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Die Augen der Mutter.

Aus einem Käfige, der am offenen Fenster stand, sang ein Kanarienvögelchen hell und lustig in die Gasse hinaus. Drin in der Stube, und es war ein traulich aufgeputztes, gar heimliches Stübchen, schienen zwei Menschen, ein blasses Mädchen und ein schmächtiger junger Mann dem Gesange des Vogels mit einem Gefühle andächtigen Ernstes zu lauschen. Hie und da rauschte ein Blatt des Buches lauter, das dem Mädchen auf dem Schoße lag – sonst schien alles in dem engen Raume bis auf die leise pochende Uhr an der Wand den Atem anzuhalten, um den Jubel des beschwingten Sängers über sich ergehen zu lassen.

»Ephraim, mein Bruder!« rief das blasse Mädchen.

»Was willst du, Veilchen?« fragte der Angeredete nach einer Weile.

»Eines möcht' ich wissen, ob der ›Kanari‹ auch weiß, daß heute Sabbat ist?«

»Das ist eine Frage wie von einem Kind!« meinte zögernd der Bruder.

»Immer ist etwas kindisch, worauf die gescheiten Männer nicht gleich eine Antwort finden können,« rief Veilchen in einem Tone beginnender Gereiztheit. »Warum soll er's nicht wissen? So ein Vogel zählt auch Tage und Stunden und sieht mit seinen Augen in der Stube herum. Die ganze Woche hat er wenig oder gar nicht gesungen und ist still dagesessen. Heute hat er eine Kraft in seiner Stimme, daß ich fast erschrecke. Woher kommt ihm das? Und an jedem Sabbat ist es so; glaub nur nicht, daß ich das nicht schon längst bemerkt habe. Soll ich dir sagen, was meine Meinung darüber ist?«

Ephraim antwortete nichts.

»Die ganze Woche über,« fuhr das Mädchen fort, »sieht sich das Vögelchen in unserer Stub' um und kann nichts weiter erblicken, als Woch' und lauter Woch'! Heute sieht es, wie prächtig ich meine Lampe geputzt habe, und meint, es ist lauter Gold, was ihm da entgegenglänzt, und auf dem Tische liegt das weiße Sabbattuch. Besonders die weiße Leinwand muß ihm in die Augen fallen. – Meinst du nicht auch, Ephraim, mein Bruder?«

»Wart einen Augenblick, Veilchen,« meinte Ephraim und stand auf. Er war an das offene Fenster zum Käfig getreten.

In diesem Augenblicke verstummte der Gesang des Vogels.

»Jetzt hast du ihm seinen Sabbat verstört!« rief das Mädchen mit überquellender Heftigkeit, und in der Hast, mit der sie diese Worte ausgestoßen, war das Buch ihrem Schoße entglitten.

Ephraim wandte sich um; er sah die Schwester mit eigentümlich traurigen Augen an. »Ehe ich dir antworte,« sagte er gelassen, »tu mir den Gefallen und heb das Buch auf, woraus du soeben gebetet hast. Man muß etwas Heiliges nicht fallen lassen, und wenn so etwas unserer Mutter zugekommen, so hat sie das Buch geküßt ... Küß es auch, Veilchen, mein Kind.«

Veilchen tat, wie ihr der Bruder geheißen hatte. Dieser demütige Gehorsam stach seltsam gegen den Aufschrei ab, wie ihn das Mädchen kurz zuvor ausgestoßen.

»Und nun will ich dir sagen, Veilchen, mein Kind, was meine Meinung ist, warum der Vogel gerade heute so hell und lustig singt. Ich weiß aber nicht,« sagte er und hielt zögernd inne, ... »ob dir diese Meinung recht sein wird.«

Veilchen sah den Bruder mit ihren braunen Augen forschend an; nur ihre Lippen zuckten etwas.

»Du redest so merkwürdig ernst,« sagte sie und versuchte zu lächeln, »als ob ich ... keinen Spaß gemacht hätte. Darf ich denn nicht fragen wollen, ob so ein Vogel auch etwas vom Sabbat weiß?«

»Es gibt ernsthaftere Sachen auf der Welt ... Veilchen,« meinte Ephraim und hielt wieder inne.

»Du erschreckst mich, Ephraim,« sagte das Mädchen.

»Narrele,« sagte Ephraim, und ein flüchtiges Lächeln verschwand alsbald von seinen Lippen. »Ich, zum Beispiel, habe eine andere Meinung über den Gesang des Vogels als du ... Ich denk', Veilchen, mein Kind, unser Kanarienvögelchen muß etwas davon wissen, ... daß es bald ein anderes Quartier haben wird.«

»Du willst ihn doch nicht verkaufen oder verschenken?« schrie das Mädchen entsetzt, und mit einem gewaltsamen Rucke hatte sie den Bruder von dem Käfige entfernt, auf dessen Stäbe sie wie schützend ihre beiden Hände legte.

»Verkaufen werde ich ihn nicht, und auch nicht verschenken,« meinte Ephraim, dessen gemessene Ruhe einen seltsamen Gegensatz zu der leidenschaftlichen Erregtheit seiner Schwester bildete. »Werde ich etwas unternehmen, was dir ein ›gebrochen Herz‹ macht ... Aber nur ein Wort brauche ich zu sagen ... und ich wette, wer der erste seine Hand in den Käfig steckt und ihn weit aufmacht und zu dem Vögele sagt: flieg fort, wohin dich deine Flügel tragen ... das ist Veilchen, meine Schwester.«

»Niemals, niemals!‹ rief das Mädchen mit großer Entschiedenheit.

»Veilchen,« sagte Ephraim fast bittend, »ich habe vor mir selbst ein Gelübde abgelegt. Du wirst nicht wollen, daß ich es breche.«

»Ein Gelübde?« fragte die Schwester.

»Veilchen,« sagte Ephraim und neigte sich ganz nahe zu dem Mädchen, so daß ihre Stirnen fast aufeinander ruhten, »ich habe vor mir selbst gelobt, wenn er ... unser Vater ... zurückkommt, so gebe ich unserem Vögelchen die Freiheit. Es soll frei sein wie er.«

»Ephraim!« schrie das Mädchen.

»Er kommt zurück, er ist schon auf dem Wege.«

Veilchen schlug ihre Arme um den Hals des Bruders. Minutenlang hielten die Geschwister sich so umfaßt. Indes hatte der Vogel seinen jubelnden Gesang wieder begonnen.

»Hörst du ihn, wie er wieder singt,« sagte Ephraim und streichelte die Haare seiner Schwester. »Er weiß, daß er bald hinaus und ins Freie kommt.«

»Ein Vater, der aus dem Kriminal kommt!« rief Veilchen und riß sich von ihrem Bruder los.

»Er hat's abgebüßt, Veilchen!« sagte Ephraim leise.

Veilchen hatte sich abgewandt; nach einer schwer drückenden Weile drehte sie sich wie von einem Wirbel erfaßt, rasch um und zeigte ihrem Bruder ein gegen die sonstige blasse Farbe fast hochrot glühendes Angesicht. Ihre Augen glänzten von einem wilden Feuer, dabei zitterte sie am ganzen Leibe. So hatte Ephraim sie noch nicht gesehen.

»Ephraim, mein Bruder,« sagte sie mit jener tonlosen Langsamkeit, wie sie gerade der heftigsten Erregtheit eigentümlich ist. »Du kannst mit dem Vogel tun, was du willst. Du kannst ihn freilassen, oder auch, du kannst ihm den Hals umdrehen. Aber ihm werde ich niemals ins Gesicht sehen, von mir wird er kein liebes Wort hören. Er hat unsere Mutter unglücklich gemacht, ... unsere gute, gute Mutter, er hat sich und uns um die Ehre gebracht. Das kann ich nicht vergessen...«

»Spricht so ein Kind?« sagte Ephraim mit bebender Stimme.

»Ja, wenn sich das Kind seines Vaters zu schämen hat!« rief Veilchen.

»Dann hast du leider vergessen, was unsere Mutter auf dem Sterbebette zu dir und mir gesagt. Weißt du noch, wie sie noch einmal die Augen aufgeschlagen hat ... wie sie sich gewaltsam in die Höhe gehoben und gesagt hat: »Kinder, mein ›Andenken‹ wird euch beistehen und auch eurem Vater.« Veilchen, hast du das vergessen?«

Wer etwa eine Stunde später in ihre Stube eingetreten, dem wäre ein wahrhaft ergreifendes Bild entgegengekommen. Veilchen saß auf dem Schoße ihres Bruders, die Arme um seinen Hals geschlungen, während dieser mit einer Zärtlichkeit, wie sie nur ein älterer Bruder für seine Schwester in gleicher Reinheit empfindet, die Haare des Mädchens glättete, Worte flüsternd, die zu heimlich klangen, als daß sie ein anderes Ohr, als Veilchens, hätten berühren können.

Der Käfig am Fenster' stand leer ...

In der Nacht, die diesem Sabbat folgte, blieb Ephraim bis gegen zwölf Uhr wach. Veilchen selbst schlief; aus der benachbarten Kammer konnte er die tiefen Atemzüge ihres gesunden Schlafes belauschen. Draußen in der »Gasse« waltete die tiefste Nachtruhe. Da ging Ephraim zu dem alten Schranke, der neben der Türe stand, schloß ihn leise auf und holte ein dickes Buch hervor, das er vor sich auf den Tisch legte. Er schien aber nicht lesen zu wollen. Zwischen einzelnen Blättern lag Papiergeld, und nur diesem schien sein Augenmerk und das flüsternde Zählen seiner Lippen zu gelten. Er war gerade an das letzte weiße Blatt gelangt, als er mit seinem Ohr draußen vor dem Fenster ein Rascheln wie von schleichenden Tritten vernahm. Erst zuckte er erschreckt zusammen, sein zweites aber war, das Buch mit dessen Inhalt wieder dem alten Schranke zu vertrauen. Dann trat er ans Fenster und öffnete es.

»Bist du es ... Vater?« rief er in die Nacht hinaus.

Es erfolgte keine Antwort.

Ephraim wiederholte seine Frage.

Er konnte, wie sehr er seine Augen anstrengte, in der Finsternis kein lebendes Wesen entdecken. Da rief es dicht vor ihm:

»Mach kein' Lärm ... und lösch erst das Licht aus.«

»Vater, um Gottes willen, du bist's ...« drängte es sich aus Ephraims Munde hervor.

»Still!« flüsterte es draußen ... »lösch erst das Licht aus.«

Ephraim schloß das Fenster und verlöschte das Licht Dann tappte er mit fast unvernehmbaren Schritten durch die Stube in das finstere Vorhaus hinaus. Ebenso leise schob er den Riegel des Haustores zurück. In demselben Augenblicke legte sich eine schwere Hand auf die seine.

»Vater, Vater!« rief Ephraim und suchte die fremde Hand an seine Lippen zu drücken.

