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Es dunkelte.
Das kleine Dorf lag still versteckt im Schatten des Tannenwaldes am Ufer des stillhinfließenden Flüßchens in der sternklaren Frühlingsnacht. Nur ein feiner Nebelhauch hob sich von der Erde, die eben erst aus ihrem langen Winterschlafe erwacht war, und ließ die Schatten des Waldes stärker hervortreten und bedeckte die freie Fläche des Flusses mit mattsilbernem Glanze ... Stille, sehnsuchtsvolle Ruhe rings umher ... Die Bewohner des Dorfes schlafen ... Nur schwer lassen sich die Umrisse der ärmlichen Hütten unterscheiden; nur hie und da flammt ein fernes Lichtchen auf, nur selten läßt sich das Geräusch öffnender Pforten, das Bellen wachsamer Hunde hören, und dann wieder dieselbe beseligende Stille. Hin und wieder treten Gestalten einsamer Wanderer aus dem Dunkel des Waldes hervor, es zeigt sich ein Reiter, ein Bauernwagen fährt mit knarrenden Rädern vorbei: das sind alles Bewohner des Dorfes, die zur Kirche eilen, um dort den anbrechenden Feiertag würdig zu beginnen.
Mitten im Dorfe erhebt sich auf einsamem Hügel das Kirchlein, hell blinken die Fenster und hoch oben im Nebel versinkt das altersgraue Türmlein. Es knirscht die morsche Treppe. Der alte Glöckner besteigt sie mit unsicheren Schritten, und nach kurzer Zeit versendet ein neuer Stern in der Höhe sein Licht – die Laterne in der Hand des Glöckners.
Schwer wird es dem Greise, die steile Treppe hinaufzuklimmen. Die alten Füße wollen nicht mehr gehorchen, stark hat ihn das Leben mitgenommen, die Augen blicken auch nur noch schwach ... Zeit ist es für den Alten zur ewigen Ruhe zu gehen – doch der Tod kommt nicht! Die Söhne, die Enkel sah er dahinsinken, Alte und Junge hat er zu Grabe geläutet, ihn schien der Tod vergessen zu haben; doch wird ihm das Leben nicht leicht.
Oft hat er schon Ostern eingeläutet, er weiß auch nicht mehr, wie oft er die bestimmte Stunde hier oben auf dem Glockenturme erwartet hat. Und nun, heute soll es wieder geschehen, so Gott will.
Mit schweren Schritten nähert sich der Alte dem gebrechlichen Geländer des Turmes und lehnt sich an.
Ringsum im Schatten erblickt er nur mühsam die Gräber des Friedhofs. Die schwarzen Kreuze mit ihren ausgebreiteten Armen scheinen wie Wächter ihre Toten zu wahren. Hie und da bewegen sich auch noch unbelaubte Birken mit ihren glänzend weißen Stämmen.
Von unten steigt wie warmes Frühlingswehen der erfrischende Geruch junger Sprossen der Bäume und der stille Friedenshauch des Kirchhofs herauf zum alten Makar ... Was wird ihm wohl dies neue Jahr bringen? Wird er wohl heute übers Jahr hier oben, wie sonst, Ostern mit feierlichem Glockenschlage begrüßen, oder aber wird er da unten ... dort fern in jener Ecke des Friedhofs schlafen und wird auch sein Hügel ein Kreuz schmücken? Wie Gott will ... Er ist bereit; doch jetzt muß er wieder den hehren Feiertag verkünden. »Gott sei Ehre und Dank!« flüstern seine Lippen; er blickt nach oben zum Himmel, wo Millionen von Sternen blinken; er bekreuzt sich ...
»Micheitsch!« ruft von unten her eine zitternde, greise Stimme. Der alte Küster blickt nach oben zum Turm, ja, hält seine Hand vor seine von der Anstrengung tränenden Augen und dennoch kann er nicht den Gesuchten erblicken.
»Was willst du? hier bin ich!« erwidert der Glöckner und beugt sich herunter am Geländer des Turmes. »Siehst du mich denn nicht?«
»Nein!«
»Ist es nicht schon Zeit zu läuten? was meinst du?«
Beide blicken hinauf zu den Sternen. Tausende von diesen Himmelskörpern schauen von ihrer Höhe hernieder. Hoch oben glänzt der feurige »Wagen«.
Micheitsch überlegt.
»Nein, noch nicht! – Ich weiß schon ...«
Er weiß es wohl. Er braucht keine Uhr. Die Sterne Gottes sagen ihm, wann seine Zeit gekommen ist.
