Joseph Seligmann Kohn
Der jüdische Gil Blas
Joseph Seligmann Kohn

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel

Portraits des Rabbi Zalel und seiner Ehehälfte

Rabbi Zalel – dies war der Name des Mannes, unter dessen Augen meine talmudischen Studien ihren Fortgang nehmen sollten – ward in Prag zu jener Parthei der Schriftgelehrten gezählt, welche, ohne die Vorurtheile der ältern Generation zu bekämpfen, auch den Meinungen derer huldigten, die sich mehr nach den Farben des Zeitgeistes kleideten. Aehnliche Rücksichten wurden von denen für unerläßlich gehalten, welche bedachten, daß die Jahreseinkünfte eines SchiurhaltersDieser Titel kommt nur jenem Talmudisten zu, welcher bloß honoris causa die Amtspflichten eines Rabbinen versehen mag, keinen bestimmten Jahresgehalt bezieht, und aus eben so uneigennützigen Absichten unentgeldlich an bestimmten Tagen der Woche Lehrvorträge im Talmud hält. Die große oder geringe Anzahl der Schüler bestimmt auch seinen Ruf in der Gemeinde. Die Vorlesungen werden Schiurim genannt. nur aus den freiwilligen Gaben einiger wohlhabenden Gemeindeglieder zusammenfließen. Diese, großentheils Fabriksbesitzer, hatten längst die Unmöglichkeit eingesehen, den Sabbat hindurch gegen zweihundert christliche Arbeiter unbeschäftigt zu lassen, deren Müßiggang an dem folgenden Tage wieder die herrschende Landesreligion sanctionirte. Die Herren Fabriks-Inhaber waren daher zusammengetreten, um als eine vereinigte Macht ihren Religions-Obern desto kräftiger die Unmöglichkeit einer unter Fabrikanten zu beobachtenden Sabbatfeier darzuthun. Andere wieder bedurften einer Dispensation für die minder bedeutenden Fasttage, und der zeitweiligen Erlassung anderer beschwerlichen Religionspflichten. Die erhaltene Concession, ging sie von einem der geachtetern und eines besondern Rufes der Gelehrsamkeit sich erfreuenden Rabbinen aus, denen Zalel von aller Welt beigezählt war, stopfte den lästernden Zeloten schnell den Mund; denn auch auf die Urtheile der Letztern nahm Zalel stets Rücksicht, und huldigte den Vorurtheilen der Menge insofern, als er in seiner eigenen Lebensweise durch ascetischen Wandel der strengsten Art die Licenzen der Reichen, von denen er gar zu sehr sich abhängig fühlte, wieder auszugleichen strebte. Er fastete an Montagen und Donnerstagen, ebenso an Tagen vor Eintritt des Neumondes, ging an jedem Freitage, wie auch an Vorabenden hoher Festtage, in die MikwehSo heißt die in vielen Häusern der Juden angebrachte unterirdische Badequelle, worin der Besucher sich mit ganzem Leibe untertauchen muß. Dies geschieht in der Regel am Vorabend hoher Festtage; bei Frömmern auch an jedem Freitage. Am Vorabende des Buß- oder Versöhnungstages ( Jom Kipur genannt) ist es für jeden Verheiratheten Pflicht, diese Untertauchungs-Ceremonie mitzumachen. Auch die Frauen haben ihre Badequellen, besuchen sie aber nur, wenn der monatliche Blutfluß vorüber, wornach es dem Gatten wieder gestattet ist, ihr die eheliche Pflicht zu erweisen, die während der Menstruationsperiode zu vollziehen Sünde wäre., schimpfte in den Leichenreden für Männer, die einen heiligen Wandel gelebt, auf die sündigen Zeitgenossen, deren Geringachtung religiöser Pflichten den Zorn Gottes reitze, so daß er seine Lieblinge, die Frommen, von der Welt nehme; rief bei solchen Gelegenheiten, um sein Auditorium heftiger zu packen, den Himmel an, daß er auch ihn von der Welt nehmen möge, wenn durch seinen Tod die Sünden seiner Glaubensbrüder gesühnt werden könnten. Aehnliche Kunststückchen sicherten ihm die Gunst der Orthodoxen, welche über seine den Reichen häufig ertheilten Dispensationen zuweilen unwillig die Köpfe schüttelten, aber nach dem Anhören eines solchen Ausrufes an die zürnende Gottheit, die, nach ihren Begriffen, nur durch einen sich selbst dem Tode weihenden Frommen wieder versöhnt werden konnte, schon mit dem guten Willen des Rabbi sich begnügten.

