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›Die dritte Jahrzeit‹, wie Selde Bamberger ihre Wanderungen nach der fernen Stadt nennt, wo Dorette begraben liegt, naht heran. Die alte Frau rüstet sich wieder dazu, aber wie sie diesmal Abschied von ihren Leuten nimmt, ist es ihnen Allen, als ob ihr die frühere Zuversicht und der starke Wille fehlte. Sie unterläßt die gewöhnliche Mahnung, auf Feuer und Licht Acht zu haben; auch erwähnt sie mit keiner Silbe ihrer bevorstehenden Rückkunft. Selde ist in diesem einen Jahre vollständig alt geworden, ihre Stimme, ihre Haltung ist gebrochen, und zwischen dem ›Haarscheitel‹ aus fremden Haaren, wovon ihre Stirne halb verdeckt ist, drängen sich verrätherische weiße Löckchen hervor.
Einige Tage zuvor hatte sie eine lange Besprechung mit dem Dr. Pfeffer; es mußte sich um einen ernsten Akt handeln, denn es war um Zeugen geschickt worden, die die Unterschrift der Wittwe zu beglaubigen hatten. Der schneidige Advokat zeigte sich sehr aufgeregt, er schnupfte in Einem fort, und hie und da lachte er boshaft auf.
Als die Zeugen sich entfernt hatten, schlug er zornig mit geballter Faust auf den Tisch, daß Alles in der Stube zitterte.
»Solch ein Testament«, schrie er, »ist ein wahres Pasquill auf jede Juristik. Ich muß da die Schwärmerei der Wittwe Selde Bamberger niederschreiben und jeder Winkelschreiber wird haarscharf darthun, daß Dr. Pfeffer ein Dummkopf ist. Alles darum, weil es Frau Selde Bamberger beliebt, ein Testament... nach ihrem Sinne zu errichten.«
»Sie meinen es ja doch gut mit mir, Herr Doktor«, meinte Selde, »und Den möcht' ich sehen, der dem berühmten Dr. Pfeffer etwas Übles nachsagt...«
Der Rabulist rang etwas hinab, was wohl eine Anwandlung seltsamer Rührung sein mochte.
»Man wird aber den §. 698 des bürgl. Gesetzbuches gegen mich zu Felde führen«, rief er ärgerlich.
»Mit mir, Herr Doktor, wollen Sie von Paragraphen reden?« meinte Selde achselzuckend. »Und wenn Sie mir vom Paragraph zweitausend sprechen, so weiß ich auch nichts davon.«
»Aber Sie müssen davon wissen, Frau Selde«, rief der Advokat mit erneuerter Heftigkeit, »denn nicht ich errichtete ein Testament, sondern Sie sind es. Und wie heißt es in dem Paragraphen, den ich soeben zitirt habe? Er lautet: ›Die Anordnung, wodurch jemandem unter einer aufschiebenden, unmöglichen Bedingung ein Recht ertheilt wird, ist ungültig, obschon die Erfüllung der Bedingung erst in der Folge unmöglich und die Unmöglichkeit dem Ersteren bekannt geworden wäre. Eine auflösende, unmögliche Bedingung wird als nicht beigesetzt angesehen. Alles dieses gilt auch von unerlaubten Bedingungen.‹ Haben Sie es verstanden, Frau Selde?«
»Nein«, sagte sie ruhig, »was soll ich einfaches Weib von Aufschiebung und Auflösung verstehen? Ich will ja eben, daß es nicht aufgeschoben werden soll.«
»Aber habe ich Ihnen nicht wiederholt erklärt«, schrie der Advokat, aufs Neue mit der Faust den Tisch bearbeitend, »daß die Bedingung, an die Ihr Testament knüpfte, nach dem Wortlaute des Gesetzes eine unmögliche Voraussetzung hat?«
Selde legte wie beschwichtigend ihre Hand auf die des Rabulisten.
»Wer weiß?« sagte sie, und ihr Antlitz leuchtete dabei in einer Zuversicht, daß der schneidige Jurist selbst davon betroffen ward, »es wird sich vielleicht schon Einer finden, der es für mich durchsetzt.«
So trat sie zum dritten Male die Wanderung an.
Überall war Frühling und Vogelsang, aus Todesbanden erwachtes Leben; hier die aufgeackerte Furche, dort wieder der grünende Laubwald! Wie da die Sonnenstrahlen durch das Gezweige schlüpfen, und wie hoch oben, fast verloren im Himmelsbau die Lerche trillert! Aber wie mühsam, lässig schleicht Selde Bamberger mit ihrem Bündelchen dahin; wie oft muß sie an den Straßensteinen ausruhen, wie kurz geht ihr Athem! Wenn Fuhrwerke daherkommen, ruft ihr manchmal der Bauer die freundliche Einladung zu, aufzusitzen, und sie kämpft einen schweren Entschluß in sich, ob sie ihr Folge leisten soll. Sie fühlt sich so müde und zerschlagen, ein Kind, meint sie, könne sie wie ein Federchen umblasen; dennoch widersteht sie der Lockung. Hat sie ein Gelübde abgelegt? Sie schreitet weiter und weiter, ihre Füße heben sich, senken sich, aber es ist der Gang trügerischer Gesundheit, der die innere Freudigkeit fehlt... Wird sie der Friedhofswächter wieder erkennen?