»Mach kein' Lärm,« gebot die Stimme des Mannes. Leise an der Mauer hintastend, die Hand des Vaters in der seinen haltend, so kam Ephraim mit ihm in die Stube.

Veilchen schlief noch immer ...

Es gab eine Zeit, wo die Rückkehr des »wilden Ascher« in sein Haus unter ganz andern Umständen erfolgte. Auf derselben Schwelle, die er jetzt scheu und zaghaft, fast wie ein Dieb, der an fremdes Eigentum sich gewagt, überschritt, stand vor achtzehn Jahren eine schöne Frau, die ihm mit hochgeröteten Wangen einen zappelnden Knaben entgegenhielt, damit er sich schon aus der Ferne überzeuge, Mutter und Kind seien wohlauf und gesund. Weit und breit konnte man in ganz Böhmen »Gasse« auf und »Gasse« nieder suchen, bis man ein schöneres und glücklicheres Paar fand. Von Ascher hieß es, er sei ein »Barjin«, wie es keinen zweiten in der Welt mehr gebe, eine jener tüchtigen und unternehmenden Naturen, denen kein Baum zu hoch und kein Graben zu tief ist, um hinauf und hinüber zu kommen. Er bewies dies am schlagendsten dadurch, daß er die Liebe seiner Frau Gudule gewann, deren Augen förmlich weltberühmt waren. Von ihnen hieß es nämlich, wer lange in diese Augen hineinsehe, dem erscheine die Welt ganz anders! Man konnte nämlich an nichts Böses denken, wenn man an Gudulus Augen dachte.

Auch für Ascher hatten in den ersten Jahren seiner Ehe diese unergründlich braunen und treuen Augen seiner Frau, in die er länger als jeder andere blicken konnte, den vollsten Zauber ihrer Gewalt. Später behauptete er von denselben Augen, sie wären an seinem Unglücke schuld. Und es verhielt sich in der Tat so; es läßt sich mit wenigen Worten kurz erzählen.

Gudule stammte nicht aus der Gemeinde, in der Ascher einheimisch war. Ihr Vater war ein reicher Randar auf einem Dorfe in »Unterböhmen«, das ganz abseit von dem bewegten Treiben der großen Gemeinde lag. Dennoch war der einsame Randarhof mit seiner schönen Tochter ein Ort, wohin sich sämtliche »Jungen« wie zu einem Stelldichein zur Beschau einfanden. Sonderbar! Niemand fand vor Gudules Augen Gnade als der »wilde Ascher« – vor dem sie am meisten gewarnt worden war.

Noch ehe die Verlobung stattgefunden hatte, war eines Tages auf dem Randarhofe ein Brief eingetroffen, der jedoch keine Unterschrift trug. In dem Briefe hieß es, nachdem mit weitläufigen Umschweifen auseinandergesetzt war, warum der unbekannte Schreiber sich bewogen fühle, dem Randar einen Freundschaftsdienst zu erweisen: »Behüten Sie Ihr liebes Kind davor, das Weib eines – Spielers zu werden, denn das ist Ascher, und schlagen Sie diesen Rat nicht in den Wind.«

Der Randar gehörte zu jenen bequemen, breitwuchtigen Naturen, die selbst die Annäherung eines Gedankens, den sie in ihrem Gehirne verarbeiten sollen, mit einer Art Schrecken erfüllt. Er sollte die Vorstellung, daß Gudules Mann ein Spieler sei, durch alle Gewinde und Krümmungen und Wege bis an den äußersten Rand der Zukunft durchdenken können? Treu dieser Natur gab er den Brief des unbekannten Schreibers, als ob ihn dessen Inhalt nichts angehe, seiner Tochter zum Lesen, und er schien wirklich so recht getan zu haben. Denn nachdem Gudule das Schreiben bis zu Ende gelesen, sagte sie blos:

»Vater! das geht mich allein an.«

Und dabei verblieb es auch. Erst am Hochzeitstage, eine halbe Stunde vor der Trauung, als der Trauhimmel draußen im Hofe bereits aufgerichtet stand, brachte es der Randar über sich, der Mahnung jenes unbekannten Briefschreibers mit einigen Worten zu gedenken. Er nahm den künftigen Schwiegersohn bei der Hand und führte ihn beiseite.

»Aden« (Eidam), sagte er zu ihm, »ist es wahr, daß du ein Spieler bist?«

»Schwär!« (Schwiegervater) entgegnete Ascher darauf mit derselben Freimütigkeit, »die Augen Gudules werden mich davor behüten.«

Ascher hatte keine Unwahrheit gesprochen, als er seinem Schwiegervater diese Versicherung gab. Es war ihm vielleicht heiliger Ernst dabei, und es erging ihm wie jedem, der Gudules Augen einmal gegenüber gestanden war.

Nirgendwo vielleicht hat man ein feineres Gefühl für die Anzeichen jener grauenhaften Krankheit, deren Geschichte auf – einem Kartenblatte steht, als unter den Leuten in der »Gasse«. Unsichtbar deutende Finger sind dort überall auf den »Spieler«, an welchem, wie es im Sprichwort heißt, kein »Brösele« Segen ist, gerichtet, und warnen vor ihm. Trunk und Schlemmerei fordern wenige Opfer, aber fast jede »Gasse« weiß von einem oder mehreren eine Geschichte zu erzählen, die mit dem Kartenblatte anfängt und mit unheimlichem Ende aufhört.

Darum war die Aufmerksamkeit der Leute mit einer Art Spannung auf die fernere Entwicklung eines Charakters wie Aschers gerichtet; man verfolgte mit einem Gefühle künstlerischen Behagens jeden seiner Schritte und Tritte, denn aus langer Erfahrung weiß die »Gasse«, daß man einem Spieler nicht »trauen« darf.

Als ahnte es Ascher, daß aller Augen auf ihm lagen, so hütete er sich mit einer beinahe zur Schau getragenen Absichtlichkeit irgend einer der über ihn gehegten Voraussetzungen Recht zu verschaffen. Es hatte wenigstens den Anschein; nichts deutete darauf hin, daß er selbst in heimlichster Stille den Lockungen jenes Lügengeistes folgte. Sein Geschäft blühte – und Gudule hatte ihm einen Sohn geboren.

»Nun, Gudule, mein Kind,« fragte damals der Randar seine Tochter, als er zur Gevatterschaft seines ersten Enkels gekommen war, »hat der Brief recht gehabt?«

»Was für ein Brief?« meinte die Wöchnerin.

»Nun ... worin man mir angezeigt hat, daß mein Schwiegersohn, dein jetziger Mann, ein Spieler ist.«

»Von so einem Brief willst du noch reden?« meinte Gudule – und das war auch eine Antwort.

Drei Jahre später kam Gudules Vater wieder auf Besuch. Sie trug ihm diesmal sein zweites Enkelkind, ihr kleines Veilchen entgegen. Er herzte und küßte die Kinder und hing um Veilchens Hals ein dreifach geschlungenes Perlschnürchen, »damit das Kind einmal wisse,« meinte er, »daß es einen Großvater gehabt hat.«

»Und wo hast du deine Perlen, Gudule?« fragte er dann, »die du von deiner Mutter, mit der der Friede sei, bekommen hast? Sie hat darauf so große Stücke gehalten.«

»Die, Vater?« entgegnete Gudule und erblaßte, »die hat mein Mann nach Prag zu einem Goldschmied gegeben, er soll ein neues ›Schlößchen‹ daran machen.«

»So?« sagte der Randar.

Trotz seiner schwerfälligen Behäbigkeit war ihm in Gudules Antlitz ein Zug von leidender Abgespanntheit aufgefallen – der ihm bis an die Seele griff. Er sprach aber nichts darüber; nur als er beim Abschiede die »Mesuseh« an der Türe küßte, sagte er zu Gudule, die, das kleine Veilchen im Arme, das Geleite ihm gab, mit einer von seltsamer Weihe durchzitterten Stimme:

»Gudule, mein Kind, das Schlößchen an dem Perlschnürchen, was ich deinem Veilchen mitgebracht habe, das kann an die zweihundert Jahre aushalten ... Du brauchst es darum deinem Manne nicht mitzugeben, damit er ein neues daran macht.«

Und ohne sich noch einmal umzuwenden, ging der gemächlich starke Mann von dannen. Er kam auch nie wieder auf Besuch. Ein Jahr später erhielt Gudule ein Schreiben von ihrem ältesten Bruder, der ihr meldete, der Vater sei gestorben und sie möge sich »Schiwe setzen« (die siebentägige Trauer begehen). Er habe seit seinem letzten Besuche bei ihr in einem fort gekränkelt, aber sie alle hätten des nur wenig geachtet, weil sie seine gute Natur kannten. Erst in den letzten Wochen sei eine merkliche Abnahme seiner Kräfte eingetreten, dazu sei ein Fieber gekommen, und er habe zu phantasieren angefangen. Als man ihn einmal fragte, ob man nicht Gudule kommen lassen solle, habe er gesagt: »Sie soll das Schlößchen von Veilchens Perlenschnürchen nicht weggeben.« Und noch eine Stunde vor seinem Tode habe er mit lauter Stimme nach dem Briefe begehrt. Welchen Brief? Keiner habe ihn verstanden. »Gudule weiß, wo er liegt,« habe er endlich mit leisem Kopfschütteln gesagt. Das sei sein letztes Wort gewesen.

Hatte der alte Randar bei seinem letzten Besuche im Hause seines Schwiegersohnes richtig gesehen? Auch ohne die fehlende Perlenschnur hätte ihm die ganze »Gasse« schon lange das Geheimnis verraten können, daß die Warnung jenes unterschriftslosen Briefes eine Wahrheit – und Gudule die Frau eines Spielers geworden war.

Mit der ganzen Gewalt eines Gewässers, das jahrelang in den Tiefen des Berges geruht, war die alte, niemals gebrochene Krankheit an Ascher herangekommen. Das erste Anzeichen hiervon erhielt Gudule, als ihr Mann einmal von einer seiner Geschäftsreisen früher zurückkehrte, als er ihr vorhergesagt. Gudule hatte ihn darum auch nicht erwartet.

»Warum bist du mir mit den Kindern nicht entgegengekommen?« rief er verdrießlich; »gönnt man mir diese Freude auch nicht mehr?«

»Ich ... gönn' dir keine Freude?« vermochte Gudule zu fragen, indem sie tief erschrocken ihre Augen zu ihrem Manne aufschlug.

»Was siehst du mich so mitleidig an?« fuhr er heftig auf.

Ascher liebte seine Frau; als er die Wirkung seiner rohen Worte auf Gudules Angesicht gewahrte, umfaßte er sie liebreich.

