Leopold Kompert
Gottes Annehmerin
Leopold Kompert

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Allein gelassen mit Perlchen, ihrem Pflegekind, rief sie dieses zu sich. Das Mädchen stand tief erschrocken vor dem fast unheimlichen Anblick, den die alte todtblasse Frau bot. Sie saß in einem morschen Lehnsessel, die Arme kraftlos herabhängend, während unter den graugewordenen Brauen die Augen fieberhaft leuchteten.

»Perlchen«, sagte sie schwach, »wie alt bist Du eigentlich heute?«

»Weißt Du das nicht? Auf Sukkoth (Laubhüttenfest) werde ich vierzehn und ein halbes Jahr alt.«

»Und wie ich Dich zu mir genommen habe, warst Du ein vierjährig Kind!«

Dann drang ein tiefer Seufzer aus ihrer Brust.

»Ich versteh' mich auf Gott nicht mehr. Kann Er warten, oder können die Menschen sich gedulden? Seit zehn Jahren warte ich Stunde und Minute, daß Er, der gelobt und gepriesen sei, sich mir zeigt, und was muß ich erleben? Es ist alles ärger geworden, und ich geh' noch immer in der alten Finsterniß.«

Sie schwieg hierauf eine geraume Weile, und saß dann mit geschlossenen Augen da, so daß Perlchen glaubte, sie schliefe. Plötzlich fuhr sie mit einem lauten Schrei auf; sie umklammerte die Hände des Mädchens und rief mit Tönen des tiefsten Entsetzens:

»Perlchen, mein Kind, ich glaub', ich werde sterben. Ich fühl's schon, wie mir der Tod vom Herzen heraufkommt. Dann wirst Du allein auf der Welt dastehen, und ich werde allein in der Erde liegen. Aber ich will noch nicht sterben, ich darf nicht... und Gott läßt noch immer auf sich warten...«

Allmälig beruhigte sie sich wieder; ihr Auge verlor den schreckhaften Glanz.

»Perlchen«, sagte sie, das Haar und die Wangen des Mädchens streichelnd, »erinnerst Du Dich noch an jene Nacht, wo ich Dir von dem Stück Gold erzählte, was Dein Vater, mit dem der Friede sei, einmal gefunden hat, und wie er's auf die Thür geschrieben hat, um den Ort, wo er es versteckt hat, nicht zu vergessen?«

»Als wenn es heute geschehen wäre!«

»Damals habe ich Dir gesagt, ich könnt' den Ort nicht auffinden, wie ich auch forsche und suche, weil Einer die Schrift ausgelöscht hat von der Thüre. Soll ich Dir etwas verrathen? Von heute an kenne ich den Ort, und weiß auch, wer die Schrift Deines Vaters ausgelöscht hat...«

»Ich weiß es auch«, sagte Perlchen tonlos.

»Lebendiger, großer Gott! was sagst Du da?« schrie die alte Frau mit dem ganzen Aufgebot ihrer tief leidenschaftlichen Natur. Drohend, hoch aufgerichtet, mit brennenden Augen stand sie vor dem Mädchen da.

Seltsamerweise zeigte sich Josel's Kind in diesem Augenblicke nicht erschreckt. Es sagte:

»Ich habe ihn schon damals errathen!«

»Um Gottes Willen, red' nicht weiter und verstumm' lieber, ehe Du Deine Lippen wieder aufmachst!« rief die alte Chaje in namenloser Aufregung. »Du versündigst Dich, und bringst auch mich in eine Sünde, wie Du nur daran denkst, einen Namen zu nennen.«

Perlchen begann zu weinen.

»Habe ich nicht auf Dein Geheiß meines Vetters Marianne die Freundschaft aufgesagt?« sagte sie. »Hast Du gesehen, daß ich ein Wort mir ihr geredet habe, seitdem Du es mir verboten hast?«

Das Wesen der alten, sonderbaren Frau hub sich unter diesen Worten, als würde es von gewaltigen Fittigen erfaßt. Ihr Antlitz hatte in diesem Augenblicke einen Ausdruck, den man nie und nimmer der herben und vergällten Annehmerin zugetraut hätte; sie sah jünger aus, dabei waren ihre scharf ausgeprägten Züge von einer feinen durchsichtigen Röthe überflogen. Perlchen meinte, niemals eine schönere, alte Frau gesehen zu haben.

