Wladimir Korolenko
Die Geschichte meines Zeitgenossen – Erster Band
Wladimir Korolenko

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Hof und Straße

Jenes Haus, in dem wir, wie ich einmal glaubte, »schon immer« gewohnt hatten, stand in einem engen Gäßchen, das auf einen kleinen Platz mündete. Von diesem strahlten mehrere Straßen aus, zwei davon führten auf Friedhöfe.

Eine dieser Straßen hieß »die Chaussee«. Sie wurde von Postkutschen mit aufgebundenen Glöckchen befahren, und da der belebte Teil der Stadt eigentlich hier zu Ende war, so pflegten die Postillone manchmal zu halten und die Glöckchen loszubinden. Dann setzte sich die Kutsche mit lautem Schellengeläute in Bewegung, das nach und nach ferner und schwächer erklang und endlich erstarb, in dem Maße wie die Kutsche immer kleiner wurde und schließlich zu einem Punkt zusammenschrumpfte.

Die schnurgerade Straße war sehr lang. Häuser wechselten hier ab mit Zäunen, unbebauten Plätzen, halb eingesunkenen Hütten; die Fernsicht schloß mit Gruppen üppigen Grüns ab, das über die Zäune auf die Straße herabhing. Dieses Grün kam auf der einen Seite vom »orthodoxen«, d. h. russischen Friedhof, auf der anderen aus irgendeinem Privatgarten. Zwischen diesen grünen Flecken tauchte zum letztenmal alles auf, was sich die Chaussee entlang aus der Stadt entfernte, bis es in der dunstigen Ferne entschwand . . . Mein Bruder und ich, wir beobachteten von der Ecke unseres Gäßchens oder von der Höhe unseres Zaunes oft stundenlang, wie in dieser Fernsicht abwechselnd Postwagen, hohe jüdische »Balagulen«Früher bei den polnischen Juden gebräuchliche große Transportwagen mit gewölbtem Dach aus Leinwand, die auf Reifen gespannt war. D. Ü., ungefüge Eilkutschen, einfache Bauernwagen verschwanden. Gab es aber ein Begräbnis, dann waren wir von unserer Ecke nicht fortzubringen, ehe der Leichenzug jenen äußersten Punkt erreicht hatte. Dann trat der formlose Fleck des Menschenhaufens noch einmal deutlich in Sicht. Die Kirchenfahnen tauchten auf und senkten sich unter den Toren und Baumzweigen, der Katafalk zeigte sich als wagerechter Strich, und alles das strömte in die Umzäunung des Friedhofs hinein. Dann wußten wir: »Alles ist aus« . . . Meine frühesten Vorstellungen von der Ferne sind unzertrennlich mit der langen Perspektive jener Chaussee verbunden und vielleicht hat bei mir diese Verknüpfung mit Begräbnis und Tod zu der Tiefe und Traumhaftigkeit jener Vorstellungen beigetragen.

Die Straße stieg, in dem Maße wie sie sich entfernte, sanft hinan, und alles, was sich auf ihr zur Stadt heranbewegte, schien gleichsam hinabzugleiten. Ich weiß jetzt noch, wie ich in meiner frühesten Kindheit einmal überwältigt war, als ein kleiner viereckiger Fleck, der sich in der Fernsicht der Chaussee vom Horizont ablöste, zu wachsen begann, immer näher heranglitt, bis er sich nach einiger Zeit als zahllose Soldatenkolonnen entfaltete, die ganze Straße einnahm, sie mit dem Gestampf von Tausenden von Füßen, mit dem Gedröhn der Militärmusik erfüllte . . . Die Soldaten trugen kleine, schirmlose Mützen und kurze, stark verschlissene Jacken, die Offiziere hatten steife Tschakos mit Federbusch oder mit metallenen Troddeln auf dem Kopfe. Alle marschierten im Takt, und es lag etwas Stahlhartes in diesem strenggemessenen Massentritt. In der Menge um uns wurde gesagt, die Leute kehrten aus dem Krieg »von Sebastopol« heim . . .

