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Die Seelenfängerin.

Die »Seelenfängerin« ist in den Gassen des Ghettos eine der gekanntesten Persönlichkeiten; aber die Leute daselbst haben nicht gerne mit ihr zu tun. Eine Art Grauen liegt um ihr Wesen gebreitet; wann und wo sie erscheint – da muß sie erscheinen; wer sie rufen läßt, dem bleibt nichts anderes übrig, als sie rufen zu lassen; denn, um es geradezu herauszusagen: ihr Beruf ist der Tod!

Wem aber dieses Wort zum ersten Male zu Gesicht kommt, den wird es wie mit Augen märchenhafter Befremdung anblicken. Hat er es schon irgendwo vernommen? Steht es in dem reichen Schatze unserer Sprache? Umsonst dürfte er da nachgraben und forschen – die »Seelenfängerin« wird ihm nirgends entgegentreten. Da endlich, halb aus gewaltsamer Anstrengung, halb aus dämmerhafter Kindererinnerung, tauchen mit einem Male jene entsetzlichen Weiber vor ihm auf, die in Ammenstuben und vergessenen Sagenbüchern eine so spukhafte Rolle spielen: Weiber, die in Gestalt von Katzen zu den Wöchnerinnen schleichen, um in unbewachten Augenblicken, statt des holden Neugeborenen, die häßliche Unform eines Wechselbalges in die Wiege zu legen, weil sie feindlich und gram sind allem, worin Gottes lebendige Seele sich regt; oder die in mondheller Mainacht die luftige Fahrt zu jenem Berge antreten, zu welcher sie um diese Zeit nicht Roß, noch Wagen, sondern allenfalls eines Besenstiels bedürfen.

Mich aber durchzuckt es schmerzlich wie ein jäher Vorwurf von den Lippen eines Nahestehenden, daß ich den Wahn nicht sogleich in seinem Keime zerstört habe, als ob unsere »Seelenfängerin« nur um eines Zwirnfadens Breite mit jenen schreckhaften Weibern zusammenhinge, die uns aus Kinderbüchern so blutgierig anstarren ... und anklagend scheinen mich die guten, frommen Augen einer alten Frau zu fragen: »So was läßt du die Leute von mir meinen? Also ich soll einer menschlichen Seele nachgestellt? ich soll wie eine Katze auf unschuldige Kinder gelauert haben? – Bin ich denn keine Mutter gewesen?«

Es ist schon eine geraume Zeit her, daß eines der stattlichsten Häuser in der »Gasse« von Gerichts wegen an die Meistbietenden verkauft wurde. Nicht weniger als acht Fenster Front hatte dieses Haus; man glaubte vor einem kleinen Palaste zu stehen, wenn man es mit seinen dürftigen und gleichsam schief gewickelten Nachbarn verglich. Hinter dem Hause zog sich, bis an den Bach hinab, ein weitläufiger und wohlgepflegter Garten; aber eine hohe Bretterwand verwehrte jedem neugierigen Auge den Einblick. Um so verwirrender klangen die Gerüchte über die Wunderdinge, die daselbst zu erschauen waren. Hier und da war es einem waghalsigen Knaben aus der Gasse gelungen, indem er die Schultern seines Kameraden zur Stützlage genommen, über das Gitter hinweg von der ihm fremden Welt eine Vorstellung zu gewinnen. Dann wußte er den horchenden Genossen nicht genug des Außerordentlichsten zu erzählen, von den Blumen und Bäumen, die er im flüchtigsten Überschauen gesehen, dann von der hohen, blassen Frau, die zwischen den Bäumen spazierte, endlich von den zwei Kindern, die in einer Laube saßen und sich mit einer fremden Frau in einer von ihm noch nie gehörten Sprache unterhielten. Einer dieser lauschenden Knaben hatte sogar einmal ein Erlebnis, das er dann mit allen Zeichen des Entsetzens jedem, der es hören wollte, erzählte. Er war wie gewöhnlich, mit Hilfe der Schultern seines Kameraden, die hohe Bretterwand des Gartens hinaufgeklettert, da drang ihm aus jener Laube ein heftig geführtes Gespräch entgegen.

»Der Knabe wird jetzt bald dreizehn Jahre alt,« hörte er die bewegte Stimme einer Frau; »frag' ihn nur, ob er weiß, wo Gott wohnt? Was hab' ich davon, daß mein Eugen kann französisch reden mit der Gouvernante, wenn er nicht wissen wird, wie er sich die »Tefillin« (Gebetriemen) soll um die Hände und den Kopf legen?«

»An dieser Sprache erkennt man den beschränkten Verstand des Weibes,« erwiderte schneidend eine Männerstimme darauf. »Wozu soll er etwas lernen, was er doch einige Jahre darauf vergessen wird und soll? Mein Eugen soll etwas anderes werden, das ist mein fester Wille –«

»Vergißt du, Mann, wer wir sind?« klagte die Frau, und es klang beinahe wie Weinen. »Willst du sie denn ganz hineinstoßen? – Das Enkelkind meines frommen Vaters, mit dem der Friede sei, soll ihm also nicht nachgeraten? Mein guter Vater muß sich ja zehnmal in seinem Grabe herumdrehen, wenn er weiß, wie es in unserem Hause zugeht.«

» Wenn er es weiß!« höhnte darauf die männliche Stimme; »wenn er es weiß!« wiederholte die andere darauf, jedoch in einer ganz verschiedenen Tonart.

Ein durchdringender Schrei, der den Knaben auf seiner unsichern Stützlage im Innersten erbeben machte, durchschnitt die Luft. Der Lauscher konnte noch die Worte vernehmen: »Ruben, ich bitte dich bei allem, was dir noch heilig ist, bring' mich nicht noch um dieses Letzte!« und war dann herabgesprungen, seiner Sprache beinahe unmächtig; denn erst weit, weit von jenem Garten machte er Halt und erzählte dann den Kameraden, die ihm atemlos gefolgt waren, was er soeben erst vernommen hatte.

Für die Leute in der Gasse aber, die aus dem Munde der Kinder in den mannigfaltigsten Zusätzen das eben Vorgefallene hörten, hatte es nichts Verwunderliches; sie zuckten höchstens die Schulter. Was die Kinder nur unvollkommen begriffen, das wußten sie ja längst klar. Können Rosen an einem Nesselstrauche wachsen? So wenig, wie aus einem Hause des Unfriedens Worte des Friedens und des Einklangs hervorgehen.

Selten geschieht es, daß in irgend einem Gemeinwesen die Krankheit, die an einem Hause zehrt, lange verkannt wird. Namentlich für eines, das im Munde der Volksmeinung als ein »stolzes« gilt, steht die Prophezeihung des nahen Falles in steter Bereitschaft. Tausend Lippen sind immer geöffnet, um Verwünschungen über einen Bau auszusprechen, dessen Trümmer schon im Geiste gesehen werden. Vieler Ohren lauschen, ob sie das stürzende Zusammenkrachen des Gemäuers noch immer nicht vernehmen. Stolz und Überhebung des einzelnen wird im Fleische des Gemeinwesens wie ein Stachel empfunden, und vielleicht nirgends schmerzlicher und unerträglicher, als – in den Gassen des Ghettos!

Das war nun ein solches Haus, auf das man nach der allgemeinen Ansicht mit allem Rechte, das eine Gemeinde in diesen Dingen für sich in Anspruch nimmt, den Vorwurf des Hochmutes und des Übermutes wälzen konnte. Jahre vorher, ehe der Glanz dieses Hauses verblich, war es wie von einem Zauberbanne umfangen, der sich zur bestimmten Stunde erfüllen mußte ...

Ruben Schönmann gehörte lange Zeit zu den Menschen, die vom Glücke weiter nichts zu begehren hatten. Wozu andere in der »Gasse« im Schweiße und Drange aufreibender Arbeit gelangten, das war ihm spielend in den Schoß gefallen. Er hatte jenes Haus samt dem Garten ererbt, und eine allgemeine Schätzung ließ ihn in der Fülle von Reichtümern sitzen, deren Unerschöpflichkeit keiner zu bezweifeln gewagt hätte. »Noch als Knabe – man wollte wissen, er habe jahrelang an Örtern zugebracht, wo er niemals mit »seinesgleichen« zusammenkam – war er in die Fremde hinaus gekommen; als er zurückkehrte waren Vater und Mutter tot, und er trat in den Besitz eines ungeschmälerten Vermögens. Das schönste Mädchen in der Gasse wurde sein Weib, und wenn man von Kindern erzählen wollte, deren Schönheit und Anmut etwas »Vornehmes« hatte, so nannte man Rubens Klara und Eugen!

So fremdartig diese Namen von den Lippen der Leute klangen, so fremdartig war ihnen des Mannes Tun und Lassen. Er stand keinem im Wege – dennoch verziehen sie ihm eins nicht – er hatte kein »jüdisch« Herz!

Dieses Wort hat etwas Unsagbares, und es fällt schwer, es auch nur in schwachen Umrissen zum Verständnisse zu bringen. Was manchem nur ein wesenloser Schein dünken mag, das gewinnt in Wirklichkeit eine Wahrheit und eine Lebensfähigkeit, von der die »Gasse« am besten zu erzählen weiß. Dieses Herz ist eine geschichtliche Überlieferung – wer an dasselbe einen Anspruch erhebt, will damit sagen: Vergiß nicht! Sei eingedenk dessen, was deine, was meine Väter miteinander erlebt, gelitten, wie sie sich gefreut und wieder geweint haben! Es ist der Ausdruck der stärksten Zusammengehörigkeit, der geheimnisvolle Zug mitfühlender Teilnahme des einzelnen für das Geschick seines Bruders – was die »Gasse« ist und wie sie sich immer darstellt, ohne jenes »Herz« wäre sie ein ganz anderes. Wir hätten wahrscheinlich nichts von ihr zu berichten!

Das war es nun, was die Leute an Ruben Schönmann vermißten. Er gehörte nicht zu ihnen, er schien in keiner Ader seines Lebens mit dem Körper der Gasse in Verbindung zu stehen; ihr Blutstrom mündete nicht in ihn ein. Dieses Alleinstehen mitten in einer großen Gemeinde hatte für die Leute selbst etwas Grauenerregendes; ihn allein schien es in seiner eigenen Meinung zu erheben. Er nahm keinen Teil an den Angelegenheiten der Gemeinde, schlug jedes Ehrenamt aus und verkehrte mit niemandem. In der Synagoge erschien er fast nie, am »Versöhnungstage« stand er lautlos an seiner Stelle, die Leute wollen nicht gesehen haben, daß er jemals seine Lippen bewegte.

Von einem häuslichen Zerwürfnisse verlautete übrigens bei der Abgeschlossenheit des Hauses wenig, beinahe nichts. Nur als die kleine »Klara« zur Welt kam, hieß es, soll dort für einige Zeit ein Geist der Gereiztheit zwischen den Eheleuten geherrscht haben. Die Frau Rubens hätte nämlich darauf bestehen wollen, daß das Kind auf den Namen ihrer verstorbenen Mutter »Blümele« genannt werde, Ruben Schönmann hätte aber mit einer Willenskraft, der sich nichts entgegensetzen ließ, geltend gemacht: er wolle sein Kind nicht »kennzeichnen«; alle seine Kinder, und wären es zwanzig, müßten »ordentliche« Namen bekommen, ein Name sei kein Spaß – und in dieser Hinsicht wolle er für »alle Zukunft« für seine Kinder gesorgt haben.