»Sag selbst, Gudule,« sprach er, »ein Mensch, der sich die ganze Woche plagt und anstrengt, muß er nicht das Gesicht seines Kindes wie ein ihm von Gott geschicktes Geschenk betrachten, wenn er es zuerst beim Eintritte in sein Haus zu sehen bekommt?«

Wunderbar! In diesem Augenblicke durchzuckte Gudule die erste Ahnung – daß ihr Mann einer Lüge fähig sei. Mit riesigen Lettern trat nun der Inhalt jenes Briefes vor ihre Seele; sie wußte, welches Geschick ihrer harre ... und ihrer Kinder.

Von da ab traten in Aschers Leben alle jene Erscheinungen hervor, wie sie das Treiben eines »geborenen« Spielers beinahe mit kunstgerechter Regelmäßigkeit überall darbietet. Vor allem machte sich die Zerrüttung seines Gemütes merkbar. Verstörtheit und lustige Aufgeräumtheit wechselten mit einer erschreckenden Schnelligkeit in ihm ab. Er konnte das eine Mal an Gudule und seinen Kindern allen Liebreiz und Zauber der Welt erblicken, während er ihnen das andere Mal stumm, gleichgültig und verdrossen gegenübersaß. Gudule wurde es bald klar, daß das »Geschäft« ihres Mannes in seinen Grundfesten erschüttert war. Was sie aber am meisten erschreckte, war, daß Ascher mit Hintansetzung aller Scheu seine »religiösen« Pflichten vernachlässigte. Freitag spät in der Nacht heimzukehren, wenn der Sabbat schon längst in die »Gasse« eingekehrt war, gehörte zu den regelmäßig sich wiederholenden Vorfällen. Ja es traf sich einmal, daß er in bestaubten Kleidern von einer seiner Geschäftsreisen am frühen Sabbatmorgen zurückkehrte, während draußen die Leute, festtäglich geputzt, in das Bethaus gingen.

Dennoch wurde nie, auch nicht das leiseste Wörtchen der Klage aus Gudules Munde vernommen. Im Grunde ihres Gemütes gehörte sie zu jenen stolzen und adeligen Naturen, wie sie unter allen Lebensbedingungen in der »Gasse« und auf dem einsamen Randarhof sowohl, als auf den Höhen der bevorzugten Menschheit zur Entwicklung gelangen. Hatte sie nicht den Rat jenes wohlmeinenden Briefes in den Wind geschlagen? Was wollte sie klagen und jammern, da nun die Saat aufgegangen war? Es lebte eine kaum erklärliche Scheu in ihr, ihrem Manne die Leidenschaft vorzuhalten, der er von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde mehr und mehr verfiel. Eher wäre sie gestorben, als daß sie das Wort »Spieler« über ihre Lippen gebracht hätte. Und dann! – – Sah es Ascher ihr nicht an den Augen an, was sie in der Seele litt?

Von denselben Augen nun behauptete Ascher, sie trieben ihn immer weiter und weiter in sein Unglück! ...

»Was siehst du mich so an, Gudule?« konnte er oft bei der geringfügigsten Gelegenheit fragen ...

Manchmal, wenn er nach seiner Behauptung eine »besonders gute Woche« gehabt, brachte er für die Kinder Kostbarkeiten mit, die den Wert eines gewöhnlichen Geschenkes weit überstiegen. Gudule machte aber von diesen Gegenständen weder für sich noch für die Kinder irgend einen Gebrauch; sie verwahrte sie im Kasten und gestattete sich nie ihren Anblick, besonders ... als sie bemerkt hatte, daß Ascher unter irgend einem Vorwande all dieses glänzende Geschmeide wieder an sich nahm, um es mit anderem zu vertauschen – oder auch nicht mehr zurückzuerstatten.

»Gudule!« sagte er einmal, als er in besonders aufgeräumter Stimmung sich befand, »warum läßt du alleweil den Schlüssel im Kasten stecken, wo du so teure Sachen aufhebst?«

Und wieder schlug Gudule ihre unergründlich braunen Augen zu ihm auf.

»Du siehst mich schon wieder ... so an!« fuhr er mit einem Male heftig auf.

»Der Kasten ist sicher,« sagte Gudule fast lächelnd. »Warum soll ich ihn versperren?«

»Du meinst, Gudule –« schrie er, indem er die Hand wie zu einem Schlage aufhob. Dann sank er in den Stuhl zurück und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus.

»Gudule, mein Herz!« rief er, »ich bin nicht wert, daß deine Augen auf mich sehen. Überall, wo ich gehe und stehe, sehen sie mich an ... und das ist mein Unglück. Mach' ich schlechte Geschäfte, wo es immer ist, so fragen mich diese deine Augen: Warum hast du dich eingelassen, und denkst nicht an Weib und Kind? ... Dann bin ich wie von einem bösen Geiste geplagt. Ich möcht', daß du mich wieder so ansiehst, wie du mich als Braut angesehen hast – so glücklich, so merkwürdig schon! Dann denk' ich mir: Einmal muß sich das Glück doch mit der ganzen Faust packen lassen ... dann wird auch meine Gudule wieder die Augen aufheben können. Und so komme ich aus einem Unglück ins andere. Sieh mich lieber gar nicht an, Gudule!«

Es war eine jener selbstanklagenden Stimmen, wie sie zuweilen aus der leidenden Seele solcher Menschen fast ohne äußeren Anstoß hervorbrechen. Schon war Gudule so weit gekommen, daß sie diesen Aufschrei seines Gewissens nach seinem eigentlichen Werte schätzte. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß Ascher in dieser Minute die vollste Wahrheit gesprochen, für die nächste Zukunft war sie ihr ein inhaltsloser Schall.

So waren Jahre dahingegangen. Die Kinder wuchsen allmählich heran. Ephraim war in sein fünfzehntes Jahr getreten, Veilchen war ein zwölfjähriges blasses Mädchen. Nach dem Ausspruche der »Gasse« waren es die merkwürdigsten »Kinder von der Welt«. Gudule erzog sie mitten in dem wüsten Leben, an das sie die Ehe mit dem Spieler kettete, daß sie Spiegelbilder ihres eigensten Wesens wurden. Die Leute wunderten sich, wie aus Aschers Kindern so etwas werden konnte.

Sie waren ihrer Mutter vollständig »nachgeraten«, sie trugen dieselbe adelig stolze Natur wie ihre Mutter zur Schau. Mit den anderen Gespielen in der »Gasse« verkehrten sie nicht; es war, als ob sie nicht zu ihnen gehörten, als trennte sie ein unübersteiglicher Wall. Diese Absonderung trug ihnen der gemeine Sinn bitter nach. »Meint sie,« hörte Gudule oft neben und hinter sich flüstern, »weil ihr Vater ein Randar war, so sind ihre Kinder etwa Prinzen? Sie sollt' daran denken, daß ihr Mann nichts anderes wie ein Spieler ist.«

Wie ganz anders hätte dieses bittere Urteil gelautet, wenn die Welt gewußt hätte ... daß die Kinder allein Gudules einzige Vertraute waren. Was ihr eigener Vater nie vernommen, das legte sie in die jungen Seelen ihrer Kinder nieder. Ihnen entging keine Träne ihrer Mutter; sie wußten, wenn der Vater Verlust, wenn er Gewinn gehabt; sie kannten alle Stimmungen seines zerrütteten Gemütes und hatten in dieser furchtbaren Schule häuslichen Elends eine Wahrheit des Begreifens erlangt, die sie in den Augen eines jeden andern als frühreif erscheinen lassen mußte.

In den Naturen der beiden Kinder war übrigens schon frühzeitig ein seltsamer Gegensatz hervorgetreten. Ephraim war von einer fast weiblichen Milde, während Veilchens Wesen, ganz entgegengesetzt dem sanften Klange ihres Blumennamens, gleichsam verschlossene Lippen hatte, die auf Trotz und Willensstärke hindeuteten.

»Mutter,« sagte sie einmal, »glaubst du, daß er noch lange spielen wird?«

»Veilchen, wie kannst du so reden?« rief dagegen Ephraim erschrocken.

Da fiel Veilchen der Mutter stürmisch um den Hals und hielt sie krampfhaft zuckend einige Minuten umfaßt. Es war, als wolle das Kind all den verhaltenen und mühsam zurückgedämmten Schmerz um seine eigene zerstörte Kindheit in der einen Umarmung ausströmen.

»Mutter!« rief sie dazwischen, »du bist zu gut gegen ihn. Niemals, niemals werde ich so gegen ihn sein.«

»Ephraim,« sagte Gudule, »red doch deiner Schwester zu, wenn ich nicht mehr da bin. Veilchen ist imstande und trägt ihrem eigenen Vater Haß nach. Darf das ein jüdisches Kind?«

»Warum ist er so schlecht gegen dich?« knirschte Veilchen mit den Zähnen ...

Endlich kam der letzte vernichtende Schlag.

Nachdem Ascher einige Wochen abwesend gewesen war, langte eines Tages ein Schreiben unter Gudules Adresse – aus einer Strafanstalt in der Nähe Wiens an. In dem Briefe wurde ihr in Ausdrücken der äußersten Schonung mitgeteilt, ihren Mann habe das »Unglück« betroffen, eine falsche Unterschrift auf einen Wechsel gesetzt zu haben. Sie werde ihn jetzt durch fünf Jahre nicht zu sehen bekommen. Gott möge sie trösten. Der Brief trug die Unterschrift: »Von einem Leidensgefährten Ihres Mannes.«

Gudule erging es wie dem alten Randar, ihrem Vater, nachdem er den letzten Abschied von ihr genommen. Sie brach innerlich zusammen, und ohne daß das an ihr nagende Todesleiden merkbare Spuren aufwies, waren ihre Tage gezählt.

An einem Freitagabende, kurz nachdem das Friedenslicht der siebenzinkigen Lampe angezündet worden, berief Gudule die Kinder zu sich an den Lehnstuhl, von dem sie den ganzen Tag nicht aufgestanden war. Ein seltsam leuchtendes Lächeln auf ihren Lippen, ein eigentümliches Glänzen ihrer noch immer schönen Augen, dazu ein befremdendes Auf- und Niederatmen ihrer Brust ... sie erschien ihren Kindern so verwandelt!

»Kinder,« sagte sie, »stellt euch da zu mir, jedes auf eine Seite. Ephraim, du zur Rechten, und du, Veilchen, zu meiner Linken. Ich möcht' euch einmal ein klein' Geschichtchen erzählen, wie man es Kindern erzählt, die man in Schlaf bringen will. Soll ich?«

»Mutter!« riefen die Kinder aus einem Munde und beugten sich zu ihr herab.

»Ihr müßt mich frei reden lassen, Kinder,« meinte sie mit demselben befremdenden Lächeln auf den Lippen, »wenn ich mein Geschichtchen gut erzählen soll –

Hört, Kinder,« fuhr sie nach einer Weile fort, »jeder Mensch, und sei er der schlechteste, – wenn er auf Erden nur ein einziges Gutes getan hat, so ›genießt‹ er droben im siebenten Himmel sein ›Sechus‹, Die erste Silbe dieses Wortes wird kurz gehaucht ausgesprochen. das heißt, das Andenken an das Gute, was er auf dieser Welt getan hat, wird ihm von Gott dem Allmächtigen als ›besonderes‹ Verdienst angerechnet.«

Gudule hielt inne. Plötzlich nahm ihr Gesicht einen gegen früher durchaus veränderten Ausdruck an. Ihr Atem ging mühsam, aber ihre braunen Augen leuchteten in einem fort.