Auch Sträflinge mit klirrenden Ketten passierten mitunter die Chaussee, und ich entsinne mich, wie einmal eine finstere Gestalt zur »öffentlichen Züchtigung« an uns vorbeigeführt wurde. An der Spitze marschierte ein Trupp Soldaten mit vier Trommlern, die hart und dicht den Trommelwirbel schlugen; bei jedem Schritt hoben sich die Trommeln auf ihrem linken Knie in die Höhe, der Wirbel ergoß sich aber immer gleich unerbittlich, streng und unheilkündend. Den Soldaten folgte ein Leiterwagen, auf dem eine hohe Bank angebracht war; ein Mensch saß darauf mit rückwärts angebundenen Armen. Sein unbedeckter Kopf hing tief auf die Brust herab und baumelte kraftlos bei jeder Erschütterung des Wagens auf dem Pflaster. Vor seiner Brust hing eine schwarze Tafel, auf der mit großen weißen Lettern etwas geschrieben stand. Und diese ganze unheimliche Gestalt schien hoch über der Menge in der Luft zu schwimmen, als beherrsche sie den lebendigen Strom zu ihren Füßen. Dem Wagen folgte wieder ein Trupp Soldaten und hinter diesen liefen Menschen in dichten Scharen einher.

Wir Kinder begriffen kaum, um was es sich handelte, und auf den Platz selbst ließ man uns natürlich nicht gehen. Aber der Diener Handylo, der mit der Menge hingelaufen war, berichtete nachher in der Küche sehr eingehend, wie der »Mordbube« auf dem Schaffott auf eine Bank geschnallt wurde, wie der Henker mit der Knute knallte und dabei angeblich den Spruch tat:

»Vater und Mutter haben dich nicht gelehrt, nun werde ich dich lehren!« Wie er dann rief: »Hab acht, es geht los!«, und wie dann auf dem ganzen Platz das Sausen der Knute und die unmenschlichen Schreie des Gezüchtigten zu hören waren . . . Unsere weibliche Dienerschaft stieß auch bei der Erzählung Schreie aus und schlug das Kreuz.

Dies war, glaube ich, die letzte »öffentliche Züchtigung« in unserer Stadt.

Überhaupt zog über die gerade Chaussee gar viel des Interessanten, Neuen und manchmal Furchtbaren hin zur Stadt und aus der Stadt an uns vorüber.

Die andere Straße, die an unserem Gäßchen schroff nach links abbog, führte zum katholischen und zum evangelischen Friedhof. Sie war breit, wenig bebaut, ungepflastert und tief mit Sand bedeckt. Lautlos bewegten sich hier die Leichenwagen bis zur Nabe im reinen gelben Sand versinkend, sonst aber gab es hier wenig Leben.

In dem spitzen Winkel, den diese Straße mit unserem Gäßchen bildete, stand ein Schilderhäuschen, worin ein alter Polizeiwächter postiert war, der noch eine Hellebarde trug (kurz darauf wurden die Hellebarden abgeschafft). Hinter dem Schilderhäuschen, inmitten eines üppigen Gartens, der, ich weiß nicht mehr wem, gehörte, ragte eine kolossale »Figur« – wie man in Polen sagt –, ein altes Kruzifix, mit kleinem Schutzdach über dem Haupte des Christus. Irgendeine fromme Seele hatte es hier an der Ecke errichtet, und der Gekreuzigte schien mit seinen ausgestreckten Armen sowohl diejenigen, die sich auf der Chaussee zum »russischen Friedhof« entfernten, wie diejenigen, die von schwarzbehangenen, im Sande versinkenden Pferden lautlos auf den »polnischen Friedhof« geführt wurden, zur ewigen Ruhe zu segnen.

Gerade gegenüber der »Figur« stand aber seit uralter Zeit eine Schenke, eine dunkle, verfallene Baracke, die sich stark auf die Seite geneigt hatte und sich nach vorne zur Straße hinaus auf ein paar Holzpfähle wie auf Krücken stützte. Drinnen kreischte fast zu jeder Tages- und Nachtzeit der Fiedelbogen und dröhnte die Trommel. Manchmal mischte sich in die durchdringende weibliche Klage, die einen Sarg begleitete, das wilde Juchzen und der trunkene Lärm der Schenke. Es waren noch einfache Sitten . . .