Bis dahin hatten die Leute in der Gasse das hochmütige Treiben Ruben Schönmanns wie eine Sache betrachtet, die sie im Grunde an keiner empfindlichen Stelle traf. Ob das Kind Klara oder Blümele hieß, war ihnen selbst gleichgültig – es lag schon damals keine Abschließung in dieser Annahme von Kalendernamen. Anders wurde es jedoch, als die beiden Kinder heranwuchsen. Da wurde es allen klar, daß Ruben Schönmann in seinem Alleinstehen nach einem festgewurzelten Grundsatze handelte. Die Kinder wurden nämlich in einer Art erzogen, als gehörten sie nicht der Gasse an, sondern als wohnten sie in einem Schlosse, das mitten in einem menschenöden Walde liegt. Kein Laut, kein Hauch aus der Gasse durfte zu ihnen dringen, sie waren Fremdlinge an einem Orte, dem sie doch durch die Bande des Blutes angehörten! Wie mit hundert Augen wachte und lauerte Ruben, daß sie von den Leuten, die unten vor ihren Fenstern vorüberwandelten, und von ihrer Sprache keine Kunde bekamen. Eines Tages brachte er aus der Fremde eine Frau mit, von der in der Gasse lange Zeit die abenteuerlichsten Gerüchte herumgingen. Sie sollte eine Sprache sprechen, die noch kein Menschenohr vernommen, und zwar habe Ruben sie nur darum mitgebracht, damit die Kinder nicht einmal deutsch lernten, was doch noch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem in der Gasse gebräuchlichen Jargon habe. Es war jedoch nur französisch, was jene Frau die Kinder lehrte. Selbst daran hatte sich die immer wache und nimmer ruhende Sorge der Gasse endlich gewöhnt. Aber nun hieß es mit einem Male jene Frau lehre die Kinder nicht nur französisch sprechen, sie lehre sie alles – auch beten! Also nicht in der Sprache Zions, in jenen himmelanschreienden, tausendjährigen Lauten, die gleichsam Gottes eigene Sprache sind, nein, in einer fremden, den Kindern unverständlichen, die ihnen erst mühsam von einer Frau beigebracht werden mußte – die sich nicht zum Glauben der »Gasse« bekannte! Darüber kamen die Geister in Empörung, und es fehlte nicht an Stimmen, die Ruben Schönmann das Seltsamgefährliche seiner häuslichen Einrichtung zu Gemüte führten. Bei solchen Eingriffen in sein väterliches Recht, wie er dies nannte, blieb Ruben gewöhnlich ruhig; nur sein Auge blitzte zuweilen in einem unheimlichen Feuer. Mit erschreckender Bedächtigkeit pflegte er gewöhnlich zu sagen:

»Wollt ihr wissen und soll ich es euch erklären, was euch eigentlich an meinem Tun und Lassen ärgert? Ihr kränkt euch, daß die Zeiten vorüber sind, wo so einer wie ich auf der Schwelle der Synagoge hätte liegen müssen, dem die Leute über den Leib hinweggingen ... Es kränkt euch, daß ihr keine Macht über mich habt und daß euch die Beißzähne ausgebrochen worden sind. Ich aber bin Herr in meinem Hause, und jene Zeiten sind vorüber!«

Die Hoffnung, daß die Zeit allmählich auf Ruben Schönmanns Grundsätze mildernd einwirken werde, ging nicht in Erfüllung. Er blieb, der er war; auch nicht um einer Linie Breite trat er zurück. Charaktere dieser Art, die das Bewußtsein ihres Alleinstehens einmal für sich errungen haben, sehen in jedem Angriffe auf ihre Stellung ein Recht mehr dafür, und meistens bestärkt sie hereinbrechendes Unglück in ihrem Wahne, sie dürften die Fahne, die sie in ihrem Glücke hoch empor getragen, gerade in den Tagen der Drangsal nicht sinken lassen.

Die Kinder Rubens waren indessen herangewachsen, doch ihr Wesen kannten nur wenige in der Gasse. Man sah ihnen nach, wie Geschöpfen höherer Art, um die ein unnahbarer Strahlenkreis liegt. Man trug ihnen die Fehler ihres Vaters nicht nach; eher bemitleidete man sie. Zudem waren beide, wie bereits erzählt, von einer so bewältigenden Vornehmheit und trugen in ihrer Haltung ein so adeliges Gepräge an sich, daß jeder Spott sich entkräftet fühlte, sobald diese »Gotteswunder« in dem vollen Zauber ihres Wesens erschienen.

Eines Tages kam Eugen, der schon seit längerer Zeit von dem Geistlichen des Ortes Unterricht im Lateinischen empfing, atemlos nach Hause. Unten an der Stiege der Pfarrei hatte ein Mann auf ihn gewartet, mit einem langen weißen Barte, so erzählte er der erschrockenen Mutter, und fürchterlich blickenden Augen, der habe ihn bei der Hand genommen und so kräftig gehalten, daß er mit aller Anstrengung ihm nicht zu entrinnen vermocht hätte.

»Und was hat er von dir gewollt?« fragte die Mutter.

»Mama, wie heiße ich?« rief mit einem Male der Knabe mit unerklärlicher Heftigkeit.

»Eugen heißest du!«

»So nannte mich der Mann nicht,« rief der Knabe, über und über rot werdend. »Er sagte ›Nathan‹ zu mir. Heiße ich denn nicht Eugen?«

»Das ist dein Name ... für die Welt,« meinte sie ausweichend; »hier in der Gasse heißt Eugen anders.«

Eugens schönes Angesicht überflog ein Schatten.

»Ich habe dir noch nicht alles erzählt, Mama,« begann er wieder. »Der Mann nannte mich also Nathan. Weißt du, Nathan, sagte er zu mir, daß du jetzt bald dreizehn Jahre alt wirst und dann Tefillin anlegen mußt? Was ist das, Mama?«

Die Mutter wandte sich seufzend ab.

»Was fragst du mich?« fuhr sie plötzlich auf. »Frage deinen Vater darum.«

»Du weißt es also nicht?« rief Eugen erstaunt.

Die Frau Ruben Schönmanns begriff, daß sie ihrem Sohne gegenüber zu keiner Lüge ihre Zuflucht nehmen durfte.

»Das sind Riemen von schwarzem Leder,« sagte sie zögernd, »die sich die Männer während des Gebetes um die linke Hand und den Kopf schnallen –«

»Weiter, Mama!« forschte der Knabe.

»Weiter weiß ich nichts!« sagte sie beklommen und stockte.

Eugen blickte ihr starr ins Angesicht.

»Der Mann sprach davon, daß ich jetzt bald mein dreizehntes Jahr erreiche. Was wollte er damit gesagt haben?«

»Um Gottes willen!« schrie Rubens Frau auf und bedeckte sich mit beiden Händen das Antlitz. »Um Gottes willen, dringe nicht weiter in mich, Eugen, ich kann dir ja nicht antworten!«

Wir haben bisher von Ruben Schönmanns Frau nur wenig gesprochen. Sie galt allgemein, soviel man sie aus ihrer Abgeschlossenheit kannte, für ein still demütiges Wesen, das willenlos dem Einflusse ihres Mannes hingegeben war. Hätte sie sich sonst die Erziehung ihrer Kinder so aus der Hand spielen lassen? In der »Gasse« behauptete man, von einem dunkeln Ahnungsdrange getrieben, daß Rubens Frau, gekränkt, wie sie sein mußte, daß sie ihren eigenen Kindern gegenüber keine »jüdische« Mutter sein durfte, mit ihrem Manne in häufigem Hader lebe. Dunkle Gerüchte gingen, sie dürfe mit ihren Kindern nicht sprechen, denn sie spreche nicht französisch, und ihr »Deutsch« sei nicht nach Rubens Geschmack. Solche Behauptungen entbehrten aber aller Begründung. Rosalie, wie sie Ruben statt des ihm unleidlichen »Rösel« nannte, hatte sich wohl hie und da schwache Einwendungen gegen das Erziehungssystem ihres Mannes erlaubt; aber sie schienen nicht aus der Fülle eines leidenden Gemütes zu kommen. Sie sah in ihrem Manne ein Wesen von höherer Einsicht; was er tat, das war wohlgetan. Sie kannte wenig von der Welt da draußen; das eng begrenzte Haus, die künstlich geschaffene Stille, die rings um dasselbe lag, tat ihrer Neigung wohl. Zudem sah sie sehr wohl ein, wie wenig Recht sie eigentlich habe, die Anordnungen ihres Mannes anzufechten. Stolz und Freude hob ihren Busen, wenn sie auf ihre Kinder, die wie Prinz und Prinzessin einherschritten, niedersah, die so ganz anders sprachen, ganz anders sich benahmen, als die Kinder der Leute in der Gasse. Sie selbst konnte sich oft schwer überreden, daß die Kinder ihr eigenes Blut und Leben wären. Das Fremdartige ihrer Bildung, zu der ihre eigene einen schneidenden Gegensatz bildete, blieb ihr zwar kein Geheimnis; sie ahnte wohl, daß dieses gewaltsame Herausscheiden ihrer Kinder aus der rings um sie herum herrschenden Sitte und Anschauung manche Gefahren für die Zukunft in sich berge; aber sie beschwichtigte jedesmal diesen finstern Gedanken mit dem einen Satze: »Ruben muß das besser wissen als ich; er war schon draußen in der großen Welt – und die Kinder sind so etwas ganz anderes geworden ...«

Rosalie lebte jedoch in einer Selbsttäuschung; sie war unwahr gegen sich selbst, wie es jedes Gemüt ist, das sich unter den bannenden Einfluß eines anderen Willens blindlings begeben hat. Sie hatte sich gleichsam einschläfern lassen – dafür war jedes Erwachen mit jenem eigentümlichen Gefühle von Dumpfheit verbunden, das nach einem schweren Traume eintritt, dessen zerrissene Fäden die Seele umsonst zu ergänzen sucht.

Rubens Frau hatte in dem Hause ihrer Eltern eine ganz andere Erziehung genossen, als die sie ihren Kindern geben sah. Die Eltern waren Leute »vom alten Schlage«, jede »Bildung« war ihnen ferne. Aber Rosalie fragte sich doch öfters, ob, wenn ihre Eltern noch lebten und die Enkel sähen, die so herrlich gediehen waren, ob ihnen nicht bei aller Freude etwas – fehlen möchte an den Kindern? Ob die alten Leute nicht all die schimmernde Bildung der Kinder hingeben würden eben für jenes eine, das ihnen abging?

Als Eugen mit seiner Mutter jene sonderbare Unterredung hatte, die wir früher erzählt haben, war Ruben Schönmann auf einer längeren Geschäftsreise abwesend. Rosalie hatte also Zeit, fern von dem sie bestimmenden Auge ihres Mannes, diesem Erlebnisse nachzuhängen und es mit jener Zähigkeit, die gerade ein willenloses Gemüt in solchen Lagen entwickelt, fest in ihre Seele aufzunehmen. Gespensterhaft schlich ihr nun überall der Gedanke nach: den Kindern fehlt eines, sie sind nicht so, wie sie sein sollen!

Als Ruben zurückkehrte, fand er seine Frau blaß und abgehärmt; mit seinem scharfen Blicke erkannte er bald, daß sie ein Seelenleiden in sich trug.

Wir kennen den Inhalt des Gespräches zwischen den Eheleuten, das die Knaben aus der Gasse über die Bretterwand hinüber belauscht hatten.

»Ruben, um Gottes willen!« hatte Rosalie gerufen, »bringe mich nicht noch um den einen Glauben –«

Das Wort war Ruben tief in die Seele gedrungen; er war auf einen solchen Aufschrei der Frau nicht gefaßt, die er längst für beschwichtigt und seinen Grundsätzen anhängend wähnte. Er nannte das anfangs »weibische Narretei«, die sich wieder von selbst beruhigen würde: sie hinge, wie alle Weiber, an Kleinigkeiten und übersehe das Mittel über den großen Zweck. Aber Ruben war kein harter Mensch; er liebte seine Frau, die Mutter seiner Kinder, aufs innigste, und nichts lag ferner von ihm, als ihr wehe zu tun.

Seit jenem heftigen Auftritte zwischen ihm und Rosalien war nichts vorgefallen, was den einmal zur Schau gebrachten Riß noch mehr erweitert hätte. Rosalie schwieg und schien gleichgültig geworden. Aber Ruben täuschte sich nicht darüber; hinter der verdrossen gleichgültigen Miene ihres Antlitzes barg sie etwas, das ihn mehr erschreckte, als hätte sie in wilder Heftigkeit sich ihm widersetzt. Er sah Tränen, die sie nicht geweint hatte, und ihr übernächtig verstörtes Aussehen belehrte ihn, daß sie nicht ruhig war.

»Rosalie,« sagte er eines Morgens zu ihr, während sie gerade das Gebetbuch, das sie jetzt häufiger als sonst zu Hilfe nahm, mit einem andächtigen Kusse schloß, »Rosalie, ich will dir's zu Gefallen tun. Ich werde das Kind, wenn du es verlangst, an seinem dreizehnten Geburtstage in der Synagoge ›aufrufen‹ lassen. Nun sei aber zufrieden!«

Unter diesem »Aufrufen« verstand Ruben die bekannte Zeremonie, der sich die Knaben an ihrem dreizehnten Geburtstage zu unterziehen haben. Der Knabe wird am Sabbat von dem Vorbeter mit seinem und seines Vaters Vornamen vor die aufgerollte »Thora« gerufen und spricht zwei Benediktionen über das offenliegende Gotteswort aus. Hierdurch empfängt er gleichsam die Weihe des Mannes, der im Vollbesitze seiner geistigen und körperlichen Kraft fähig ist, nach den altüberkommenen »Gesetzen und Vorschriften« zu leben – er wird mit einem Worte ein »Bar Mitzwah«.

»Ruben!« flüsterte Rosalie und legte beide Arme um seinen Hals und weinte bitterlich.

»Macht dich das glücklich, Rosalie?« fragte Ruben. »Was weinst du?«

Rosalie versuchte zu lächeln; aber es war wie ein Sonnenstrahl, der plötzlich hinter Regenwolken wieder verschwindet.

»Ich freue mich ja, Ruben,« sagte sie gepreßt ... »wenn es nur früher geschehen wäre!«

»Früher, wie meinst du das?« forschte Ruben.

Rosalie hatte keine Antwort darauf.