Mit kaum vernehmbaren Lauten fuhr sie fort: »Als Jerusalem, die heilige Stadt, zerstört ward, da sind sie alle aus ihren Gräbern aufgestanden ... die heiligen Älterväter Abraham, Isaak und Jakob ... und auch Moses und Aaron, sein Bruder... und David, der König ... und alle haben sich vor Gottes Thron niedergeworfen und haben geweint: ›Gedenkst du denn nicht mehr, was wir getan haben? ... Willst du denn unsere Kinder ... bis auf den unmündigen Säugling vernichten und zermalmen?‹ Aber der Allmächtige war unerbittlich. Da ist Rahel, die Ältermutter, gekommen... Wie Gott sie erblickt, da verhüllte er sein Angesicht und weinte. ›Geh fort,‹ sagte er, ›ich kann dich nicht erhören.‹... Sie aber hat gerufen: ›Denkst du nicht mehr der Tränen, die ich geweint, bevor ich meinen Joseph und Benjamin geboren habe ... Und denkst du nicht mehr, wie man mich draußen an der Schwelle des gelobten Landes begraben hat... und nun soll ich mit diesen meinen Augen es ansehen, wie meine Kinder erschlagen ... wie sie in die Gefangenschaft geführt werden?‹ ... Da hat Gott gerufen: ›Um deinetwillen will ich deiner Kinder wieder gedenken‹ ...

Wollt ihr wissen,« rief sie plötzlich mit erhöhter Stimme, »wie das ›Sechus‹ aussieht? Das sieht wie ein Engel aus und steht nicht weit von Gottes Thron ... Den Vorzug vor allen, allen – hat aber seit Rahel, unserer Ältermutter, das ›Sechus‹ einer Mutter... Wenn sie gestorben ist, fliegt es ohne Verweilen in den Himmel hinauf, noch bevor der Leib kalt geworden ist, und stellt sich dort unter den andern auf. ›Wer bist du?‹ fragt Gott. ›Ich bin das Sechus einer Mutter,‹ lautet die Antwort, ›und sie hat Kinder hinterlassen.‹ ›So steh du Wache für sie!‹ sagt Gott. Und so oft es den Kindern dann gut geht, so hat das ›Sechus ihrer Mutter‹ es bewirkt, und wenn es böse über sie kommt ... so ist es wieder der Engel, der da sagt: ›Vergißt du, daß diese Kinder keine Mutter mehr haben?‹ ... und es geht vorüber« ...

Gudules Stimme war bis zum Verlöschen schwach geworden. Sie hatte die Augen geschlossen; den Kopf nach rückwärts gesunken, atmete sie schwer ...

»Seid ihr noch da, Kinder?« flüsterte sie fast unvernehmbar nach einer Weile. Angstvoll beugten sie sich zu ihr hinab. Da schlug sie noch einmal die Blicke auf.

»Ich seh' euch noch« ... brachte sie mühsam zwischen den dünnen Lippen hervor ... »dich, Ephraim, und dich, mein kleines Veilchen ... ich bin gewiß, mein ›Sechus‹ wird euch künftig zur Seite stehen ... euch und auch eurem Vater ...«

Das waren Gudules letzte Worte. Als die Kinder, die den Tod noch nicht kannten, sie beim Namen riefen, ihre erkalteten Hände mit heißen Küssen bedeckend, noch immer des Glaubens, sie sei ihre lebende Mutter mit den unergründlich braunen Augen ... atmete sie nicht mehr ...

Wer es zu sagen vermöchte, was den vom bösen Wetter niedergeworfenen Halm mehr in die Höhe richtet, ob der belebende Windhauch, der von außen kommt, oder die eigenste, aus den Tiefen der mütterlichen Erde geheimnisvoll in die Wurzeln strömende Kraft? Es war ein erquicklicher Anblick, diese beiden Kinder zu sehen, wie sie allmählich unter der Wucht des doppelten Schlages, der sie getroffen, ihre Häupter aufhoben, wie sie mitten in ihrer Verlassenheit einen Halt gewannen, den man ihren schwachen Kräften nicht zugetraut hätte. Diese Erscheinung erfüllte die »Gasse« mit Verwunderung. Sonst fiel ja der Apfel nicht weit vom Baume – und sie stammten ja von einem Spieler ab! Oder lebte etwas von ihrer Mutter Gudule in ihnen?

Nach dem Tode Gudules war deren ältester Bruder, der jetzige Besitzer des Randarhofes, gekommen, um über das fernere Schicksal seiner Schwesterkinder endgültig zu entscheiden. Er wollte, daß Ephraim und Veilchen mit ihm nach »Unterböhmen« auf seinen Hof gingen, wo er schon genügende Beschäftigung für sie in Bereitschaft hatte. Der Mann brachte viel Mitleid mit; da aber in diesem Jahre der »Haber« sehr schlecht geraten war, so mochte sein Antrag, so ernstgemeint er gestellt war, nicht sehr überzeugend klingen. Die Kinder sprachen sich entschieden dagegen aus. Ohne sich verabredet zu haben, waren sie wie aus einem Munde der Meinung, der Oheim möge sie lieber in der alten Heimat belassen.

»Wenn der Vater einmal zurückkommt,« sagte Ephraim, »so muß er uns doch irgendwo zu finden wissen. Zu dir, Vetter Gabriel, wird er aber nicht kommen –«

Nun schien der Oheim wenigstens darauf zu bestehen, daß Veilchen mit ihm gehe, da er noch mehrere Töchter habe, denen sie in der Hausarbeit Gesellschaft leisten könne. Aber das Kind rief, sich an Ephraim anklammernd, mit einem Aufflammen ihrer trotzigen Augen und einer Entschiedenheit in Stimme und Gebärde, die den schlichten Mann mit einer Art Schauder erfüllten:

»Vetter, du hast genug an deinen Töchtern zu tragen, leg dir mit mir keine neue Last auf, und eher lauf' ich in die weite Welt, ehe ich mich von meinem Bruder trennen werde.«

»Und was wollt ihr denn anfangen?« schrie der Oheim, nachdem er von seinem Erstaunen über Veilchens »merkwürdiges« Benehmen sich allmählich erholt hatte.

»Siehst du, Vetter Gabriel,« sagte Ephraim mit einer plötzlichen Röte auf seinem abgegrämten Gesichte, »siehst du ... ich habe es mir überlegt, das wird das beste sein! Veilchen wird das Haus führen und ich ... ich fange ein ›Geschäft‹ an.«

»Du ein Geschäft?« rief der Oheim und brach in eine laute Lache aus. »Kannst du mir nicht sagen, wie mein Haber am nächsten Wochenmarkte stehen wird? Ein Geschäft? ... und womit, mein Jüngelchen?«

»Vetter!« sagte Ephraim – »wenn ich alles zusammennehme, was uns zurückgeblieben ist, so kriege ich so viel heraus, um ein kleines Geschäft anzufangen. Andere in unserer Lage haben es ja auch nicht anders getan ... Und dann –«

»Was dann?« rief der Oheim aufhorchend.

»Dann wird uns auch das ›Sechus‹ unserer Mutter beistehen,« sagte Ephraim leise.

Dem bäuerlichen Manne wurden die Augen feucht; er hatte seine Schwester sehr geliebt.

»Soll ich leben und gesund sein!« rief er, indem er mit der Hand über seine Augen hinfuhr, »ihr Kinder seid ganz meiner Schwester Gudule ihre Kinder. Mehr sag' ich nicht.«

Dann riß er, wie von einer plötzlichen Eingebung erleuchtet, die schwere Brieftasche aus dem Rocke.

»Da!« ... rief er fast außer Atem, »da sind hundert Gulden für dich, Ephraim, damit kannst du schon etwas anfangen und brauchst nicht das bissele zu verkaufen, was euch übrig geblieben ist... Da ... steck das Geld ein ... der Haber ist zwar heuer nicht geraten, aber für Gudules Kinder tu' ich's gern ... Steck ein, Ephraim ... Gott wird dir Glück und Segen dazu geben.«

»Vetter, Vetter!« rief Ephraim und brachte die Hand des Oheims an seine Lippen, »so viel soll mein eigen sein –?« »Nicht wahr, mein Jüngelchen, es ist viel...« meinte Gudules Bruder, indem er mit seiner Hand einen klatschenden Schlag seinem eigenen gewaltigen Schenkel versetzte. »Ich glaub' auch, es ist viel. Damit kannst du schon etwas anfangen ... und weißt du was? Der Haber ist heuer in Böhmen schlecht geraten, dafür steht er aber in Mähren um ganze zwei Groschen billiger ... Greif zu, Ephraim, mein Kind, da läßt sich ein Geschäft machen –«

Plötzlich fuhr es wie eine schwarze Wolke über seine lachenden Züge.

»Es ist viel Geld, Ephraim, was ich dir da gebe ... es hat's mancher Große nicht beisammen,« sagte er, nachdenklich zögernd; »wie aber ... wenn du's ver –«

Er sprach das Wort nicht aus, denn er fühlte etwas in seinem Arme, als wäre dort eine scharfe Nadelspitze hineingefahren.

»Vetter Gabriel!« rief Veilchen, denn sie war es, die den Arm des Oheims berührt hatte, und die Wangen des Kindes brannten lichterloh; dabei waren ihre Lippen mit jenem Trotze aufgeworfen, die ihre weißen Zähne wie die eines jungen Raubtieres erscheinen ließ. »Vetter Gabriel!« rief sie, »wenn du Ephraim nicht traust, so nimm dein Geld wieder zu dir ... ohnehin nehmen wir's nur von dir, weil du der Bruder unserer Mutter bist ... Ephraim wird dir's auf einen Kreuzer wieder zurückgeben ... Ephraim spielt nicht ... du sollst keinen Groschen daran verlieren –«

Mit fast blödem Kopfschütteln betrachtete der Oheim das vor ihm stehende sonderbare Kind. Etwas wie Entrüstung wollte in ihm aufsteigen, ein zorniges Wort drängte sich dem sonst gutmütigen Manne auf die Lippen. Aber es blieb dort wie festgebannt; er konnte seinen Blick von dem Antlitze des zwölfjährigen Kindes nicht abwenden.

»Soll ich leben und gesund sein,« murmelte er zwischen den Zähnen, »sie hat ganz Gudules Augen.« Und mit einem abermaligen gewaltigen Klatsch auf seinen Schenkel rief er lustig:

»Es bleibt also dabei, gut ... Wenn Ephraim mir das Geld nicht zurückzahlt, so nehm' ich dich beim Wort, du wildes Mädel ... denn du hast für deinen Bruder gut gestanden, und dann nehme ich dich zu mir und halt' dich da ... bis du bei mir bleibst. Ist dir das recht ... du kleine Klippe?«

»Ja! Vetter!« sagte Veilchen.