Ein anderer, nicht minder erwähnenswerther Charakterzug dieses Mannes war das häufige Versichern, daß er das Studium anderer als theologischer Gegenstände, wenn sie nicht in hebräischer Sprache abgefaßt, nur in jenen Momenten vornähme, die er zur Befriedigung eines Naturbedürfnisses in dem geheimen Gemache zubringe. Er hätte, pflegte er diesem Geständnisse hinzuzufügen, Bedenken getragen, auch diesen Theil seiner Zeit mit Lappalien auszufüllen, wenn nicht der Zeitgeist nunmehr von Leuten seines Standes gleichfalls ein Bewandertseyn auch in andern Wissenschaften verlangte. Uebrigens sey er froh, mit der Weisheit anderer Völker auch bekannt worden zu seyn, denn nun habe er sich die Gewißheit verschafft, daß alle in die Mathematik, Medicin und Jurisprudenz einschlagenden Artikel im Talmud weit scharfsinniger und wahrer, als von den christlichen und heidnischen Weisen, behandelt worden wären. Ein solches Bekenntniß brachte dem Panegyriker des Talmuds zwiefachen Vortheil, denn die Parthei der Orthodoxen, welche das Studium nicht religiöser Gegenstände als den ersten Schritt zur Ketzerei erklärte, durfte sich jetzt auf den Ausspruch des gelehrten Rabbi Zalel berufen, welchem zufolge ein wißbegieriges Gemüth gar nicht nothwendig hatte, zur Ausbildung seines Geistes erst nach fremden Lehrbüchern zu verlangen, weil es alles Wissenswerthe in der Gemara viel gründlicher behandelt fände; ebenso die reichere Klasse der Juden, die der Stimme des Zeitgeistes williger zuweilen ein Ohr lieh, sah es gern, wenn ihr geistlicher Rathgeber in weltlichen Dingen nicht ganz so unwissend wie seine andern Amtsbrüder war. Einer der wohlhabendern Partheigänger des Rabbi Zalel war Nachum Brody, derselbe, welchem ich auf der Brünner Messe von den Freunden meines Vaters zur Weiterbeförderung nach Prag anvertraut worden. So ist es auch begreiflich, warum der Prager Meßreisende, nachdem er den Zweck meiner Fahrt von mir vernommen hatte, mich für den Schiur des von ihm begünstigten Rabbi Zalel angeworben.