Noch an demselben Tage schickte Rosalie nach einem Lehrer in der Gasse; er sollte den Knaben für den dreizehnten Geburtstag vorbereiten. Ruben ließ seine Frau gewähren; er schien für eine Weile sich jedes Einspruchs in ihre Verfügungen entäußert zu haben, um mit einem Gefühle von Neugier zuzusehen, wie weit Rosalie die festgewurzelte Macht seines Willens und die Grundsätze, nach denen die Kinder erzogen wurden, erschüttern könne.

Der Lehrer aus der »Gasse« schüttelte verwundert den Kopf, da er fand, daß Eugen auch nicht die leiseste Kenntnis von dem hatte, wozu er ihm die Anleitung geben sollte. Schamvoll bedeckte er sein Angesicht. – Eugen kannte nicht einmal die heiligen Zeichen jener Sprache, deren Laute er doch vor dem Buche Gottes aussprechen sollte. Vierjährige Kinder in der Gemeinde übertrafen den beinahe dreizehnjährigen Knaben in diesem Punkte des Wissens. Rosalie bemerkte mit einer Art Grauen, wie es um ihren Sohn stand. Sie ermunterte den Lehrer und versprach ihm reichlichen Lohn; aber er schüttelte den Kopf. »Im dreizehnten Jahre fängt man das nicht mehr an,« lächelte er trübselig, und er täuschte sich darüber nicht. Einen so hellen Kopf der schöne Knabe für alle andern Wissenszweige mitbrachte – für diesen einen, der auf einem ihm gänzlich entfremdeten Boden und Stamme wurzelte, zeigte er kein Verständnis. Diese Zeichen und Laute, die ihn so heimatlich traut hätten begrüßen sollen, blickten ihn kraus und verworren an; nur mit äußerster Anstrengung prägte er sich Sinn und Bedeutung derselben ein. Verdrossen folgte er der Anleitung des Lehrers; der Kopf schmerzte ihn, und eine Art Stumpfsinn hatte sich über sein offenes Antlitz gebreitet, wenn ihn der Lehrer verließ.

Nach einigen Monaten erklärte endlich der Lehrer den Knaben insoweit vorbereitet, daß man denselben mit einiger Beruhigung an einem der nächsten Sabbate in die Synagoge einführen könnte.

Rubens Frau sah diesem Tage nicht freudig bewegt entgegen. Sonst bildete die Aufnahme in den Bund der Gemeinde für jeden Knaben eine weiße Säule in dessen Leben; nach diesem Tage blickt er zurück, denn er bleibt lebendig und unverwischbar in seiner Seele. Was war er für ihren Sohn? Wenn sie auf seine verdrossen stumpfsinnige Miene sah, wußte sie es sehr klar ...

Am frühen Morgen des Sabbats, an welchem Eugen seinen dreizehnten Geburtstag feierte, sagte Ruben, bevor er zur Synagoge ging: »Rosalie! Ich bringe dir heute ein Opfer, und du weißt nicht, wie groß es ist! Aber ich habe es nicht sehen können, daß du im stillen Tränen vergossen hast. Du wirst es später begreifen ... und da wird es zu spät sein. Denk an mich, Rosalie!«

Rosalie selbst begleitete ihren Sohn nicht zur Synagoge, wie das jede andere Mutter getan hätte, die diesen Tag ihres Kindes auch für ihr Leben dankbar aufzeichnet; sie fürchtete sich ...

Auf dem Wege zum Gotteshause sagte Eugen, dessen Miene seltsam verstört aussah:

»Papa, mir ist sehr bange!«

»Wovor?« lachte Ruben auf, indem er mit einer nicht mißzuverstehenden Bewegung nach der Synagoge zeigte. »Du wirst doch vor denen dort keine Furcht haben!«

Aber als der Knabe an der Hand seines Vaters in das weite Haus eintrat, in das ihn in frühester Kindheit Ruben nur »zum Spaß« einige Male mitgenommen, da überfiel ihn ein Grauen und auf sein holdes Angesicht trat die Farbe des Schrecks. Alle diese Leute, die dichtgedrängt Kopf an Kopf nebeneinander standen, so viele Augen, die sich neugierig auf ihn richteten, das verworrene Brausen durcheinander schreiender Stimmen, die sich gleichsam das Recht streitig machten, wer von ihnen zuerst gehört werden könnte, all das zusammen und der Gedanke, daß er hier an dieser Stelle zur Prüfung berufen sei, verwirrte den Knaben und machte ihn in den tiefsten Fibern seiner Seele erbeben.

»Fürchte dich nicht, Eugen,« raunte Ruben ihm zu; »das alles ist ja nur zum Spaß.«

Endlich ward Eugen »aufgerufen.« In diesem Augenblicke trat eine lautlose Stille in der weiten Synagoge ein; jeder hielt den Atemzug an sich. Seiner Sinne unmächtig, mit wankenden Schritten, ging der Knabe durch die Reihen der Beter; ohne klares Bewußtsein trat er vor die aufgeschlagene Pergamentrolle der heiligen Lehre. Unsicher begann er die Eingangsworte des Segenspruches; den übrigen Teil desselben stammelte er verworren, so daß der Vorbeter ihn ergänzen mußte.

Der Sohn Ruben Schönmanns hatte seinen Eintritt in den Bund der Gemeinde unglücklich bestanden.

Als er jetzt wieder durch die Reihen der Beter ging, war es, als ob er durch die Ruten eines Strafgerichtes hindurchschritte. Zischeln und Kichern, höhnisch verzerrte Gesichter umgaben den unglücklichen Knaben von allen Seiten. Ruben empfing ihn aber mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen, als käme er aus einem glänzenden Kampfe.

In diesem Augenblicke ließ sich in Rubens Nähe eine Stimme vernehmen, die grollend rief:

»So soll es allen ergehen, die sich aus Gott einen Spaß machen. Es wird aber noch ärger kommen.«

Der arme Knabe hatte diese Worte wohl vernommen; sie erfüllten ihn mit kaltem Entsetzen. Wie von einer unsichtbaren Gewalt getrieben, mußte er sich umdrehen – und Todesschauer durchrieselte ihn. Er erkannte den alten, finsteren Mann, der ihn vor einigen Wochen vor der Türe des Pfarrhauses angesprochen hatte.

Ruben blickte ebenfalls nach der Seite hin, woher diese Drohung gekommen. Statt aller Antwort, die sich ihm bereits zornig auf die Lippen drängte, hob er den Knaben zu sich auf und küßte ihn.

Hoch aufgerichteten Hauptes verließ er dann, Eugen an der Hand führend, die Synagoge.


Was Rubens Sohne an diesem Sabbat widerfuhr, das war schon hundert und tausend anderen Knaben seines Alters widerfahren, nur unter ganz verschiedenen Umständen. Bei diesen hatte man kindliche Befangenheit in Anschlag gebracht und milde Schonung angedeihen lassen. Rubens Sohn hatte kein Recht, geschont zu werden. Das sah Rosalie klar ein, als ihr Mann lachenden Mundes ihr das Vorgefallene mitteilte. Ihr war damit eine unsagbare Hoffnung zerschlagen worden; dennoch begriff sie sehr gut, daß Ruben, wie sie ihn kannte, jetzt weniger als je geneigt sein werde, in seinen »Grundsätzen« nachgiebiger sich zu zeigen. Dennoch glaubte sie es dem Kinde schuldig zu sein, es wegen seines Mutes zu loben und ihm das Überstandene von der heitersten Seite vorzustellen. Ihr Herz war aber traurig, und, ihrem Manne unhörbar, flüsterte sie dem Kinde ins Ohr: »Mach dir nichts daraus, mein goldner Eugen! Du kannst ja nichts dafür!«

Noch in der Nacht desselben Tages erkrankte Eugen unter sehr bedenklichen Anzeichen.

Das Kind gehörte zu jenen feingearteten Naturen, über die ein erlebter Schreck, eben weil sie mit zu großer Absichtlichkeit vor jeder rauheren Berührung der Außenwelt behütet worden sind, eine desto verheerendere Gewalt ausübt.

Aus den irren Reden des Kindes, das im heftigen Fieber lag, ging mit Bestimmtheit hervor, daß es sich noch immer in der Synagoge wähnte. Seine Einbildungskraft war unter der Herrschaft dieser einen Vorstellung. Zwischen Wimmern und heftigem Aufschreien der Furcht wiederholte es zuweilen die Anfangsworte der Segensformel, die er in dem Bethause zu sprechen hatte, dann stockte es und griff mit den Händen in das Leere, als wollte es eine drohende Gefahr von sich ferne halten.

Gegen Morgen ward das Kind ruhiger; der herbeigerufene Arzt wollte jedoch trotz alles Drängens keinen tröstlichen Bescheid geben. Der Zustand des Knaben war übrigens veränderlich; bald tobte er in den wildesten Vorstellungen, die ein erhitztes Gehirn aus sich erzeugt, bald trat Klarheit aller Sinne ein, worauf er dann gewöhnlich nach der Mutter begehrte, um ihr ... minutenlang in die Augen zu sehen. Gegen den Vater zeigte er eine unerklärliche Nichtachtung, ja Abneigung!

Sonderbar! So besorgniserregend der Zustand Eugens war – zwischen den Eltern wurde kein Wort, das auf ihre Befürchtungen nur entfernt Bezug nahm, ausgetauscht. Als hätten sie es verabredet, drängte jeder von beiden ein Wort zurück, das ihnen bereits mit schneidiger Schärfe auf den Lippen saß: Wer hatte den Zustand des Kindes verschuldet?

Inzwischen wühlte die Krankheit immer tiefer an dem Lebensbaume des armen Knaben.

Am achten Tage – es war wieder Sabbat – erwachte das Kind aus einem unruhigen Schlummer. Nur Rosalie befand sich an seinem Bette; da richtete sich das Kind mit Anstrengung aller seiner Kräfte in die Höhe und umfaßte mit beiden Händen die Mutter, die sich zu ihm geneigt hatte.

»Mutter!« flüsterte es ihr mit schwacher Stimme ins Ohr, »wenn ich wieder gesund werde, sollst du sehen, wie ›fromm‹ ich sein werde. Du mußt den Lehrer gleich bestellen.«

Das waren die letzten hellen Worte, die der Knabe sprach; von da an lag er bis zum dreizehnten Tage besinnungslos, nur abgerissene Worte stammelnd, die noch immer darauf hindeuteten, daß das in der Synagoge Erlebte seine bannende Gewalt nicht verloren hatte. Um die Abenddämmerung dieses Tages begann das Kind mit einem Male in jenem singenden Tone der dem Bethause angehört, die Eingangsworte der Segensformel vor der Thorarolle, aber noch ehe es den Satz geendet, sank es zurück und hatte seine Seele ausgehaucht.

Laut aufschreiend erkannte Rosalie, daß ihr Kind tot sei!

Der entsetzliche Schlag, der das Haus so recht in seinem Schönsten und Hoffnungsvollsten getroffen, widerhallte schmerzlich in allen Gemütern der Gasse. Nur wenige Stimmen verirrten sich so weit, den Tod des Kindes als ein Zorngericht zu bezeichnen, auf das die Worte des Zehngebotes von der Schuld der Väter seine Anwendung fand. Wann hätte sich menschliche Kurzsichtigkeit in so schweren Heimsuchungen nicht berufen geglaubt, mit ihrem Maßstabe die schwer zu erfassenden Wege des Verhängnisses zu messen?

Auf Ruben und dessen Frau übte der so unerwartet rasche Heimgang ihres einzigen Sohnes eine verschiedene Wirkung. Während Rosalie stumm und starr an der Leiche des geliebten Kindes saß, keiner Träne fähig, um das Entsetzliche zu künden, das über sie hereingebrochen, gebärdete sich Ruben wie einer, dem ein himmelanschreiendes Unrecht angetan worden. Auch er fand keine Träne ... sein Schmerz hatte etwas von grimmigem Zorne an sich. Wie ein Trunkener schwankte er durch die Zimmer seines weiten Hauses; das Gleichgewicht seiner Seele war gestört. Zwischen dunkeln Verwünschungen brachen sich nur zuweilen sanfte Klagen um das Geschick seines Kindes Bahn. Für Rosalie hatte er kein Wort des Trostes; wenn er in ihre Nähe kam, drängte es ihn wie mit unsichtbarer Gewalt von ihr zurück. Fürchtete er, daß sie sprechen könnte? Das erste Wort, das zuerst über ihre starren und zusammengepreßten Lippen kam, mußte einen entsetzlichen Zwiespalt ans Licht bringen.

Am dritten Tage wurde das Kind begraben.

Erst als man die Leiche aus dem Hause trug, erwachte Rosalie aus der bisherigen Stumpfheit ihres Schmerzes. Ihr Jammer machte alle Herzen erschüttern; stumm und gebeugt schritt Ruben hinter dem Sarge einher. Er war in drei Tagen ein alter Mann geworden.