»So gib mir einen Kuß, Veilchen.«

Das Kind besann sich erst einen Augenblick, dann legte es seine Wange an das Vetters Gesicht.

»Hab' ich dich jetzt, du kleine Klippe,« rief er und küßte sie ein über das andere Mal. »Ist es aber recht, seinen Vetter so herunter zu zanken?«

Dann nahm er Abschied, nachdem er Ephraim noch manche Aufklärung über den Preis des Habers in der Gegenwart und die Aussichten desselben für die Zukunft gegeben hatte, – er schloß aber auch Wolle und Hasenfelle und noch andere »Artikel« in diese Belehrung ein – und fuhr von dannen ...

Es war ein seltsames Dreinschauen und Verwundern in der »Gasse«, als der kaum fünfzehnjährige Knabe gleichsam den ersten Anschnitt in den noch ungepflügten Acker des »Geschäftes« versuchte. Viele spöttelten und machten sich über den »großen Kaufmann« lustig, aber ehe das Jahr noch ganz um war, konnten die scharf beobachtenden Augen der »Gasse« gewahren, daß Ephraim eine »glückliche« Hand habe. Was er angriff, hatte nach allgemeinem Urteil einen merkwürdigen Schick; er bewegte sich mit einer Ruhe und Gelassenheit, gegen die die ruhelose Beweglichkeit mancher »Großen« mit all ihren Kunststücken und eingelernten Listen nicht recht aufkam. Wenn Ephraim mit seinem blassen, traurigen Gesicht auf irgend einem Bauerngehöfte erschien, um nach einer Partie »Wolle« oder dergleichen Erkundigungen einzuziehen, dann war es, als ob ihm ein unsichtbarer Bote vorausgefolgt wäre, um ihm die Herzen des Bauers und der Bäuerin zu öffnen.

»Nur du allein bekommst die Sache so wohlfeil,« hörte er namentlich manche Bäuerin ihm versichern, zu der mit unbewußter Beredsamkeit seine dunkeln Augen gesprochen hatten.

Schon längst war aller Spott über den kleinen »Barjin« verschwunden, denn die Menschen lassen schließlich den Erfolg gelten, wenn sie ihn erst zu bewundern angefangen haben.

Als der Vetter Gabriel nach zwei Jahren wieder einmal kam, um sich nach den Kindern umzusehen, konnte ihm Ephraim in wohlgezählten Reihen Bargeld das Kapital auf den Tisch legen, das ihm der Oheim vorgestreckt.

»Treibst du so mit deinem Vetter Spaß?« rief Gudules Bruder mit gewaltig großen Augen, beide Hände auf die Schenkel stemmend, »wie hast du's angefangen, schon so viel zurückzulegen? – Weißt du, daß das sehr viel ist?«

»Ich hab' Glück gehabt, Vetter,« sagte Ephraim bescheiden.

»Hast du vielleicht ... gespielt?« brach es mit aller Roheit aus dem Mund des bäurischen Vetters hervor.

»Vetter,« schrie Veilchen, und eine kleine Faust spielte hart an den Augen Jossefs, daß er sie erschrocken schließen mußte. Aber das Kind mit den Zügen, die so sehr an seine Schwester Gudule gemahnten, mußte es dem Manne angetan haben.

»Ephraim!« rief er lustig, seine Hände wie abwehrend gegen Veilchen ausstreckend, »ich geb' dir einen guten Rat. Nimm einmal das kleine Klippele aufs Dorf mit – vielleicht brauchen sie dort einen jungen Wolf.«

Dann steckte er das Geld ein.

»Nun, Ephraim,« sagte er, »Gott mag dir ferner Glück und Segen geben. Mir aber wirst du es nicht verdenken, wenn ich das Geld nicht länger bei dir lasse, – ich brauch's! und in Haber, das weißt du, läßt sich jetzt ein gutes Geschäft machen. Von dir aber gefällt es mir außerordentlich, daß du ein so guter Zahler bist. Nur nicht zu viel borgen! ist alleweil mein' Maxim, das bringt einen um und frißt sich durch ein Geschäft, wie eine Ratte durch eine Getreidescheuer.«

Mitten auf dieses keimende und sprossende Leben warf nur die Gestalt in dem fernen Gefängnisse ihren anhaltend dunklen Schatten. Es war eine Traurigkeit in den Seelen dieser beiden Kinder, die vor keinem Sonnenblicke, wie freundlich er auch ihre Gegenwart beleuchten mochte, weichen wollte. Wenn Ephraim von seinen Geschäftsreisen matt und zerschlagen in sein kleines Hauswesen eintrat, dem Veilchen mit einer Anstelligkeit vorstand, als wäre sie drin, wie die Leute meinten, alt geworden, da begrüßte ihn kein Lächeln, so wenig er eines auf den Lippen hatte. Ephraim erzählte wohl der Schwester, wo er gewesen und wie es ihm ergangen, aber selbst durch das Unbedeutendste klang jener Ton unaussprechlicher Traurigkeit, wie sie so schwer heimgesuchten Gemütern innewohnt.

Mittlerweile war auch mit Veilchen eine gewaltige Veränderung vorgegangen. Natur baut und entwickelt sich mitten unter den Zerstörungen menschlicher Leidenschaft ja oft schöner, je grauenhafter diese gewütet hat. Veilchen war schon lange das blasse Kind mit den trotzigen Lippen nicht mehr, die kleine »Klippe«, die dem Vetter Gabriel mit so überwältigender Wildheit in den Arm gefallen war. Alles an ihr war milder und weicher geworden, und schon wurden Stimmen in der »Gasse« kund, die in Erinnerung an Gudules Schönheit behaupteten, die Tochter »gebe« der Mutter noch etwas vor. Wie auf ein vor ihren Augen vorgegangenes Wunder wurde auf das schöne Mädchen geblickt; schon flatterte hie und da ein heißer Wunsch um die Fenster jenes Hauses, das die Geschwister bewohnten ... Aber die Tochter des »Spielers«, des Mannes, der im Kerker seine Leidenschaft verbüßte! – selbst das gierigste Auge senkte sich vor dieser Betrachtung ... Die herrliche Knospe war eben nur aufgebrochen, um ihre Düfte ungekostet in alle Luft zu verstreuen.

Ephraim war es nicht entgangen, daß sich der Charakter seiner Schwester in einer Art entwickelt hatte, wie er es in seiner weichen Gefühlsweise niemals für möglich gehalten hatte. Wie der Trotz ihrer Lippen und das wilde Aufflackern ihrer Blicke sich gemildert hatte, so war auch in ihr ganzes Wesen eine Milde und Ruhe gekommen, für die der Unerfahrene keine Erklärung fand. Unterwürfig und demütig nahm Veilchen die leiseste Andeutung ihres Bruders wie einen Befehl hin, er war ihr Vater und Mutter zugleich, und nie sind Eltern aufmerksamer von einem Kinde bedient worden, als dieser Bruder von seiner Schwester, die doch nur um drei Jahre weniger zählte als er.

Eines Tages brachte ihr Ephraim einen jungen Kanarienvogel, den er selbst von einer Bäuerin sich zum Geschenke erbeten hatte. Stundenweit trug Ephraim den Käfig mit dem unruhig flatternden Tierchen. Als er ihr den Vogel übergab und ihr dabei sagte, wie sie ihn zu warten habe, da äußerte sich ihre Freude in fast überschwenglicher Weise. Bald küßte sie den Bruder, bald die hölzernen Stäbe des Käfigs ...

»Was hast du nur, Veilchen!« rief Ephraim verwundert.

»Laß mich nur, Ephraim,« rief sie mit leuchtenden Blicken, »du sollst sehen, wie ich das Vögelchen zum Sprechen bringen werde ... wenn du nicht da bist ...«

Nur in einem Punkte fand Ephraim seine Schwester ungefügig und widerstrebend – in bezug auf den abwesenden Vater. Die leiseste Nennung seines Namens machte das ganze Wesen des jungen Mädchens erzittern. Dann kam wieder jenes unheimliche Zucken der Lippen, das für ihn schon in den Tagen der Kindheit erschreckend war, und was Ephraim gesänftigt und gebannt glaubte, brach mit der wilden Heftigkeit eines plötzlichen Gewitters ohne allen Übergang aus ihr hervor.

Es war klar, Veilchen haßte denjenigen, der ihr das Leben gegeben hatte.

So war es gekommen, daß Ephraim fast Scheu trug, des Vaters anders als nur in sich zu gedenken. Nicht einmal von der Mutter sprach er gerne mit Veilchen; selbst die entfernteste Erinnerung stand zu sehr in Verbindung mit der dunklen Gestalt – hinter den fernen Gefängnismauern ...

Kehren wir nun zu der Nacht zurück, in der Ephraim seinem Vater das Haus öffnete.

Wie war das nur so gekommen? Tausendmal hatte er in seinen stillen Gedanken die Rückkehr des Vaters durchgedacht – und nun durfte er nicht einmal das Licht anzünden, um die Gesichtszüge des Langentfremdeten näher zu betrachten. Still und flüsternd, wie er gekommen war, so blieb Ascher den übrigen Teil der Nacht; er hatte sich an das Fenster hingesetzt, und sein Arm lag auf derselben Stelle, wo vordem der Käfig gestanden hatte. Der Vogel hatte die Freiheit aufgesucht und schlummerte jetzt vielleicht unter dem von Nachtlüften umspielten Laubdache irgend eines grünen Waldes; nur er, der gleichfalls Freigelassene, schloß kein Auge, und er war doch in sicherer Hut, im Hause seiner Kinder!

So war der Tag herangebrochen. Die ersten Strahlen des noch hinter den Bergen weilenden Lichtes färbten sich bereits an den Fensterscheiben. Auf der »Gasse« wurden Tritte hörbar, hie und da öffnete sich knarrend ein Haustor, während von der äußersten Ecke her in langsam wiederkehrenden Pausen das Hammerklopfen des Schuldieners bereits erscholl, ein Zeichen des bald beginnenden Gottesdienstes. Denn der heutige Tag war ein Fasttag, der eigentlich mit Sonnenanbruch beginnt.

In diesem Augenblicke richtete sich Ascher in die Höhe. Er trat rasch von dem Fenster zurück. Aber schon war Ephraim an seiner Seite.

»Vater, mein lieber Vater!« rief er aus der ganzen Fülle seines Gemütes und haschte nach der Hand des früheren Häftlings.

»Mach keinen Lärm,« sagte dieser, indem er einen scheuen Blick auf das Fenster warf, in demselben unheimlich flüsternden Tone, mit dem er den Eintritt in das Haus begehrt hatte.

