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3.
Lüneburg

Charakter der Stadt. Kampf der Bürger gegen die Fürstenmacht. Die St. Ursula-Nacht. Das Rathhaus. Die Kirchen. Der Kalkberg.


. Willkommen, du alte Hansestadt am Ufer der dunkel fluthenden Ilmenau! Willkommen mit deinen hohen Thürmen und den Staffelgiebeln der alten, gothischen Backsteinhäuser, an denen die Zeit genagt und der Sturm gerüttelt hat! Willkommen, hochragendes Dach der Nikolaikirche, die du thurmlos und doch so mächtig dastehst! Und dir auch ein freundliches Willkommen, du vielverrufenes Land, das man von Lüneburg's Kalkberg überschaut, dir, oft geschmähte melancholische Lüneburger Heide! Du gleichst dem Menschen mit ernstem Gesicht, der schweigsam durchs Leben geht. Man lernt ihn nicht kennen auf den ersten Blick, und nur selten öffnet er die Lippen zu geselliger Rede, doch wenn es geschieht, kommen gute Worte aus seinem Munde, und der Blick seines Auges ist freundlich. Man muß verweilen und sich Zeit nehmen, ihm näher zu treten. So geht es auch mit dir. Im Fluge, hindurchbrausend auf dem eisernen Wege, der zum Meere führt, lernt Niemand dich kennen. In einer stillen Abendstunde, wenn die Sonne sich zum Untergange neigt, muß man dich betrachten von einem Punkte aus, der den Blick weit hin bis zum Horizonte schweifen läßt. Im dunklen Graugrün stehen die Föhren da, in schwarzbraunen Streifen breiten das Moor und die Heide sich aus, und in leichten Wellenformen begrenzen die blauenden, buchenbewachsenen Höhenzüge zuletzt den Blick. Zum Schmuck für die ernste Natur ist das lichtgrüne Banner der Birke aufgesteckt, und die weißen Stämme leuchten freundlich hindurch. Würdig und fest aber steht in der ernsten deutschen Landschaft die alte Stadt mit Thürmen und Giebeldächern, erbaut aus der zu Stein gebrannten Erde, auf der sie errichtet ist.

«Das Volk hat diese Stadt zur Stadt gemacht» – so spricht es aus all den stattlichen Denkmälern von Bürgerstolz und Bürgerreichthum. Was Fürstengunst und Fürstenmacht für Lüneburg vor Zeiten gethan, das ist zum Theil verschwunden, zum Theil vergessen. Die Burg auf dem Kalkberge, die Hermann Billung, der erste Herzog von Sachsen, dort oben vor 900 Jahren erbaut, ist seit dem Jahre 1371 vernichtet, das Schloß, welches zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts unten in der Stadt errichtet wurde, ist jetzt zur Kaserne geworden, und die blau-gelben Dragoner hausen in den herzoglichen Gemächern. Aber ehrfurchtgebietend steht das große Rathhaus noch heute in der Mitte der Stadt, ein ganzes Häuserviertel bedeckend, und wie Jahrhunderte daran gebaut, so berathen heute noch nach Jahrhunderten die Väter der Stadt in jenen Räumen über Wohl und Wehe, Gewinn und Verlust. Mit blutiger Schrift steht in der Geschichte der Stadt der Tag verzeichnet, an dem der Bürger Freiheitsmuth die Fürstenmacht gebrochen. Denn die Hände der Bürger waren es, welche die vom Kalkberg herabdrohende Feste zerstörten, das Blut der Bürger war es, welches im siegreichen Vertheidigungskampfe für die Stadt floß, als Herzog Magnus Torquatus in heimlichem Ueberfall die Vernichtung seines Schlosses zu rächen versuchte. Mit dem Eintritt Lüneburgs in den mächtigen Hansabund fällt ungefähr dies Erstarken des Bürgersinns zusammen, offenbart sich in solcher Schärfe der Gegensatz von städtischer Eigenmacht und fürstlichem Protektorat. Seit 1367 ist der Name der Stadt in authentischen Urkunden über den Hansebund zu finden, und 1371 schon kam es zu den mörderischen Entscheidungskämpfen zwischen Fürst und Bürgern. Ein Stolz und Schirm der Stadt war die Burg auf dem Kalkberge für die Bürger gewesen, so lange gutes Einvernehmen mit den Fürsten herrschte, die dort oben saßen. Als aber der Erbschaftsstreit um das Herzogthum Lüneburg zwischen den welfischen und den sächsischen Herzögen entbrannte, von denen letztere durch den Kaiser mit Lüneburg belehnt worden, da schlugen sich die Lüneburger auf Seite der Sachsen und verhandelten mit ihnen über Zusicherung ihrer Freiheiten für den Fall, daß der welfische Herzog Magnus vertrieben werde, der die Stadt von seinem Bergschlosse herab in jeder Weise belästigte. Er «achtete auf Niemandes Beschwerde und beschatzte die Unterthanen über Gebühr», heißt es von ihm, und so trieb er selbst die freiheitslustigen Bürger zu der That, die gar manchen Mannes Leben kosten sollte. In demselben Jahre 1371, als die Bürger von Hannover die feste Burg Lauenrode brachen, zerstörten auch die Männer von Lüneburg das Schloß auf dem Kalkberge. Die Waffen und Panzer unter friedlicher Kleidung verbergend, mit Frauen und Jungfrauen im Verein, welche Schwerter in den Falten des Gewandes trugen, zogen die Lüneburger um Lichtmeß zum Michaeliskloster, das damals am Fuße des Kalkberges lag; von dort gelangten zwei Männer mit List in das Schloß, stießen den Hauptmann desselben nieder, riefen die Genossen nach sich, und so fiel die Burg in die Hände der Städter. Am nächsten Tag aber einigten sie sich, Schloß und Kloster zu zerstören, wiesen den Benediktinermönchen einen neuen Bauplatz innerhalb der Stadtmauern an, brachen die Burg, daß kein Stein auf dem andern blieb, und ließen dann die Herzöge von Sachsen, die ihnen Privilegien und Freiheiten hatten verbürgen müssen, unter Jubel und Glockengeläut einziehen in die Stadt, die ihnen huldigte.