»Perlchen, mein Kind«, sagte sie, und jeder Ton ihrer Sprache verrieth, daß er sich den unnahbarsten Tiefen ihres Gemüthes entrang. Sie hatte die Hand auf den Kopf des Mädchens gelegt, und sah ihr durchdringend, jedoch ohne Aufregung in die Augen. »Perlchen, von heute an mache ich mein Verbot zu nichte, Du kannst mit ihr umgehen, wo und wie es Dir gelüstet, und brauchst Dich nicht zu kümmern, ob sie mich Chaje mit der Thür heißt, oder mir einen andern Namen gibt...«

»Ist das Dein Ernst?«

»Du weißt, Chaje hat nie einen Spaß verstanden!«

Ahnte das Kind, daß das Wesen der alten Frau in diesem Augenblicke von dem hohen Gedanken der Gottesheiligung berührt worden war? Ahnte es, was in Chaje vorgegangen sein mußte, ehe es sich zu dem Entschlusse aufrafften den es soeben ausgesprochen? Es lag eine unsagbare Ehrfurcht in der Bewegung, mit der das junge Mädchen ihre welke Hand erfaßte und sie küßte. –

Von diesem Tage an schien sich überhaupt eine merkwürdige Veränderung in der alten Chaje vorzubereiten, die sogar den Leuten in der Gasse nicht entging. Sie kam jetzt selten oder nie auf ihre ›fixe Idee‹ zu sprechen; sie erschien jetzt den Meisten als vollkommen gesundet. Die »Annehmerin« trat zwar hie und da noch mit großer Gewalt in ihr hervor, aber ihr Ton hatte die frühere schneidende Herbigkeit verloren; eine Art Ruhe ging jetzt von ihr aus, und doch hatte es in ihrem Gemüthe niemals stürmischer getobt, als gerade seit jenem Sabbath.

Die Woche darauf eröffnete Zender sein großes Gewölbe mit Schnittwaaren ›oben auf dem Ringe‹ unter den Hallen des Platzes. Eine alte Jugendfreundin Chaje's, die Frau des Gemeindeschlächters, kam zu ihr und erzählte Wunderdinge von der Pracht und Herrlichkeit, die sich da draußen in Zender's Waarenlager aufthat. Chaje's Lippen zuckten nicht einmal bei dieser Schilderung, die sie sich bis auf die geringsten Kleinigkeiten ausmalen ließ.

»Hat Zender auch eine gute Thüre an seinem Gewölbe machen lassen?« unterbrach sie mit einem Male die geschwätzige Erzählerin.

»Eine gute Thür? Wie verstehst Du das, Chaje?«

Auf dem Antlitze der Nachbarin stand leserlich die Verwunderung, daß Chaje aufs Neue in den unverbesserlichen Fehler ihrer kranken Einbildungskraft zurückgesunken sei.

»Ich meine nur«, sagte Chaje mit einem Lächeln, das ihr sonst nicht eigenthümlich war, »eine feste Thür ist zu Allem gut; man kann darauf mit Kreide seine Schulden aufschreiben, und dann schützt sie Einen vor Dieben.«

Ein anderes Mal kam dieselbe Freundin zu Chaje, und nach manchem Hin- und Herreden sagte sie unerwartet:

»Chaje, die ganze Welt wundert sich über Dich, daß Du Dir für Dein Perlchen nicht mehr von ihrem Vetter Zender geben lassest.«

»Mehr?« fragte die alte Annehmerin, und ihre Augen schossen wie in den vergangenen Tagen wildverhaltener Leidenschaftlichkeit ein dunkles Feuer von sich. »Mehr? Habe ich denn schon etwas verlangt oder angenommen?«

»Man sagt doch, er hat schon oft zu Dir geschickt und Dir schöne Sachen oder auch Geld für Perlchen angetragen, Du aber hast Alles ausgeschlagen; und jetzt, wo Zender ein Mann in der Gemeinde ist, solltest Du Dir's überlegen, ob Du Recht thust, die Stolze zu spielen.«

»Die Stolze? Ich soll stolz sein? Ich bin demüthiger wie ein geschlagen Kind. Ich wart' nur darauf, daß mir Gott zu meiner Thür verhilft.«

»Du kommst immer auf Deine alten Reden zurück!« meinte die Freundin, verlegen lächelnd.