Er hat sie erkannt und begrüßt, die fremde Frau, die jedes Jahr hierher kommt, um ihr Kind zu besuchen. An seiner Seite schreitet sie wieder durch die vielen Reihen alter und neuer Gräber; es ist manches hinzugekommen, was sie im vorigen Jahre nicht bemerkt hat; auch hier auf dieser stillen Stätte herrscht der ruhelose Trieb beständigen Wachsthums. Plötzlich schreit sie auf-
»Wo ist der Rosenstock, wer hat den Rosenstock weggenommen?«
»Er ist herausgerissen worden, weil er nicht hierher gehörte. Er steht jetzt daneben.«
»Herausgerissen hat man ihn, aus dem Herzen meines Kindes herausgerissen! Dorette, mein einziges Kind, was haben sie dir gethan!«...
In derselben Nacht wurde aus einem Gasthofe dieser Stadt ein Eilbote an die etwa vier Meilen entfernte Gemeinde mit der dringenden Bitte abgeschickt, es mögen einige von der frommen Brüderschaft, und zwei ›fromme Weiber‹ schleunigst sich aufmachen. Eine fremde Frau liege im Sterben und habe nach ihnen begehrt. Der Bitte ward rasch Folge gegeben. Als die Männer und Frauen gegen Morgen ankamen, wäre es fast zu spät gewesen. Man begann die üblichen Gebete; eine der Frauen hatte sich über die Sterbende gebeugt, und fragte sie, ob sie keinen Wunsch mehr auszusprechen habe. Da trat ein Lächeln auf ihr Angesicht; ihre Lippen bewegten sich leise, und nur zwei Worte waren vernehmbar: »Neben Dorette!« Dann seufzte sie noch einmal auf und war todt.
Am dritten Tage darauf wurde Selde Bamberger auf dem ›guten Orte‹ der fremden Gemeinde zur Erde bestattet.
Das Testament der Wittwe Selde Bamberger lautete aber: »Ich fühle es, daß mein Leben zu Ende geht; meine Kräfte lassen nach, denn wenn man ein Gefäß zu voll anfüllt, so muß es übergehen und mein Gemüth ist ein solches Gefäß gewesen. Da will ich denn, weil sich der Mensch von der letzten Stunde nicht soll überraschen lassen, und weil ich noch bei allen Verstandeskräften bin, meinen letzten Willen aufsetzen:
Ich vermache Alles, was ich habe, mein Haus und mein Baarvermögen, mein Silber und meinen Schmuck, kurz Alles, was ich mein eigen nenne, das vermache ich meiner Gemeinde, da wo ich geboren worden bin. Sie kann damit schalten und walten, wie sie will. Nur muß sie mir dafür einen Gefallen thun! Sie muß bewirken, daß, wenn ich gestorben bin, ich neben meiner Dorette begraben werde, meinem einzigen Kinde! Geht das aber nicht an, so muß die Gemeinde dafür, daß ich sie zu meiner Universalerbin eingesetzt habe, dafür sorgen, daß man Dorette an meine Seite bringt. Und man wird mir verzeihen, wenn ich sage, daß es mir jetzt, wo mein Leben mir vorkommt, wie eine Uhr, die man nicht mehr aufziehen kann, weil der Schlüssel verloren gegangen ist, gar nicht darauf ankommt, wo ich einmal liegen werde, ob auf einem Kirchhof, oder auf unserem ›guten Ort‹. Nur meine Dorette soll bei mir sein.«
Dann folgten noch einige Bestimmungen und Verfügungen, arme Leute in der Gasse betreffend, denen sie im Leben Gutthaten erwiesen; Forderungen, die sie bei ihnen hatte, wurden als gelöscht erklärt; zum Schlusse hieß es nochmals:
»Die Gemeinde soll gut bedenken, was sie Alles mit meinem Hab und Gut anfangen kann. Es ist nicht wenig und sie kann es auch brauchen. Und warum sollte die Gemeinde nicht durchsetzen können, um was ich sie bitte? Wenn eine Mutter hinter einem Kinde steht, so ist das eine Macht, daß man über Alles fliegen kann.«
Der ›Gemeindevorstand‹ war vollzählig versammelt, als das Testament Selde Bambergers zur Verlesung kam. Kaum war sie beendigt, als sich nach einem Augenblicke allgemeiner Verblüffung ein Sturm erhob, wie er in der Gemeindestube noch niemals getobt haben mochte. Alle begehrten das Wort, und da in dieser Versammlung die Präsidentenglocke ein noch ungekanntes Werkzeug der Beruhigung war, so hatte der Vorsitzende, ein stiller, friedliebender Mann, durch geraume Zeit die Stellung eines Schiffsführers, gegen den mitten auf der stürmischen See die Mannschaft in Meuterei ausgebrochen ist.
