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5.
Verden

Das Blutbad an der Aller. Karl der Große. Die Stadt. Der Dom. Zwei Bischöfe.


. Mit blutigen Lettern steht Verdens Name auf den ersten Blättern beglaubigter deutscher Geschichte verzeichnet. In Verbindung mit einer ungeheueren Blutthat, mit jener Hinrichtung von 4500 sächsischen Männern, die Karl der Große hier am Ufer der Aller im Jahre 782 an einem einzigen Tage hinschlachten ließ, wird dieser Ort der aufmerksam zuhorchenden Jugend auf den Schulbänken zuerst genannt, und das Grausen, welches das kindliche Herz erfaßt, sorgt dafür, daß er unvergessen in unserer Seele bleibt. Unvergessen ist jener blutige Tag auch in den Sagen und Erzählungen des Volkes, und ein Platz in der Nähe der Halsmühle, die nicht weit von Verden nach Norden zu gelegen ist, der Sachsenberg, wird noch heute mit dieser Massenhinrichtung in Verbindung genannt. Aber die Große des Herrschers, welcher die That vollführen ließ, hat selbst diese unmenschliche Grausamkeit mit einem Schimmer von Erhabenheit umkleidet, und die Nachkommen derselben Männer, welche hier dem gewaltigen Unterjocher ihres Vaterlandes zum Opfer fielen, um dessen Freiheit sie kämpften und starben, nennen den Namen des Frankenkaisers mit jener Ehrfurcht, welche der Zauber einer außerordentlichen Persönlichkeit und der Lichtglanz des Erfolges erzeugen. Welche Macht muß dieser Mann auf seine Zeitgenossen geübt haben, daß heute noch sein Bild von solchem Glorienschein umflossen ist! Als Eroberer kam er ins Land der Sachsen, nicht mehr zu einzelnen Beutezügen, sondern mit planvollem Vorgehen, dies Land der Eichen und kampfesharter Männer seinem gewaltigen Reiche einzuverleiben. In fast dreißigjährigem, stets erneutem Kriege verwüstete er ihre Fluren, führte die Männer aus der Heimath fort, nahm ihren Besitz, ihre Götter, ihr Leben selbst von ihnen, und doch wird sein Name gepriesen in Liedern und Geschichten, nicht als der eines mächtigen, fremden Eroberers, sondern als der des ersten deutschen Herrschers, welcher in seiner Gewalt einem gewaltigen Volke genehm war. Man frage nur umher im niedersächsischen Lande nach dem Errichter der altehrwürdigen Bauwerke, der Kirchen vor allem, und immer wird man die Antwort vernehmen: «Die Kirche hier soll Karl der Große erbaut haben.» Keine einzige von denen ist bei uns vorhanden, welche er wirklich errichtete, im Bewußtsein des Volkes aber lebt instinktiv die Ueberzeugung fort, daß in dem klugen Zusammengehen mit der Kirche und ihren bekehrungseifrigen Geistlichen ein Hauptgrund lag für Karl's des Großen, wenngleich lange bestrittene, doch außerordentliche Erfolge in den sächsischen Landen. Und wenn auch die Bauten verschwunden sind, welche er an den Stellen errichtete, wo die Germanen im Opferhain die alten Götter anflehend verehrten, so erhoben sich an ihren! Platze wieder um so prächtigere, der Welt die kirchlichen Gründungen des großen Frankenkaisers im Gedächtniß zu erhalten. Als ein Denkmal seines starken Willens gilt darum auch heute noch der Dom von Verden, den Platz bezeichnend, von welchem aus er durch bischöfliche Vermittelung die friedliche Eroberung des mit den Waffen bereits unterjochten Landstriches zwischen Weser und Elbe bis in die Mark Brandenburg hinein vollendete.

