetzen, ehe man die Erde erreicht hat, die Sache weiter keine Schwierigkeiten habe, und man so in der Luft hüpfend dahinfliegen könne.

Mit dieser Idee im Kopf kletterte er, zum Überfluß mit einem Paar reichlich mißgestalteter Schaufeln aus Latten und Papier, die eine Art Flügel darstellen sollten, ausgerüstet, auf den Zaun, schwenkte seine Flügel, machte einen Sprung – und streckte sich natürlich im nächsten Moment auf der Erde lang hin. Wie so viele Erfinder, gab er seine Idee darum noch nicht preis. Nach seiner Meinung war der Zaun eben noch nicht hoch genug. Nahm man von diesem den Anlauf, dann hatte man ja noch nicht Zeit, die Beine richtig im Knie zu beugen, und schon lag man am Boden. Hingegen beispielsweise so vom Dach aus . . . Aber sein gequetschtes Bein schmerzte ihn erst einige Tage lang, und später war ihm die Lust vergangen. Die Idee blieb unausgeführt.

Bei mir hatte sie jedoch mächtig auf die Einbildungskraft gewirkt. Ich gab mich dem Fluggedanken ganz hin, und da geschah es einmal – daß ich mich tatsächlich in die Luft erhob. Im Beisein der Geschwister schwang ich mich vom Dach des Schuppens in die Höhe, es gelang mir einen Luftsprung zu machen, bevor ich die Erde wieder erreicht hatte, und dann blieb ich in der Luft schweben, erst vermittelst einer Reihe von Luftsprüngen, gleichsam auf einer unsichtbaren Leiter hinaufsteigend, sodann schon im gleichmäßigen Gleitflug, fast wie ein Vogel. Ich drehte und wendete mich in den Lüften, legte mich flach, überschlug mich und zog Kreise. Erst schwebte ich über dem Hof, dann flog ich weiter über Felder und eine Mühle dahin. Diese Mühle war mir wohl von irgendeiner Reise in der frühen Kindheit her im Gedächtnis geblieben. Ihre Räder drehten sich, rauschten, spritzten blendendweißen Gischt und funkelnde Wassertropfen umher, ich aber flog furchtlos darüber hin, mitten durch Wasserstaub und strahlendes Sonnenlicht . . .

Als ich erwachte, wollte ich lange nicht glauben, daß jenes Erlebnis kein wirkliches Leben sei, und daß das wirkliche Leben eben in diesem Zimmer mit den Betten und den Atemzügen meiner schlafenden Brüder bestehe.

Meine Traumflüge wiederholten sich, wobei ich mich jedesmal der früheren Luftexkursionen entsann und zu mir selbst mit Entzücken sagte: damals war es nur ein Traum, und ich bin darnach in meinem Bett erwacht, nun aber fliege ich endlich auch im Wachen! . . . Meine Empfindungen waren eben derart lebhaft, grell und mannigfaltig, wie die Wirklichkeit selbst. Ich schwang mich wieder und wieder in die Höhe, schwebte in den Lüften, streifte das Gewicht, das die armen Sterblichen an die Erde fesselt, ab und gab mich ganz dem Fluge hin. Mein höchster Flugrekord bestand regelmäßig darin, daß ich die Mühle erreichte, ihre Wasserspritzer unter mir funkeln sah und das Rauschen der Räder vernahm. Aber auch in den Fällen, wo ich meine Künste nur über unserem Hof oder unter der Decke eines mir unbekannten enormen Saales, der vom Menschengedränge gefüllt war, ausübte, auch dann war das Erwachen für mich jedesmal ein schneidender jäher Schmerz . . .

Und ich überlegte, wie ich es anstellen könnte, daß der Traum zur Wirklichkeit werde. Plötzlich erweckte Vaters Belehrung über die richtige Art zu beten in mir einen Hoffnungsstrahl. Sind jene Worte des Vaters wahr, dann wäre ja die Sache sehr einfach: man brauchte nur mit starkem innigen Glauben den lieben Gott um ein paar Flügel zu bitten . . . Nicht um jene jämmerlichen Fittiche, wie sie der Bruder aus Latten und Papier verfertigt hatte, sondern um echte, mit Federn, wie sie Vögel und Engel haben. Dann könnte ich endlich in Wirklichkeit fliegen! . . .