Das Alles aber war nur der erste Akt eines blutigeren Schauspiels. Das Verlangen nach Rache wuchs auf in der Brust des Herzogs Magnus, und vielleicht wäre es ihm, wie ein frommer Chronist meint, gelungen, die Bürgerschaft zu bestrafen, die Stadt wieder in seine Hände zu bringen, wenn er sein Werk mit Gott angefangen hätte. Statt dessen aber fragte er den Winzenburger Poltergeist Hoideke, der in diesen alten Geschichten eine große Rolle spielt, um seinen Rath, ob es ihm gelingen würde, Lüneburg bei Nacht zu ersteigen, und zweideutig kam die Antwort zurück, des Herzogs Mannen würden alle gesund hinein kommen in die Stadt. In der Nacht des Tages der elftausend Jungfrauen, der St. Ursula-Nacht des Jahres 1371, ward die Ueberrumpelung Lüneburgs versucht. Die sorglos gewordenen Väter der Stadt hatten zum ersten Male seit langer Zeit in dieser Nacht den Wachen gestattet, die Mauern ohne Schutz zu lassen, und so kamen siebenhundert Ritter des Herzogs Magnus, die einzeln und insgeheim von Celle aus vor Lüneburg gezogen waren, über die niedrigste Stelle der Mauer hinein in die Stadt. Aus dem tiefsten Schlaf, der in den ersten Morgenstunden den Menschen gefesselt hält, wurden die Bürger durch Waffenlärm und Feuerschein und plötzlichen Schreckensruf emporgejagt. Da griffen sie im Nachtkleid zu den Waffen, da stürzten sie hinaus auf die Straßen, da weckte ihr Lärmruf die noch säumigen Schläfer und trieb sie an zu vereintem Kampf. Auf dem Markte geschart warfen sie sich den Eindringlingen entgegen, und der Bürgermeister Viscule war unter den ersten, die für die Stadt ihr Leben ließen. In blutigen Wogen tobte die Brandung des Kampfes und wälzte sich näher und näher zum Rathhaus, in welchem die Waffen der Bürger lagen, und das sie zu schützen suchten mit äußerster Kraft. Da rettete mit kühner List ein «geschwinder Mann», der Hauptmann Ulrich von der Weißenburg, die fast schon verlorene Stadt. Er ließ durch einen Trompeter die Herzoglichen zur Unterhandlung laden, versprach die Unterwerfung der Bürger, die er baldigst umzustimmen verhieß, und ließ den Rathskeller öffnen, dessen starker Wein die Seele manches Ritters umnachtete. In den inneren Höfen des Rathhauses aber begann eine leise Geschäftigkeit, und im nächtigen Dunkel sah ein aufmerksames Auge das Blitzen schnell herbeigeschaffter Waffen. Denn hier vereinigten sich die Bürger und benutzten die durch List gewonnene Zeit zu eiliger Rüstung. Dann aber brachen sie vereinigt wuchtig hervor, warfen sich auf den Feind und riefen ihm laut entgegen, daß sie der Stadt Freiheit und Ehre bis zum Tode beschirmen wollten. Da fiel der Hauptmann von der Weißenburg unter den Streichen der Gegner, und gutes Bürgerblut bedeckte den Marktplatz; aber reicher noch strömte das Blut der Feinde, und vor dem wilden Ansturm mußten sie zurückweichen vom Rathhaus, vom Markte durch die Bäckerstraße gedrängt bis zum Sande, dem freien Platze, der wie ein zweiter Marktplatz daliegt. Und hier ward ihnen das Ende bereitet. Denn als sie sich anschickten, neu gesammelt den Bürgern entgegenzutreten, da erschien in ihrem Rücken von der Johanniskirche her eine andere Schaar, in welcher der Volksglaube die heilige Ursula selbst mit ihren elftausend Jungfrauen erkennen wollte, und so von allen Seiten eingeengt, blieb ihnen nichts als der Versuch zu aussichtsloser Flucht. Durch eine enge Gasse wälzte sich die Schaar der Besiegten zur Mauer, doch das Thor war verschlossen, und nur Wenigen gelang der Sprung über die Mauer. Unter den Eingekeilten aber wüthete das Bürgerschwert, und ein so furchtbares Blutbad ward hier in jener Nacht bereitet, daß bis auf den heutigen Tag jene Gasse den Namen der rothen Straße, das die Flucht verwehrende Thor den des rothen Thores behalten hat. In Winzenburg aber hat, wie die Sage berichtet, der Geist Hoidike auf dem Thurm ein wunderliches Spiel getrieben, und um die Stunde, als die Herzoglichen die Mauern von Lüneburg erstiegen, in boshaftem Frohlocken ausgerufen: «Sie sind alle hinüber». Der Sieg und Triumph der Bürgermacht aber ist in vielen Liedern und Geschichten gefeiert und die Ursula-Nacht von 1871 unvergessen auch bei dem jetzt lebenden Geschlechte.