Wirr tönten die Stimmen durcheinander: Was diese über das Grab hinausreichende ›Schwärmerei und Phantasterei‹ der Selde Bamberger wieder bedeuten solle? Ob ein solches Testament jemals erhört worden? Man solle sich um Gotteswillen in nichts einlassen; die hohe Behörde werde Einem Ungelegenheiten bereiten, daß man froh sein werde, mit heiler Haut davon zu kommen. Wenn Selde Bamberger begehrt hätte, man solle ihr den Mond herunterholen, müßte man das auch zu erfüllen trachten? Und ihr letzter Wille bedeute zuletzt auch nichts Anderes. denn es sei immer eine Unmöglichkeit, ihm zu entsprechen.
Als die erhitzten Gemüther sich sattsam in die tiefste Aufregung hineingeredet hatten, trat allmälig ein Moment der Abspannung ein, den das jüngste Mitglied dieser Versammlung, welches sich bis dahin an der lärmenden Debatte nicht betheiligt hatte, vortrefflich zu benützen verstand. Wolf Lilienberg gehörte zur ›Linken‹ des Vorstandes, und war einer der besten Redner der Versammlung; man sagte ihm nach, daß er in seiner Jugend, bevor er ins ›Geschäft‹ gekommen, zu den Geistlichen in die Schule gegangen sei.
»Wenn«, begann er, »einer meiner geehrten Vorredner in Bezug auf die Unmöglichkeit, das Testament der Wittwe Bamberger auszuführen, das kühne Gleichniß vom Monde gebraucht hat, so ist er allerdings hierzu vollkommen berechtigt. Dennoch glaub' ich meine unmaßgebliche Ansicht dahin aussprechen zu müssen, besteht doch ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Monde und dem letzten Willen Selde Bambergers. Während zu dem ersteren hinaufzusteigen für Menschenkräfte eine Möglichkeit nicht besteht, muß ich doch andererseits in Abrede und entschieden in Abrede stellen, daß zur Ausführung des Testamentes Menschenhilfe nicht hinreichen solle.«
»Das ist auch Schwärmerei!« schrieen einige Stimmen.
»Laßt Wolf Lilienberg ausreden«, riefen Andere dagegen, begeisterte Anhänger des Redners.
Dieser begann wieder:
»Allerdings ist meine Ansicht: so wie die Umstände einmal sind, liegt hier eine Schwärmerei vor, und ich bin der Erste, sie als solche zu bezeichnen. Aber die Sache hat auch eine andere Seite. Nicht um die unmöglichen Bestimmungen des Testamentes handelt es sich hier, sondern um die Frage: Ist die Gemeinde verpflichtet oder nicht, Alles, was in ihren Kräften steht, anzuwenden, damit der letzte Wille der Frau zur Geltung komme?«
»Wie willst du das anfangen?« unterbrachen ihn höhnische Stimmen.
»Laßt ihn ausreden!« rief der Anhang.
»Wie ich das anfangen will?« fuhr Wolf Lilienberg fort. »Das ist nämlich so. Ich habe leider schon viel mit Erbschaftsangelegenheiten in meinem Leben zu thun gehabt, und da bin ich genöthigt worden, mich mit dem bürgerlichen Gesetzbuche bekannt zu machen, damit ich nicht ganz und gar der Willkür der Advokaten preisgegeben sei. Nun erinnere ich mich, dort gelesen zu haben: ›In dem Falle, daß ein Auftrag nicht genau erfüllt werden kann, muß man demselben wenigstens nach Möglichkeit nachzukommen suchen. Kann auch dieses nicht geschehen, so behält doch der Belastete, wofern aus dem Willen des Erblassers nicht das Gegentheil erhellet, den zugedachten Nachlaß.‹ Es entsteht nun die Frage: Liegt hier ein Auftrag vor, oder nicht? Nach meiner Ansicht liegt einer vor; folglich ist es unsere Pflicht, demselben nach Möglichkeit nachzukommen.«
»Wir sind keine Juristen wie Wolf Lilienberg.«
»Wolf Lilienberg hat Recht.«
»Warum läßt man ihn nicht zu Ende kommen?«
Der Redner ließ den neu ausgebrochenen Sturm ruhig vorübertosen; er stand aufrecht in der Brandung und das war ein Meisterzug Wolf Lilienbergs.