Diesen Gedanken teilte ich niemandem, nicht einmal dem jüngeren Bruder mit. Ich hatte beschlossen – ich weiß selbst nicht warum – diese Angelegenheit sollte ein Geheimnis zwischen mir und dem lieben Gott bleiben. Ich sah auch ein, wenn sich mein Wunsch wirklich erfüllen sollte, dies unmöglich mitten am lärmenden Tag und ebensowenig in der schläfrigen Mittagszeit geschehen konnte, wo es allgemeines Aufsehen erregen mußte, wenn ein paar Flügel herab auf mich fielen. Solches konnte selbstverständlich nur an einem Abend von statten gehen. Die Flügel würden irgendwo hoch oben, in der silbrigen Dämmerung des nächtlichen Himmels sichtbar werden und dann leise zu meinen Füßen niedersinken . . . Später, falls ich sie behalten dürfte, sollten auch mein jüngerer Bruder und mein Schwesterlein hin und wieder davon Gebrauch machen. Ob die Flügel in meinem dauernden Besitz verbleiben würden, war mir freilich nicht ganz klar, doch zerbrach ich mir den Kopf nicht weiter darüber.

Wir hatten milde Abende, und als ich einmal nach dem Abendbrot auf den Hof ging, blickten mir von allen Seiten weit offenstehende beleuchtete Fenster entgegen. Im Schatten der Mauern saßen an den Türschwellen kleine Gruppen von Leuten, die sich halblaut plaudernd unterhielten. Mich störte dies alles garnicht. Die offenen Fenster, in denen niemand zu sehen war, die gedämpften Gespräche im Schatten der Häuser, die hellschimmernden Pflastersteine des Hofes, das Flüstern im Gezweig der großen Pappeln am Tor, alles dieses verwob sich zu einer besonderen Stimmung. Ich schickte mich allen Ernstes an, mit dem Jenseits in Verkehr zu treten, und doch empfand ich gar keine Furcht dabei, – vielleicht weil der Verkehr sozusagen streng sachlicher Natur war . . .

Nachdem ich ein paarmal im Hof auf- und abgegangen war, fing ich an Gebete zu flüstern: das Vaterunser und das Ave Maria, wobei ich mir jedoch bewußt war, daß dies noch nicht das Richtige sei, und daß dabei von Flügeln eigentlich noch gar nicht die Rede war. Ich war nun bestrebt, daß meine Anrede: Vater unser sich an jemand Lebendigen und Persönlichen richte. Zuerst wollte mir dies nicht gelingen, und ich betete einfach ein Gebet nach dem anderen herunter, mich dabei gleichsam erst auf etwas Wichtiges vorbereitend, – ich hatte schon gehört, daß man in besonderen Fällen »zehn Vaterunser und zehn Ave« hersagen müsse. Endlich, als ich fühlte, daß mein Herz erwärmt und in richtiger Stimmung war, blieb ich im Winkel des Hofes stehen, und hob meine Augen zum Himmel.

Zum erstenmal offenbarte sich mir damals die Erhabenheit des strahlenden Himmelszeltes. Über dem Giebel des steinernen Hauses stand der Mond, doch sein Licht überstrahlte nicht dasjenige der Sterne. Sie loderten, funkelten, flackerten in verschiedenen Farben, feierlich und lautlos, und die ganze unermeßliche dunkelblaue Tiefe schien zu leben und zu atmen . . . Nachmals sind meine Augen schwächer geworden, und heute lebt die unvergleichliche Schönheit des Sternenhimmels in meiner Seele nur als leuchtende Erinnerung aus jener einen Nacht meiner frühen Kindheit. Damals sah ich jeden einzelnen Stern deutlich. Ich unterschied ihre wechselnden Farben, und das erregte Knabenherz empfand klar die unergründliche Tiefe des Himmelsgewölbes wie die unendliche Zahl seiner lebendigen Lichter, die in die geheimnisvolle dunkelblaue Ferne tauchten.

Als ich wieder ein Vaterunser sagte, wurde ich von einer neuen Empfindung überwältigt: vor mir öffnete sich das zitternde Leben jener strahlenden Unendlichkeit und sie blickte aus ihrer abgrundtiefen Bläue und ihren zahllosen Lichtern mit mildem Lächeln auf das törichte Büblein hinab, das im verborgenen Winkel des Hofes stand und den Himmel um ein paar Flügel bat. In dem lebendigen Ausdruck des flimmernden Gezelts glaubte ich eine stumme Verheißung, eine ermunternde Liebkosung zu lesen.