»Ich bin nur Gottes Annehmerin!« sagte Chaje mit starker Betonung. »Ich begehr' meine Sach' nur von Gott!«

»Was hast Du aber gegen Zender? Wer Dich so reden hört, meint, er muß wenigstens Dir ein Kind einmal gemordet haben. Wie schickt es sich, sich mit einem Manne zu verfeinden, den man bei einer Gelegenheit ganz gut brauchen kann?«

Chaje lächelte fein, ohne alle Bitterkeit.

»Du weißt, die alte Chaje hat von jeher ihre Gedanken und Launen gehabt, wie kein Anderer in der Gasse«, sagte sie ausweichend. »Auf seine alten Tage dreht und wendet man sich nicht um, wie ein Trenderl. Lass' mir mein Trenderl!« –

Mit unheimlichen Gefühlen im Herzen ging die alte Jugendfreundin von Chaje hinweg. Später sprach sie sich gegen ihre nächste Umgebung mit der grimmigsten Entrüstung darüber aus, daß man überhaupt das Kind Josel's bei der »Annehmerin« gelassen habe. Das sei in der Gemeinde unerhört; und wenn man das Mädchen in den schlechtesten Dienst stellen würde, so wäre sein Geschick noch immer besser, als ihre Jahre bei Chaje mit der Thür zuzubringen, wo sie selbst in Gefahr stehe, nach und nach in Chajes Krankheit zu verfallen. Man solle um Gottes Willen darauf dringen, daß Zender sich des Kindes annehme; es werde nichts Gutes herauskommen, wenn man noch länger zögere, und ein Waisenkind sei auch ein Mensch.

Das böse Gerede ging dann auch wie giftiges Unkraut zwischen Frühlingssaaten ganz üppig auf. Hier und da ging der Name des armen Waisenmädchens über die Lippen der Gasse; hier und da dachte man sogar ernstlich daran, mit der alten Chaje ein ernstes Wort zu reden; heftiger erregte Gemüther drangen sogar mit überzeugender Beredtsamkeit darauf, mit Gewalt vorzugehen. Aber es war eigenthümlich, welche Scheu sich Aller bemächtigte, wie schüchtern man sich im entscheidenden Augenblicke von der Sache, wenn man sie zum Abschlusse gebracht glaubte, abwendete.

So blieb die alte Chaje im ungestörten Besitze ihres Perlchens.

»Lange kann sie so und so nicht mehr leben«, tröstete man sich endlich. »Wie sie aber einmal die Augen schließt, wird Zender zeigen, daß ihm seines Bruders Kind doch etwas werth ist.«

Mittlerweile war wieder Jahr zu Jahr gekommen; zum nächsten Laubhüttenfeste trat Perlchen ihr achtzehntes Jahr an! Chaje schien diesen Fortgang der Zeiten gar nicht zu bemerken, unverwandt blickte die alte Frau in die dämmernden Gebilde der Zukunft, die sie noch erleben wollte. Dabei nahmen ihre Kräfte sichtlich ab; nur mühsam hielt sie sich aufrecht und konnte oft Tagelange nicht in den kleinen Laden hinab, der ihr und Josel's Kinde einen armseligen Unterhalt gewährte.

In einer Nacht wachte sie mit einem Male mit einem lauten Gelächter aus dem Schlafe auf. Perlchen, die ihr zur Seite schlief, fragte sie, gleichfalls erwacht, um die Ursache dieser sonderbaren Freude:

»Denk' Dir nur, Perlchen,« sagte sie immer munterer werdend; »wen glaubst Du, hab' ich im Traum gesehen? Keinen andern als meinen ›Sarwer‹. Du hast ihn nicht gekannt, Perlchen, den feinen wohlgezogenen Menschen; ich sag' Dir, Perlchen, solche Menschen werden gar nicht mehr geboren, wie mein Sarwer war. Und gerade so, wie er vor zwanzig Jahren ausgesehen hat, so ist er da neben mir auf meiner Stube gesessen und hat mit mir gesprochen. Ich hör' ihn noch, wie er zu mir sagt: ›Chaje, Du bist gegen die Menschen nicht demüthig genug, Du meinst immer, es muß Alles nach Deinem Kopfe gehen.‹ Und darüber, daß mein Sarwer mir das gesagt hat, habe ich laut auflachen müssen, und bin darüber aufgewacht.«

Dann stützte sie gedankenvoll längere Zeit ihren Kopf mit beiden Händen.