So bewahrt das Gedächtniß des Volkes die Wandlungen ganzer Epochen in Verbindung mit einzelnen, großen Ereignissen. Und der Kampf der St. Ursula-Nacht ist es, in welchem im Geiste des Lüneburger Bürgers der Sieg der wachsenden Bürgermacht über die gesunkene Fürstenkraft verkörpert wurde. Gingen die Errungenschaften dieses Sieges auch zeitweise wieder verloren, machten auch die sächsischen Herrscher den welfischen wieder Platz, das mächtige und rasche Emporblühen der Stadt datirt doch vom Ausgange der vierzehnten und vom Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts. Alte Privilegien wurden befestigt, neue wurden gewonnen; mit Lübeck, Hamburg, Wismar, Rostock und Stralsund trat Lüneburg innerhalb der Hansa zu dem Bunde der sechs wendischen Städte zusammen, und mit ihnen ward manche kühne Heerfahrt unternommen. Lüneburgs Schüfe durchfuhren die Meere, der Handel blühte empor, und reiche Schätze flössen in die Stadt. Kein Kleinod aber ward zu allen Zeiten sorgsamer gehütet, als die erste und vornehmste Goldquelle, die «Sülze». Die Salzquelle dort in der Lüneburger Heide hat die Gründung der Stadt veranlaßt, und wie man sonst die Gebeine eines Heiligen bewahrt, so bewahrte man auf Lüneburgs Rathhause die Knochen des Schweines, welches der Sage nach die Reichthum spendende Quelle entdeckt hatte. Und in allen Fährlichkeiten, in allem Wechsel der Zeiten wurden die Privilegien der Sülze am tapfersten vertheidigt und zuerst bedacht.