Himmel und Erde, und die weiße Wolke, die dort im Raume langsam dahinschwebt, und der dunkle Tannenwald, der unten rauschend sich bewegt und das Plätschern des unsichtbaren Flüßchens, – alles das ist ihm alt und lieb und bekannt. Ein ganzes Leben hängt daran. Längst Vergangenes steigt vor ihm auf: wie er mit seinem Vater zum erstenmal auf diesen Glockenturm gestiegen war ... Lieber Gott, wie lange ist das schon her ... und doch wie kurz! Er sieht sich selbst als Knabe mit seinem blonden Lockenkopfe, mit glänzenden Augen, wie der Wind – nicht der, welcher den Straßenstaub aufwirbelt, nein, ein besonderer, weit oben wehender – seine Locken spielend verwirrt. – Tief, tief unten sieht er viele kleine Leute, und die Hütten des Dorfes erscheinen ihm auch so winzig, und der Wald steht so fern, und der runde, freie Platz, auf dem das Dorf steht, scheint so groß, so unendlich groß.
»Da ist es ja so nah,« lächelt der greise Glöckner und zeigt auf das Dorf hinunter.
So auch das Leben! so lang man jung ist, scheint es so unendlich zu sein: da liegt es vor ihm, als wär' es auf der Hand, von der Geburt bis fast zum Grabe, das er sich dort in jener Ecke des Kirchhofs bestimmt hat ... Nun, Gott sei Dank, Zeit ist's, zu ruhen! Ehrlich ist er den schweren Gang durchs Leben gegangen, die feuchte Erde ist ihm Mutter. Bald, so Gott will, ruht er in ihrem Schoße.
Doch es ist Zeit! Noch einmal blickt Micheitsch hinauf zu den Sternen, entblößt sein Haupt, bekreuzt sich und ergreift die Schnüre der Glocken ...
Da ertönt schon durch die Luft ein greller Glockenschlag ... Da, ein zweiter, dritter, vierter ... einer nach dem anderen und durch die festliche Nacht ergießen sich diese ziehenden, schwellenden, bald grellen, bald leisen Töne im harmonischen Glockenspiel. Die Glocken verstummen, es beginnt der Gottesdienst. In früheren Jahren stieg Micheitsch auch die Treppen hinab und stellte sich in die Ecke an die Thür, um dem Gottesdienste zuzuhören und zu beten. Jetzt bleibt er oben, schwer trägt er die Jahrs des Alters. Besonders heute fühlt er eine eigentümliche Schwere in den Gliedern. Er läßt sich auf eine Bank nieder und während er dem ersterbenden Tone der Glocken zuhört, überläßt er sich seinen Gedanken. Woran? Er könnte selbst kaum darauf antworten. Der Glockenturm wird kaum erhellt von seiner Laterne. Die Glocken selbst sieht man kaum in der herrschenden Dunkelheit, von unten aus der Kirche hört man gedämpft nur den Gesang der Gemeinde, und der Wind fährt leise durch die Schnüre, die an den eisernen Glockenschlägern befestigt sind.
Der Greis läßt sein Haupt auf die Brust niedersinken, in dem unzusammenhängende Bilder eines vergangenen Lebens einander abwechseln. Man singt ... denkt er und sieht sich in der Kirche. Auf dem Altar ertönen die Stimmen singender Kinder, der alte Priester, der selige Pater Naum läßt laut seine Stimme ertönen. Hunderte von Bauern senken und heben ihre Häupter und bekreuzigen sich ... Alles bekannte Gesichter, und alle tot! ... Da das strenge Antlitz des Vaters, neben dem sich eifrig der ältere Bruder bekreuzt und seufzt, da steht er selbst, blühend an Gesundheit, Jugend und Kraft, voll unbewußtem Anspruch und Hoffnung auf Glück und Freude und Zukunft.
Und wo ist es, dieses Glück? Die Gedanken des Greises flammen hell auf, wie ein ersterbendes Feuer, und beleuchten alle geheimen Winkel und Ecken eines vergangenen Lebens. Unmäßige Mühe, Leid und Sorge ... Wo ist es, dies erwartete und erhoffte Glück? Ein schweres Los furchte das junge Gesicht, beugte den kräftigen geraden Rücken, lehrte so seufzen, wie der ältere Bruder geseufzt hat ...
Und da, links, mitten unter den Frauen des Dorfes, steht auch die seine, andächtig betend das Haupt gebeugt. Sie war ihm ein gutes, ein treues Weib, Gott habe sie selig. Und auch sie hatte nicht wenig zu sorgen. Mühe und Arbeit und hartes Frauenlos machten sie schnell altern. Ihre früher hellen glänzenden Augen verloren ihren Glanz, und der Ausdruck der Furcht und des Schreckens vor den unerwarteten Schlägen des Schicksals trat an die Stelle des frühern Selbstbewußtseins und Stolzes des jungen schönen Weibes ... und ihr Glück, wo war es? Ein Sohn war ihnen geblieben, die Freude und Hoffnung des Alters und auch den bezwang die Lüge der Menschen!