Die Aufnahms-Prüfung, welcher ich mich hatte unterziehen müssen, und welche eine der schwierigsten Stellen aus dem Tractate NidaEin ziemlich starker Foliant, welcher meist die aus dem ehelichen Leben entspringenden Weiberkrankheiten zum Gegenstande hat; demungeachtet wird dessen Studium auch mit Knaben vorgenommen. zum Gegenstande hatte, wobei ich mit vieler Gewandtheit ein halbes Dutzend Commentatoren für meine richtige Auslegungsweise Beweis führend citirte, entschied so sehr zu meinem Vortheile, daß mir vom Rabbi sogleich Tisch und Wohnung kostenfrei angeboten wurde, hingegen ich allerlei kleine Dienstpflichten im Hause übernehmen sollte. Unter diesen ward mitverstanden, in seiner Haus-KapelleObgleich die Prager Judengemeinde im Besitze von neun Bethäusern ist, deren jedes an Höhe und Ausdehnung den bedeutendsten Kirchen jener Stadt nicht nachsteht, hat der Stolz der Rabbinen, zum Theile auch ihre Bequemlichkeits- [...] eines von ihrer Wohnung entfernten Gotteshauses überhoben sind, sondern auch ein Heer andächtiger Personen ins Haus ziehen, welche diese Betstuben vorzugsweise besuchen, weil dort die Andachtszeit bedeutend abgekürzt wird. abwechselnd mit einem meiner Collegen das Amt eines Koreh zu verwalten, Freitags die Sabbat-Lampe mit dem erforderlichen Brennöle zu füllen, und die Baumwolldochte zu drehen, den Rabbi auf seinen Wegen außer dem Hause zu begleitenDie Rabbinen haben ihre eigenen Schicklichkeitsgesetze. Zu diesen gehört, daß keiner derselben sich ohne Gefolge, das mindestens aus dreien Schülern bestehen muß, auf der Straße sehen lasse. u. dgl. m. – ich verstand mich in kurzer Zeit auf die Launen meines Brodherrn, und hätte ein leidliches Leben in jenem Hause wohl mehrere Jahre fortgeführt, wenn nicht die weibliche Hälfte des Rabbi als das vollkommene Gegenstück ihres Gatten zu betrachten gewesen wäre. Schon in der Körperform unterschieden sie sich sehr; Zalel, ein tannenschlanker, kräftiger Mann, mit Ehrfurcht gebietendem Ausdrucke in den Gesichtszügen, dessen bis auf die Brust herabreichender Bart das Würdevolle seiner Erscheinung bedeutend erhöhen half, hatte zum Ehegespons ein hageres Weibchen von der Größe eines Courierstiefels. Ihr Mund ließ, wenn er sich zum Keifen öffnete, im weiten leeren Raume nur weit aus einander stehende Augenzähne zum Vorschein kommen, die, wären sie mittelst eines Fadens verbunden worden, füglich zum Wäschetrocknen hätten Dienste leisten können. Frau Sprinze war stets übler Laune, daß Jerusalems Wiederaufbau so lange verzögert werde oder aus sonst einer, frommen Seelen würdigen, Ursache, keifte mit allen Hausleuten, und machte selbst bei dem Rabbi, auf dessen eheliche Verwandtschaft mit ihr sie sich viel zu Gute that, keine Ausnahme. Im Beiseyn Fremder gelang es ihm zwar, durch ein schallendes: »Pschah!« ihr den Mund zu stopfen, aber vor dem Hausgesinde that sie ihrer Zunge weniger Gewalt an. Wie oft das würdige Ehepaar sich im Zustande gegenseitiger Mißstimmung finden ließ, geht aus folgendem Vorfall hervor. Eines Freitags hatte Sprinze, wie gewöhnlich, die fertig gebackenen Sabbatbrode auf einen dazu bestimmten Platz hingebreitet, und sich wieder entfernt, um ihren andern häuslichen Verrichtungen obzuliegen. Das Mittagessen eines jüdischen Frommen an den Freitagen kann auf den Namen eines soliden Mahles keinen gültigen Anspruch machen, denn es wird für Sünde gehalten, bei der ersten Sabbat-Mahlzeit, die bekanntlich am Freitagabende statt findet, sich mit einem gesättigten Magen einzufinden, weil dies gegen die dem Sabbat schuldige Aufmerksamkeit wäre, welche der Gläubige nie verletzen dürfte. Rabbi Zalel, welchen am Freitags-Nachmittage noch das Studium der Gemara fesselte, war in seine Meditationen dermaßen vertieft, daß er gar nicht bemerkt hatte, wie auf Anstiften des leeren Magens die rechte Hand nach dem Sabbatbrode gegriffen, Stücke davon abgebrochen, in kleinen Zeiträumen bissenweise dem Munde zugeführt, und den Frevel ungestört so lange fortsetzte, bis auch der Kopf des zweitenWegen der zwei Hauptmahlzeiten am Sabbat bedarf man auch zweier Brode, indem es der dem Sabbat schuldigen Hochachtung zuwider liefe, ein zur Hälfte gebrauchtes Brod für die nächste Mahlzeit aufzusparen. Weil nun diese Brode im eigenen Hause gebacken seyn sollen, die Zeit bis zum Sabbateingang jedoch schon viel zu kurz war, um an die Stelle der verzehrten Brode ein frisches Paar herbei zu zaubern, so ist Sprinze's Zorn wohl zu rechtfertigen. Sabbatbrodes bloß – gewesen war. Sprinze, heftig erschrocken, als sie den Gatten in dieser unwürdigen Beschäftigung überraschte, weckte ihn aus seiner Zerstreuung mit einigen kräftigen Proben ihres Redestyls, der zusehends sich an Kühnheit der Metaphern desto mehr bereicherte, je stiller und verschämter der im Gefühle seiner Schuld da sitzende Weise sich bezeugte. Die Spuren seines Unmuths waren noch Abends auf seinem Gesichte bemerkbar; und von den zum Gebete sich einfindenden Männern um den Grund dieses ungewöhnlichen Trübsinns befragt, als dessen Urheberin sie vorhinein Frau Sprinze vermutheten, bestätigte er ihre Ahnung als gegründet, gestand jedoch, sein heutiger Unmuth entspringe mehr aus dem Bewußtseyn, daß die Frau diesmal wirklich Recht gehabt habe.