Auf dem Friedhofe ließ Ruben an sich alle jene Gebräuche vollziehen, wie sie tausendjährige Sitte für die Trauernden vorschreibt. Einer der Totengräber schnitt mit einem stumpfen Messer in Rubens Rock einen tiefen Riß, wohl als Sinnbild dessen, wie es in der Seele des seines Kindes beraubten Vaters aussah! Auch sprach Ruben das übliche Gebet für die Toten, den »Kadisch« – es war das Letzte, was er seinem toten Knaben nachschickte.

Als sich die Leute zum Heimgehen wandten, blieb Ruben noch eine Weile neben dem eben geschlossenen Grabe stehen. Sein Eugen sollte da drin liegen? Ein heftiger Tränenstrom brach ihm aus den Augen; mitleidig nahmen ihn einige der Nahestehenden beim Arme und führten den heftig sich Sträubenden von dem Platze hinweg.

Wenige Schritte vom Friedhof wandte er sich noch einmal um. Der ganze »gute Ort« mit seinen einfachen Steinmalen und Gras überwachsenen Gräbern lag vor ihm; Eugens Ruhestätte war deutlich sichtbar. Sie lag auf einer Erhöhung und konnte schon aus der Ferne wahrgenommen weiden.

»Dein Grab soll auch bald ganz anders aussehen, mein armes Kind, verlaß dich darauf,« sprach er, die Augen gegen den Friedhof gerichtet. »Mein Kind muß besser gebettet sein.«

Die Leute, die an Rubens Seite gingen, schüttelten den Kopf zu diesem Selbstgespräch; sie wußten nicht, was sie davon halten sollten.

In der Gasse erzählte man es sich als etwas Unerhörtes, welche merkwürdige Veränderung mit Ruben seit dem Tode seines Kindes vorgegangen sei. Er hielt die siebentägige Trauer um dem Gestorbenen, während welcher Zeit er sich nicht aus dem Hause entfernte, und saß nach dem alten Brauche auf einem niedern Fußschemel. Am Morgen und Abend erschienen Leute aus der Gasse, um die Gebete daselbst zu verrichten, und Ruben sprach jedesmal das übliche Gebet um das Seelenheil der Toten. Auch brannte das Licht, das nun durch dreißig Tage nicht mehr verlöschen sollte. – Ein Hauch jenes Lebens, das diesem Hause schon so lange entfremdet war, schien es wieder zu durchwehen, und vielleicht war dies die Ursache, daß sich Rosalie allmählich ermannte und eine gewisse Ruhe über sie gekommen war.

Am Morgen des ersten Tages nach der siebentägigen Trauer kleidete sich Ruben mit einer gewissen Hast an, die Rosalien auffiel. Sie fragte ihn, wohin er wolle.

»Willst du mir einen Gruß mitgeben?« rief er, und seine Stimme zitterte.

»Ich versteh' dich nicht, Ruben!« sagte die Frau.

»Ich geh' zu Eugen, zu meinem Eugen ...« rief er, und die Sprache des kräftigen Mannes klang fast wie das Weinen eines Kindes.

Rosalie blickte mit weit geöffneten Augen ihren Mann an. Das war eine gar seltsame Rede.

»Ich hab' ihm versprochen,« fuhr er in demselben Tone fort, »sein Grab schöner zu machen. Mein Kind soll etwas Besonderes haben ... nichts als Erde liegt auf dem armen Kinde ... ich will's ihm ein wenig leichter machen.«

»Was redest du, Ruben?« rief Rosalie ängstlich, »was geht dir da durch den Sinn?«

»Ich gehe zu meinem Eugen!« wiederholte er, und griff nach der Türklinke.

»Wer geht denn im Sterbejahre auf den guten ›Ort?‹« rief Rosalie und legte ihre Hand abwehrend auf Rubens Arm. »Man darf ja nicht.«

»Wer darf nicht?« schrie Ruben mit unheimlich funkelnden Augen; die frühere Milde seiner Stimme schien in ihr gerades Gegenteil verwandelt. »Wer darf nicht?« schrie er. »Ich nicht oder du? Wer verbietet es mir, wer kann es mir verwehren? Bin ich nicht Ruben, und bist du nicht mein Weib?«

»Es ist nicht der Brauch, Ruben!« wimmerte Rosalie durch diesen heftigen Aufschrei im Innersten erschreckt.

»Wer darf mir das verbieten?« rief er dagegen. »Vielleicht die da unten?«

Er streckte den Arm aus und wies mit dem Finger nach der Gasse.

Rosalie wich entsetzt zurück. Solch eine Miene von Hohn und Haß hatte sie noch auf keinem Menschenantlitze gesehen. Ohne ein weiteres Wort war Ruben fortgeeilt.

Er schlug mit hastigen Schritten den Weg zum »guten Ort« ein, mit einem Gefühle freudiger Erwartung, als ginge er einem heitern Besuche entgegen, hart neben dem Gram und der Verbitterung im Herzen!

Ehe er den Friedhof betrat, ging er zu einem in der Nähe wohnenden Gärtner. In dem Treibhause desselben suchte er unter den Blumen und Sträuchern blühende Rosen namentlich und weißleuchtende Lilienstöcke aus. Der Gärtner schaute ganz verwundert darein, als er den Ort vernahm, wohin ihn Ruben bestellte; er sollte damit Eugens Grab schmücken. Noch nie war ein solches Verlangen von den Leuten in der »Gasse« an ihn gerichtet worden ...

Erst gegen Mittag kehrte Ruben in sein Haus zurück; sein Antlitz trug den Ausdruck eines gewissen Befriedigtseins.

»Du solltest nur sehen, Rosalie,« rief er beinahe lustig, »wie schön jetzt dein Kind da draußen liegt. Nichts als Blumen, Rosen und Lilien wachsen aus dem Grabe heraus. Es wird einem ganz wohl ums Herz, wenn man hinsieht, wie gut ich das Kind jetzt gebettet habe. Das sollst du sehen, Rosalie.«

»Das hast du getan, Ruben?« unterbrach sie ihn. »Ich habe es ihm ja versprochen!« sagte er milde. »Warum soll das Kind nicht noch in seiner letzten Ruhestätte von den Eltern geehrt und geschmückt werden? War das Kind nicht auch die Blume unseres ganzen Lebens? Hat es nicht dich und mich geschmückt? Sage, wie anders kannst du dich bei ihm bedanken? Verdient das Kind gar nichts dafür?«

Rosalie legte weinend den Kopf auf den Tisch; der Ton dieses sonst so willenskräftigen Mannes, der in so milden Worten die ganze Lieblichkeit und Anmut ihres toten Knaben heraufbeschwor, er, der selbst so gebeugt nur nach dem Troste rang, wie er noch jetzt eine Pflicht gegen das Kind erfülle, all das stellte sich vor ihren Geist.

»Man darf ja nicht –« schluchzte sie.

»Was darf man nicht?« fragte Ruben bebend.

Rosalie konnte nichts erwidern. War es, daß ihr der neuerwachte Schmerz kein Wort gestattete, oder daß sie ihren Mann zu reizen fürchtete.

»Rosalie,« sagte Ruben sanft und liebreich, indem er die Schulter seiner Frau leise berührte, »du sprichst immer vom Nichtdürfen! Dein zweites Wort ist stets: Das darf man, das darf man nicht! Bin ich denn in einem Kerker, den ringsherum eiserne Gitter und Wächter mit aufgesteckten Spießen umgeben? Warum soll ich nicht können, was ich will?«

Rosalie schüttelte aber den Kopf, und erst nach einer Weile sagte sie:

»Damit komme mir nicht. Meine und deine Eltern haben auch nicht getan ... was man nicht tun darf. Soll ich mich für etwas Besseres halten, als sie waren? Eher bin ich schlechter.«

Ruben brach ab; er fühlte, daß er die grimmige Erregtheit nicht würde bemeistern können, die sich ihm mit aller Gewalt aus die Lippen drängte. Er ließ diesen Gegenstand auch fallen, und es trat die seltsame Erscheinung ein, daß die Eheleute von dem, was doch all ihr Denken und Sinnen ausfüllte, aus Scheu, einander nicht zu verstehen, zu reden unterließen.

Von nun an war Rubens täglicher Gang, nach den Blumen auf dem Grabe seines Kindes zu sehen. Gedrückt und gebeugt ging er gewöhnlich aus dem Hause, wenn er aber heimkehrte leuchtete aus seinem Auge ein Strahl von Freude, der selbst Rosalien wohl tat. Die Blumen, die er der Obhut des Gärtners anvertraut hatte, gediehen ja so schön in dem Boden, der mit dem Staube seines Kindes gemengt war! Wie dufteten die Rosen, wie leuchteten schon aus der Ferne die weißen Lilien!

Eines Tages legte er bei seiner Heimkunft eine frisch gebrochene Rosenknospe vor seine Frau hin.

»Die kommt von da draußen!« sagte er.

Rosalie aber zuckte zusammen – und berührte die Blume nicht.

Fortan schien Rubens Gedankenwelt sich nur in dem einen Kreise zu bewegen, der um den »guten Ort« sich zog. Alle andere Art von Tätigkeit schien er gewaltsam von sich fernhalten zu wollen. Nur mit Mühe faßte er den Entschluß, eine unaufschiebbare Geschäftsreise anzutreten, die nach seinen eignen Worten sich gewinnbringend gestalten mußte ... Er haßte die leiseste Berührung mit seiner gewohnten Beschäftigung; er wollte nichts als der Hüter des Grabes sein, in welchem sein Kind ruhte.

Am Tage seiner Heimkunft, noch ermüdet von den Anstrengungen der Reise, wies er jede Erquickung von Speise und Trank zurück, und wollte zuvor seinem Knaben den langentbehrten Besuch abstatten. Auf der Treppe begegnete er dem Gärtner, dem er die Obhut des Grabes übertragen hatte. Der Mann brachte eine Meldung, wie sie in Rubens Lage nicht entsetzlicher klingen konnte.

Als er heute früh, berichtete der Gärtner, auf den Friedhof gekommen, um die Blumen zu begießen, ... da wären die Blumen verschwunden gewesen; ruchlose Hände hätten sie aus dem Boden gerissen ... es sei zum Erbarmen, wie die armen Rosen und Lilien entwurzelt auf der Erde ringsherum lagen. Nun komme er fragen, was er zu tun habe.

Eine Weile starrte Ruben mit gläsernen Augen dem Manne ins Angesicht; dann aber rang sich ihm ein Schrei aus der Brust, wie ihn nur tierische Wildheit auszustoßen vermag.

»Hilfe, Hilfe!« schrie er, und seine Hände klammerten sich um den einen Arm des Gärtners.

»Wer hat mir das getan?« keuchte er mühsam aus der zum Zerspringen vollen Brust. »Wo ist der, der mir das getan hat?«

Der Gärtner erzählte, der Frevel müsse gestern geschehen sein, da wären Leute auf dem Friedhofe gewesen, die hätten eine Leiche zu Grabe bestattet ... von denen müsse es ausgegangen sein.

»Hilfe! Hilfe!« schrie wieder Ruben. »Wer hat mir das getan?«

Er rannte die Treppe hinauf und riß die Türe auf.

»Hast du schon gehört, Rosalie,« rief er, »was die da unten an unserem Kinde begangen haben? Weib, hast du's gehört?«

So sinnenverwirrt war Ruben in diesem Augenblicke, daß er nicht bemerkte, er habe in die leere Luft seinen Verzweiflungsruf gestoßen, denn Rosalie befand sich nicht im Zimmer. Erst jetzt öffnete sie, aufgeschreckt durch die entsetzensvollen Laute, eine andere Türe.

»Hilfe, Hilfe!« schrie er, als er jetzt ihrer ansichtig wurde, und nun fiel er kraftlos, wie ein vom jähen Schlag Getroffener, auf einen Stuhl neben der Türe nieder. Rosalie glaubte wirklich, ein ähnlicher krankhafter Anfall habe ihren Mann überkommen. Sie stürzte zu ihm und richtete sein Haupt auf; sein Angesicht war jetzt erdfahl wie das eines Toten, nur die Lippen bewegten sich, und die Brust rang in fürchterlichem Kampfe nach Atem. Sie selbst schrie jetzt um Hilfe; da schlug er die Augen auf.

Zwei Tränen drängten sich langsam daraus hervor; sie kündeten, daß der Grimm seines Schmerzes gebrochen war. Mit wirren Blicken sah er seiner Frau in das erschreckte Angesicht; erst allmählich schien er die Fassungskraft zu erlangen.

»Hast du's schon gehört, Rosalie?« fragte er schwach.

Rosalie schüttelte verneinend den Kopf.

»Wie kommt das?« meinte er, »du hast wirklich nichts gehört?«

Rosalie hatte nicht den Mut, noch einmal zu verneinen.

Da richtete er sich in dem Stuhle auf; sein Antlitz hatte wieder die Farbe innerer Erregtheit angenommen.

