Leopold Kompert
Die Schwärmerin
Leopold Kompert

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Wochen und Monate waren vergangen. Das größte ›Ereigniß‹ der ›Gasse‹ seit Menschen gedenken konnten, war, wenn auch nicht vergessen, doch von der Wucht anderer Thatsachen in den Hintergrund geschoben worden. Einer, den man für sehr reich hielt, konnte seine Schulden nicht zahlen, weil ein großer Banquier in Wien, dessen Gläubiger er war, auch nicht im Stande war, seine Schulden zu zahlen; dadurch war die ›halbe Gasse‹, die ihre Gelder dem reichen Mann zur Verwaltung übergeben hatte, in schmerzliche Mitleidenschaft gerissen worden. Die harten Verluste wirkten wie eine verheerende Krankheit; kaum das dritte Haus war davon verschont geblieben. Seltsamerweise unterlag die Gemischtwaarenhandlung der Wittwe Selde Bamberger der allgemeinen Heimsuchung nicht. Im Gegentheile! Sie hatte jetzt Gelegenheit, ihr gutes Herz zu beweisen; sie half, wo sie konnte, und Mancher wurde nur durch ihr Geld in Stand gesetzt, seine ›Zahlungen‹ wieder aufzunehmen.

Dennoch war es Selde selbst, die die Leute nicht vergessen ließ, daß Dorette nicht mehr der ›Gasse‹ angehörte.

So oft ein Brief von der fernen Tochter ankam, war er das Gemeingut Aller, die des Weges daher kamen. Sie rief die Schulkinder von der Straße zu sich, und ließ sich die Botschaft Dorettens so lange vorlesen, bis sie Wort für Wort und Buchstaben für Buchstaben auswendig konnte. Auch über diese ›Schwärmerei‹ spotteten die Leute.

Einmal stand in einem solchen Briefe Folgendes:

»Ich bin wie im Himmel, geliebteste Mutter, ich kann dir nicht sagen, wie mir ist. Mein Heinrich geht mit mir um, als wäre ich aus lauter feinen Spitzen zusammengesetzt. Denk dir! Neulich hat er eine Diebin, der ein Anderer wenigstens fünf Monate schweres Gefängniß zuerkannt hätte, zu einer ganz leichten Strafe verurtheilt. Willst du wissen, warum? Weil sie Dora hieß... Des berühmten Göthe's Werther soll auch so etwas gethan haben...«

Ein anders Mal hieß es ganz am Schlusse:

»Geliebte Mutter! Wir haben es miteinander ausgemacht: er soll Heinrich heißen, wie sein Vater. Es ist ein so schöner Name! Gefällt er dir?«

Als Selde diesen Brief erhielt, überkam sie jenes Gefühl bangender Unruhe, wie es den meisten Müttern in solchen Lagen eigenthümlich ist. Von diesem Tage an trat eine befremdende Schweigsamkeit ihres Wesens ein; sie sprach nur wenig von dem Glücke ihrer Tochter und ebensowenig gönnte sie fremden Augen die Einsicht in die Botschaften ihres Kindes. Man wollte auch bemerken, daß ihre ›Frommheit‹ von da an eine Art Verzückung annahm, die man sonst an ihr nicht kannte; sie war die Erste und die Letzte unter den Beterinnen, und oft, wenn die Synagoge geschlossen werden sollte, saß sie noch da und flüsterte Gebete vor sich hin, die eigentlich gar nicht in die Tagesordnung der Andacht gehörten.

»Ich bin mit meinem Gotte noch nicht fertig«, pflegte sie zu rufen, wenn der Synagogendiener durch das Rasseln seiner Schlüssel zum Aufbruch mahnte. Denn ihn, der zum Frühstück eilte, ärgerte die ›Schwärmerei‹ Selde Bamberger's.

Wer je dabei stand, wie sich um ein Liebes die Ringe einer vermeintlichen oder wirklichen Gefahr immer enger schlossen... du kannst nicht sagen, was und warum du fürchtest, aber wie mit kalten Schauern steht dir das Namenlose einer unsichtbaren Naturgewalt gegenüber, vor der all' dein Klügeln und Verständigsein gleich einem Federchen in sich zusammenknickt, der wird erfassen, wie es in der Seele der alten Wittwe aussah!

Eines Morgens kam sie von ihrer Andacht zurück. An der Ecke der Gasse begegnete ihr der Postbote und händigte ihr einen Brief ein; sie griff hastig darnach, und verbarg ihn in dem dicken Gebetbuche, welches sie unter dem Arme trug. Aber in der Nähe ihres Hauses mochte sie die Ungeduld übermannt haben, sie öffnete das Schreiben und las...