Wie fremd stellte sich Ascher seinem Sohne dar, als dieser ihn nun in dem grauen Dämmerlichte des anbrechenden Tages näher beschauen konnte! Ephraim konnte sich ihn in seinen stillen Gedanken nie anders als abgegrämt und abgezehrt vorstellen, und nun sah er einen großen, wohlbeleibten Mann vor sich, der von ganz anderswo herzukommen schien, als aus der feuchten Luft eines Gefängnisses!

Dabei schien er größer geworden; breiter und kraftvoller, als er selbst in seinen besten Jahren ausgesehen hatte.

»Ist es ihm so wohl bekommen ...?« mußte Ephraim in sich sagen ... »und wie hat unsere Mutter in ihren letzten Tagen ausgesehen!«

Mit gewaltiger Anstrengung rang er die Empfindung nieder, die ihm vom Herzen herausquoll.

»Liebster,« sagte er mit Tränen im Auge, »willst du dir's jetzt bequem machen? Du hast die Nacht über nicht geschlafen, wirst müde und abgemattet sein. Du bist ja zu Hause ... Vater!«

»Laß nur gut sein,« sagte Ascher mit der Hand abwehrend, »unsereiner weiß, daß man die Nacht noch ganz anders zubringen kann.«

»Unsereiner!« Ephraim fuhr es mit der Spitze eines zweischneidigen Messers durch die Seele.

»Du kannst aber krank werden, Vater,« bemerkte er schüchtern.

»Ich und krank! Wo fällst du aus?« lachte Ascher heiser, »es ist kein Äderchen in mir, das sich traut krank zu werden.«

In demselben Augenblicke erscholl der Hammer des Schulklopfers an der Türe des nächsten Hauses. Der Schall mochte für den starken Mann von erschütternder Wirkung sein; ein krampfhaftes Zucken befiel seinen ganzen Körper; dann warf er wieder einen jener scheuen Blicke nach dem Fenster, den Ephraim bereits an ihm bemerkt hatte, und sprang dann in einem Satze nach der Türe, deren Klinke er ergriff.

»Vater, was ist dir?« rief Ephraim angstvoll.

»Sieht der Schulklopfer immer herein, wenn er vorüber kommt?« fragte Ascher, die aus ihren Höhlen unheimlich liegenden Augen nach dem Fenster gerichtet.

»Niemals, Vater,« beteuerte Ephraim.

»Laß mich sehen – wart ...« flüsterte Ascher.

Dröhnend erschollen die drei bekannten Schläge an der Tür des eigenen Hauses, dann legte sich der Schatten einer vorüberschreitenden Gestalt an die gegenüber liegende Wand. Wie ein Seufzer der Erlösung kam es aus Aschers Brust.

»Er hat doch nicht hereingesehen ...« murmelte er vor sich.

Dann ließ er die Türklinke los und trat wieder in die Mitte der Stube an den Tisch, auf dessen Kante er eine seiner Hände legte.

»Ephraim ...« sagte er nach einer Weile wieder in jenem unterdrückt lautlosen Tonfalle, der ihm eigentümlich zu sein schien, »gehst du nicht auch in die ›Schul‹?«

»Nein, Vater,« entgegnete Ephraim; »ich gehe heute nicht.« »Sie werden aber wissen wollen,« meinte Ascher, und ein häßlicher Zug spielte dabei um seine Mundwinkel, »sie werden wissen wollen, was für einen Gast du bei dir aufgenommen hast. Warum gehst du nicht und tust ihnen den Gefallen ...?«

»Vater!« rief Ephraim gefoltert.

»Dann sei so gut,« sagte dieser, »und laß dort an beiden Fenstern die Vorhänge herunter ... Was brauchen die in der ›Gasse‹ zu wissen, wer dein Gast ist? Sie sollen sich um das kümmern, was in ihren eigenen Häusern vorgeht ... Aber sie wären ja nicht von dem ›auserwählten‹ Volke, Wenn sie nicht wissen müßten, was in dem geheimsten Stübchen deines Gehirns vorgeht. Deswegen muß man auch die Vorsicht gegen sie übertreiben ... man ist niemals sicher vor ihren seinen Nasen ... und ihren scharfen Angen.«

Ephraim schob die Vorhänge vor beide Fenster. Draußen war es indessen lichter Tag geworden.

»Die Vorhänge sind zu weiß ...« murmelte Ascher und er rückte den Stuhl, auf dem er sich niederließ, so, daß er mit dem Rücken gegen die Fenster saß.

Ein minutenlanges Stillschweigen waltete jetzt zwischen den beiden Männern. Ephraim hatte die Gebetriemen um die Hand gelegt und betete leise vor sich hin. Es war ihm, als stehe jedes Wort der heiligen Sprache, in der schon Rahel nach der frommen Sage verkündigte, sie werde der Schutzengel ihres Volkes sein, zu seiner eigenen Lage in besonderer Beziehung ...

Ein eisig kalter Gedanke bemächtigte sich seiner mit einem Male.

Warum betete nicht auch der Vater?

»Bist du bald fertig, Ephraim?« unterbrach ihn plötzlich die heisere Stimme Aschers.

»Ja, Vater,« sagte Ephraim, indem er mit eiliger Hast begann, die Gebetriemen von Kopf und Arm loszulösen.

Ascher saß noch immer, den Rücken gegen die Fenster, die Blicke auf die Türe gerichtet, als wollte er sie keine Sekunde aus dem Gesichtskreise verlieren.

»Warum fragst du nicht, wo ich mein Gepäcke gelassen habe?« rief er.

»Ich will's dir selbst hertragen, wenn du mir sagst, wo du es gelassen hast,« meinte Ephraim in aller Unbefangenheit.

»Über so etwas muß ich lachen,« rief Ascher, und ein häßliches Gelächter, ähnlich mehr dem Röcheln eines Fieberkranken, drang aus seinem Munde. »Ich kann dir nur sagen, Ephraim, der stärkste Riese von der Welt müßt' sich die Schultern ausrecken, wenn er all das Gepäcke, das ich mit mir führe, auf sich nehmen wollt'!«

Nun erst verstand Ephraim seinen Vater ganz.

»Mach dir keine Sorgen, Vater« ... meinte er innig.

»Wirst du mich vielleicht ernähren wollen?« rief dagegen Ascher mit einem Hohne, dessen Schneidigkeit den menschlichen Ursprung verleugnete.

Ephraims Herzschlag stockte. Da wurde in der angrenzenden Kammer, wo Veilchen schlief, ein Geräusch hörbar.

»Ist denn noch jemand bei dir?« rief Ascher, dessen Ohr aufs feinste geschärft war, aufspringend, und wieder hatte ein Zittern den starken Mann befallen.

»Vater, es ist ja nur dein Veilchen,« sagte Ephraim.

Eine ungeheure Angst schien sich Aschers bemächtigt zu haben. Die eine Hand krampfhaft um die Stuhllehne geballt, fuhr er mit der anderen über die Stirne. Dabei atmete er schwer. Ephraim bemerkte mit Schrecken, wie grauenhaft verändert das Gesicht seines Vaters in der einen Sekunde sich darstellte. Es war fahl geworden.

Da ging die Türe auf, und Veilchen trat heraus.

»Veilchen!« rief ihr Ephraim entgegen ... »das ist der –«

»'s Gotts willkomm‹!« sagte das Mädchen tonlos und trat einige Schritte näher. Wollte sie ihm die Hand reichen? Sie hatte sie ausgestreckt, aber ihre Augen waren gesenkt. Dann blieb sie plötzlich stehen und wandte sich mit einer hastigen Gebärde um.

»Gudule!« schrie Ascher entsetzt und sank kraftlos auf den Stuhl ...

War es der Glanz dieser jungfräulichen Schönheit, wie sie dieser unglückliche Vater niemals in solcher Fülle an seinem Kinde zu sehen gehofft hatte? Oder vielmehr die außerordentliche Ähnlichkeit mit der Frau, die ihn einst geliebt und der er dann das Herz gebrochen hatte? Die Nennung ihres Namens, das Entsetzen, das aus diesem Aufschrei klang, sprach für den Eindruck, den die Erscheinung des Mädchens auf dieses aus allen Bahnen getretene Gemüt hervorgebracht ...

»Veilchen!« rief Ephraim kummervoll, »was hast du getan?«

»Ich kann nicht, Bruder, ich kann ...« stöhnte sie und wankte gegen die Kammer zu.

»Sieh dir ihn nur an,« bat Ephraim, indem er sie bei der Hand ergriff.

»Laß mich, Bruder!« rief sie und suchte sich von ihm loszuringen ... »ich denk' an die Mutter!«

Mit einem Male richtete sich Ascher in die Höhe.

»Wo ist mein Stecken,« schrie er, »ich will meinen Stecken haben, den ich mitgebracht ... Wo ist er? Ich will fort ... fort.«

»Vater, du wirst doch nicht ...« rief Ephraim.

Da wandte sich auch Veilchen um.

»Vater,« sagte sie mit zuckenden Lippen ... »Du wirst doch früher etwas essen wollen, bevor du wieder fortgehst.«

»Ja, essen will ich,« schrie er, in dessen Kopfe eine neue Reihe von Vorstellungen sich festgesetzt zu haben schien, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. »Wein her ... Wirtshaus auf ... aber vom besten ... ich hab' einen Durst, daß man ihn bis nach Paris hören könnt' ... , Wein her ... und Bier und was sich sonst noch herbeischaffen läßt ... stellt mir alles zusammen ... und dann will ich fort.«

»Geh, Veilchen,« flüsterte Ephraim seiner Schwester zu, »und bringe alles, was er will.«

Als Veilchen zur Stube hinausgegangen, schien Ascher etwas ruhiger geworden. Er ließ sich wieder auf den Stuhl nieder, und stützte dann beide Hände vor sich auf die Kante des Tisches.

»Ja,« sagte er, noch immer in hoher Aufregung, die früheren Äußerungen im Selbstgespräche fortsetzend, »ja, ich will mich noch einmal bei meinen Kindern erlaben, ehe ich wieder den Stecken zur Hand nehme ... Man sagt, es bringt Glück, wenn einem sein eigenes Kind früher einschenkt ... und ich will wieder Glück haben, es mag wollen oder nicht ... Die guten Kinder! da plagen und martern sie sich, weil ich's nicht verstanden habe, ihr Vater zu sein, und laufen hin, um mir Essen und Trinken zu bringen ... und ich habe ihnen doch nichts mitgebracht als einen hölzernen Stecken ... Aber ich will's ihnen wieder zurückzahlen, so wahr mir Gott helfe ... ich will sie wieder reich machen ... Ich habe ja nichts als den hölzernen Stecken ... und Geld muß ich dazu haben ... ohne Geld ist kein Spiel – und kein Glück ...«

Allmählich war in die aufgeregten Züge Aschers eine gewisse Nachdenklichkeit getreten, seine Lippen waren zusammengekniffen, die Stirne hatte sich in krause Falten gelegt, während die Augen mit gläserner Unbeweglichkeit in eine Art unsichtbaren Gedankenlebens zu starren schienen. Ephraim hatte sich bis dahin regungslos verhalten; es war klar, der Vater wußte nicht, daß er anwesend sei. Von Schauern durchrieselt, jedes Haar auf dem Kopfe gesträubt, ließ er die sonderbaren Reden über sich ergehen ... Etwas in ihm wollte frohlocken, aber ein anderes riß ihn wieder in die bodenlosen Abgründe des Entsetzens. Da sah er, wie sich die Augen seines Vaters langsam nach dem Kasten richteten, der in einer Ecke der Stube stand, und daselbst haften blieben.