»Weib!« rief er und umfaßte mit einer Kraft, die man seinem jetzigen Zustande nicht zugetraut hätte, Rosaliens Arm. »Weib, ich will dir etwas vertrauen! Wir können in dem Orte da nicht länger verweilen ... Rings um uns herum lauern Feinde, die uns den Löffel Wasser vergiften könnten; das Kind im Mutterleib schon ist unser Feind! Alle sind gegen uns verschworen! Keiner hat Erbarmen mit uns! Nicht einmal das Kind in seinem Grabe ist vor ihnen sicher!«

»Um Gottes willen, sei doch ruhig, Ruben!« bat Rosalie.

»Ausgerissen haben sie alles!« rief Ruben in immer höher steigender Erregung. »Alles herausgerissen, mit der Wurzel heraus; nicht die kleinste Blume haben sie stehen lassen, die Unmenschen! Die Räuber und Tiger! Was hat ihnen denn mein armer Knabe getan?« Umsonst bat ihn Rosalie, sich doch zu mäßigen, er möge doch bedenken, wie sehr er seine Gesundheit gefährde. Er aber mochte in der unnatürlichen Stimmung, die alle seine Seelenkräfte unterjochte, etwas ganz anderes aus dem Munde seiner Frau vernommen haben.

»Wenn ein Hund an der Kette liegt,« schrie er und stieß Rosalien von sich, »dann ist er ein Spielzeug aller Jungen in der Gasse, und ich liege an einer solchen Kette.«

Rosalie begriff erst jetzt vollkommen ihren Mann.

»Habe ich dir es nicht gesagt,« rief sie am ganzen Leibe bebend, »daß man's nicht tun darf ... daß es eine Sünde ist ...«

»So?« lachte er laut auf. »Das wäre eine Sünde an Gott, wenn ich meinem toten Kinde zum Schmucke ein Paar Blumenstöckchen auf sein Grab einpflanze? Gott läßt die Blumen überall wachsen und überkleidet selbst das schlechteste Grab mit grünem Grase ... und ich sollte nicht mit meinem Willen etliche Rosen und Lilien meinem Knaben auf sein letztes Bett mitgeben dürfen ... weil's die da unten nicht wollen?«

»Laß das Kind in Ruhe,« fugte Rosalie beschwichtigend, »es ist tot. Mit allen Blumen in der Welt kannst du es doch nicht erwecken. Was willst du also?«

»Du bist also auch gegen mich?« höhnte Ruben, »gehörst also auch zu meinen Feinden? Richtig! ich hätte es bald vergessen, und es ist gut, daß du mich daran erinnerst. Du bist ja diejenige gewesen, die zu mir gesagt: Das darf man nicht tun. Nicht wahr, du Fromme, das bist du gewesen?«

»Und ich sage dir's selbst jetzt, wo mir das Herz bricht wegen deines Kummers,« rief Rosalie, unbeirrt von dem lieblosen Hohne ihres Mannes. »Warum hast du mir nicht gefolgt? ...«

Wie von einem plötzlichen Blitze durchzuckt, unterbrach sich Rosalie; aber auch Ruben fuhr erschreckt zusammen. Beide, Mann und Frau, mochten es empfinden, daß sie an einem Wendepunkte ihres Lebens standen, daß sie im Begriffe waren, den in ihnen wurzelnden Widerstreit in Vorwürfen und bitteren Reden offen ans Licht treten zu lassen. Wer aber sieht das Ende voraus, wenn der Brand erst die Blätterkronen einiger Bäume im Walde ergriffen hat? ...

Eine plötzliche Stille war eingetreten. Ruben rang sichtbar unter der Gewalt eines inneren Kampfes; Rosalie hatte sich nach der Türe gewendet, als bereite sie sich für den Augenblick, der ihr jetzt bevorstehe, zur Flucht.

»So!« sagte er schneidend und gedehnt, »ich hätte dir also folgen sollen, und wäre dabei gut gefahren? Das meinst du doch damit, du Fromme? Hätte ich nicht, wenn's nach deinem Willen gegangen wäre, mich vor den Leuten demütigen und mürbe wie Zunder zeigen und ihnen zurufen sollen: Leut', ich bin bis jetzt ein schlechter Jude gewesen; macht mit mir, was ihr wollt, geht über meinen Leib in die Synagoge, zerfleischt mich mit Peitschenhieben ... denn ich habe es verdient ...«

Beide Hände auf das hochschlagende Herz gepreßt erwiderte Rosalie:

»Das habe ich weder gewollt, noch gesagt. Keine Frau sieht gerne, wenn ihr Mann klein gemacht wird vor den Leuten ... oder sich gar selbst vor ihnen klein macht. Etwas anderes ist das ... vor Gott!«

»Ich verstehe dich, Rosalie, ich verstehe dich gut!« rief Ruben, wie triumphierend. »Ich lese in deiner Seele einen Gedanken ... ich habe ihn drin am Todestage unseres Kindes gelesen. Du meinst ... ich hätte den Tod unseres Knaben auf mir ... ich hätte ihn verschuldet? ...«

»Um Gottes willen, schweig, schweig!« schrie Rosalie. »Misch Gott nicht in unser Unglück ein. Vielleicht tragen wir beide die Schuld: versündigen wir uns nicht noch mehr!«

»Da hört man, was die da unten in dich hineingeschrien haben; denn gerade so hallt es wieder aus dir heraus!« meinte Ruben kalt. »Die da unten werden dir noch mehr einreden. Was erlebt man nicht alles ... wenn man in der ›Gasse‹ alt wird!«

»Kein Mensch hat mit mir gesprochen,« sagte Rosalie, »und ich habe mit keinem Menschen gesprochen. Was ich dir da sage, das ist mir wie ein Licht aufgegangen am Krankenbette unseres Kindes! Bis dahin ist stockfinstere Nacht um mich gewesen. Aber fünf Tage vor seinem Tode, da hat das Kind seine Arme um meinen Hals geschlungen und hat mir ins Ohr geflüstert: ›Mutter, wenn ich wieder gesund werde, dann will ich ganz gewiß sehr fromm sein!‹ Das hat das Kind gesagt. Seitdem ...«

Rosalie konnte vor Schluchzen nicht weiter sprechen. Über Rubens Antlitz fuhr es in diesem Augenblicke wie ein lichter Himmelsstrahl; die eigenen Worte des Kindes nahmen für ihn Leben an ... Er fühlte sich davon seltsam bewegt, sie klangen ihm wie ein Gruß aus der andern Welt; aber diese Regung verstummte sogleich wieder vor der Verbitterung seiner Seele.

»Die da unten,« sagte er rauh, »hatten das Kind gleich am ersten Tage, wo es unter sie trat, so erschreckt gehabt bis in die innerste Seele hinein ... daß es auf solche Reden verfallen mußte. Gesetzt den Fall, ich hätte mich durch deine Tränen nicht erweichen lassen, hätte dir nicht den Gefallen erwiesen, das Kind »Bar Mitzwah« werden zu lassen; gesetzt, ich hätte mit dem Kinde überhaupt eine andere Bestimmung vorgehabt ... wäre ihm eine solche Rede gar in den Sinn gekommen?«

»Ruben, ich bitte dich,« rief Rosalie, indem sie stehend ihre Hände gegen ihn erhob, »red nicht so! Aus dem Kinde hat Gottes Stimme gesprochen.«

»Habe ich ihn zu einem Räuber und Mörder erziehen wollen?« schrie er dagegen. »Ist das eine Sünde, wenn ich ihn nicht so haben wollte, wie die da unten?«

»Höre mich an, Ruben!« sagte sie nach einer langen Weile, indem sie zu ihrem Manne näher trat. Ihr sonst blasses Angesicht war von einer feinen Röte bedeckt, und ihre Stimme zitterte nur wenig. »Höre mich an! In der Stille meines Kummers und in der Verzagtheit meines Herzens, da ist mir manches licht und klar geworden, was mir früher finster und bedeckt war, weil ich darüber nicht nachgedacht habe. Wozu hätte ich nachdenken sollen? Du warst ja mein Denker, und was du getan hast, das habe ich für gut gehalten. Ich habe noch mehr getan ... ich ließ dich zuviel für mich denken, und das ist leider Gottes meine größte Schuld.«

»Weib!« unterbrach sie Ruben mit einer heftigen Gebärde.

»Laß mich reden!« sagte sie hoch aufgerichtet. »Du kränkst dich, daß dir die da ›unten‹, wie du sagst, die Leute in der Gasse, die einzige Freude, die du deinem Kinde noch hast bereiten wollen, so grausam aus der Erde gerissen haben. Bruderliebe und Schonung verlangst du also von Leuten, die du tausendmal mehr gekränkt und mit den Füßen gestoßen hast, als sie dich beleidigt und gekränkt haben! Wer bist du? Ein einzelner. Wer sind sie? Hunderte und Tausende. Du, der einzelne, hältst dich nicht zu ihnen; dich freut nicht, was sie erfreut, dich betrübt nicht, was sie betrübt. Du hast dir ein eigenes Herz für sie angeschafft. Und wenn diese Hunderte und Tausende sagen: Das darf man und das darf man nicht, so hat dich dieses Herz angetrieben, gerade das Gegenteil zu tun. Gehörst du nicht zu ihnen? Hat dich keine jüdische Mutter gesäugt? Bist du vornehmer? Und wenn du aus königlichem Geblüte wärest, so meine ich, darfst du auch nicht schänden und entweihen, was ihnen da unten heilig ist! Nicht mit einem leisen Wörtchen darfst du sie kränken ... Und das hat ja mein armes Kind gemeint, wie es kurz vor seinem Tode versprochen hat, es wolle, wenn es wieder gesund wird, recht sehr fromm werden ... Damit hat es sagen wollen: Das erste, was ich nach meiner Krankheit mache, ist, daß ich wieder gehöre zu denen, die ... da unten sind, zu meinen Brüdern und Schwestern! Ich will lernen, was sie lernen; ich will nichts anderes sein, als was sie sind. Das, glaube mir, hat das Kind unter seinem Frommwerden gemeint ... Wenn du aber eine andere Bestimmung mit ihm vorgehabt hast, Ruben ... dann sage ich dir, hat Gott besser getan, uns das Kind zu nehmen ... bevor ...«

»Rosalie!« unterbrach sie Ruben.

»Wenigstens mir!« rief sie mit verlöschender Stimme, und sank dann laut schluchzend neben dem Tische nieder. Auch Ruben weinte.

»Rosalie!« sagte er nach einer bangen Weile und stand auf. »Ich sehe erst jetzt, was der Tod für ein gewaltiger Gebieter und Herr ist. Er nimmt den Eltern nicht nur das geliebte Kind ... und trennt es von ihnen ... er trennt und scheidet auch die lebenden ... Eltern!«

»Ich kann nicht anders, Ruben!« schluchzte Rosalie, »ich kann nicht anders.«

Ruben warf noch einen langen, vielsprechenden Blick auf die in ihrem Jammer daliegende Frau; dann ging er zur Stube hinaus.


Ruben hatte die Blumen auf dem »guten Ort«, wo sein Knabe lag, nicht wieder erneuern lassen; auch unternahm er keinen Schritt, um sich von »seinen Feinden« für den begangenen Frevel Recht zu verschaffen. Gegen seine Frau zeigte er sich milde und in einer Weise liebreich, als sei das eben Vorgefallene auch ein Grab, über dem sich schon die grüne Grasdecke wölbt. Wenn Rosalie es nicht merkte, dann ruhte sein Auge oft minutenlang sinnend auf ihr. Sie war übrigens nur wenig befremdet, daß Ruben seit einigen Tagen fast gar nicht aus dem Hause kam; er saß an seinem Schreibtische oft bis in die späte Nacht hinein und schrieb und rechnete unausgesetzt.

Eines Morgens war er wieder ausgegangen; als er zurückkehrte, hatte er rotgeweinte Augen. Rosalie fragte ihn nicht, wo er gewesen; sie wußte es ohnehin.

Im Laufe desselben Tages kündigte er ihr an, er müsse noch heute eine größere Geschäftsreise antreten; sie werde aber diesmal seine längere Abwesenheit in Anspruch nehmen, denn es seien Dinge vorgefallen, die dies dringend erforderten.

Rubens Frau war nur wenig gewöhnt, sich in die geschäftliche Tätigkeit ihres Mannes einen selbständigen Einblick zu gönnen; sie nahm auch diesmal die Nachricht von seiner bevorstehenden Abreise mit der Ruhe, die ein tägliches Ereignis gibt, auf.

Eines wunderte sie, daß er sie bat, Klara, ihrem jetzt einzigen Kinde, von seiner Abreise nichts zu sagen. »Das Kind könnte erschrecken,« sagte er mit unerklärlicher Hast, »wenn er ihm sein längeres Ausbleiben schon jetzt anzeigte.« Rosalie solle, wenn das Kind frage, wo denn der Vater so lange bleibe, nur frischweg antworten, er könne jeden Augenblick kommen, »um sie abzuholen«.

»Warum soll ich so etwas sagen?« fragte Rosalie noch immer ohne Arg.

»Es soll ja nur eine Ausrede sein,« meinte Ruben ausweichend, »um das Kind zu trösten.«

Als er spät am Abend aufbrach, begleitete ihn Rosalie bis vor die Haustüre. Die Gasse war menschenleer; am Himmel leuchtete kein einziger Stern, er war von Regenwolken ganz umzogen; Rosalie empfand ein leises Frösteln.