»Man wird mir einfach einwenden«, fuhr er fort, »die Gemeinde könne, um allen Verlegenheiten zu entgehen, erklären, sie entsage der Erbschaft. Das geht aber nicht so leicht an, als es sich die Herren denken mögen. Eine Gemeinde ist eine ›moralische Körperschaft‹, und als solche steht ihr nicht das Recht zu, etwas zurückzuweisen, und wenn es nur den Werth eines Guldens hat. Zudem muß man bedenken, in welchem beklagenswerthen Zustande sich die Gemeindefinanzen befinden.«
»Gottes Recht hat er,« ließen sich weiter die Anhänger beifällig vernehmen.
»Auf was willst du denn endlich hinauskommen?« schrieen die Widersacher.
»Ich erlaube mir nun folgenden Antrag zu stellen«, schloß Wolf Lilienberg mit erhöhter Stimme. »Sowohl die Pietät gegen eine Verstorbene, gegen die man keinen anderen Vorwurf erheben kann, als daß sie eine Schwärmerin gewesen, als unsere Interessen verlangen es, daß wir das Testament Selde Bambergers als einen Auftrag ansehen, dem wir nach Möglichkeit nachzukommen ebenso berechtigt als verpflichtet sind. Zu diesem Behufe müssen wir eine ›Eingabe‹ an die hohe Regierung richten, worin wir dieselbe bitten, über das Testament der Wittwe Selde Bamberger ihre Verfügung zu treffen. Die hohe Regierung in ihrer Weisheit wird schon wissen, welchen Bescheid sie zu geben hat.«
»Wenn sie aber nein sagt?« warf einer der unerbittlichsten Gegner ein.
»Dann haben wir auch unseren Auftrag erfüllt«, entgegnete Wolf Lilienberg, »und haben bewiesen, daß wir, machtlos gegen Vorurtheile und Intoleranz... den Mond nicht vom Himmel herunterholen können.«
Unter betäubendem Lärm wurde »Schluß der Debatte« begehrt und durchgesetzt. Als es zur Abstimmung kam, erlebte Wolf Lilienberg den Triumph, daß sein Antrag mit überwiegender Mehrheit angenommen wurde. Die Eingabe an die hohe Regierung ward beschlossen. –
Und... die letzte Bitte Selde Bamberger's?...
Die Regierung waltete in vorgeschriebener Weise ihres Amtes. Sie richtete zwei Schreiben von fast gleichlautendem Inhalte, nur mit verschiedenen Titulaturen an die in dieser Frage besonders zur Entscheidung berufenen Mächte. Das eine dieser Schreiben gelangte in die Kanzlei des hohen Kirchenfürsten... das andere haben wir auf dem Schreibtische des böhmischen Rabbiners erblickt.
Die Antworten waren eingelaufen: sie lauteten selbstverständlich... entgegen der Bitte des Testaments. Die eine Antwort wies scharf und schneidig auf die »betreffende Bestimmung« des bestehenden Gesetzes hin, die andere wies in langathmigen Sätzen nach, daß für den »angeregten Fall« in den heiligen Büchern, Kommentaren und Kodizes allerdings mancher Anhaltspunkt sich vorfinde, um ihn auch im bejahenden Sinne zu beantworten; daß aber andererseits auch eine wie ein »Gesetz« gehandhabte »Tradition« sich erhalten habe, nach welcher es feststehe, daß ein seit Jahrhunderten bestehender Brauch nicht verletzt werden dürfe...
Wie aus moorigem Grunde erhebt sich in Zeiten, wenn der dumpfe Bann geistfesselnder Knechtschaft auf den Gemüthern lastet, die böse Luft der Zaghaftigkeit und feiger Verstandesgrübelei! Vor das sonst klar blickende Auge legen sich Nebel, die muthigste Hand erschlafft, selbst die dem berückenden Dunstkreise ferner stehen, ergreift die unsichtbare Gewalt. Und doch!
Als die beiden Männer ihre Antworten niederschrieben lag so schöner Sonnenschein auf der riesigen Kathedrale, und durchleuchtete die feinsten Spitzchen und Thürmchen des Baues. Und auch der ›Schild Davids‹ strahlte so glorreich an dem Giebel der alten verwitterten Synagoge!
Lächelst du nun droben in deinem Himmel, leichtbeschwingter Geist einer armen Mutter, über deine ›Schwärmerei‹ hier auf Erden?... Oder hüllst du dich in deiner Geborgenheit in tiefes Schweigen? Kann nichts das Siegel deiner todten Lippen lösen? Noch tönt und wehklagt das uralttraurige Lied vom leidenden Menschenthume. Wird es niemals verstummen? Du schweigst!