Unser Hof war still und gemütlich. Von den Straßen war er durch zwei steinerne Häuser getrennt. In einem dieser Häuser wohnte die Familie unseres Hausbesitzers, deren Wohnung und Einrichtung mir als der Gipfel des Reichtums und des Luxus vorkamen. Das Hoftor ging auf das Gäßchen hinaus, und darüber hing das dichte Gezweig einer alten Silberpappel tief herab. Wenn der majestätische Kutscher mit der Kalesche des Hausbesitzers zum Hoftor hineinfuhr, mußte er den Kopf jedesmal sehr tief vornüberbeugen, damit sein hoher, mit Band und Posamenten geschmückter Hut nicht von den Zweigen heruntergerissen wurde.

Das Quergebäude, in dem wir wohnten, stand im Hintergrunde des Hofes, mit der einen Seite an das große steinerne Haus, mit der anderen Seite an einen dicht bewachsenen Garten stoßend. Rückwärts von dem unseren stand aber noch ein winziges Hintergebäude, in dem seit undenklichen Zeiten der Militärarzt Dubarew hauste.

Unser Hausbesitzer war Pole, den man »Pan Komornik« (Herr Landmesser) titulierte. Das war ein Greis von hoher Gestalt und ziemlicher Beleibtheit, aber immer noch eine stattliche Erscheinung, mit weißem Schnurrbart und weißem, rund um den Kopf gerade geschnittenem Haar. Ich erinnere mich dunkel an diese eigenartige altmodische Gestalt. Werktags pflegte er gewöhnlich vom frühen Morgen an in blauer Jacke auf dem Hof, wie ein fleißiger Verwalter, in der Wirtschaft zu hantieren. Kam aber der Sonntag, dann zog Pan Komornik einen prächtigen »Kontusch« von blauer oder himbeerroter Farbe mit Schlitzärmeln an, darunter einen hellen »Schupan«, weite samtene Pluderhosen, schnallte einen kostbaren Gurt um, hängte einen krummen Säbel daran, setzte eine polnische »Konföderatenmütze« mit vier Zipfeln auf und begab sich, sein Gebetbuch in der Hand, zur Kirche. Seine Frau, die bedeutend jünger war als er, sowie deren weiblicher Hofstaat fuhr bei solchen Gelegenheiten in einer mit prachtvollen Pferden bespannten Kalesche, er aber ging stets zu Fuß. Geschah es einmal, daß er erkrankte, dann befahl er gewöhnlich den Backofen in der Küche glühend heiß zu machen, ließ Stroh drein breiten und legte sich ganz nackt auf das Strohlager. Nach mehreren Stunden verließ er den Ofen wie gebrüht, trank Lindenblütentee, und am anderen Morgen wirtschaftete er gewöhnlich wieder in Hof und Stall herum.

Alles dies erfuhr ich erst später aus Erzählungen. Des Herrn Kolanowski selbst entsinne ich mich deutlich nur aus seinen letzten Tagen. Einmal fühlte er sich unwohl und ergriff seine üblichen Maßnahmen, die jedoch diesmal versagten. Alsdann erklärte er seiner Frau:

»Jetzt ist es aus mit mir.«

Die Frau schickte nach Ärzten. In unserem Hof ließ sich bald der homöopathische Herr Tscherwinski mit seinem Merkurstab, bald der dicke Herr Woyciechowski sehen. Der alte »Komornik« blickte mißtrauisch auf diese Anstalten und behauptete unerschütterlich, er werde bald sterben.

Deutlich sehe ich mich selbst zu jener Zeit in seinem Krankenzimmer. Ich hockte auf dem Fußboden neben einem Sessel, spielte mit irgendeiner Quaste und blieb so stundenlang sitzen. Ich bin mir jetzt nicht klar, welche Vorstellung damals mein Gehirn beherrschte. Ich weiß nur, daß ich, als mich einer der Besucher, der mich neben dem Stuhl entdeckt hatte, frug: »Und was treibst denn du hier, Büblein?«, mit großem Ernst geantwortet habe:

»Ich halte Wache bei dem alten Kolanowski.«

Der Bauch des Kranken erzitterte ein wenig unter der Decke, und er sagte mit mattem Lächeln:

»Er wird dir aber doch entwischen.«

Und er entwischte mir in der Tat. Zwei oder drei Tage später lag der alte Kolanowski feierlich und majestätisch auf der Bahre. Man hatte ihm seine Sonntagstracht angezogen: den hellgelben Schupan und den blauen Kontusch, ihm zur Seite lag der krumme Säbel und daneben auf dem Stuhl die Konföderatenmütze mit der Reiherfeder. Sein bei Lebzeiten rotes Gesicht war so weiß wie sein Schnurrbart . . . Tags darauf füllte sich unser Hof mit einer Menge Menschen, die Kirchenfahnen wurden herbeigeholt, allein es zeigte sich, daß der riesige Katafalk nicht zum Tor hineinkonnte. Alsdann stieg jemand von dem Gesinde auf die Silberpappel und fing an, den großen untersten Zweig herunterzuhauen. Als der Zweig am Boden lag, betrachtete ich ihn und die oben über dem Tor entstandene Lücke mit derselben Empfindung, wie die seltsame Figur des alten Kolanowski. Mag sein, daß ich wußte, dies sei der Tod, aber das flößte mir damals weder Furcht noch Trauer ein. Der Zweig – dachte ich mir – ist eben merkwürdigerweise auf den Boden gefallen, statt oben zu hängen, und Pan Kolanowski hat sich herausgeputzt, um zur Kirche zu gehen, anstatt dessen aber blieb er den ganzen Tag auf dem Tisch liegen . . .

Nach dem Begräbnis erhielt sich in unserem Hof eine Zeitlang das Gerücht, der alte Komornik würde des Nachts gesehen, wie er sich, ganz als wäre er noch am Leben, in der Wirtschaft zu schaffen mache. Das war wiederum eine Merkwürdigkeit an ihm, denn früher pflegte er ja seine Wirtschaft bei Tag zu besorgen. Ich glaube jedoch, wenn ich damals dem Alten irgendwo im Hof, im Garten oder im Stall begegnet wäre, so hätte mich das nicht sonderlich überrascht, und ich hätte ihn am Ende nur gefragt, wie er das seltsame Benehmen erklären wolle, das er seit dem Tage zur Schau trage, an dem er mir »entwischte«.

In jenen Jahren war die polnische Nationaltracht bereits aus der Mode gekommen oder sogar schon verboten. Doch der reiche und hochmütige »Pan Komornik« fügte sich den neuen Sitten nicht; er lebte und starb sich selbst und seiner Zeit getreu. Und wenn ich jetzt an jene eigenartige Charaktergestalt, die an mir nur undeutlich vorbeigehuscht war, zurückdenke, so ist es mir, als ob es das ehemalige alte Polen, das Vaterland meiner Mutter selbst wäre, das eigenartig, stark und in seiner Eigenart schön, durch eine geheimnisvolle Tür entschwindet, während ich gleichzeitig eine andere Tür öffne und dabei jener entschwindenden Gestalt doch noch einen hellen, prüfenden Kinderblick nachsende . . .

Das Leben in unserem Hof floß immer still im gleichen Geleise dahin. Mein ältester Bruder war um zweieinhalb Jahre älter als ich, der jüngere hingegen im gleichen Jahre mit mir geboren. Daher standen wir zwei uns natürlich näher. Wir pflegten beide sehr früh aufzustehen, während die Häuser im Hof noch in tiefem Schlummer lagen. Nur die Knechte in den Ställen putzten schon um jene Stunde die Pferde und führten sie zur Tränke. Hin und wieder erlaubten sie uns, die Tiere an der Leine zu führen, und dieses Vertrauen hob uns sehr in der eigenen Meinung.

Nach den Stallknechten pflegten die Köchinnen zu erwachen und zum Holzholen in den Schuppen zu gehen. Pünktlich um halb acht Uhr fuhr an unserer Treppe der Wagen vor, und der Vater begab sich zum Dienst. Dies alles wiederholte sich jeden Tag und erschien uns wie ein unverbrüchliches Naturgesetz, desgleichen, daß die Mutter bereits gegen drei Uhr den Tisch deckte. Um drei ließ sich wieder das Rollen der Wagenräder vernehmen, der Vater trat ins Haus, und gleichzeitig wurde die Suppenschüssel aus der Küche ins Speisezimmer getragen.

