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Es war am Sonnabend vor Ostern des Jahres 188*. Der Abend hatte sich schon auf die stumme Erde gesenkt, die jetzt, von der Frühlingssonne den Tag über beschienen, trotz leichten Nachtfrostes des scheidenden Winters, sich des nahen Lenzes bewußt zu sein und froh zu atmen schien; Nebelmassen entstiegen ihr wie Weihrauchwolken zum Himmel strebend, dem hehren anbrechenden Festtage entgegen, silbern erglänzend im Lichte der matt leuchtenden Sterne. Ruhe herrschte rings umher.
Die kleine Gonvernementsstadt N., in feuchtkühle Nebeldünste gehüllt, lag still da, den Augenblick erwartend, wo von der Höhe des Glockenturmes herab der erste Schlag erklingen würde. Doch war es nicht die Stille des Schlafes; in dem Dunkel und Schatten menschenleerer geräuschloser Gassen war eine erwartungsvolle Zurückhaltung bemerkbar; nur selten eilte ein verspäteter Arbeiter vorüber, den der anbrechende Festtag bei schwerer mühevoller Arbeit ereilt hatte; nur selten fuhr ein Fuhrmann geräuschvoll vorbei – und dann wieder lautlose Stille. Das ganze Leben hatte sich von den Straßen in die Häuser, in reiche Paläste und arme Hütten, zurückgezogen – über der Stadt, über der ganzen Erde lagerte der Hauch der Auferstehung und der Wiedererneuerung.
Noch war der Mond nicht aufgestiegen, und die Stadt lag im Schatten des Berges, auf dem ein dunkles, unfreundliches Gebäude sich erhob. Die unheimlichen regelmäßigen Linien des Baues hoben sich ab vom hellen Horizont, die altertümliche Pforte verschwand fast im Dunkel der Mauer und die vier Ecktürme starrten gespensterhaft in die Wolken.
Da erscholl von der Höhe des Domes herab der erste Schlag und ergoß sich durch die stille Nacht, da ein zweiter, dritter ... und von allen Türmen ertönten die Glockenschläge und stimmten ein harmonisches Spiel an; die Töne verschmolzen melodisch in eine feierlich mächtige Weise und, sich aufschwingend zum Himmelsdome, erfüllten sie den Raum mit herrlichen Akkorden. Da erklang auch aus dem finstern Bau ein matter Ton, schwach und gebrochen, und versuchte, seinen mächtigeren Brüdern gleich, sich zur Höhe hinaufzuschwingen, auch seine Stimme ertönen zu lassen und mitzusingen im Liede von der Freude und Liebe und Gnade der Menschheit – vergebliches Mühen, zitternd fiel er zur Erde herab und erstarb leise nachklingend im Äthermeere.
Die Glockenmusik verstummte.
Schon längst zwar waren die Töne im Raume verhallt, und doch tönte es noch nach wie das Zittern einer geheimnisvollen, unsichtbaren Saite. In den Häusern war es dunkel, nur die Fenster der Kirche glänzten hell. Die Erde bereitete sich zum 188*. Male, die Worte des Friedens, der Liebe und der Brüderlichkeit erschallen zu lassen.
Die dunklen Thore des alten Baues öffneten sich knarrend. Eine Abteilung Soldaten schritt waffenklirrend heraus, um sich zu den einzelnen Posten zu begeben; aus ihrer Mitte trat gemessenen Schrittes ein Mann, während der frühere Wachthabende in der von der Dunkelheit umhüllten Schar gleichsam verschwand, und um die hohe Schutzmauer herumgehend, bewegte sie sich weiter. Beim Posten an der westlichen Fronte trat ein junger Rekrut vor, um seinen Vorgänger abzulösen.