Der Name Verdens ist freilich ehrwürdiger, als sein Aussehen. Die schweren Kriege, welche über Deutschland hingezogen sind, haben hier vieles vernichtet, und man sieht fast nirgends Reste der alten Zeit, den Dom ausgenommen, der durch den Mangel einer alterthümlichen Umgebung und künstlerisch bedeutender Bauten noch mächtiger erscheint. Uebrigens aber erblickt man eine Landstadt, wie viele andere. Die Häuser sind einfach, manche von Gartenland umgeben, die Straßen unbelebt und friedlich still. Das Leben geht einen ruhigen, gleich mäßigen Gang, der Lärm der großen Welt schallt nicht hierher. Einst ging es lebhafter in Verden zu, als die Stadt in zwei feindliche Heerlager getheilt war, als zwei Städte gleichsam einander gegenüberstanden und um ihre Existenz kämpften. Dem alten Verden der Norderstadt, welche Karl der Große als Dorf bereits vorfand, ward in dem neuen Orte, der Süderstadt, welche sich um den von ihm gegründeten Dom erhob, eine mächtige Konkurrenz bereitet. Jahrhunderte hindurch dauerte der Zwiespalt zwischen beiden. Dort im Norden eine emporstrebende Handelsstadt, welche die Aufnahme in den Hansabund durchsetzte und gern eine große Rolle in Handel und Wandel gespielt hätte, ohne jedoch jemals recht dahin zu gelangen, hier das Gepränge kirchlicher Feste, Prozessionen und Aufzüge, die glanzvolle Offenbarung geistlicher Macht und Herrscherlust. Manch böses Wort klang aus der Norder- in die Süderstadt hinüber, und zuweilen erhoben die Bürger die Waffen feindlich gegen einander. Selbst als im vierzehnten Jahrhundert eine gemeinsame Schutzwehr beide Orte umzog, ward die starke Scheidemauer mit ihrem wohlbefestigten Thor im Innern nicht gebrochen, ein neuer tiefer Graben ward daran hergezogen, und trotz der scheinbaren äußerlichen Vereinigung blieb in der Norderstadt das Sprichwort bestehen: «Wird ein süderendisch Kind geboren, wird der alten Stadt ein Feind geboren». Jetzt ist die Ringmauer, wie die Scheidemauer gefallen, der trennende Graben ist zugeschüttet, und über dem geeinten Orte ragt der Dom empor, um den Sieg der Kirche zu verkünden.