Wenige Augenblicke darauf trug man die ohnmächtig am Boden liegende Frau in ihre Wohnung. Sie hielt den offenen Brief in der krampfhaft geballten Hand. Dadurch erfuhr man alsbald, was geschehen war.

Dorette hatte einem Kinde das Leben gegeben, schrieb in verzweifelten Worten der Schwiegersohn; aber die Natur hatte in grausamer Laune wieder zerstört, was sie geschaffen. Stamm und Blüthe, Mutter und Kind waren erlegen... es gab keine Dorette mehr!

Fast konnte man die Krankheit wohlthätig nennen, die sich seitdem Selde's bemächtig hatte. Sie deckte über die Besinnungslose die Schleier des Vergessens. Wochen waren vergangen, und noch war keine Abnahme zu bemerken. Leben und Tod rangen im täglichen Streite um ihr Dasein. Endlich trat ein günstiger Wendepunkt ein; die Ärzte erklärten, die ›starke Natur‹ Selde's habe ein unerhörtes Wunder verrichtet.

Der Frühling war ins Land gekommen, als Selde Bamberger sich zum ersten Male wieder vom Krankenlager erhob. Zum Erstaunen Aller zeigte es sich, daß sie nichts vergessen hatte, und darin eben bestand ihre Genesung. Man hatte sich tausenderlei Dinge ausgeklügelt, wie man die Schreckensbotschaft ihr allmälig beizubringen habe, aber die erste Frage, die sie an ihre Umgebung richtete, bewies sogleich, daß jeder Versuch, ihre Gedächtnißschwäche zu benützen, ein vergeblicher sei.

»Was meinst du«, fragte sie mit merkwürdiger Ruhe, »wo sie jetzt liegen mag?«

»Wer?« gab die Frau, die ihrer wartete, mit erheuchelter Miene zurück.

»Meine Dorette.«

»Sie wird gesund in ihrem Bette liegen, und schreibt dir nächstens einen großen Brief auf acht Seiten wenigstens.«

»Dorette schreibt mir niemals wieder... Meinst du, ich weiß nicht, daß sie nicht auf unserem ›guten Orte‹ liegt?«

Ein anderes Mal, mitten im Gespräche über ganz gleichgiltige Gegenstände, hielt sie plötzlich inne:

»Glaubst du nicht auch, Lea«, sagte sie zu der Frau, »daß dem Kind dort auf dem fremden Kirchhof ganz erschrecklich bang sein muß? Jeder Mensch hat es gerne, wenn er eine Ansprache hat. Mit wem soll sie reden, wenn die eigene Mutter nicht dabei ist?«

Die Wärterin starrte mit aufgerissenen Augen die Sprecherin an. Waren diese Worte die Nachwirkung des Schicksalschlages oder die bekannte ›Schwärmerei‹ Selde Bamberger's?

»Ich bin sinnedig (bei Sinnen), meine liebe Lea«, sagte Selde mit einem überlegenen Lächeln, »und brauchst dich nicht vor mir zu fürchten. Meinem ärgsten Feinde wünsche ich nicht... daß er einen solchen Kopf auf hätt' wie ich. Wenn du willst, kann ich mir über jede Minute aus dem Leben meiner Dorette Rechenschaft ablegen... ich kann dir den Stoff und die Farbe von dem Kleide beschreiben, was Dorette in ihrem dritten Jahre getragen hat. Und da glaubst du, mein Kopf hätt' gelitten? Er ist stark, zu stark, sag' ich dir, und du wirst noch erleben, was der Alles durchzusetzen im Stande ist.«

Endlich war sie vollkommen genesen; es fehlten noch etwa vierzehn Tage zum Osterfeste. Da erklärte sie eines Tages in bestimmter und entschlossener Sprache ihren Leuten, sie werde morgen in aller Frühe eine Reise antreten, Keiner traute sich, sie davon abzuhalten; wenn ein Engel vom Himmel herunterkäme, er dürfte ihr auch nicht in ihren Entschluß hineinreden. Längstens in acht Tagen werde sie wieder zu Hause sein, darauf könne man sich verlassen. Einer der Beherzten hatte aber dennoch den Muth der Einwendung; wenn sie schon trotz ihrer geschwächten Gesundheit sich nicht abbringen lasse, werde man doch wenigstens wissen dürfen, wohin die Reise ginge?

»Reise? hab' ich Reise gesagt?« rief sie mit einer Heftigkeit, die Alle erschreckte, »sag' lieber, ich will mich auf die Wanderung begeben. In einem gepolsterten Wagen zu sitzen, und von zwei Pferden sich ziehen zu lassen, ist dies eine Kunst? Ich aber will mit meinen Füßen wandern... bis ich an meinem Ziele bin.«

Dann nach einer Weile lächelte sie fein.