»Warum er nur den Schlüssel stecken läßt,« hörte er ihn zwischen den Lippen murmeln ... »Gudule hat's auch nicht anders gemacht, und das hat er von ihr ... Ich muß es ihm doch sagen, wenn er zurückkommt... man darf einen Schlüssel niemals stecken lassen ... niemals ... unter keinen Umständen ...«

Der Eintritt Veilchens unterbrach den unheimlichen Gedankengang des alten Spielers. Ephraim atmete auf.

»Bringst du?« rief Ascher, und seine Augen begannen lüstern zu funkeln, während Veilchen die unter der Schürze verborgenen Flaschen auf den Tisch stellte und Gläser herbeiholte.

»Jetzt schenk ein,« rief er gebieterisch, »und hüt dich, daß du nichts verschüttest ... sonst geht das Glück über.«

Mit zitternder Hand vollzog Veilchen diesen Befehl; trotzdem ward auch nicht ein Tropfen verschüttet; es schien in dem Auge des Vaters, das jede ihrer Bewegungen verfolgte, eine geheimnisvoll bannende Kraft zu liegen. Dann ergriff er das Glas und leerte es in einem Zuge bis auf den Grund. Sein Gesicht hatte sich hoher gefärbt; er schenkte sich selbst das zweite Glas ein.

»Trinkst du nicht auch, Ephraim?« rief er, nachdem er auch dieses geleert.

»Ich trink' nicht, Vater ...« stotterte Ephraim ... »es ist heute Fasttag.«

»Was für ein Fasttag? Ich weiß von keinem. Ich hab' auch gefastet,« lachte er hierauf heiser, »zweimal in der Woche bei Wasser und Brot, und das bekommt dem Magen. Ein Fasttag und dazu im hohen Sommer! An einem so langen Tage, wo die Sonne schon um drei Uhr in der Früh' aus dem Bette ist und um acht Uhr am Abend sich noch bedenkt, ob sie sich niederlegen soll ... Was geht mich der Fasttag an?«

Sein Gesicht nahm nun eine von Minute zu Minute höher steigende Röte an; er hatte bereits ein drittes und viertes Glas geleert, eine unbedeutende Neige war noch in der Flasche geblieben. Schon begannen seine Reden den Faden des Zusammenhanges zu verlieren, seine Zunge lallte, und die Augen schimmerten bereits in jenem gläsernen Glanze, der einem unheimlichen Zustande vorangeht. Ephraim vermochte diesen Anblick länger nicht zu ertragen. Von jener natürlichen, fast heiligen Scheu geleitet, die das Wort der Bibel schon an dem Sohne kennt, der hinging, um mit abgewandten Augen die »Blöße« seines Vaters zu bedecken, winkte er seiner Schwester, daß sie sich entfernen möge. Dann schlich auch er aus der Stube.

Draußen im Vorhause fielen sich die Geschwister, keines Wortes mächtig, in die Arme. Beide weinten bitterlich, keines konnte durch geraume Zeit das bezeichnende Wort finden, das den Jammer ihrer Lage ganz in sich faßte.

Endlich sagte Veilchen, noch immer am Halse ihres Bruders: »Ephraim, wie kommt er dir nur vor?«

»Er ist krank, meine ich ...« sagte Ephraim mit von Schluchzen unterdrückter Stimme.

»Das soll krank heißen?« rief Veilchen bitter. »Ephraim, Bruder, wenn das krank heißt ... so ist auch jedes wilde Tier krank!«

»Veilchen, um Gottes willen schweig, schweig, er ist ja doch unser Vater!«

»Bruder!« schrie nun das Mädchen im vollen Ausbruche ihrer Gefühle, indem sie sich neuerdings in Ephraims Arme warf ... »Wenn die Mutter auch das noch erlebt hätte!«

»Laß, laß, Veilchen, mein Gold!« bat Ephraim weinend.

»Ephraim, mein Bruder!« rief das Mädchen und schüttelte in wilder Verzweiflung den Kopf, »ich glaub' nicht an das ›Sechus‹! Wenn man all das erlebt, und es bricht einem nicht das Herz davon, tausendmal in einem Atem, so verliert man den Glauben ... Ephraim, mein Bruder, was soll aus uns werden?«

»Schweig, schweig, Veilchen, du weißt nicht, was du redest ...« sagte Ephraim, »ich glaub' dran, weil es die Mutter selbst gesagt hat ... du mußt dran glauben.«

Veilchen schüttelte aber wieder den Kopf.

»Ich glaub' nicht mehr dran,« stöhnte sie, »ich kann nicht.«

Ephraim ging nun mit leisen Schritten zur Türe und legte sein Ohr daran; er horchte. Drin war alles still, in der Stube regte sich kein Laut. Ein neues Gefühl von Schrecken überlief ihn. Warum war es drin so still? ... Behutsam öffnete er die Stubentüre, daß sie nicht in ihren Angeln knarrte. Da saß der Vater mit tief auf die Brust gesunkenem Kopfe, die Arme schlaff herabhängend, im Lehnstuhle und schlief.

»Still, Veilchen,« flüsterte er, indem er die Türe ebenso vorsichtig wieder schloß, »er schläft ... ich glaube, es wird ihm gut bekommen. Laß auch nicht einen Laut von dir hören ...«

Veilchen hatte sich auf einen Holzblock neben der Küchentüre gesetzt und weinte still vor sich nieder. Indessen ging Ephraim, der kein Wort der Beruhigung mehr für seine Schwester fand, vor das Haus, um daselbst Wache zu stehen, damit kein unberufener Störer in den Schlaf seines Vaters greife. –

Die Glocken läuteten zu Mittag; aus der Kirche kamen buntgestutzte Scharen von Bauern und Bäuerinnen, von denen manche dem ihnen wohlbekannten Jüngling einen freundlichen Gruß zuwinkte. Aber er konnte nur mit dem Kopfe nicken, sein Herz war zu beladen, und ein Lächeln an diesem Tage hätte ihm eine Sünde gedünkt. Er ging wieder ins Haus hinein und horchte an der Stubentüre. Es herrschte drin noch die frühere Stille; mit unhörbaren Schritten entfernte er sich wieder von der Türe.

»Er schläft noch immer,« flüsterte er seiner Schwester zu. »Denke dir nur, Veilchen, was geschehen wäre, wenn wir den Vogel noch hätten ... Er hätte vor dem lauten Geschmetter kein Auge schließen können.«

»Ephraim, warum erinnerst du mich dran!« rief Veilchen und brach in neues Schluchzen aus. »Wo mag der Vogel jetzt sein ...«

Ephraim setzte sich neben die Schwester und reichte ihr die Hand. Und so saßen die Geschwister noch lange nebeneinander; der Bruder die Schwester tröstend und aufrichtend, das Mädchen verzweifelnd und gebrochen. Oft sprachen sie kein Wort miteinander.

Endlich regte es sich drin in der Stube, Schritte wurden vernehmbar. Ephraim sprang auf und stellte sich wieder an die Türe, um zu lauschen.

»Er ist wach!« winkte er der Schwester zu, und leise trat er in die mit Vorsicht geöffnete Türe.

Ascher ging mit schweren Schritten die Stube auf und nieder.

»Hat dir der Schlaf geschmeckt, Vater?« fragte Ephraim schüchtern.

Ascher blieb vor dem Sohne stehen. Sein Antlitz war noch immer hoch gerötet, aber seine Augen hatten die gläserne Farbe verloren; er blickte klar und scharf.

»Ephraim, mein Sohn,« sagte er wohlwollend, fast wohlgemut. »Ich weiß, du bist ein tüchtiger Geschäftsmann geworden, wie es kaum einen zweiten gibt ... Glaub nur nicht, daß ich nicht alles weiß. Der Weg von Wien hierher ist weit, da kann man mehr hören, als man in einem Tage verzehren kann ... Aber einen Rat will ich dir geben, der ist in deiner Lage nicht um Tausende von Gulden zu verachten: Laß nie einen Schlüssel in deinem Kasten stecken!«

Ephraim sah zu seinem Vater mit einem Ausdrucke von Verblüfftheit auf. Redete er irre oder waren es die Geister des genossenen Weines, die so aus ihm sprachen? In demselben Augenblicke wurden vom äußersten Ende der »Gasse« jene drei Schläge des Hammers wieder hörbar, die die Leute zum Abendgottesdienste beriefen. Wie am Morgen, so war auch diesmal die Wirkung der vernommenen Töne auf den starken Mann erschütternd. Sein Gesicht verfärbte sich wieder und nahm einen Ausdruck von Angst an; er zitterte vom Scheitel bis zur Fußspitze. Dann warf er wieder einen lauernden Blick gegen die geschlossenen Fenster.

»Nichts als Klopfen und Klopfen,« murmelte er. »Sie mochten einem die geheimsten Gedanken aus dem Gehirne heraushämmern, wenn sie nur könnten ... Möcht' nur wissen, von wem sie das gelernt haben ... Vor einer Glocke kann man das Ohr verschließen, man braucht bloß die Hand davor zu halten ... aber mit dem Hammer kommen sie an jede Türe und jagen einen auf ... Wer gibt ihnen das Recht dazu? ... Und wenn ich gerade nicht hören will? ...«

In horchender Stellung stand er dann einen Augenblick still.

»Glaubst du, daß er noch lange ausbleibt?« fragte er mit ängstlichem Tone zu Ephraim hinüber.

»Wer, Vater?«

»Der Hammer –«

»Er ist schon an dem vorletzten Hause!«

Jetzt erdröhnten die drei hölzernen Schläge an der Türe des eigenen Hauses.

Ascher atmete tief auf; er fuhr mit der Hand nach der Stirne, es standen Schweißtropfen darauf.

»Gottlob!« rief er halblaut, »das ist nun auch vorüber ... und kommt wieder erst am Morgen ... Morgen! Der Narr von Schulklopfer weiß nicht einmal ...«

Der unausgesprochene Gedanke schien seinem Körper wieder die alte Schnellkraft zurückgegeben zu haben.