In seinen Bewegungen ließ sich noch deutlich die bäurische Ungelenkigkeit erkennen, sein junges Antlitz bewahrte noch den Ausdruck des Neulings, der zum erstenmale einen verantwortlichen Posten antreten sollte. Er stellte sich mit dem Gesicht zur Mauer und schulterte das Gewehr. Zwei Schritte vortretend, machte er Halbkehrt und trat an die Seite des Abzulösenden. Dieser verlas mit leichter Wendung des Kopfes mechanisch die gewohnten Anordnungen. »Die Posten abschreiten! – aufpassen! – nicht schlafen! – nicht schlummern!« sprach er schnell, während der Rekrut gespannt zuhörte, und aus seinen blauen Augen ein Ausdruck tiefer Trauer blickte. »Verstanden?« fragte der Gefreite. »Zu Befehl!« »Also aufgepaßt!« sprach er streng, dann setzte er gutmütigen Tones hinzu: »Du fürchtest doch wohl nicht gar Gespenster?« »Nein,« erwiderte der Rekrut, »mir ist nur so eigen ums Herz.« – Bei dieser kindlichen Äußerung ertönte leises Lachen im Kreise der Soldaten. »Da ist das Muttersöhnchen!« brummte verächtlich der Alte und kommandierte: »Gewehr auf! Rechtsum – Marsch!« Gleichmäßig schreitend verschwand die Mannschaft hinter der Ecke, und bald waren ihre Schritte verhallt. Der Rekrut schulterte sein Gewehr und trat langsam seinen Gang an.
Drinnen im Gefängnis regte sich mit dem letzten Glockenschlage ein besonderes, ungewohntes Leben. Als wäre mit ihm wirklich die Freiheit auf die Erde eingezogen, so öffneten sich die Thüren der Zellen, und ihre Bewohner, in langen, grauen Röcken mit den bedeutungsvollen Vierecken auf dem Rücken, traten hervor, ordneten sich paarweise und durchschritten den langen Korridor, um die hellerleuchtete Kirche zu betreten; sie kamen von rechts und links, von oben und unten, und durch das Geräusch ihrer gleichmäßigen Schritte hindurch vernahm man das Klirren der Ketten und der Waffen. Bei dem Eintritt in die Kirche ergoß sich dieser Strom bleicher Menschen in ihre vergitterten Plätze und verstummte – auch hier waren eiserne Läden und Gitter an den Fenstern.
Das Gefängnis ist leer. Nur in den Ecktürmen, wo die Zellen für die Einzelarrestanten liegen, schreiten diese mürrisch und finster umher, von Zeit zu Zeit an der Thür stille stehend, um mit gierigen Ohren einzelne Töne des fernen, kaum hörbaren Gesanges aufzufangen, die aus der Kirche herüberklingen ...
Dort ist noch eine Zelle; da liegt auf hartem Lager ein Kranker. Der Aufseher, dem man das plötzliche Erkranken des Arrestanten mitgeteilt hatte, trat zu ihm heran, als man seine Genossen in die Kirche führte, und, sich über ihn beugend, blickte er ihm in die Augen, die im fieberhaften Glanze strahlten und starr in die Weite blickten.
»Iwanow, he Iwanow!« rief der Aufseher ihn an, doch er blieb unbeweglich und stieß nur unverständliche Laute hervor. Seine Stimme war rauh, die fieberglühenden Lippen öffneten sich nur mühsam. »Morgen ins Lazarett!« befahl der Aufseher und verließ die dumpfe Zelle, an ihrer Thür einen der Hüter zurücklassend. Dieser blickte anfmerksam auf den Daliegenden und sprach kopfschüttelnd: »Eh, du Landstreicher, bist nun wohl genug umhergeirrt!« Überzeugt davon, daß es hier nichts zu hüten gäbe, ging er zur geschlossenen Kirchenthür, um der Predigt zuzuhören, sich von Zeit zu Zeit hier zur Erde neigend und sie küssend.
Die Stille in der leeren Zelle wurde nur zuweilen von den halblauten Fieberphantasieen unterbrochen, die der Kranke führte. Er war ein noch nicht alter, kräftiger und starker Mann. Er phantasierte, von neuem die Vergangenheit durchlebend, und sein Gesicht spiegelte die inneren Qualen wieder, die er litt. Ein böses Spiel hatte mit ihm das grausame Schicksal gespielt. Tausende von Werst, über Schluchten und hohe Berge war er gewandert, tausende von Gefahren hatte er durchlebt, Hunger und Durst, Hitze und Kälte erlitten, und alles dies nur getrieben vom Heimweh, von der brennenden Sehnsucht, sein heimatliches Dorf wiederzusehen, von der ewigen Hoffnung aufrecht erhalten, einen Monat, eine Woche, ja nur einen Tag mit den Seinen verbringen, zu Hause sein, sich heimisch fühlen zu können – mochte dann auch geschehen, was da wolle, mochte er den weiten Weg in Sibiriens Bergwerke zurückwandern müssen. Kaum hundert Werst vom Ziele seiner heißesten Wünsche entfernt, war er gefangen und in diesen Kerker eingeschlossen worden ...