»Warum reisest du nicht bei Tag, Ruben?« fragte sie.

»Ich will von den Leuten nicht gesehen werden,« sagte er rasch und ging an den Wagen, woran er noch einiges zu mustern schien. Dann wandte er sich noch einmal zu Rosalie und reichte ihr die Hand; sie zitterte heftig.

»Ruben!« schrie sie, von einer unerklärlichen Angst gepackt, und schlang ihre Arme um seinen Hals; so hielt sie ihn eine lange Weile umschlossen.

Ruben rang sich los; noch ehe sie ein weiteres Wort vorzubringen vermochte, war der Wagen fortgerollt. – Mit beschwertem Herzen ging Rosalie wieder ins Haus zurück. Erst jetzt, in ihrer Einsamkeit und in der Stille der Nacht fiel ihr das seltsame Benehmen ihres Mannes vor und während seiner Abreise auf die Seele. Jedes Wort, das er gesprochen, klang jetzt mit verdoppeltem Verständnisse in ihren Ohren. Was hatte Ruben vor? Warum war er so eigentümlich bewegt? Während Rosalie noch diesem Rätsel nachsann, war sie unbewußt in das Zimmer eingetreten, wo ihr Töchterchen Klara schlief. Beim Anblicke des Kindes zuckte sie zusammen. Warum hatte ihr Ruben aufgetragen, dem Kinde seine Abreise zu verbergen?

Mit einem Male stand ihr Herzschlag still. Nacht trat vor ihre Augen; aus dem Dunkel des bis jetzt nicht Begriffenen starrte sie die eine Frage an:

»War das Kind jetzt ohne Vater? Hatte sie keinen Mann? ...«

Dann mußte sie wieder über ihr eigenes Schreckgebilde lächeln.

»Gott verzeih' mir meine Sünde!« flüsterte sie mit bebenden Lippen.

Sie schloß in dieser Nacht kein Auge, ihre Seele glich einem auf hoher See umhergejagten Fahrzeuge. Bald hoch oben auf den Fluten der Hoffnung, daß sich alles, was ihre Angst ihr zuraunte, zuletzt in einen wesenlosen Schein auflösen werde, bald wieder tief unten in den Abgründen, wo nichts anderes, als ihre eigene Frage ihr ins Ohr tönte:

»Klara ist also ohne Vater? Habe ich keinen Mann mehr?«

Nun, als sie diesem Gedanken immer mehr zur Beute wurde, begannen für sie jene entsetzlichsten Momente des Menschenlebens, die der Selbstanklage. Wenn Ruben fortgegangen, vielleicht um niemals wiederzukehren, wer trug die Schuld davon? Sie hatte ihn zu diesem äußersten Schritte genötigt, sie hatte Worte und Vorwürfe zu ihm gesprochen, die er als Vater nicht ertragen konnte und durfte. Und welch ein Vater war Ruben! All das, was sie ihm vorzuwerfen hatte, was in der letzten Zeit sich als Scheidewand zwischen sie beide gestellt hatte, entsprang es nicht aus seinem für das Wohl der Kinder und des Hauses vorsorgenden Vatergefühl?

Für das Wohl der Kinder!? flüsterten wieder andere Stimmen in ihr. Wer gab ihr, wo hatte sie die Gewähr, daß dem wirklich so sei? Das war ja die Scheidewand ... und der Tod ihres Kindes war ihr ja als eine Botenstimme Gottes erschienen? ...

Ihre Gedanken und Vorstellungen verwirrten sich immer mehr, sie fand keinen Ausweg aus diesen Irrgängen. Erst gegen Morgen machte ein leichter Schlummer diesen Qualen ein Ende. Als sie aufwachte, war ihr erster Gedanke: Wie weit mag jetzt Ruben sein? Jede Minute entfernt ihn immer mehr! Dann griff sie fast mechanisch nach dem Gebetbuch ... Das erste, worauf ihr Blick fiel, war ein Brief, der darin lag. Das Schreiben war versiegelt und trug in Rubens wohlbekannten Schriftzügen ihre Adresse ...

Rosalie schrie nicht auf; der nächtliche Gedankenkampf hatte sie zu sehr ermattet. Es konnte ihr kein neuer Schreck etwas anhaben, sie hatte seine Schauer vorempfunden. Noch ehe sie den Brief öffnete, wußte sie ja, daß ihr Kind keinen Vater und sie keinen Mann mehr habe.

Das Schreiben aber lautete:

»Es ist beschlossen und fest beschlossen in mir: ich kehre nicht mehr unter die Leute zurück, die nicht einmal mein Kind im Grabe in Ruhe lassen. Ich kann Menschen nicht ins Angesicht sehen, denen eine Blume auf dem ›guten Ort‹ ein Dorn im Auge bloß aus dem Grunde ist, weil andere Leute, die doch auch Menschen, auch Väter, Mütter, Söhne, Brüder und Schwestern sind, auf ihren ›Kirchhöfen‹ einen Gefallen daran finden ... Ich mag in einem Kerker nicht leben, zu dem ich nicht hinaus darf, um im ›ersten Jahre‹ das Grab meines Kindes zu besuchen. Ich muß hinaus in die freie Welt ... in das Gefängnis deiner ›Gasse‹ kehre ich nicht mehr zurück. Schon längst habe ich mich nach diesem Augenblicke gesehnt, – warum ist er so spät gekommen? Ich bin zu furchtsam gewesen und habe mich an dein ›Das darf man nicht!‹ gehalten. Aber schon als Eugen geboren war, da hätte ich das Kind auf meine Arme nehmen und in die freie Luft aus der Gasse heraus unter ... andere Leute tragen sollen. Was hat es mir geholfen, daß ich den Knaben behütet und beschirmt habe, wie ein Gärtner eine kostbare Pflanze, daß sie mir nicht ausarte und verkrüpple? ... Ein Tag ist doch gekommen, du weißt welcher, da ist das alles zugrunde gegangen. Warum habe ich nicht besser achtgegeben? Warum bin ich mir selbst untreu geworden und habe gestattet, wogegen ich mich mit allen Kräften hätte stemmen sollen? Das werde ich nie aus meiner Seele herausbekommen ...

Doch ich will dir keine Vorwürfe machen; du leidest ja nicht weniger als ich, ja, noch mehr als ich! Ich bin fertig in mir und weiß, was ich zu tun habe! Du aber bist wie ein Blatt, auf dem schwerer Staub liegt; es kann sich von der Erde nicht so leicht erheben! Dein ›Das darf man und das darf man nicht!‹ hängt an dir wie eine Zentnerlast ... und hält dich in der ›Gasse‹. Schüttle ihn ab, Rosalie, schüttle ihn ab! Sieh nicht hinter dich zurück, sieh lieber, was vor dir liegt. Dein Mann, der dich liebt, sagt es dir: Man darf! Man darf Blumen auf das Grab seines Kindes pflanzen ... und die es verbieten, sind eben Leute, die einen Kerker gern bewohnen. Ob sie seit Hunderten von Jahren zwischen ihren Gittern leben ... ich bin nicht gebunden, mit ihnen auszuharren und daselbst zu verdorren, ich und mein Kind! ...

Komm, Rosalie, komm zu mir! Ich erwarte dich und unser einziges Kind Klara an einem Orte, wo es uns wohlergehen wird! Schließe ab deine Rechnung mit allem, was dich in der ›Gasse‹ noch hält. An dem Orte, wohin ich dich bringen will und unsere Tochter, da gibt es keine Gasse. Da ist freie Luft, da reißen die Menschen keine Blumen aus den Gräbern. Millionen und Millionen Menschen erwarten dich mit offenen Armen, nicht ein Häuflein von Leuten, die darum unglücklich sind, weil sie nicht frei sein wollen ...«

In einem Anhange des Briefes setzte er ihr auseinander, wie sie es bewerkstelligen solle, wenn sie ihm, wie er voraussetze und hoffe, in die Freiheit folgen werde. Sie solle Haus und Garten verkaufen, die nötigen Vollmachten und Papiere finde sie geordnet in einem Fache seines Schreibpultes. Käufer würden sich in großer Anzahl finden, denn das Haus sei ja schon längst ein Gegenstand des Neides gewesen. Zuletzt schrieb er, er selbst hätte sich mit dem Verkaufe und der Regelung aller hierauf bezüglichen Angelegenheiten beschäftigt, aber er habe es nicht vermocht. Ihm sei wie einem Erstickenden zumute gewesen – er habe keine Minute länger verweilen können!

Rosalie legte den Brief ihres Mannes mit der Gewißheit von sich, daß alles, was sie da gelesen, ihr eigentlich fremd sei und zu ihr in keiner Beziehung stehe. Der Inhalt des Schreibens war betäubender, als ihr Gemütszustand ertragen konnte. Sie legte den Kopf in ihre Hände und sann nach. Hatte sie das schon irgendwo gelesen? Wer hatte ihr diesen Brief geschrieben? Mehrmals nahm sie das Schreiben zur Hand, bald auf dieser, bald auf jener Stelle blieben ihre Augen länger haften. Immer fremdartiger und verwirrter erschien ihr, daß sie einen Brief erhalten, als der Inhalt desselben.

Mechanisch griff sie wieder zu dem Gebetbuch, das vor ihr lag, und schlug es auf. Die erste Stelle, auf die ihre Blicke fielen, lautete in der, dem heiligen Texte gegenüber stehenden, deutschen Übersetzung:

»Darum traget diese meine Worte auf eurem Herzen und auf eurer Seele; knüpfet sie zum Zeichen um euere Hand, und sie sollen sein ein Stirnband zwischen eueren Augen! Lehret sie eure Kinder, daß sie davon reden, wenn du sitzest in deinem Hause, wenn du gehest auf der Straße, und wenn du dich niederlegst, und wenn du aufstehst ...«

Sie las die Stelle mehrmals. Das war ihr nicht fremd, das heimelte sie an! Sonst hatte sie plan- und absichtslos derartige Worte der Andacht vor sich hingemurmelt, jetzt traten sie in klarster Verständlichkeit an sie heran. Riesengroß, wie eine Flammenschrift, glänzten die Buchstaben vor ihr. Das war es ja, was sie gesucht hatte, da hatte ja Gott selbst das Sprecheramt für sie übernommen.

»Lehret sie euern Kindern!« das hatte aus dem Munde ihres sterbenden Knaben zu ihr gesprochen, als er die Hände um ihren Hals schloß und ihr versprach, er wolle nach seiner Genesung »sehr fromm sein«. Das Kind hätte gelernt, dafür trug sie die Gewähr in sich: das Kind hätte Gott geehrt!

Eine wunderbare Entschlußkraft war mit einem Male über Rubens Frau gekommen, daß sie imstande war, ihre Lage zu überschauen. Sie nahm den Brief noch einmal zur Hand, mit einer beinahe kühlen Ruhe las sie ihn wiederholt vom Anfang bis zum Ende.

»Nein, nein,« sprach sie zu dem Schreiben, als stehe der, von dem es ausgegangen, leibhaftig vor ihren Augen. »Nein, mein lieber Ruben, du gabst dir umsonst Mühe, mich dahin zu bringen, wohin du willst. Ich bleibe da! Da, wo mein Kind gestorben ist, da will ich leben und sterben! Ich bleib'!«

Von diesem Augenblicke an, wohl dem entsetzlichsten im Leben eines Weibes, war für Rubens Frau ein neues Dasein angebrochen. Mit einer Bedächtigkeit, die ihr niemand zugetraut hätte, leitete sie den Verkauf des Hauses ein; sie zog dabei niemanden zu Rate; ihr Geist hatte eine Schnellkraft gewonnen, die es ihr möglich machte, die Schwierigkeiten eines solchen Geschäftes zu überwinden. Als eines Tages der Verkauf des Hauses an der schwarzen Tafel des Rathauses erschien, stutzte erst alles, dann setzten sich die wildesten Gerüchte wie Bienenschwärme in Bewegung. Die einen wollten wissen, Ruben Schönmann habe in letzter Zeit so gewagte Geschäfte unternommen, daß ihm nichts anderes übrig bleibe, als Haus und Garten den Rücken zu kehren! Die dunkelste dieser umherschwärmenden Nachreden sagte ihm sogar nach, er habe bei »Nacht und Nebel« auf und davon müssen, um einem Kriminalprozesse wegen »falscher Wechsel« zu entgehen. Rosalie, der so etwas zu Ohren kam, wies, ohne irgend eine Entrüstung zur Schau zu tragen, auf die einfache Tatsache hin, daß in dem Lizitationsedikt das Wort: »aus freier Hand« enthalten sei. Ja, aus freier Hand und aus – freier Seele!