In der Zwischenzeit war unser Hof gewöhnlich wie ausgestorben. Die müßigen Stallknechte legten sich schlafen, wir beide aber – mein Bruder und ich – schlenderten im Hof und Garten umher, blickten vom Zaun auf das Gäßchen oder auf die lange Chaussee hinaus, erkundigten uns nach Neuigkeiten und teilten sie einander mit. Indes stieg die Sonne immer höher, erhitzte die Pflastersteine bis zur Glut und goß über unser Anwesen eine echt »oblomow'sche« Mattigkeit und Öde ausOblomow ist der Held eines bekannten gleichnamigen Romans von Gontscharow, in deutscher Übersetzung bei Bruno Cassirer, Berlin, erschienen. D. Ü..

Eine eigenartige Erinnerung ist mir aus jenen Stunden des Herumlungerns in der ermattenden Mittagshitze im Gedächtnis geblieben. Auf unseren Hof hatte sich einmal eine Katze verirrt, die eine schlimme Pfote hatte. Wir gaben ihr zu fressen, und sie gewöhnte sich an uns. Manchmal in den Mittagsstunden suchte ich die Katze hervor, trug sie in den Hinterhof, wo alte Wagenschlitten herumstanden, legte mich mit ihr in einen dieser Kasten hinein und begann sie zu streicheln. Das Tier schnurrte dankbar, leckte mein Gesicht, blickte mir in die Augen und schien mein Wohlwollen und meine Teilnahme ganz bewußt zu erwidern. Diese Freundschaft mit dem Tierchen nahm mich mitunter stundenlang in Anspruch. In dem Maße jedoch, als ihre Pfote zuheilte und die Katze selbst, wohlgenährt und satt, sich immer besser herausmachte, schwand ihre Dankbarkeit dahin. Früher pflegte sie auf jeden Ruf von mir sofort herbeizulaufen, tauchte aus Gott weiß welchen Löchern und Schlupfwinkeln auf, – jetzt passierte es, daß sie mir zu entschlüpfen suchte und sich offensichtlich stellte, als ob sie mich nicht gehört hätte.

So verfuhr sie auch an einem heißen Tage, als ich, der ich mich gerade mit meinem Bruder verzankt hatte, ein besonders starkes Verlangen nach ihrer Freundschaft empfand. Sie strich eben am Zaun entlang, als ich aber rief, wollte sie mit ausgesuchter Tücke an mir vorbei in den Spalt huschen. Ich kriegte sie aber doch. Diesmal erwiderte sie meine Zärtlichkeit sehr zerstreut, ja selbst als ich sie daran mahnte, wie elend und unglücklich sie doch gewesen sei, machte es ihr durchaus keinen Eindruck. In ihren Augen war der ehemalige Widerschein meiner Gefühle nicht mehr zu finden, und in einem passenden Augenblick machte sie den Versuch, mir zu entwischen. Da packte mich Kummer und Ärger. Ihr Betragen schien mir als der Gipfel des Undanks, und außerdem verlangte ich leidenschaftlich nach unserer früheren Freundschaft. In meinem Hirn tauchte plötzlich der Gedanke auf, sie hätte mich nur geliebt, solange sie litt und ich ihr Mitleid erwies . . . Ich packte sie am Schwanz und warf sie über meine Schulter.

Das Tier schrie kläglich auf und hakte schmerzlich seine Krallen in meinen Rücken. Ich ließ augenblicklich los, und die Katze schoß wie ein Pfeil davon, während ich mit dem brennenden Gefühl der Schuld und der Reue zurückblieb . . . Es kostete mich nachher nicht geringe Mühe, die Katze wieder zu fangen, und als mir dies gelungen war, gebrauchte ich alle Mittel, um ihr klar zu machen, daß ich mir meiner Schuld wohl bewußt sei und nur noch an die Wiederaussöhnung mit ihr denke. Unsere späteren Beziehungen waren friedlich, wenn auch ziemlich kühl, doch erinnere ich mich noch lebhaft an jenen merkwürdigen Anfall gekünstelten Mitleids unter der ermattenden Wirkung der Öde in dem glühendheißen und bis zum Überdruß wohlbekannten Hofe.


 << zurück weiter >>