Und dort steht der reiche Dorfwucherer, und beugt seinen Körper bis zum Boden; eifrig küßt er ihn und schlägt ein Kreuz, um die Thränen beraubte Waisen durch ein gleißnerisches Gebet zu trocknen, und wie den Menschen, so auch Gott zu lügen ...
Es kocht das Herz des alten Micheitsch, ernst und zürnend blicken die Gottesbilder von den Wänden hinab auf menschliches Elend und menschliche Lüge – alles dies blieb hinter ihm weit, weit zurück ... Jetzt besteht seine Welt nur noch im dunklen Glockenturme hier hoch oben, wo der Wind heult und durch die Glockenschnüre fegt. »Gott wird richten, sein ist die Rache!« flüstert der Greis, und still fließen die Thränen über die gefurchten Wangen des Glöckners ...
»Micheitsch, hat dich der Schlaf übermannt!« ruft es von unten her.
»Wer ruft?« fragt der Alte und springt schnell auf. »Lieber Gott, bin ich denn wirklich eingeschlafen? Niemals ist mir diese Schande begegnet! ...«
Schnell, mit gewohnter Hand, ergreift er die Schnur, und wirft noch einen Blick nach unten, wo, wie Ameisen auf ihrem Haufen, sich geschäftig der Haufen der Bauern bewegt ... Da umgeht der festliche Zug, mit den Kreuzen und Gottesbildern voran, die Kirche und bis Micheitsch hinauf ertönt der freudige Ruf: »Christ ist erstanden von den Toten!« Beseligend hallt dieser Ruf wieder im übervollen Herzen des Alten ... ihm scheinen die Kirchenlichter heller zu brennen, die Bauern sich lebhafter zu bewegen – er läutet – und der wiedererwachte Wind ergreift im Fluge die schwellenden Töne und mit breitem Flügelschlage trägt er sie himmelwärts fort, und das Echo ergießt sich immer mit der herrlichen feierlichen Glockenmusik ...
Noch nie hatte der alte Glöckner seine Glocken so wundervoll spielen lassen. Sein übervolles Herz schien Leben dem kalten Metall eingehaucht zu haben, und dieses schien zu singen und in Lust und Freude zu lachen und zu weinen; zum Himmel steigen die lebendigen Töne, empor zu den glänzenden Sternen ... heller erglänzen diese, während sich die Töne von neuem und neuem ergießen und von der Erde zum Himmel wiederhallen in Liebe und Lust und Wonnegefühl ... Dumpf ertönt der tiefe Baß und mächtig steigen seine Töne hinauf und lassen Himmel und Erde wiedertönen im Gesang: »Christ ist erstanden!«
Und die zwei Tenöre, erzitternd von den gleichmäßigen Schlägen der eisernen Schläger stimmen ein in den freudigen Ruf: »Christ ist erstanden!« Ja, auch die kleinsten Diskante, gleichsam in der Eile sich überstürzend in der Flucht der Töne, um nur nicht zurückzubleiben, flechten auch ihr Spiel ein im Spiele der Großen und Mächtigen, gleich Kindern, und lispeln jauchzend: »Christ ist erstanden!«
Selbst der alte Glockenturm scheint die Freude der Menschen mitzufühlen, und auch der Wind, der das Antlitz des Glöckners umfächelt, alles, alles singt und jubelt: »Christ ist erstanden!«
Das alte Herz vergißt sein Leid, ein Leben voller Sorge und Mühe ... Vergessen hat der alte Glöckner, daß sein Leben und Hoffen auf Glück nichts als ein leerer Traum war, daß er auf der Welt allein steht ... Er hört die Töne, die singen und weinen, sich erheben durch den dunklen Raum zum sternenbesäeten Himmel und niedersinken zur armseligen Erde, er sieht sich von Söhnen und Enkeln umgeben, hört ihre freudigen Stimmen, die Stimmen der Großen und Kleinen, sich zusammenergießen in einen Chor und singen ihm von Glück und Freude, wovon ihm das lange, dunkle Leben nichts geboten hat ... Es zieht die Glockenschnur der alte Glöckner, Thränen fließen über sein gefurchtes Antlitz, mächtig schlägt sein Herz im erdachten Glückestaumel ...
Unten stehen die Leute und sprechen zu einander, so herrlich habe noch nie der alte Glöckner geläutet ...
Plötzlich erdröhnt die erhabene Glocke in mächtigem Schlage – und schweigt. Die kleinen Glöckchen, bestürzt, beenden ihr Spiel mit einem schrillen Mißton, als wollten sie schweigend dem verklingenden Tone der mächtigen Schwester zuhören, der noch immer hallt und erzittert und weint und allmählich im Raume erstirbt ...
Kraftlos sinkt der Greis auf die Bank und zwei letzte Zähren fließen leise und leiser über die blassen, erkaltenden Wangen ...
Laßt abtreten! der alte Glöckner hat ausgeläutet ...
Ende.