Da plötzlich verändern sich die Züge des Kranken, seine Augen öffnen sich weit, seine Brust atmet freier – fröhlichere Gedanken und Bilder scheinen sein Hirn zu durchziehen ... Der Wald rauscht. Er kennt dies Rauschen, dieses freie, gleichsam singende Rauschen. Er versteht die Sprache des Waldes und seiner Bäume: die majestätische Fichte erklingt hoch oben fast in den Wolken im herrlichen dunkeln Grün, die Tannen flüstern leise, melodisch bewegen die bunten Laubbäume ihre geschmeidigen Äste, die furchtsamen Blätter der Espe erzittern. Es zwitschert und jubelt der freie sich in die Lüfte schwingende Vogel, das Bächlein springt lustig über Stock und Stein und überstürzt sich in kleinen Wasserfällen, und hoch oben folgen dem Flüchtling aus den Bergwerken Sibiriens, der in undurchdringlichen Wäldern irrt, Wolken ziehender Vögel.
Wie ein Hauch des Frühlings weht es den Eingekerkerten an; er richtet sich auf und atmet schwer; die Augen blicken aufmerksam um sich – plötzlich erglänzen sie in Freude und Unglauben: er, der Umherirrende, der stete Flüchtling vor den strengen Gesetzen des Landes, der Vogelfreie – er sieht etwas unglaubliches vor sich – eine offene Thür!
Der mächtige Trieb zur Freiheit läßt ihn seine Krankheit abschütteln. Die Symptome des Fiebers verschwinden im Nu bei den Vorstellungen, die sich seinem kranken und hoffnungsfreudigen Geiste aufdrängen, da er sich allein und die Thür offen sieht ... Im nächsten Augenblick steht er auf dem Boden. Die ganze Fieberglut, die im Hirn des Kranken war, scheint jetzt in seine Augen gedrungen zu sein, gleichmäßig, starr und schrecklich blicken sie.
Jemand öffnet, die Kirche verlassend, die Thür, und die Töne eines fernen und daher nur noch tiefer wirkenden Gesanges schlagen an sein Ohr, um gleich darauf zu verstummen. Auf dem bleichen Gesicht erscheint der Ausdruck der Zärtlichkeit, die Augen füllen sich mit Thränen und ein Bild steigt vor ihm auf, das er sich schon oft im Geiste ausgemalt hatte: eine stille, sternklare Nacht, das Geflüster der Fichten, die ihre dunklen Kronen wie schützend über die alte Kirche des heimatlichen Dorfes beugen, die Schar seiner Landsleute, der Feuerherd am Ufer des Flüßchens und derselbe Gesang – er eilt, um alle diese Bilder erfüllt zu sehen in der Wirklichkeit, zu Hause, bei den Seinen. – – Indessen betet an der Kirchenthür kniend der Hüter.
Der junge Rekrut geht mit seinem Gewehr auf der Schulter seinen Posten ab; vor ihm breitet sich ein ödes, weites Feld aus, von dem erst jüngst der Winterschnee weggeschmolzen ist. Ein leichter Wind bewegt das hohe, dürre Steppengras, es erklingt in eigentümlichem Klange im vorjährigen Grase und weht auch in das Herz des jungen Soldaten sehnsuchtsvolle, traurige Gedanken. Er bleibt an der Mauer stehen, stellt sein Gewehr auf den Boden und, sich auf den Lauf lehnend, überläßt er sich seinen Gedanken. Noch kann er nicht ganz begreifen, wozu er hier steht – in dieser heiligen, feierlichen Nacht, mit der Waffe in der Hand, im Anblick dieser öden Felder ... Überhaupt ist er noch vollkommen der Mann vom Lande, er versteht noch vieles nicht, was der Soldat verstehen muß, und nicht wunderbar ist es, daß ihn seine Kameraden mit seinen Ansichten und Dorfgebräuchen belächeln. Noch vor ganz kurzer Zeit war er sein eigener Herr, war er Besitzer und Bearbeiter seines eigenen Stück Feldes – und jetzt! Seine junge Seele ist erfüllt von Furcht und unbegreiflichem Schrecken, den er sich nicht erklären kann, der ihn aber auf Schritt und Tritt unablässig verfolgt, eine jede seiner Handlungen ihn bekritteln und überdenken läßt und so die freie Natur des Bauernburschen hineinzwängt in die Zwangsjacke des Gehorsams, der Disciplin und des strengen Militärdienstes.