Erst allmählich legten sich alle Gerüchte und verstummten endlich ganz. Rosaliens Haltung hatte am meisten dazu beigetragen; die Ehre ihres Mannes, wiewohl der eine Punkt dunkel blieb: warum das Haus so »Knall und Fall« unter den Hammer des Auktionators mußte, ging makellos hervor. Kein Steckbrief streckte hinter ihm seine Fangarme aus; die wenigen Gläubiger wurden befriedigt. Niemand ahnte den richtigen Zusammenhang.

Am festgesetzten Feilbietungstage saß Rosalie zu Hause und harrte still und gefaßt der Dinge, die da kommen sollten. Nichts von dem, was durch die Seele eines Menschen, der einer engumfriedeten Häuslichkeit den Rücken kehren muß, keine der Qualen, die am Gemüte einer Frau nagen, die noch bei Lebzeiten ihres Mannes sich Witwe fühlt, blieb ihr in diesen Stunden erspart. Endlich kam der Rathausdiener und meldete ihr, Haus und Garten seien soeben um den festgesetzten Preis dem reichen Wollhändler Lazar Winterfeld zugeschlagen worden. Rosalie beschenkte den Mann reichlich, als habe er ihr eine Freudenbotschaft verkündet; dann aber brach sie, überwältigt von dem Übermaße einer seit langem nur künstlich beherrschten Fassung, in sich zusammen, und weinte laut und bitter.

»Allmächtiger Gott,« drängte es sich ihr betend auf die Lippen, »rechne mir es nicht an, daß ich mit so schwerem Herzen aus diesem Hause scheide! Da sind ja meine Kinder geboren worden, da habe ich mit Ruben gelebt, da endlich ist mein Eugen gestorben. Rechne es aber auch ihm nicht an, der so an mir handelt, und wenn er im Unrecht ist, so schreibe ihm das zugut, was ich vielleicht mehr im Rechte bin. Du allein weißt, daß ich nicht anders kann!«

Es währte noch einige Zeit, bis die ihr von Ruben übertragenen Angelegenheiten zum Abschlusse gediehen waren. In all ihrem Leide kam sie doch zuweilen ein Gefühl von Befriedigung darüber an, daß Ruben selbst die Ordnung eines so schwierigen Geschäftes nicht besser hätte leiten können, als es ihr gelungen war. Eines Tages war sie imstande, das aus dem Verkaufe des Hauses gelöste Geld, nach Abzug der Mitgift, die sie ihrem Manne zugebracht, an ihn zu schicken. Es war ein langer Brief, den sie ihm dazu schrieb; aber wer ihn las, hätte daraus nicht schließen können, daß ihn eine Frau geschrieben, die ihre ferneren Lebenswege von denen ihres Mannes getrennt hatte. Er war in einem geschäftsmäßigen Tone abgefaßt; sie setzte trocken auseinander, wie sie es angefangen habe, um den Hausverkauf unter so günstigen Bedingungen zustande zu bringen, auch wie sie bei Eintreibung ausstehender Kapitalien verfahren sei. Wenn sie trotzdem seine Zufriedenheit nicht erlangen sollte, so möge er bedenken – daß sie ein Weib sei, das bei einem solchen Geschäfte nur auf seinen eigenen Verstand wäre angewiesen worden, der bekanntlich ohne den des Mannes wie ein Lahmer, dem die Krücke fehle, sich bewähre ...

Das war die einzige bittere Stelle, aus der ihr Seelenzustand hervorbrach.

Am Schlusse des Briefes hieß es:

»Was wir jetzt anfangen werden, ich und Klara, das laß dich nur wenig besorgen, Ruben! Wir haben, wovon wir leben werden. Ich weiß, daß dich das sehr bekümmern wird. Aber du kannst es mir glauben, ich habe genug und übergenug und brauche nicht mehr. Dir nachgehen, an den Ort kommen, wo du jetzt bist, kann ich nicht. Frag nicht warum? Ich darf nicht!«

Nun erwartete die ganze »Gasse«, nach abgeschlossenem Hausverkaufe werde Rosalie ihrem Manne nachfolgen; aber zu aller Erstaunen blieb sie, und lange vor der für die Räumung des Hauses bestimmten Frist bezog sie ein alleinstehendes, fast ödes Häuschen draußen in der Vorstadt, hart an der Straße, die zum »guten Ort« führt. Die Frau des Mannes, dessen Wohnung als ein Palast in der »Gasse« galt, und die gleich einer »Prinzessin« bedient wurde, zog in Begleitung einer einzigen Magd in die entfernte Vorstadt – schweigend, tränenlos, keines Rates bedürftig, noch in ihrem Unglücke stolz!

Stolz! Auch nicht das leiseste Fünkchen dieser Flamme lohte in ihrer demütigen, gramvollen Seele. Was die Leute dafür hielten, war eher in sich selbst versunkene Demut, wie sie ein großes Unglück nicht selten erzeugt. Rosalie hatte von der Stätte des Reichtums, die sie so heldenmütig aufgegeben, keinen Frieden mitgenommen in die Entbehrung; ein dunkler Schatten war ihr nachgeglitten, der ihr zu jeder Stunde des Tages und der Nacht gespenstisch den Gedanken vorspiegelte: »Was wirst du tun, wenn Ruben eines Tages wiederkommt und Klara von dir begehrt?«

Und daß ihr dieser Kampf um das Kind noch bevorstand, das sagten ihr tausend Stimmen; sie kannte Rubens überschwengliche Liebe für die Kinder zu gut, als daß sie zweifeln konnte, er werde sein Recht auf das einzige, was ihm noch geblieben, geltend machen. Wenn das Kind dann mit seinem Vater gehen wollte – hatte sie das Recht, es zurückzuhalten, durfte sie es ihrem Manne verweigern? Und was blieb ihr dann zu tun übrig? Rosalie geriet mit sich in Widersprüche, die den Stachel der Unruhe immer tiefer in ihr Gemüt drückten. Sie zitterte, den letzten und einzigen Zweck zu verlieren, für den sie ihr Leben noch ertrug; sie bebte vor dem Anblicke des wiederkehrenden Mannes!

Indem mußte sich Rosalie es selbst gestehen, daß das Kind mit Widerstreben die Entbehrungen ihres jetzigen Lebens ertrug. Klara litt sichtlich darunter; mit dem nur einer Mutter eigentümlichen Auge bemerkte sie, daß das Aussehen des Kindes die üppige Fülle, den Glanz seiner Schönheit verloren hatte. Der allzu rasche Wechsel der äußern Lebensumstände war für das verwöhnte Kind ein zu gewagter Übergang; Rosalie hatte ihm zuviel zugetraut.

Noch ein anderes Geständnis, das sich ihr unter noch nagenderen Schmerzen entrang, hatte für sie etwas Demütigendes und Entsetzliches zugleich. Das Kind hing mit einer Zärtlichkeit an dem abwesenden Vater, von deren Innerlichkeit und Stärke sie bis dahin keine richtige Vorstellung hatte. Im Vergleiche damit war Klaras Liebe zur Mutter fast Gleichgültigkeit und Kälte. Wenn Rosalie es nun hörte und sah, wie das Kind in geradezu unerschöpflicher Weise sich mit der Abwesenheit des Vaters beschäftigte, wie es oft das am entferntesten Liegende mit dem Vater in Verbindung brachte, wie alle seine Gedanken nur aus ihm ihre Nahrung zogen, dann überfiel sie zuweilen eine Empfindung von Ermattung, und sie mußte sich sagen, etwas zu Gewaltiges unternommen zu haben! Nicht selten jedoch ging diese Empfindung in ein Gefühl von Wut über: sie hätte dann Blatt für Blatt und Wurzel um Wurzel jener Zärtlichkeit für den Vater aus dem Gemüte des Kindes reißen mögen ... und wäre sein Leben selbst darüber verblutet. Dann folterte sie ihren Geist wieder mit Vorwürfen, daß sich ihre Sinnesart so sehr geändert habe, um nur dem Schatten eines solchen Wunsches in sich Raum zu gönnen. Aber der Gedanke kam zu oft und ließ sich nicht mehr abweisen; je öfter er erschien, je offener fand er die Pforten ihrer Seele; er nahm zuletzt alleinigen Besitz von einem Gebiete, das ihm niemand streitig machte!

Eines Abends, vor dem Schlafengehen, bemerkte Rosalie, daß sich das Kind neben dem Bette auf die Knie warf und in dieser Stellung das Nachtgebet verrichtete. Sie horchte hoch auf; Klara sprach das deutsche Gebet, wie sie es schon in ihrer ersten Kindheit gelernt hatte, und wie es Rosalie ihr selbst zu unzähligen Malen abgehört hatte. Nach der gewöhnlichen Bitte für Vater und Mutter und für sich, daß ihr Schlaf behütet sein möge, warf sich das Kind, nachdem es aufgestanden, wieder auf die Knie und rief mit gefalteten Händen und einer Innerlichkeit, die Rosalien wie ein schneidendes Messer durch die Seele fuhr:

»Und mach, lieber Gott, daß der Vater bald wieder zu mir kommt.«

Am folgenden Tage, um dieselbe Nachtstunde, als das Kind sich wieder anschickte, am Bette kniend das Schlafgebet zu verrichten, sprang Rosalie hinzu und hob es mit beiden Händen auf.

»Du bist schon zu groß, Klara,« sagte sie aufgeregt, »das Gebet paßt nicht mehr für dich. Ich will mit dir das eigentliche Nachtgebet lernen. Aber dabei kniet man nicht ... weil man das nicht darf. Ich will es dir vorsagen ... horch auf!«

Das Kind richtete die großen glänzenden Augen auf die Mutter; mehr, als ihre seltsame Rede, mochte es die ungewohnte Heftigkeit ihrer Gebärden befremden.

Rosalie begann zuerst mit dem erhabenen »Schma'h Jisroel« (Höre, o Israel), indem sie dem Kinde Wort für Wort dieses göttlichen Zuspruchs laut und langsam vorsprach, und es sich von ihm wiederholen ließ. Hierauf, um das Kind nicht zu ermüden, sagte sie bloß die Verse: »Er schläft nicht und schlummert nicht, der Hüter Israels,« und: »Zu meiner Rechten ist Michael, zu meiner Linken Gabriel, vor mir Uriel, und hinter mir Raphael, und über meinem Haupte die Herrlichkeit des Herrn« – und rief dann, indem sie auf das Bett zeigte:

»Jetzt lege dich sogleich!«

Wieder sah das Kind mit fragenden Augen die Mutter an, deren Tun und Reden es nicht begriff; es zögerte, ihrem Gebote Folge zu leisten.

»Ist das das Ganze?« meinte Klara.

»Ja!« sagte Rosalie.

»Steht auch etwas vom Vater darin?«

Rosalie wagte nicht, dem Kinde eine Antwort zu geben.

Da stürzte das Kind, noch ehe seine Mutter es hindern konnte, wieder an dem Bette auf die Knie hin und rief unter hervorbrechenden Tränen, die mehr als jedes Wort dartaten, was in diesem Augenblicke in seiner Seele vorging:

»Guter Gott im Himmel! Wenn du mich lieb hast, so schicke den Vater bald zurück! Lieber Gott, tu mir den Gefallen!«

Mehr als sich sagen läßt, war Rosalie über das Gehörte erschrocken. Dann aber flog sie zu dem Kinde, hob es in ihre Arme und küßte es heftig.

»Ich bitte ja auch Gott,« rief sie schluchzend, »daß er uns den Vater wieder zurückgeben soll. Aber, weißt du ... ob er zurückkommen will, dein Vater?«

Von Ruben war indessen keine weitere Nachricht eingelaufen, – ja, Rosalie zitterte einer solchen entgegen. Sie kannte nicht einmal den Ort, wo er gegenwärtig weilte. Da brachte ihr eines Tages der Postbote einen Brief, der ihre Adresse in den bekannten Schriftzügen ihres Mannes trug.

Der Brief enthielt, ohne alle Anspielung auf das Vorgefallene, in leidenschaftslosem Tone die Zustimmung Rubens zu allem, was Rosalie bezüglich des Hauses und der sonstigen übrigen Angelegenheiten zu tun für gut befunden hatte; sie hätte es viel vorteilhafter zuwege gebracht, als es ihm selbst gelungen wäre. Am Schlusse hieß es: »In Deinem ganzen Briefe sagst du mir nicht, ob das Kind meiner denkt. Soll ich denn annehmen, daß Klara nicht mit einem einzigen Wörtchen nach mir fragt? Das kann ich nicht glauben. Hast Du ihr denn nichts gesagt? ...«

Mit diesem Briefe stieg Rosaliens Unruhe aufs höchste; sie hatte nun die Gewißheit, daß Ruben zurückkehren wolle. Schon die Sehnsucht nach dem Kinde werde ihn wieder der Heimat zuführen, auch wenn er es nicht versuchen werde, noch einmal einen Angriff auf ihren so bestimmt ausgesprochenen Entschluß zu unternehmen. Wenn er nun wirklich erschien? – Und wieder stieg jener Schatten gespenstisch vor ihr auf und glitt ihr auf Schritt und Tritt nach ... der Schatten jenes Gedankens, daß sie das Kind wappnen und rüsten müsse gegen den zauberhaften Einfluß seines Vaters, und daß ihr das nur gelingen könne, wenn sie ihm die Grundsätze der frühern Erziehung aus dem Dasein risse und es befähige, am Kampfe, den sie selbst so siegreich bestanden, allen Lockungen zum Trotz, sich gleichfalls zu beteiligen.