»Erschreckt nicht«, sagte sie mit ruhiger Gelassenheit, »was ist denn Arges dabei, wenn so eine alte Frau, wie ich eine bin, probiren will, ob sie noch Füße hat... Und dann muß ich ja wissen, wie und wo meine Dorette gebettet liegt...«

Am anderen Morgen, kurz nach Tagesanbruch, verließ sie das Haus und trat die ›Wanderung‹ an. Die Luft war trotz der Frühlingszeit kalt und rauh. In der Hand trug sie ein Bündel, darin lagen einige Lebensmittel und das dicke Gebetbuch. Sie sagte ihren Leuten kurzweg Lebewohl, küßte andächtig die Stelle, wo der Name Gottes durch ein gläsernes Fensterchen an der Thürpfoste zu sehen war, die sogenannte ›Mesuseh‹, und trat dann auf die Gasse hinaus.

Wie weit und lang dehnte sich der Weg, der vor Selde Bamberger lag! Regenschauer kamen und gingen, dann brach wieder Sonnenschein hervor und trocknete die schlüpfrig gewordene Straße, worauf ihre ›alten Füße‹ so oft ausglitten. Dann kam wieder ein eisiger Windstoß dahergefahren, und trieb ihr feuchte Tropfen in das heiße Antlitz. Fuhrwerke und andere Wanderer, Städtchen und Dörfer, Felder mit bereits grünenden Saaten, Menschen und Landschaften, das Alles wandelte wie im Traume an der greisen Fußgängerin vorüber. Hie und da kehrte sie in ein an der Straße liegendes Wirthshaus ein, um daselbst zu übernachten oder auszuruhen. Von den mitgenommenen Lebensmitteln fristete sie das Bedürfniß ihres Körpers. Sie schritt immer vorwärts, immer weiter, und oft mußte sie sich selbst sagen: »Hättest du das von deinen alten Knochen dir vorstellen können, daß sie sich als solche ›Barjins‹ (tüchtig) benehmen werden?«

Hie und da grüßt sie ein Bauer, der zu Markte fährt.

»Wohin, Mütterchen?«

»Zu meinem Kinde auf Besuch.«

Zu ihrem Kinde! Da endlich tauchen am vierten Tage ihrer Wanderung die Thürme der Stadt vor ihr auf, wo Dorette... ein ganzes Jahre ihres jungen Lebens so glücklich gewesen war. Von Minute zu Minute, mit jedem Schritte, den sie vorwärts thut, verkleinert sich der Raum, der zwischen ihr und Doretten liegt.

Ist das namenlose Weh', wie es in diesem Augenblicke die Seele einer armen Mutter durchschnitt, auch eines von den Geheimnissen des großen Weltgeiste? Zittern und wanken vor ihm nur verlöschende und entstehende Welten, oder tritt auch der Klageruf des einzelnen gequälten Menschenthumes vor ihn, daß es vernommen werde?...

Nach vielem Umfragen hatte Selde Bamberger den Weg erfahren, der zum Kirchhofe führte. Die Meisten, bei denen sie sich erkundigte, sahen sie mit verwunderter Miene an. Wie kam die Frau mit der fremdartig klingenden Sprache dazu, nach dem Friedhofe dieser Stadt zu fragen?

»Mutter«, sagte ihr Einer, »Ihr wollt wahrscheinlich nach einem anderen Orte; der ist aber vier Meilen von hier, wo sich eine Gemeinde von Euern Leuten befindet...«

»Nein, nein«, rief sie, »grade der, den ich suche, ist der rechte.«

Sie stand endlich am Ziele ihrer Wanderung.

An der Seite des Friedhofswächters, dem sie zuvor ein reiches Geldgeschenk in die Hand gedrückt hatte, durchschreitet sie die langen Reihen der in frisches Frühlingsgrün gebetteten Male, die den Staub von ganzen Geschlechtern enthielten. Dort das Kreuz mit dem steinernen Engel, der es liebend zu umfassen scheint... ein Aufschrei, daß er in den Lüften wiederhallt, ein Weheruf, wie er vielleicht noch niemals vernommen worden... und Selde Bamberger liegt hingeworfen über Dorettens Grabhügel. Der Friedhofswächter hatte sich entfernt. Kannte er bereits die Geschichte dieser Mutter aus einer ›böhmischen Gasse‹?...