Jetzt aber ist er allein. Der öde Anblick, der sich ihm eröffnet, und das Pfeifen des Windes in dem hohen Steppengrase scheinen ihn einzuschläfern, und vor seinen Augen steigen heimatliche Bilder auf. Auch er sieht das heimatliche Dorf, und derselbe Wind weht über dasselbe hin; die Kirche ist hell erleuchtet, und auch hier beugen die Fichten ihre Häupter über die Kirche des Ortes.
Von Zeit zu Zeit scheint er sich zu besinnen, er rüttelt sich auf aus diesem halbwachen Schlummer und dann ist in seinen blauen Augen die Frage zu lesen: Was ist denn das? Dies Feld, diese Flinte, diese Mauer? Wozu bin ich hier? Für einen Augenblick fällt ihm die Wirklichkeit ein, doch bald führt ihn das eintönige Geräusch des Windes zurück zu den Gebilden des Traumes, der ihm die Bilder der Heimat vorgaukelt, und wieder schlummert sanft der junge Posten, gelehnt auf den Lauf des Gewehrs ...
Nicht weit von der Stelle, wo der Rekrut steht, erscheint auf der Mauer ein dunkler Gegenstand, der Kopf eines Menschen ist es, der Kopf des Landstreichers. Er blickt in das weite Feld hinaus, an dessen Rande in unabsehbarer Ferne der Waldessaum kaum sichtbar ist, – seine Brust weitet sich, und er atmet gierig die frische Nachtluft ein. – Er läßt sich auf seinen Händen herab und gleitet leise an der Mauer entlang ...
Freudeverkündende Glockenschläge durchbrechen die Stille der Nacht. Die Thür des Gefängnisses hat sich geöffnet, und in dem Hofe tritt der Zug seinen Rundgang an mit den Kreuzen, Fahnen und Gottesbildern voran. Aus der Kirche ertönt Gesang ... Der Soldat fährt zusammen, er nimmt die Mütze vom Kopfe, um sich betend zu bekreuzen – und erstarrt mit der zum Gebete erhobenen Hand. Der Landstreicher ist auf dem Boden angelangt und strebt das hohe Steppengras zu erreichen.
»Halt, steh, ich bitte dich, steh!« ruft der Soldat, im Schrecken das Gewehr erhebend. Alles, was er so gefürchtet, was ihn in Schrecken gejagt und ihn zittern gemacht hatte – da ist es, im Anblicke dieses unglücklichen Flüchtlings. »Dienst, Pflicht, Verantwortlichkeit!« das sind die schrecklichen Worte, die ihm wie ein Blitz durch das Hirn fahren, schnell ergreift er das Gewehr und, die Augen schließend, drückt er ohne zu zielen mit zitternder Hand ab ...
Wieder ergießen sich über der Stadt die Töne der Glocken in herrlichen, freudigen Accorden, und wieder erklingt der matte und gebrochene Ton der Turmglocke, der zum Himmel strebt und wie ein flügellahmer Vogel zur Erde niedersinkt. Und dazwischen ertönt aus der Kirche der feierliche, ernste Gesang der betenden Gemeinde und der freudevolle Ruf dringt ins Feld hinaus: »Christ ist erstanden!«
Da – plötzlich fällt jenseits der Mauer ein Schuß und ein schwacher Ton scheint ihm klagend zu antworten ...
Für einen Augenblick verstummt alles. Nur das ferne Echo des Schusses rollt über das öde Feld und erstirbt in der Weite ...