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Der Franz ist vom Zwerger-Anwesen mit der Mariann dem Koglerhof zugeeilt, hieß hier die Mariann langsam vorausgehen auf dem schmalen Umgehungsweg nördlich um das Dorf herum, ist im Flug und Sturm, als hätt' er geschwind etwas Vergessenes zu holen, noch einmal zurück ins Elternhaus und in seine Kammer, ohne hier jemandem zu begegnen, und sodann wiederum in einem Saus der Mariann nach. Mit ihr ging er dem See und der Schiffhütte zu, die zum Koglerhof gehörte. Marianns Hand hielt er dabei in der seinen, und beide schwiegen.
Nach einer Weile stach, höchst ungewöhnlich zu dieser Stunde, ein plumper Kahn in den See, wie er wohl zu Streufuhren taugen mag, doch nicht zu nächtlicher Gondelfahrt, am schweren Ruderpaar der Franz, das Gesicht dem Dorf zugewendet, und ihm gegenüber, vom Lande abgekehrt, die Mariann. Sinnend schaut sie in das gleitende Wasser. Und beide schweigen.
Über die östlichen Höhenzüge kommt der Mond herauf. Bald wird sein annoch zages Licht sicherer sein und den ganzen See erhellen; denn Vollmond ist. Schon fängt das Kirchturmdach des heiligen Willibald zu schimmern an, schon rinnt von den Rudern weißglühend das Wasser. Stumm geht die Fahrt der Insel zu.
Schelchinsel hat das Volk die getauft, immer den Nagel auf den Kopf treffend mit seinen Benennungen, der Scheelsucht der beiden Familien, der Zwerger und der Kogler, zur zweifelhaften Ehr, von denen keine der andern das Miteigentum an der Insel gönnt und doch keine der andern es abzustreiten vermochte, sooft auch schon im Gang der Zeit es versucht worden ist.
Gleich einem stillen Wasserrosenblatt schwimmt sie einsam auf dem See. Die Brombeeren reifen, die Linden duften, die Erlen düstern und die wilden Rosen blühen darauf ganz für sich; denn nur selten sucht jemand die Insel auf. Nur die grünen Wellen kommen in einem fort. »Seehaus« heißen die Leute die Reste des längst verfallenen Schlosses an der Südspitze, dessen Steine die Dörfler zu Haus- und Stallbauten entführt haben, und ein harter Graf hauste vor alters darin. Den fraßen die Mäuse auf. Seitdem wohnt überhaupt niemand mehr auf der Insel. Selbst die Fischer legen nicht gern an. Nur die Wellen kommen Tag und Nacht, die grünen Wellen. Von ihrer Unermüdlichkeit erzählt sich das Volk:
Vor langer, langer Zeit – kein Mensch weiß mehr wann –, da war der See allerdings ohne Wellen und so glatt, daß tagsüber die Sonne und des Nachts der Mond darin ihr Bild beschauten, ihr unbewegtes Bild. Aber dann schwamm einmal ein Fischer über den See, ein armer, junger Fischer, weil ihm die Mutter den Kahn festgelegt hatte mit Kette und Schloß, damit er nicht mehr zur Insel fahren könne. Und so schwamm er denn hinüber. Um des wunderschönen Fräuleins im Seehaus willen, das immer zur gleichen Stunde am Jnselufer auf und ab ging. Und der Fischer schwamm den langen Wasserweg, und das Fräulein ging den kurzen Inselpfad auf und nieder, stolze Träume um sich her.
»Was willst du denn?« fragte das Fräulein am Strand, als der Fischer schon ganz nahe war. »Du kannst ja doch nicht in dem Schlosse leben!« In diesem Augenblick verließ den Burschen die Kraft, und er versank mit einem letzten Blick aus die schöne Frau. Die wandelte weiter in wildem Stolz und in glühenden Träumen.
Seitdem blühen hier, das ganze Ufer entlang, so wirr und wild die Rosen. Seitdem kommen die Wellen Tag und Nacht. »Was wollt ihr denn?« fragen die wilden Rosen am Strand. »Ihr könnt ja doch nicht auf dem Lande leben!« Und die Wellen fallen zurück – und die Rosen spielen weiter im Wind.
Ehe der Franz und die Mariann an der Insel anlegten, hielt der Franz im Rudern inne und deutete auf das im Mondlicht schimmernde Kielwasser zurück. Auf der Höhe oben standen weiß und licht die zwei Hügelhöfe, im Dorf unten gleißte und glänzte der Pfarrkirchturm. Und indem die Mariann sich umwendend die Lichtstraße sieht, die sie hergezogen sind, kommt ihr ihre Bitte von Buchenstein in den Sinn: Zeig mir auch den Weg, der aus meiner Nacht hinausführt! Da sagt der Franz als sein erstes Wort: »So verlassen wir also die Heimat, Mariann, und dennoch – ein heimwärts ziehender Kahn, leuchtend die Bahn bis in den Uferschatten der Ewigkeit hinein.«
Und die Mariann schaut ihn an, groß und verstehend, und lächelt ein wenig, ein ganz klein wenig nur, und nickt unmerklich fast, und doch ist alles wie ein lautes: »Alles, wie du es willst.«
Da nimmt der Franz die Ruder wieder auf, und alsbald landen sie an der Insel und verlassen den Kahn.