Als sie sich sattsam ›ausgeweint‹, holte sie aus dem mitgenommenen Bündel das dicke Gebetbuch heraus, und begann das übliche Gebet für die Todten, das mit den Worten anfängt: »Ruhe sanft unter den Fittigen der Allmacht mit all' den Heiligen und Reinen...«

Es mochten die ersten Laute in der Sprache Zions sein, die jemals an diesem Orte erklungen waren.

Spät am Abend machte der Friedhofswächter seinen gewöhnlichen Gang durch die öden Räume seines Gebietes; er fand die fremde Frau, den Kopf müde auf die Brust gesunken, auf einem Grabe sitzen; das aufgeblätterte Gebetbuch lag vor ihr. Er berührte sie leise an der Schulter und sie fuhr auf.

»Ist's schon an der Zeit?«

»Der Friedhof muß gesperrt werden.«

Sie richtete sich mühsam auf; dann ging sie wie schlaftrunken fort.

Am achten Tage, genau wie sie es vorausgesagt, befand sich Selde Bamberger wieder in der alten Heimath; noch an demselben Tage ließ sie sich in der ›Gemischtwaarenhandlung‹ sehen.

Die Wanderung der alten Wittwe hatte übrigens, wie es leicht vorauszusehen war, das nie ruhende Schlagwort von der ›Schwärmerei‹ Selde's wieder unter die Leute gebracht. Neben tiefstem Mitleid vergessen alltägliche Menschennaturen selten, daß das selbstständige Walten eines eigenthümlich angelegten Charakters, der nicht in ihren Bahnen wandelt, etwas Herausforderndes hat, dem sie mit den Waffen des Spottes entgegentreten müssen.

»Hätte sie es nicht bequemer haben können, wenn das Kind in der Gasse geblieben, und bei uns gestorben wäre? Muß da die alte Schwärmerin meilenweit zu Fuß wandern! und wenn sie selbst einmal den Weg in die jenseitige Welt geht, liegt die Eine hier und die Andere dort!«

Vielleicht hätten die Leute derartige Anklagen unterdrückt, wenn sie gewußt hätten, daß Selde Bamberger, ohne daß sie in ihrer Gegenwart gesprochen wurden, sie dennoch mit jenem geschärften Verständnisse vernahm, welches aus dem Grunde eines tiefen Wehes entspringt. Sie hörte sie nicht nur, in ihr selbst wuchsen sie täglich und stündlich, und nahmen zuletzt eine so übermächtige Gestalt an, daß nur sie das schwache Gewebe ihres Lebens bildeten.

Seit ihrer Rückkehr hatte Selde merkwürdiger Weise viel Verkehr mit einer Persönlichkeit, die eine Art Schreckenspopanz für die ›Gasse‹ bildete. Es war dies der alte Advokat Doktor Pfeffer, den Klient und Gegner wegen seiner schneidigen Rabulisterei gleichmäßig zu fürchten hatten. Er war auch darum nur von denen gesucht, die mit einer verzweifelten Sache durchaus triumphiren wollten. Was hatte Pfeffer bei Selde Bamberger zu thun? Welche Prozesse konnten sie behelligen? oder machte sie Testament? Aus dem fadenscheinigen Rabulisten war trotz aller Schmeichelei nichts herauszubringen; er blieb stumm wie ein Fisch. Die Besprechungen mit der Wittwe fanden bei geschlossenen Thüren statt. Es mußte einmal eine heftige Scene zwischen den Beiden vorgefallen sein; denn man erzählte sich, daß Dr. Pfeffer mit hochgeröthetem Gesicht ingrimmig die Thüre aufgerissen habe und fortgeeilt sei. Noch auf der Hausflur soll er zornig die Worte ausgestoßen haben:

»Willst du mit deiner Schwärmerei die Welt auf den Kopf stellen, altes Weib? Ich sage dir, du richtest nichts aus, und wenn man dir selbst in Wien deine Bitte bewilligen wollte. Neben dem Kaiser steht noch eine Macht und die heißt: Vertrag mit Rom! Und da will die Wittwe Bamberger dagegen aufkommen? Vollständiger Wahnwitz.«

Trug die Mutter Doretten's wirklich so kühne, himmelstürmende Pläne in ihrem schwachen Kopfe? Sie sollte einer Welt von festgegliederten Gesetzen Trotz bieten wollen, die der schneidige Rabulist selbst für unanfechtbar hielt? Wir werden dies erst später erfahren können...

Mittlerweile schien jedoch, vielleicht eben in Folge der letzten aufgeregten Besprechung mit dem Advokaten, Selde ihrem Vorhaben entsagt zu haben. Sie lebte still und gleichmäßig hin; ob es in ihrem Gemüthe ebbte oder fluthete, wen ging dies an?