Nun schob ich die auswendig gelernten Gebete beiseite und legte meinen Wunsch dar: zwei Flügel wollte ich haben, zwei richtige gute Flügel, wie sie die Vögel und die Engel tragen. Ganz als meinen Besitz wollte ich sie haben, oder auch nur für einige Zeit, um mich wenigstens einmal im Wachen in jene wunderbar lockende Höhe schwingen zu können. Darnach wollte ich meinetwegen die Flügel wieder an denselben Ort zurücklegen. Über das weitere mochte ich nicht nachdenken: all mein Sinnen war nur auf den einen heißen Wunsch gerichtet: über die Stadt hinaufzufliegen, und tief unter mir die kleinen Lichter in den Häusern zu erblicken, wo die Menschen beim Abendessen sitzen und gewöhnliche Gespräche führen, ohne zu ahnen, daß hoch über ihren Häuptern in der leuchtenden geheimnisvollen Bläue ein Jemand schwebt und von dort auf ihre armseligen Dächer herabblickt . . .

Freudig bewegt richtete ich mich auf und fing an den Himmel unverwandt anzustarren, in der Erwartung, daß dort die Flügel zuerst als zwei leichte Flaumflocken erscheinen würden. Der Himmel funkelte, atmete und blickte auf mich immer gleich liebreich herab, doch die Bläue blieb leer.

Dann kam mir in den Sinn, daß es nicht das Richtige sei, zum Himmel hinaufzustarren, das Mysterium wird einfacher vollbracht: die Flügel würden an dem Ort liegen, den ich in meinem Gebet bezeichnete. Ich beschloß deshalb, auf dem Hof auf und ab zu gehen und wieder zehn Vaterunser und zehn Ave herzusagen. Da die Hauptsache getan war, betete ich nun rein mechanisch, wobei ich genau zählte und nach jedem Gebet einen Finger einkniff. Ich verwirrte mich dabei aber doch in der Rechnung und legte auf jeden Fall noch je zwei Gebete zu. Indes die Flügel waren an der verabredeten Stelle nicht zu finden . . .

Wieder fing ich an im Hof hin- und herzuwandeln und zu beten, die verborgensten Winkel schlug ich dem lieben Gott vor: unter der Pappel, an dem Gartenpförtchen, neben dem Brunnen . . . Ich ging dann ohne die leiseste Furcht an allen Stellen suchen, obwohl es dort dunkel und einsam war.

Inzwischen wurde der Hof ganz leer. Die Leute, die im Schatten der Mauern geplaudert hatten, waren in ihre Wohnungen getreten, und nach einer Weile gingen auch die Stallknechte, nachdem sie ihr Abendbrot gegessen hatten, in die Ställe schlafen. Die Bekannten, die an jenem Abend bei uns zu Besuch waren, begaben sich gleichfalls allmählich auf den Heimweg, wobei die letzten noch eine Weile plaudernd und lachend auf den Treppen stehen blieben. Auch diese gingen schließlich durch den Hof, und ihre Schritte verhallten im Gäßchen.

In unseren beleuchteten Fenstern erschien die Silhouette des Zimmermädchens, das ein Fenster nach dem andern zu schließen begann. Dann trat der Diener Handylo auf den Hof und fing an, die Läden vorzumachen. Er schob von außen die eisernen Bolzen durch, rief Nun! und ärgerte sich, daß das Mädchen sie nicht rasch genug von innen mit kleinen eisernen Riegeln durchsteckte. Alsdann reckte er sich und gähnte laut mit weitaufgerissenem Rachen, langsam und behaglich . . .

Um meine Stimmung war es geschehen. Ich wußte, daß die Mutter jeden Augenblick meine Abwesenheit merken mußte, worauf man sofort nach mir suchen würde, denn die Geschwister waren sicher schon alle im Bett. Es wäre dringend notwendig – dachte ich – noch einmal das Gebet zu wiederholen . . . Allein – die Müdigkeit verbreitete sich rasch in meinem ganzen Körper, die Beine waren mir steif vom langen Herumstehen, vor allem fühlte ich, daß sich bereits der Zweifel in meine Seele einschlich. Also würde es wohl nichts damit werden . . .

Richtig erschien auf der Treppe das Zimmermädchen und hieß mich zu Bette gehen.

»Gleich!« antwortete ich und machte noch in fliegender Hast eine Runde durch den Hof. Vielleicht dort . . . Oder nein – ich weiß schon wo! . . . Allerlei Vermutungen kreuzten sich in meinem Hirn, und ich stürzte mich fieberhaft aus einem Winkel in den anderen. Enttäuscht, mit zerschlagenen Gliedern begab ich mich endlich ins Schlafzimmer und begann mich in düsterer Verzweiflung auszukleiden.