Der Dom ist das Wahrzeichen Verdens geworden, und an ihn knüpfen sich die Erinnerungen, denen wir hier nachgehen. Man sieht ihn schon von weitem, wie er sich in schweren Formen vom Horizont abhebt, lange bevor die Häuser Verdens neben ihm sichtbar werden. Man glaubt einen Dom mit einer Stadt zu erblicken, nicht eine Stadt mit einem Dom, so massenhaft und schwer steht er da. Von außen mehr durch Größe als durch Schönheit imposant, beherrscht er die Umgebung und schaut weithin über das Flachland, sieht, wie die Aller der Vereinigung mit der Weser zuströmt, und läßt den feuchten Nordwestwind, der Botschaft vom Meere weit draußen bringt, über sein graugrünes Kupferdach hinstreichen. Dem Kampf mit den Elementen dankt die norddeutsche Architektur ihren ernsten und strengen Charakter. Da ist kein leichtes Spiel mit heiteren Formen, nach außen oft nur Abwehr zerstörender Naturgewalten. Schmuck und Glanz werden für das Innere aufgespart, von dessen Pracht das Aeußere vielfach nur das allerwenigste verräth. So ist der romanische Stil in seiner rundbogigen Abgeschlossenheit, mit seinen kleinen Fenstern und starken Mauern, mit seiner Vorliebe für klösterliche Verborgenheit die eigenste Bauart unseres Landes. Und auch die gothische Baukunst verliert hier von ihrer emporstrebenden Freiheit und wird verschlossener und düsterer. Der Backstein verbietet die bunten Schnörkel und schlanken, durchbrochenen Fialen, welche der Sandstein gestattet, und so beeinflußt das heimische Material den Charakter der Kunst. Auch der Verdener Dom ist ein ernster abgeschlossener Bau, noch massiger durch den Mangel einer zugehörigen Thurmanlage. Denn der eine Thurm, welcher vorhanden, ist der Rest eines alten Baues aus dem elften Jahrhundert, ehrwürdig in seinen romanischen Formen, aber dem weit umfangreicheren Bau der gothischen Kirche, deren First beinahe so hoch hinaufreicht, wie sein jetziges Nothdach, nicht annähernd entsprechend. Und doch freuen wir uns dieses Restes, weil er am weitesten zurückführt in die Zeiten der erfolgreichsten Wirksamkeit des Verdener Bisthums. Durch mehrere hundert Jahre ist er getrennt von dem späteren Bau, der erst nach langdauernder Bauzeit im Jahre 1490 vollendet ward, kurz bevor die Reformation ihren hier ausnahmsweise friedlichen und geräuschlosen Einzug hielt in das Verdener Land. Nur ein Ueberbleibsel erzählt außer dem Thurm von ältester Zeit: der Kreuzgang, welcher sich an die Kirche anlehnt. Ist er auch verbaut und nur zum Theil noch erhalten, so ist doch die Grundform geblieben, und wir erblicken den stillen allseitig umschlossenen quadratischen Friedhof, der jetzt zu einem kleinen Garten umgewandelt ist, und zu welchem die Bogenöffnungen des Ganges den Blick hinausleiten. Von hier aus treten wir in den Dom, und die Größe und Schönheit des Werkes erfassen in mächtiger Wirkung das Herz des Beschauers. Die einfachen und bedeutenden Verhältnisse des Innern machen den Verdener Dom in der That zu einem der schönsten kirchlichen Bauwerke unseres Landes. Vollendete Harmonie spricht aus dem Verhältniß der Seitenschiffe zum Mittelschiff, und der selten schöne Chorabschluß vollendet das Ganze. Im Einzelnen fehlt es heute an reichem Schmuck. Bei der vom Herzog von Cambridge in unserem Jahrhundert angeordneten umfassenden Restauration sind fast alle die zahlreichen Grabdenkmäler, Nebenaltäre und Gemälde aus dem Dom entfernt, die Gebeine fast sämmtlicher seit 1300 im Dome beigesetzten Bischöfe, Domherren und anderer angesehenen Personen sind aus ihrer Ruhe gestört und in einem einzigen Grabe auf dem freien Platze neben dem Dom beigesetzt, das König Georg V. mit einem Denkmal geschmückt hat. Der Dom selbst hat auf diese Weise nur wenig Schmuck behalten. Ein ungewöhnlich schön geschnitzter Bischofsstuhl, ein Taufbecken aus dem alten Dom, die reiche Grabplatte des Bischofs Bartold von Landesbergen in einer Vorhalle erzählen freilich noch von der kirchlichen Pracht, welche hier geherrscht, und ein großes Grabmonument in einem stillen, halbdunklen Winkel weckt die Erinnerung an zwei der interessantesten Vertreter des Verdener Bisthums.

Dahingestreckt auf den Sarkophag, in vollem bischhöflichem Ornat ruhen hier in Stein verewigt zwei männliche Gestalten. Der steinerne Sarg birgt die Asche zweier Brüder, «die Gebeine geweihten Blutes, welche Gott aus der Finsterniß der Welt zu Besserem rief», wie die lateinische Inschrift verkündet. Die Bischöfe Christoph und Georg aus dem Hause Braunschweig-Lüneburg schlafen hier neben einander, zwei Brüder, wie sie die Welt nicht verschiedener sah. In ihnen berührte sich alte und neue Zeit. Die gesunkene katholische Kirche, die unter den Sturmschauern der Reformation zusammenbrach, verkörperte sich in ihrer inneren Hohlheit und äußerem Glanz noch einmal in Christoph, dem altern der beiden Brüder; der neue Tag brach an mit Georg, der «das Leben eines Weisen führte». Wenn die Grabschrift von Christoph rühmt, daß das Herz der Menschen ihn mit Thränen und traurigen Zähren zurückfordere, so ist das eine der frommen Lügen, wie die Grabschriften sie lieben. In Wahrheit hat er unleidliche Zeiten über das Bisthum gebracht. Ein Weltmensch, der in Genuß und Verschwendung versunken sich mit dem Himmel durch strenge Wahrung der Formalitäten abfand, ein schöner Mann, dem Frauenliebe gar wohl bekannt war, ein eigenherrlicher Held, der nach Ritterart das Faustrecht übte und die Häuser der Domherren plünderte und sie durch tagelanges Messelesen quälte – so steht sein Bild in der Geschichte. Er erschöpfte seinen Kredit bis aufs äußerste, verpfändete Stiftsgüter, Schlösser, Zölle und Gerichte, und der Tod ereilte ihn, als er zur Winterszeit eine Reise nach Berlin unternahm, um Geld zum Bezahlen seiner Schulden zu holen. Ein wüstes Leben herrschte unter ihm am Bischofshofe zu Verden. Wo sonst frommer Gesang erklungen war, da hallten die Wände wieder vom Lachen leichtfertiger Weiber, und wenn auch einmal ein Legat des Papstes erschien und die Domherren ermahnte, nicht zugleich der Maria und der Venus zu dienen, so erreichte er wenig, weil er selbst gar schnell der Frau Venus zu Füßen sank. Der Untergang kirchlichen Geistes in äußeren Formalitäten trat in Verden erschreckend zu Tage. Keine Andachtsübung ward unterlassen, aber kein Mensch kannte mehr die Andacht. Nur zu Haß und Verfolgung schwang sich zuweilen der geistliche Sinn empor, und ein trauriges Ketzergericht bezeichnet die Zeit von Christoph's Regierung.