Mit dem Nachtgebete hatte Rosalie begonnen; im dunkeln Drange, daß sie durch Unterricht und Lehre nach den noch lebendigen Wurzeln im Gemüte ihres Kindes graben müsse, ging sie weiter. Sie berief wieder jenen Lehrer, der ihren Eugen für das dreizehnte Geburtsfest vorbereitet hatte, und trug ihm auf, sich Klaras »anzunehmen«, wie sie beinahe schamhaft meinte. Der Lehrer versprach, das möglichste zu leisten, wiewohl er Rosalien nicht verbarg, er fürchte von seiten des Kindes eines Widerstand, der nicht in den Fähigkeiten desselben – sondern in der früheren Erziehung liege. Mit erschreckender Heftigkeit verwies sie ihm jedoch die üble Meinung, die er von dem Kinde habe, seine Sache sei, ihrer Tochter Unterricht zu erteilen; was habe er sich darum zu kümmern, ob sie wolle oder nicht? ... Ein Kind müsse wollen. Der Lehrer fügte sich dem so trotzig ausgesprochenen Gebote dieser Frau und begann den Unterricht. Zuerst solle er das Kind beten lehren, heischte sie von ihm, das Gebet sei für sie von größter Wichtigkeit, alles andere verschwinde einstweilen davor. »Beten, nur beten!« wiederholte sie so oft, daß der Lehrer sich zuweilen eines Grauens nicht enthalten konnte.

Er hatte sich übrigens nicht getäuscht; bei Klaras Unterricht trat die nämliche Erscheinung ein, die er schon bei Eugen beobachtet hatte. Das Kind bewältigte nur mit Mühe die Schwierigkeiten der ersten Anfangsgründe; es war, als türme sich jeder Buchstabe des heiligen Alphabets wie ein unübersteiglicher Berg vor ihm auf. Keine jener Künste, wie der Lehrer sie in solchen Fällen aus seiner Erfahrung nahm, wollte bei dem Kinde Ruben Schönmanns gelingen. Klara stemmte einen Widerstand entgegen, der über die Leistungsfähigkeit des Lehrers ging. Das sonst heitere Wesen des Kindes verwandelte sich in einen häßlichen Stumpfsinn, sobald die Unterrichtsstunde nahte. Seine Seele war nicht dabei; verwirrt und angstvoll schweiften seine Augen umher. Unmut in jeder Gebärde, verbissenen Trotz auf den Lippen, so trat das Kind dem Lehrer entgegen, der nach Rosaliens Willen das Herz seiner Schülerin neu besaiten sollte. Rosalie tat alles, wodurch sie den erlahmenden Eifer des Lehrers zu beleben glaubte, denn lange war sie der Meinung, die Schuld sei an ihm, wenn die Fortschritte des Kindes so weit hinter ihrer fieberhaften Erwartung blieben. Aber endlich mußte sie sich selbst gestehen, in Klara stecke ein Trotz und ein Widerstand, der alle Mühe des Lehrers zuschanden mache ...

»Das hat sie von ihm,« seufzte sie oft schwer gedrückt, »das ist sein Blut!«

So waren viele Wochen vergangen, der Frühling war ins Land gekommen und ein Jahr verflossen, seitdem man den armen Eugen draußen auf dem »guten Ort« begraben hatte. Ruben hatte nicht wieder geschrieben.

Seit einiger Zeit fragte übrigens das Kind nicht mehr so häufig nach dem abwesenden Vater, kaum daß er noch in seiner Erinnerung zu leben schien. War dasjenige eingetroffen, was Rosalie als den eigentlichen Zweck ihres Lebens verfolgte? Hatte das Kind seinen Vater vergessen? ... Erst jetzt wurde Rosalie mit entsetzten Blicken gewahr, welche Veränderung mit Klaras Charakter vorgegangen. Das Kind war wortkarg, störrig und verdrossen, nicht nur dem Lehrer, sondern auch ihr gegenüber. Es lachte nicht mehr; sich selbst schien es zu einem freudlosen Dahinsiechen verurteilt zu haben.

»Wie geht das nur zu,« hielt Rosalie oft mit sich selber Rat, »daß mir das Kind so unter der Hand und vor meinen Augen ganz anders wird, als ich erwartet habe? Soll ich einhalten? ...«

Eines Abends, zu später Stunde, sprach das Kind zum ersten Male, seitdem es den Unterricht des Lehrers genoß, das Nachtgebet aus dem Buche. Rosalie horchte auf, von einer Empfindung durchtönt, wie sie in ihrem verstörten Gemüte schon lange nicht geklungen hatte! Das Kind betete selbständig zum ersten Male aus dem Buche der heiligen Sprache Gottes! Jedes Wort, das über Klaras Lippen kam, war eine Engelsstimme von oben, eine Botschaft, daß von nun an Friede und Ruhe, wie es in jenem Gebete so schön heißt, auf ihre müden Augenwimpern fallen werde!

Ein leises Pochen an der Tür unterbrach sie in dieser gedankenvollen Stimmung.

Noch ehe sie antwortete, war eine dunkle Gestalt ins Zimmer getreten.

»Ruben!« schrie Rosalie auf und hielt entsetzt beide Hände vor ihr Angesicht.

Klara aber warf das Buch, aus dem sie soeben gebetet, von sich und stürzte mit dem Rufe: »Endlich der Vater!« dem Heimgekehrten in die Arme. Minutenlang hielt Ruben das Kind umfaßt; es hatte sich an ihn festgeklammert und schien mit ihm eines werden zu wollen in diesem Augenblicke.

»Rosalie!« rief er, indem er das Kind aus seinen Armen ließ, und trat näher zu ihr, indem er die Hand entgegenbot. »Da bin ich, Rosalie!«

Sie aber schauderte vor seiner Berührung; mit gellender Stimme rief sie:

»Ich kann nicht, Ruben, ich kann nicht! Ich bleibe bei meinem Eugen!«

Ruben fuhr mit der Hand über die Augen; die Erinnerung an den toten Knaben erfüllte ihn mit einem Wehe, das er vielleicht nie so brennend empfunden hatte, als gerade jetzt.

»Rosalie!« sagte er nach einer bangen Weile mit mildem Vorwurfe in seiner unsicheren Stimme, »empfängst du so einen ... den du seit beinahe einem Jahre nicht gesehen hast?«

»Als was kommst du, Ruben?« rief sie mit einem Male, indem sie die Hände vom Angesichte fallen ließ.

Ruben erschrak im Innersten vor dem entsetzlichen Aussehen seiner Frau; er trat scheu zurück.

»Als was kommst du, Ruben?« rief sie noch einmal, indem sie sich jetzt in ihrer ganzen Gestalt von ihrem Sitze erhob.

»Ich bin gekommen, um dich und Klara abzuholen!« sagte er leise.

»Ich kann nicht, Ruben ... ich darf nicht!« schrie Rosalie mit äußerster Anstrengung.

»Ein Jahr ist lang,« erwiderte Ruben, »und da habe ich geglaubt, du müßtest dich in der Zeit geändert haben. Wie ich aber sehe und höre – stehst du noch immer auf dem alten Standpunkte.«

»Ich will's, ich will's, Ruben!« stöhnte Rosalie.

»Ist das ein Haus für Ruben Schönmanns Frau?« rief er nun mit erhobener Stimme, indem er seine Blicke in der ärmlichen Wohnung herumschweifen ließ.

»Besser so, als ...« unterbrach ihn Rosalie.

»Und das ist ein Aussehen für Ruben Schönmanns Kind!« rief er wieder, indem er Klaras Gesicht von dem Lichte der einzigen Kerze bescheinen ließ. »Armes, gutes Kind!« sagte er wehmütig und streichelte die Wangen seiner Tochter. »So hast du nicht ausgesehen, als ich dich verlassen habe. Hat das nur ein Jahr aus dir machen können? Damals haben deine Wangen frischen Rosen geglichen, jetzt sind sie blaß und abgezehrt! Großer Gott im Himmel! wie ist das nur zugegangen?«

Das Kind schmiegte sich an Ruben an und flüsterte ihm fast unhörbar zu:

»Laß mich nicht mehr aus dem da lernen!« indem es auf das weggeworfene Buch hinwies.

Ruben hob das Buch auf und warf einen Blick hinein.

»Rosalie!« rief er, indem er sie bei der Hand nahm, »komm mit, komm mit mir!«

»Ich kann nicht, Ruben; ich sag's dir ja!« schrie sie übermäßig, »ich hab's ja meinem Eugen versprochen.«

»So laß das Kind wenigstens mit mir gehen!« sagte Ruben nach einer langen Weile in stockenden Lauten, und richtete einen Blick voll Angst auf seine Frau.

Ruhiger, als es sich von Rosalien in diesem Augenblicke erwarten ließ, rief sie:

»Frag sie doch selbst, ob sie mitgehen will.«

Auf Rubens Antlitze zeigte sich der furchtbare Kampf, der in seiner Seele vorging. Seine Lippen zuckten, seine Stirne war hoch gerötet, aber seine Wangen erdfahl. Die entscheidende Frage wollte nicht über seinen Mund.

Endlich rief er: »Klara, willst du mit deinem Vater gehen?«

Mit einem Schrei, der wie ein Jubel innerer und äußerer Erlösung klang, stürzte das Kind in die Arme seines Vaters.

Als Ruben hierauf nach Rosalien sah, lag diese in tiefer Ohnmacht ...

Spät in der Nacht, als sie aus diesem Zustande erwachte, stand Ruben neben ihr und hielt ihre Hand mit der seinen umschlossen. Sie aber entwand sie ihm, indem sie nur die Augen öffnete. Ein schwerer Seufzer entrang sich ihrer Brust.

»Ich kann nicht! ich darf nicht, Ruben!« flüsterte sie wie traumverloren.

Weiter ward kein Wort mehr in der kleinen Stube gesprochen. Noch vor dem Morgengrauen verließ Ruben mit seinem Kinde das Haus.

Rosalie war allein!


Viele Jahre nachher kamen in regelmäßigen Zeitläufen unter Rosaliens Adresse Briefe an, die aus einem der Erziehung von Mädchen gewidmeten Kloster in einer Vorstadt Wiens geschrieben waren; sie blieben aber unbeantwortet. Endlich verstummten sie ganz.

Eines Tages empfing Rosalie ein mit vier großen amtlichen Siegeln nebst der Unterschrift eines Pfarrers versehenes Schreiben aus Wien, das den »Totenschein Richard Schönmanns« enthielt. Rubens Grab ist nicht auf dem »guten Orte« der Wiener Gemeinde! – –

In der »Gasse« lebt eine Frau, gesegnet und gepriesen von allen, die ihr wohltätiges Wirken kennen. Wo ein krankes Kind in brennender Fieberhitze liegt, da erscheint sie ungerufen und wartet seiner. Keine Mutter hat so weiche Hände, keiner stehen so linde, tröstende Worte zu Gebote, keine weiß das sieche Kind so sanft zu betten und zu legen als diese Frau. Wenn sie kommt, fährt über das gramvollste Antlitz ein Strahl von Hoffnung, die Kinder lächeln sie unter Schmerzen an. Oft gelangen auf ihren Kreuz- und Querzügen durch die halbe Welt herumziehende Bettler, in der Sprache des Ghettos »Schnorrer« genannt, mit Frauen und Kindern in die Gasse, die, den Keim schwerer Krankheiten in sich bergend, in der für solche Gäste bestimmten Gemeindeherberge, unfähig sich weiter aufzuraffen, darniederliegen. Wo niemand aus Furcht und Scheu Hand anzulegen wagt, da erscheint jene Frau und pflegt die Kranken und Elenden und richtet sie wieder auf. In Nacht und Sturm wird sie oft gerufen, um irgend einer sterbenden Frau in der Gasse ihren letzten Beistand zu bieten. Sie scheint keinen Schlaf zu kennen; kaum daß an den Fensterladen geklopft und die Bitte, daß sie da- und dorthin kommen möge, ausgesprochen wird, ist sie auch bereit und tritt den oft beschwerlichen und langen Weg an. Dann spricht sie mit der Sterbenden die letzten Gebete, und manche Mutter, deren brechender Blick auf die um ihr Bett herumstehenden Kinder fiel, hat vor ihrem Scheiden zu ihr gesagt: »Nicht wahr, Rösel, wenn ich nicht mehr bin, so wirst du dich auf die da umsehen?« – und ist so fragend mit einem befriedigten Lächeln hinübergeschlummert.

Die Sprache des Ghettos hat für Frauen, die sich einem solchen Liebesdienste weihen, eine eigentümliche Bezeichnung. Sie nennt sie »Seelenfängerin«. Ruben Schönmanns Frau ist eine solche Seelenfängerin.


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