Was Lüneburg im Mittelalter gewesen, das sieht man noch heute, wenngleich gar Vieles verfallen und verwittert ist. Auf dem Wege zur Küste ist diese Stadt die erste, welche den Backsteinbau der gothischen Periode voll und ganz zur Schau trägt. Der durch die Natur gebotene Baustil einer Gegend, welcher der Fels mangelt, ist hier zur Herrschaft gelangt. In den Formen der Häuser aber zeigen sich zuerst auch Reminiscenzen an die Bauart der Küstenstädte, und aus den gebogenen, geschweiften Giebeln, welche neben den staffeiförmig errichteten stehen, sprechen Erinnerungen an Lübeck und Emden. Spätere Zeiten haben auch an dieser Stadt geändert und zu verbessern gedacht, aber wenn man auch dem Rathhaus an Stelle der fünfthürmigen gothischen Façade eine solche in den Formen der deutschen Renaissance gegeben, wenn man andere Häuser in gleicher Weise verändert hat, so ist doch der Kern des Rathhausbaues gothisch, so ist doch der Charakter der Stadt im Ganzen unverändert geblieben. Ein ansehnliches und würdiges Denkmal deutscher Bürgermacht spiegelt sie sich in der langsam strömenden Ilmenau, und im Herzen der Stadt am weiten Marktplatz erhebt sich das Rathhaus als Wächter verborgener Schätze. Denn sein Inneres ist noch viel reicher, als das Aeußere. Zu verschiedene Zeiten haben an dem Bau gearbeitet, als daß man ihn einheitlich und schön zu nennen vermöchte. Wer aber durch den stillen Hof und über Treppen, die von längst vermoderten Füßen ausgetreten sind, durch die vielen Räume hindurch sich führen läßt, der bekommt Respekt vor den alten Herren, die hier gewaltet haben. Es ist etwas Prächtiges um solch ein altes, deutsches Rathhaus! Ein ruhiges Selbstbewußtsein, eine behäbige Freude am Schönen, ein guter Sinn für das Solide und Wahre spricht aus den moderduftigen Zimmern und aus den Gesichtern, die von den Wänden schweigsam herabblicken. Der berühmteste Besitz des Lüneburger Rathhauses freilich, der vielbesprochene Silberschatz, ist an das Berliner Museum verkauft, aber getreueste Nachbildungen dieser Gaben einer reichen und kunstliebenden Zeit, dieser wundervollen Becher, Kannen und Schalen, sind zum Ersatz geliefert, und ein Theil des gewonnenen Geldes ist verwandt, um die Räume des Rathhauses würdig zu erneuern. Die Gerichtslaube, ein weiter, prächtiger, gewölbter Raum mit interessanter Luftheizungsanlage aus dem 14. Jahrhundert, ist neu und schön ausgemalt, und andere Aufwendungen für das Rathhaus, dem auch im Aeußeren eine Restaurirung wohlthun würde, sind geplant. Einen anderen herrlichen Besitz hat das Rathhaus noch, der sich nicht veräußern läßt, es ist die Rathsstube mit ihren wunderbar schönen und einzig werthvollen Holzschnitzereien. Mit der braunen Täfelung, mit dem dunklen Grundton des Ganzen macht es einen feierlich abgeschlossenen Eindruck. Und wer sich ins Einzelne vertieft, wer die kostbaren Schnitzwerke von Adalbert von Soest's kunstreicher Hand, das Bild des jüngsten Gerichtes, die Hinrichtung des Manlius Torquatos, vor allem die mit höchstem Geschick durchbrochenen, mit zahllosen Figuren und Figürchen geschmückten Thürpfeiler betrachtet, der wird von hoher Achtung für die Phantasie und das Können der alten deutschen Meister, zugleich auch für die Kunstliebe der mittelalterlichen Stadt erfüllt, welche so das Haus ihres Rathes verzieren ließ.