Ein junger Mönch war's, Johannes Bornemacher, den Gewissensqualen aus dem Kloster von Walkenried fortgetrieben hatten der neuen Lehre zu. In Bremen hatte er Schutz und Frieden als Pfarrer an St. Rembert gefunden, aber das Herz zog ihn, Luther's Antlitz zu schauen, seine befreiende Stimme zu hören. Er ging nach Wittenberg, erfüllte die Seele mit dem Feuerstoff der neuen Lehre und sah die alten Irrthümer unter den Schwertern des Geistes zerbrechen wie Glas. Von Begeisterung erfüllt, vom Drange getrieben, der Welt die neu gewordene Offenbarung zu künden, kam er nach Verden. Es war der Tag, an welchem das Marienfest gefeiert wurde, der Dom war mit Andächtigen gefüllt, und Maria, die heilige Jungfrau, wurde in Wort und Lied gepriesen. Da ergriff es den Fremdling mit unwiderstehlicher Kraft, er trat dem Priester am Altar entgegen und ihn der Lüge zeihend rief er dem Volke zu: «Maria ist ein Weib, wie andere Weiber!» Dann floh er hinaus, doch die Stimme des Herzens zog ihn zurück, und freiwillig kehrte er wieder in die Gewalt der Mächtigen, die er verhöhnt. Nun begann das schreckliche Gericht. Nun begannen die Verhöre, die Kreuzfragen, die Folterqualen, die schlimmer sind, als der Tod. Und dann kam der Tod selbst in der schrecklichsten Form. Ein Scheiterhaufen ward errichtet, eine Prozession zog heran, das Holz ward entzündet, und dann der Ketzer hineingestoßen in die Flammen, damit er nicht weiter das Wort der Wahrheit verkünde.

Noch mehr solcher Scheiterhaufen hat Verden gesehen, und als es keine Ketzer mehr zu braten gab, wurden um so fleißiger Hexen gebrannt. Aber die alte Zeit systematischer Geistesknechtung war doch mit Christoph's Tod erloschen. In der milden Seele seines Bruders Georg brannte eine reinere Flamme, und wenn er auch nicht selbst zu der neuen Lehre übertrat, so wußte er doch mit sanfter Duldung Gegensätzliches friedlich in einander überzuleiten und das Bisthum vor den Kämpfen zu bewahren, von denen die Reformation an anderen Orten begleitet war. Jetzt ruht er als stiller Mann zur Seite des Bruders, aber die Dankbarkeit pflegt sein Andenken. Andere kamen nach ihm und starben wie er, und seit im Jahre 1648 das Bisthum säcularisirt worden, ist es immer stiller geworden in Verden. Aber der Dom ist geblieben, und um seinetwillen lenkt Mancher die Schritte hierher, der sich an seinem Anblick und seinen Geschichten erfreut.


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