Kaum hatte aber der Schlummer meinen fieberheißen Kopf umfangen, als ich mich plötzlich im Bett aufrichtete, als hätte mir jemand einen Stoß in die Seite versetzt. Ich war ja fortgegangen, gerade als der Hof ganz leer geworden und für jedes Mysterium erst frei war! Die Flügel waren ja schon da, – ich wußte ganz genau wo. Wie merkwürdig es auch scheinen mag, mit meinem geistigen Auge sah ich sie ausgerechnet in einem ziemlich schmutzigen Winkel zwischen dem Schuppen und dem Zaun liegen. Ich sprang aus dem Bett und schlich mich im bloßen Hemdchen auf den Flur. Die Dienstboten schliefen noch nicht. Die Mädchen räumten nach dem Besuch das Wohnzimmer auf. Handylo verzehrte unter lautem Schmatzen sein Abendbrot. Die Tür stand offen, und ich trat hinaus.

Der Mond hatte sich inzwischen hinter dem Giebel des Hauses versteckt, und der Hof sah völlig verändert aus. Er war dunkler, kälter und farbloser, als wäre er eingeschlummert. Auch der Himmel hatte den Ausdruck gewechselt: die Sterne flackerten zwar und schimmerten in anderen Farben als früher, sie beachteten mich aber nicht mehr, der ich im bloßen Hemde auf der Flurtreppe stand. Sie schienen sich vielmehr miteinander über etwas zu unterhalten, was in gar keiner Beziehung zu meiner Wenigkeit stand. Es war, als ob eine große Versammlung, die sich eine kurze Weile für meine Angelegenheit interessiert hatte, nunmehr zu anderen wichtigeren und erhabenen Gegenständen übergegangen wäre, und jetzt bestand keine Hoffnung mehr, ihre Aufmerksamkeit wieder für mich zu gewinnen. Die sternbesäte Nacht war würdig, unnahbar und streng. Und ein kühler Windhauch umfing unliebenswürdig meine nackten Beine . . .

Müde, mit Kälte im Herzen, kehrte ich ins Zimmer zurück und kniete vor dem Bette nieder, um das vergessene Nachtgebet zu sprechen. Ich sagte es in mürrischem Ton, mechanisch und ganz eilig her. Plötzlich tauchte mitten im Gebet in meinem abgespannten Hirn ganz deutlich und klar, als hätte ihn mir jemand ins Ohr geflüstert, ein fremder Satz auf: »Der liebe Gott ist ein . . .« Hier folgte ein gewöhnliches Bubenschimpfwort, das unter uns Brüdern gebräuchlich war, wenn wir miteinander Streit kriegten. Ich war starr vor Schreck. Nun war ich ja ein hoffnungslos verlorener Bursche, soviel war klar. Den lieben Gott beschimpfen! . . . Mitten in diesem geistigen Wirrwarr schlief ich ein.

Ich weiß nicht mehr, welche Schlüsse ich am anderen Tage aus meinem mißglückten Abenteuer gezogen habe. Ich kümmerte mich wohl überhaupt nicht um Schlüsse, sondern gab mich einfach, nachdem ich über Nacht ausgeruht hatte, den neuen Eindrücken des Tages hin.

Aber seitdem pflegte auch ich das Gebet oft mit der qualvollen Wiederholung: Vater . . . Vater . . . Vater . . . anzufangen, bis erst mein Inneres recht erwärmt und ergriffen war. Oft gelang mir dies nur sehr mühsam: die Empfindung von der Nähe des lebendigen persönlichen Gottes ließ sich nicht erzwingen. Manchmal war die Anstrengung so qualvoll, daß mir der Schweiß auf der Stirne ausbrach und Tränen in die Augen traten. Ich strengte meine Einbildung redlich an, aber vor mir gähnte eine unpersönliche Leere, die gar kein Echo im Herzen zu wecken vermochte. Und mehr als einmal fiel mir zur Vollendung der Qual mitten in dem verworrenen Gebet ganz deutlich und plastisch der lästerliche Satz ein . . .

Merkwürdigerweise pflegten sich diese ermüdenden inneren Kämpfe mit der Leere gerade in den Perioden der religiösen Überspanntheit bei mir einzustellen . . .


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