»Perlchen«, sagte sie dann, »Du wirst einsehen, daß wenn mein feiner Sarwer den Muth hat, jetzt wo er schon zwanzig Jahre todt ist, so mit mir zu reden, so hat das etwas zu bedeuten. Ich brauch' Dir nicht zu sagen, was?«

Dann richtete sie sich mühsam im Bette auf

»Wein' nicht«, sagte sie streng, »und betrüb' Dir Dein Herz nicht. Ich hab' vielleicht schon zu lange gelebt, und wenn Einem Gott ein Gemüth gegeben hat, wie mir, so paßt man gar nicht für diese Welt. Was hab' ich davon, daß ich mich erkühnt habe, als Gottes Annehmerin zu gelten? Hat es mir Freude gebracht, haben mich die Menschen darum mehr geliebt? Mit meinem Manne habe ich in Unfrieden gelebt, so lang' er auf Erden war, warum? Weil ich das Unrecht nicht leiden gekonnt, daß Er, der der feinste Mensch war, Andern hat dienen müssen, und sich bücken und beugen, und darum habe ich ihm sein Leben verbittert. Und so habe ich auch keinem Menschen Freude gebracht; denn es lastet schwer auf dem Gemüthe, wenn Einen Gott zu seiner Annehmerin gemacht hat. Dann geht es von Einem aus wie ein glühend Feuer, das Alles verzehrt, was Einem im Wege steht, oder wie im Winter der grimmige Frost, wovon alles zu Eis erstarrt. Man soll die Welt gehen lassen, wie sie will, denn sie ist wie ein scheues Pferd, das man aufhalten will. Sei kein Narr, und lasse das Pferd laufen, Perlchen! Eine Gottes-Annehmerin muß auf Alles gefaßt sein, auf Undank und auf Bosheit, und daß man sie zuletzt auslacht, wie einen Hochzeitsnarren, der der Welt seine Späße vormacht...«

»Verkleinere Dich nicht selbst!« rief das Mädchen tieferschüttert, »Du hast das um mich nicht verdient.«

»Ich soll mich nicht verkleinern?« sagte Chaje fast höhnisch. »Wer hat sich denn so groß gemacht, wie ich? wer hat sich über seine Kräfte hinausgehoben, als ich? Und worin habe ich etwas um Dich verdient? Ich habe Dich zu mir genommen, wie Du ein hilflos Kind warst, und habe Dir zu essen und zu trinken gegeben –«

»Warum hat das kein Anderer gethan?« rief Perlchen und hielt inne.

»Wie verstehst Du das, Perlchen?« schrie die alte Annehmerin in deren Antlitz sich eine plötzliche Umwandlung vorbereitete. »Wen meinst Du damit?« rief sie, Angst und Entsetzen in allen Zügen ihres hagern Gesichtes.

Perlchen neigte sich zu ihrem Ohre, und flüsterte ihr etwas hinein.

»Still, still, um Gotteswillen kein Wort weiter«, rief die alte Frau, »Du weißt doch, warum wir Beide schweigen müssen!«

Ein tiefes Stillschweigen waltete hierauf durch eine geraume Weile in der nächtigen Stube. Seltsames Spiel in den Seelen zweier Menschen! Wie ein zweischneidiges Schwert lag ein Geheimniß zwischen ihnen; sie konnten es aussprechen und wachten doch eifersüchtig über jeden Hauch ihres Athems!