Von der früher weit größeren Zahl der Kirchen sind nur vier übrig geblieben, aber unter ihnen drei, welche durch Schönheit oder Große hervorragen. Die Johanniskirche bewillkommnet zuerst den Fremden, welcher die Stadt betritt, mit ihrem hochragenden Thurm und dem massigen, breiten fünfschiffigen Bau. Gleich ihr in Backstein errichtet, erhebt sich die Nikolaikirche, noch thurmlos, aber mit so gewaltig hohem Mittelschiff, daß ihr Dach mächtiger emporsteigt, als mancher Kirchthurm, und im Innern der Blick unwiderstehlich nach oben gezogen wird. Nicht so eigenartig wie sie in ihren seltenen Dimensionen und dem bunten Backsteinkleid, steht nahe beim Rathhaus die Michaeliskirche, ein schöner und harmonischer Bau und am reichsten an denkwürdigen Erinnerungen. Denn sie war berufen, die alte, mit dem Schloß auf dem Kalkberg zerstörte Michaeliskirche zu ersetzen, mit welcher die Namen der ältesten Landesherren verwoben waren. In ihr ward Hermann Billung im Jahre 973 beigesetzt und viele der Herrscher, die nach ihm kamen. Ihre Gebeine wurden in den neuen Bau übergeführt, der 1383 vollendet ward, und spätere Herrscher fanden neben ihnen die Ruhe. Zu Ende des vorigen Jahrhunderts aber ließen pietätlose Hände die Särge aufbrechen und alle die Reste der Männer, vor deren Namen dereinst das Land gezittert hatte, vereint in eine Gruft unter dem Schiff der Kirche werfen. So ist keine Erinnerung an jene Fürsten geblieben, als eine eiserne Tafel, die in den Boden eingelassen ist, über welche der Fuß achtlos hinwegschreitet, und die den Wechsel des Irdischen mit den einfachen Worten verkündet, daß hier die Gebeine der während eines halben Jahrtausends, von 973–1471 in Lüneburg beigesetzten Landesherren und ihrer Gemahlinnen ruhen.

Noch eine Erinnerung anderer Art knüpft sich an die Michaeliskirche, von der jeder Lüneburger mit frommem Grausen spricht, die Erinnerung an die furchtbare Diebesbande des Nickel List, welcher der Kirche ein überaus kostbares Altarwerk, die sog. goldene Tafel, raubte und dafür mit all seinen Genossen den Tod durch Galgen und Rad zu erleiden hatte. Es giebt ein altes Buch mit langem Titel in Lüneburg, ein «fürtreffliches Denck-Mahl der Göttlichen Regierung, bewiesen an der uhralten höchstberühmten Antiquität des Klosters St. Michaelis in Lüneburg, der in dem hohen Altar daselbst gestandenen Güldenen Tafel»; darin wird die ganze Geschichte mit Sorgfalt und Breite berichtet, auch giebt es Bilder dabei, welche die Verbrecher auf dem Rad und am Galgen zeigen, zu größerer Schmach neben einem todten Hunde aufgehangen. Jeder der Hauptverbrecher aber ist besonders abkonterfeit und sein Bildniß mit einem schönen Spruche versehen, von denen einer also lautet:

«Ein Ertzdieb, Lästerer, der nun an Füßen hängt,
So erst am Halse hing: des Zungen durch das Feuer
Verzehrt ist. Den ein Hund am Galgen mit umfängt,
Ein Schelmen Christen Feind: der Jude Jonas Meyer.»

Leider haben aber Galgen und Rad und todte Hunde zusammen mit den schönen Sprüchen die von den Dieben zerbrochene und eingeschmolzene goldene Tafel nicht wieder herbeizuschaffen vermocht. Die Michaeliskirche hat ein neues Altarbild bekommen, und nur die hölzerne Umrahmung der goldenen Tafel wird im Welfenmuseum zu Hannover aufbewahrt.

Von der Michaeliskirche führt der Weg zum Kalkberg hinauf, der einzigen bedeutenderen Bodenerhebung in der Nähe der Stadt und daher als Aussichtspunkt mit Recht gepriesen. Früher mußten die Insassen der an seinem Fuße liegenden Strafanstalt die schwere Arbeit in seinen Kalkbrüchen thun, jetzt hat man sie ihnen erlassen. In fleißiger Arbeit aber ist im Laufe der Jahre schon ein hübsches Stück des Berges, den jetzt keine menschliche Wohnung mehr krönt, abgetragen, und vielleicht kommt einmal die Zeit, wo von ihm nichts geblieben ist, als der Name. Dem Besucher aber bietet sich heute ein schöner Blick auf die Thürme und Häuser der Stadt und darüber hinweg auf die von Wasserläufen durchzogene Ebene bis hin zu der Dunstmasse am Horizont, die Hamburgs Dasein verkündet. Es ist schön dort oben an einem stillen Sonntagmorgen, wenn die Glocken der Stadt und des herüberblickenden Klosters Lüne die Luft durchhallen, wenn festtägliche Stille über den Straßen liegt und Sonnenschein die verwitterten Gebäude wieder glänzend und neu erscheinen läßt. Dann vertieft sich der Geist in vergangene Zeiten und gedenkt gern der Tage, die nicht mehr sind.


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