»Ephraim, mein Sohn!« rief er und schlug in überströmend lustiger Stimmung auf den Tisch, »du sollst bald gewahr werden, was du für einen Vater hast. Jetzt plagst und marterst du dich ab, läufst dir die Füße wund, um ein Hasenhäutchen aufzutreiben und um Gottes willen zu bitten, daß dir der Bauer sein bissele Wolle verkauft, Ephraim, mein Sohn, das wird bald aufhören, verlaß, dich drauf ... Ich will dich reich machen, und für Veilchen will ich einen Mann aussuchen, in halb Böhmen sollen alle Mädchen mit Neid auf mein Veilchen sehen und grün und gelb darüber werden ... Aschers Tochter soll eine Mitgift erhalten wie eines Rotschilds Tochter. Nur eines brauche ich dazu, und dann kommt's ... in einer Nacht!«

»Was, Vater?« fragte Ephraim leise schauernd.

»Glück, Glück, Ephraim, mein Sohn!« fuhr es stürmend aus ihm heraus. »Was ist der Mensch ohne Glück? Stell einen, der kein Glück hat, mitten in ein Faß Gold, deck ihn von oben bis unten mit Gold zu ... wenn er herauskriecht und du durchsuchst seine Taschen, so hat er Kupferkreuzer darin.«

»Und – wirst du Glück haben, Vater?« fragte Ephraim unbefangen.

»Ephraim, mein Sohn!« sagte der alte Spieler mit einem pfiffigen Lächeln, »ich will dir etwas sagen. Es gibt Menschen, deren ganzes Tun und Trachten ist nur darauf gerichtet, wie sie sich das Glück zu eigen machen. Wie andere sich darauf verlegen, Doktor zu werden oder eine Hose zustande zu bringen, so studieren dir diese Leute das, was man Glück nennt ... und von denen hab' ich es erlernt ...«

Er hielt inne, als hätte er sich von seinen eigenen Reden zu weit fortreißen lassen, und blickte dabei dem Sohne forschend in die Augen. Der Ausdruck einer unentweihten Seele, der von Ephraims Antlitz mit voller Reinheit sprach, mochte ihn überzeugen, daß er nicht verstanden ward.

»Laß das gut sein!« rief er lustig, mit der Hand durch die Luft fahrend, »was kommen soll, das wird kommen; das kann kein Mensch aufhalten ... Gib mir lieber etwas für den Durst, Ephraim.«

»Vater ...« stammelte dieser, »glaubst du nicht, es wird dir schaden?«

»Sei kein Narr, Ephraim!« rief Ascher, »du kennst nicht meine Natur. Und dann, hast du nicht selbst gesagt, daß heute ein Fasttag ist, an dem man nichts essen darf? Habe ich Essen von dir verlangt? Mit dem Trinken ist es aber etwas anderes! ... Das kann der Vogel im Walde nicht lassen, wie erst der Mensch!«

Ephraim begriff, daß er seinem Vater gerade heute keinen Widerstand entgegensetzen durfte. Er ging zu Veilchen hinaus, die in der Küche das Abendmahl bereitete, und sagte:

»Geschwind, Veilchen, geh und hol frischen Wein!«

»Für ihn?« rief das Mädchen, indem sie mit dem Finger fast drohend nach der Stubentüre wies.

»Laß, laß, Veilchen!« bat Ephraim.

»Und du fastest?«

»Faste ich nicht auch für ihn?« meinte Ephraim.

Die volle Weinflasche in der Hand, betrat Ephraim wieder die Stube; er stellte sie auf den Tisch, auf dem noch die Gläser von dem am Morgen genossenen Trunke herum standen.

»Wo ist Veilchen, deine Schwester?« fragte Ascher, der wieder mit starken Schritten die Stube auf und ab maß.

»Sie kocht, Vater.«

»Sag ihr, sie soll einen Mann und eine Mitgift von mir bekommen, daß sie in halb Böhmen darüber grün und gelb werden.«

Dann trat er an den Tisch und leerte rasch hinter einander drei volleingeschenkte Gläser.

»So,« sagte er, indem er sich mit seiner ganzen Wucht in den alten Lehnstuhl warf ... »jetzt will ich erst meine Nachtruhe halten. Ich brauche Kraft und gute Augen, und die bekommt man nur durch Schlaf. Ephraim, mein Sohn,« fuhr er nach einer Weile mit lallendem Ton fort, die Augenlider nur mühsam gegen die hereinfallenden Strahlen der Abendsonne erhebend ... »sag' dem Schulklopfer, ich glaube, er heißt Simon, er kann morgen in der Frühe sechs Schläge auf die Türe tun, ich könnt's vertragen ... und Veilchen sag' ich will ihr einen Mann aussuchen, einen so schönen hat ihr Auge noch nicht gesehen ... und sag ihr auch, an ihrem Hochzeitstage, da soll sie eine Perlenschnur um den Hals haben wie eine Königin, ... nein, nein, wie ihre Mutter Gudule ...«

Wenige Minuten darauf lag er in tiefem Schlaf.

Es war in später Nachtstunde. Überall waltete Ruhe und Frieden.

Nachtfrieden! Es tönt ein so weicher Klang aus diesem Worte, mit so linden Fittichen umrauscht es dich ... nur aus dem Worte Heimat klingt und tönt ein verwandter Ton, das Süßeste in sich bergend, duftend wie eine Blume aus dem Garten des längst verschlossenen Paradieses. Heimat und Friede! Du ruhst in sicherer Hut, die Atemzüge deiner Kinder gehen so ruhig, so vertrauensvoll ...

Laß ab, laß ab!

Es ist zu spät. Neben dem Frieden der Nacht hausen, nur durch eine dünne Wand getrennt, ihre bösen Geister. Die nimmer ruhenden, heimatlosen, heimatzerstörenden Gäste der Seele! Sie schütteln ihr rabenschwarzes Gefieder, sie fliegen auf; es ist der Pfiff des Geiers, der auf die frommen Tauben niederfährt ...

Sieht dich kein Auge ... sieht dich dein eigenes nicht? Laß ab!

Es ist zu spät ...

Weit offen steht das Fenster, der Riegel hat nicht geklirrt, als er ihn zurückschob ... Die bösen Geister sorgten dafür, daß der leiseste Ton erstarb; was während des Tages knarrt und rauscht, nimmt ein Flüstern an ... selbst das laute Eisen hielt an sich ... sie hatten zu ihm gesagt: Schweige und verrat ihn nicht.

Auch der Schlüssel, der im Kasten steckt, läßt sich lautlos im Schlosse herumdrehen. Tastende Hände suchen nach dem dicken Buche, das dem scharfen Auge vorher nicht entgangen war. Haben sie es gefunden? Ist keine Stimme da, die mit der Gewalt des rollenden Donners ruft: »Verflucht ist die Hand des Vaters, die nach dem Gute seines Kindes die räuberischen Finger ausstreckt?«

Sie hat es gefunden, die gierige Hand! Jetzt noch ein Sprung durch das offene Fenster hinaus in die Nacht ...

In diesem Augenblicke fällt Lichtschein durch eine Türritze der Kammer, in der Veilchen schläft ... Rasch geht die Tür auf, eine blasse Mädchengestalt erscheint auf der Schwelle ... sie trägt ein brennendes Licht in der Hand ...

»Gudule!« schreit er entsetzt und stürzt entseelt zu ihren Füßen.


Ascher war gerettet worden. Der fürchterliche Schlag, der ihn beim Erscheinen Veilchens in jener dunklen Nacht niedergeschmettert, hatte seiner Lebenskraft nichts anzutun vermocht. Er war erwacht; treue Kindesliebe hatte über ihn die Fittiche ausgebreitet und ließ sein dem Untergange geweihtes Dasein nicht verfallen. Aber als ihm nach vier Wochen grauenvoller Fieberträume, die oft in stiller Nacht jedes Haar auf dem Kopfe seiner treuen Wächter emporsträubten, wieder einigermaßen das Denken aufdämmerte, da sahen sie einen alten Mann vor sich ... sein Haar war weiß wie Schnee geworden.

Was Veilchen dem gesund heimkehrenden Vater verweigert hatte, das erstattete sie dem Kranken und Hilflosen mit jener voll ausströmenden Liebe, deren Geheimnis alles Versenken in die Natur nicht zu ergründen vermag. Was in jener Nacht eine verschlossene, dem Lichte und der Wärme scheu abgewandte Knospe war, das hatte sich noch in derselben Nacht in seltener Schönheit entfaltet. Nie haben weichere Hände die Stirne eines Fieberkranken gekühlt, nie hat eine süßere Stimme mitten in die grauenhaften Träume eines erhitzten Gehirns hineingetönt.

Auf dem Krankenlager, behütet und geschützt von Ephraim und Veilchen, hatte sich in dem Gemüte des alten Spielers eine Läuterung vorbereitet, die für sein ganzes übriges Dasein gelten sollte.

Seltsam war es, daß er von dem Ereignisse jener Nacht, mit allem, was ihr vorangegangen, auch nicht ein leise dämmerndes Bewußtsein hatte. Selbstverständlich hüteten sich die Kinder auch nur mit einem halb angeklungenen Worte all dessen zu gedenken, wie der Vater zu ihnen zurückgekehrt – und daß Ephraim das dicke Buch mit der Barschaft neben dem Entseelten gefunden ...

Welch ein Paar herrliche braune Pferde, an eine schwerfällige Kutsche gespannt, stehen eines Tages vor dem Hause Aschers? Man sieht es ihnen an, der Haber ist in diesem Jahre gut geraten. Vetter Gabriel ist gekommen, um sein erstes Enkelchen, das Gudule heißt, und mit seinen Augen schon jetzt an die Großmutter gemahnt, zu sehen. Denn keiner als Ephraim durfte der Mann seiner einzigen Tochter werden. Da sitzt er, der gutmütige schlichte Mann, in jeder Falte seines ehrlichen Gesichtes Glück und Behagen, hie und da noch immer, wie es seine Gewohnheit ist, voll gewalttätiger Absichten gegen seine eigenen Schenkel. Veilchen nennt er noch immer sein kleines »Klippele«.

»Nun, Veilchen, mein Klippele,« sagte er, »willst du mir noch immer nicht erlauben, daß ich mit meinem Nathan deinetwegen rede? Ich meine schier, der Jung' hält's gar nicht mehr aus?«

»Vetter,« sagt Veilchen darauf, und eine tiefe Röte streift über ihr noch immer blasses Gesicht, in einem so ernsten Tone, daß darob der lachende Zug aus dem Antlitze des Vetters verschwindet – »red lieber nichts mit ihm. Ich bleib' bei meinem Vater!«

Veilchen wird allem Anschein nach dieses Wort halten.

Hatte sie es als Selbstbuße sich auferlegt, weil sie in der verzweifelten Bitterkeit ihres Herzens sich vermessen, den Glauben an das »Sechus« ihrer Mutter von sich zu stoßen? Oder war es etwas anderes?

Das Frauenherz ist ein seltsam verzagtes Ding.

Es baut nicht gerne auf dem Grunde, das die Trümmer eines andern Glücks in sich birgt.


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