Auch ich fand nicht selten Gelegenheit, über den fanatischen Eifer jener Haustyrannin gerechte Beschwerde zu führen. Sprinze war, wie zu jener Zeit noch viele Juden, der Ueberzeugung, daß das Lesen eines nicht mit hebräischen Lettern gedruckten Buches der erste Schritt zur Ketzerey sey, und stufenweise zum Abfall vom Glauben führe. Als sie nun Gunzens »Anfangsgründe der Rechenkunst« (ein zum Selbststudium der Arithmetik höchst brauchbares Werk, das ich zu diesem Behufe von einem Freunde geborgt hatte) auf meinem Tische aufgeschlagen gewahrte, warf sie das locker geheftete Buch, am Deckel erfassend, in den schmutzigen Hofraum hinab, daß die Blätter in zahllosen Gruppen hin und her flogen. Mein Jammer sprach dem Rabbi zum Herzen, und zwar, weil ich ihm vorstellte, daß der Eigenthümer des Buches Schadenersatz fordern werde, welchen ich, von allem Gelde entblößt, nicht zu leisten vermochte. Alsogleich hob sich Zalel von seinem Armstuhle, und in dem ihm eigenthümlichen sonoren und kräftigen Basse rief er der Hausfrau besänftigend zu: »Sprinze, mein Leben! weißt du denn nicht, daß das Buch vom SchimmeVerkürzung des Namens Simon. Schwerlich hat ein Werk über die Rechenkunst so vielfache Auflagen erlebt, als das dreibändige des obgenannten Simon Gunz, welcher auch durch eine zeitgemäße verbesserte Ausgabe von Nelkenbrechers Taschenbuch aller europäischen Münzsorten und deren Curse sich um das kaufmännische Publikum mannigfach verdient gemacht hat. Er war der Sohn eines Rabbi zu Fürth in Baiern, und starb in Prag, welche Stadt er in seiner Jugend zu dem Zwecke besuchte, seine talmudischen Studien fortzusetzen, als Lehrer der höhern Mathematik an der israelitisch-deutschen Hauptschule. Sein Sohn, der, zum christlichen Glauben übergetreten, als Professor der Mathematik in Laibach angestellt worden war, suchte in Briefen den Vater gleichfalls zur Annahme des Christenthums zu bewegen, erhielt aber die ausweichende Antwort, dies könne nicht wohl geschehen, weil dann der Sohn älter als der Vater wäre. Auf die an ihn gestellte Frage: Welche Religion er für die wahre hielte, die jüdische oder christliche? versetzte er rasch: Moses ist nicht gestogen (so lautet das verdorbene Judendeutsch statt gestiegen, eine Anspielung auf das Besteigen des Berges Sinai), und Jesus ist nicht geflogen (womit dessen Himmelfahrt angedeutet seyn soll). Als er befragt wurde: Womit ihm Gott die größte Freude machen könnte? war die Antwort: Wenn alle Christen in Einem Tage eine Miße Meschunn (gewaltsamen Tod) erleiden müßten, und alle Juden sich darüber vor Lust zu Tode lachten; dann bin ich ja beide los. Gunz gemacht ist?« Hierauf ward mir gestattet, die Blätter in dem finstern Hofraume zusammen zu lesen, welche Begünstigung ich nur dem Zufalle verdankte, daß der Verfasser des Buches gleichfalls von Abraham abstammte.


 << zurück weiter >>