Es war wieder kurz vor Pfingsten. Ein Mann in türkischer Kleidung, mit einem Turban auf dem Kopfe, ging von Haus zu Haus der Gasse, um als Sendbote der heiligen Stadt Jerusalem milde Gaben für die dortigen Armen in Empfang zu nehmen. Nebstbei trieb er einen ausgebreiteten Handel mit besonderen Seltenheiten, als da waren: Amulette, Büchschen aus Cedernholz, das unmittelbar vom Libanon genommen war, und namentlich Säckchen mit Erde, die dem Boden der heiligen Stadt entgraben war. Er kam auch zu Selde Bamberger.

»Ist das wirkliche Erde aus Jerusalem?« fragte sie athemlos.

Der Sendbote legte betheuernd die Hand auf seine Brust.

»Wozu wäre denn das große Petschaft von den Rabbis in Jerusalem daran?« sagte er tiefgekränkt.

Selde wog das Säckchen und brachte es an ihre Lippen. Dann legte sie einen Kaufpreis hin, wie ihn der Mann aus Palästina noch nirgends erhalten haben mochte.

Eine Woche darauf, es war in später Nacht, erklärte Selde allen ihren Leuten, sie werde sich morgen in der Frühe auf die Wanderung begeben, zum Besuche ihres Kindes... sie sollten nur fleißig Acht geben auf das Haus, und besonders ›Feuer und Licht‹ in Verwahrung halten. Längstens in acht Tagen hoffe sie wieder einzutreffen; man brauche nicht in Sorge um sie zu sein, sie werde sich schon zu behüten wissen.

So trat sie den langen meilenweiten Gang in die Ferne zum zweiten Male wieder an, wie im vorigen Jahre nur mit einem Bündel ausgerüstet, welches die nöthigsten Lebensmittel enthielt – und das dicke Gebetbuch. Für das Kind, brachte sie noch etwas Besonderes mit, das sie während der ganzen Wanderung stündlich belastete.

Diesmal kannte sie den Weg zum Friedhof schon besser; sie ging nicht fehl und brauchte nicht ein einziges Mal zu fragen.

Wieder saß sie stundenlang in ihrer Weltvergessenheit, bald still vor sich hinweinend, bald Todtengebete aus dem dicken Buche flüsternd, auf dem Grabe Doretten's, bis der Friedhofswächter am späten Abend kam, um sie zum Aufbruch zu mahnen.

»Wie kommt der schöne Rosenstrauch hierher?« fragte sie, »wer hat ihn gesetzt?«

»Der hat sich selbst gesetzt«, meinte der Wächter; »denn eigentlich gehört er zu dem nächsten Grabe. Aber er muß seine Launen gehabt haben, daß er grade hier seine Wurzeln hat schlagen wollen. Man sollt' nicht glauben, daß auch solche Blumen ihren Verstand haben.«

Selde konnte sich von dem Geheimnisse der Natur nicht losreißen.

»Merkwürdig«, sprach es in ihrem Herzen, »die Blume zieht aus ihr die Nahrung...«

Diesmal verließ sie nicht sogleich den Friedhof; sie hatte in dem Häuschen des Wächters noch eine lange Besprechung, die bis spät in die Nacht dauerte. Endlich kamen die Beiden wieder heraus; der Mann trug eine Schaufel über der Schulter und eine Blendlaterne, die ihren zitternden Schein umherwarf. Hinter ihm schritt Selde Bamberger – das Säckchen mit der ›Erde‹ aus Jerusalem in der Hand haltend.

»Ich thu' das aber nur dir zu Lieb', wiewohl es mich mein Brot kosten kann,... und weil du ein so braves Weib bist«, sagte der Mann mit gedämpfter Stimme.

»Ich bin nur die Mutter...«

»Eben deswegen.«

Auch das heimliche, gleich einer bösen That in tiefster Nacht verübte Liebeswerk war gethan. Das Säckchen mit der heiligen Erde ruhte sicher und wohlverhalten in Doretten's Grabe...

Ober die Lippen der alten Frau flüstert leise die alte und unsterbliche Dichterformel:

»Staub bist du, und zum Staube sollst du wieder zurückkehren.«

Als sie aber schon an der Ausgangspforte des Friedhofs stand, wandte sie sich noch einmal um.

»Mein Kind, mein einziges Kind!« schrie sie im Schmerze auf, und dann sagte sie zu dem Wächter:

»Wenigstens Eines wird mein Kind jetzt wissen. Wenn einmal der Tag der Auferstehung kommt, braucht es nicht lange zu suchen, zu wem es gehört! Die heilige Erde ist ja bei ihm.«

 


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