Erst gegen Morgen beruhigte sich die alte Frau so weit, daß sie mit aller Schärfe ihres ganz klar gewordenen Bewußtseins sagen konnte:

»Und ich hab' doch Recht gehabt, und Gott wird mir einmal auch Recht geben! Dafür heiße ich ja Chaje und die Annehmerin, daß ich keine Gottentweihung zugebe. Und was wäre geschehen, wenn ich mich hätte hinreißen lassen, und wäre mit der Thür Deines Vaters auf dem Markt erschienen und hätte allen Leuten zugerufen: Der und der hat die Schrift ausgelöscht und hat ein armes Waisenkind um sein kleines Vermögen gebracht! Hast Du Dir schon vorgestellt, was dann geschehen wäre?« –

So war jener ›Bußsabbath‹ gekommen, an welchem dem altersschwachen Rabbiner der Unfall widerfahren war, daß ihm die heilige Thorarolle aus den Armen entglitt.

In der furchtbaren Aufregung, die dieser Vorgang sowohl unten bei den betenden Männern, als oben in der ›Weiberschul'‹ verursachte, hatte man das Benehmen der alten Chaje übersehen, das in diesem Augenblicke einen wahrhaft unheimlichen Anblick bot, und die Worte überhört, die sie in den durcheinanderwogenden Tumult gerufen hatte.

Hoch aufgerichtet, wie in ihren jungen Jahren, das hagere Antlitz von einem seltsamen Glanze überflogen, die Augen weit aufgerissen und die Rechte ausgestreckt, so stand sie da, und rief mitten in das Stimmgewirr.

»So hat es kommen müssen, und nicht anders! Er hat geglaubt, der alte Rebbe, weil er fromm ist und gut, derweilen steht die Sünde draußen vor der Gemeinde, und traut sich nicht hinein. Warum weiß er nicht, und hat es nicht gewußt, was mit Josel's Thür geschehen ist? Jetzt auf ein Mal führt ihn Gott darauf, und wirft ihm seine Thora aus den Armen! So soll es allen geschehen, die ihre Augen gewaltsam verschließen und nicht sehen wollen.«

Es litt sie nicht länger in dem Bethause. Hochaufgerichteten Leibes ging sie von dannen; das dicke Gebetbuch an sich gepreßt, so siegesfreudig und muthig, wie Einer, dem nach geschlagener heißer Schlacht die Siegesbeute winkt.

Zu Hause in ihrer Stube angelangt, rief sie Perlchen zu sich, und legte ihr, sie segnend, die Hände auf ihr Haupt. Dann erzählte sie ihr in wenigen Worten, was sich in der Synagoge zugetragen hatte.

»Und jetzt, Perlchen, mein Kind«, sagte sie, und ihre Stimme klang dabei voll und kräftig, wie sie das Mädchen niemals vernommen hatte, »jetzt ist mir wohl. Seitdem der alte Rebbe mit der Thora gefallen ist, weiß ich, daß für mich die Zeit gekommen ist. Mein Gott hat mich lange warten lassen, aber die Zeit ist doch gekommen.«

»Wie ist Dir?« rief das Mädchen, die Augen angstvoll auf die alte Frau gerichtet.

»Wie mir ist? Frag' mich erst, wie mir gewesen ist, seitdem Dein Vater, mit dem der Friede sei, gestorben ist. Jetzt aber ist mir wohl! Jetzt wird es sich zeigen, wie die Schrift auf der Thüre gelautet hat. Was ausgelöscht war, muß jetzt an das Tageslicht treten.« –

Von diesem Augenblicke an sprach sie nicht mehr über diesen Gegenstand; sie schien still, in sich gekehrt, dem nur ihr vernehmbaren Brausen des Gedankensturmes in ihrem Innern zu lauschen.

Am Nachmittage nahm sie, wie dies ihre Gewohnheit war, das Gebetbuch zur Hand, und las in den Sprüchen der Väter.

»Jetzt weiß ich«, rief sie überlaut aus, »über was für einen Satz heute der alte Rebbe hätte reden können! Da steht es ja! man braucht's gar nicht deutlicher. Wie hat das dem großen Gelehrten nur entgehen können!«

Der Satz aber lautete:

»Das Schwert kommt in die Welt wegen Rechtsverzögerung, Rechtsverkrümmung, Verdrehung... und wildereißende Thiere nehmen überhand, wo Meineid ist und falsch Schwören und Entweihung des göttlichen Namens...«

Sie schlug das Buch wieder zu; es hatte ihr nichts mehr zu verkünden!


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