»Wir sind im Uferschatten«, sagt er.
Und ihre Hand zittert nicht, da er ihr beim Aussteigen hilft, und ihr Mund hat keine Frage. Nur wie der Franz das Schiff nicht festmacht, schaut sie ihn wieder so groß und erkennend an und sagt leise: »Wohl nimmer notwendig, daß du's anbindest?« Und er nickt.
Dann führt er sie, die blühenden Rosenhecken auseinanderbeugend, vom Ufer weg zu den Erlen und der Bank, die er selber sich gezimmert hat; denn er ist der einzige gewesen, der die Insel geliebt und immer wieder aufgesucht hat, in den Ferien zeitenweise jeden Tag. Von der Bank geht der Blick auf den See und in die Unermeßlichkeiten der Mondnacht, die kindlich sich im Wasser beschaut. Auf diese Bank setzen sie sich. Und er hält die Hand der Mariann in der seinen.
»Woran denkst du, Mariann?«
»Daß ich bei dir bin.«
»Und hast du nicht Angst vor dem dunklen Weg?«
»Ich mein schier, er wird so licht sein wie die heutige Nacht. Weil's im Leben oft gar so finster is. Und an was denkst du, Franz?«
»Daß hinter dieser Mondnacht die ewige Liebe ist.«
Sie schwiegen wieder. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Kein Wort über den letzten furchtbaren Auftritt des Abends fiel. Solcher Erdenschwere waren sie bereits entrückt. Keine Klage, daß es anders hätte sein können. Sie waren ihrer Liebe gewiß und darum ohne weiteren Wunsch.
Fledermäuse strichen durch das lichtvolle Dämmern. In den Erlenkronen rührte sich ab und zu eine aus dem Dohlenschwarm, der altem Brauch zufolge in den Inselerlen schlief. Auf dem Würflinger Kirchturm schlug es zehn.
»Wie entfernt das schon klingt!« sagt aus seinem Sinnen heraus der Franz.
Die Mariann umarmt ihn.
Dann sprachen sie noch von ihrer Kinderzeit und fanden, indem sie die Jahre so durchstreiften, da und dort ein bisher unbeachtetes Kleinod. Das hoben sie aus den fernen Tagen heraus und betrachteten es wohlgefällig von allen Seiten. Dann fielen sie wieder in ein schweigendes Denken und Sinnen.
Dazu schlugen die kleinen Wellen, tagsüber grün, jetzt mondbeglänzt, in sanftem Anprall leise klatschend an den Strand. Ohne Unterlaß. Denn sie kommen in einem fort, Tag und Nacht, und prallen an das Ufer und fallen zerrinnend zurück und kommen wieder, als müßten sie den ewigen Rhythmus angeben, in dem das Leben kommt und geht und wieder kommt in ewiger Erfüllung. Und die wilden Rosen spielten im Wind.
Mondnacht, Wellen und Rosen!
Wer sinnt ihnen nach? Wer findet im dornigen Ufergestrüpp den verborgenen Nachen und bindet ihn los, daß er ihn von Geheimnis zu Geheimnis trage, durch Dunkelheiten und Dämmerungen, zu Ahnen und Schauen, zu Morgenröte und Seelentag?
Wer ihn findet und darin die Tiefen des Seins befährt, der hat die große Nacht erlebt.
Hat der Kogler Franz ihn gefunden, da er jetzt sein sinnendes Schweigen mit dem Frühlingsruf bricht: »Wie groß und schön diese Nacht der Liebe!« Oder die Mariann, da sie, die Umarmung erwidernd, sein Wort vom Abend wiederholt: »Das Sterben wird dagegen nur ganz was Kleines sein.« Oder beide?
Es schlagen die Wellen in ewigem Rhythmus an den Strand und fallen zerrinnend zurück und kommen wieder, und die Rosen spielen weiter im Wind.
Über all dem stiegen Wolken gegen die Mondscheibe heraus, und in der Ferne wurde Donnerrollen laut. Und der Wolken wurden mehr und immer mehr, und sie verhüllten ab und zu den Mond, so daß, das bisherige liebe Licht verscheuchend, ein schwermutvolles Dunkel sich auf alle Dinge legte. Aber der Mond rang sich doch jedesmal wieder durch, wenn auch immer nur auf kurze Dauer, leuchtete dann jedoch um so Heller wieder dem unbedeutenden Erdgeschehen.
Während eines dieser Lichtsiege fällt auf der Insel ein Schuß und weckt den Widerhall am Ulrichshügel. Und jetzt – noch in das Echo des ersten hinein – fällt ein zweiter, und Knall und Hall verrollen über Dorf und See. Und jedesmal flattert aufgescheucht der Dohlenschwarm aus den Erlen krächzend empor und in die Nacht hinauf und sinkt jedesmal nach einem Schreckenswirbel wieder in die Erlenkronen herab. Dann fahren große, dunkle Wolken daher und vergraben Mond und Licht.
Und da man der nächtlichen Schüsse und des herrnlos treibenden Kahns wegen am Morgen auf der Schelchinsel Nachschau hielt, sah man auf jener Bank die Mariann sitzen, die Hände ineinander verschlungen, den Kopf auf die Brust gesenkt, ein entfliehendes Lächeln noch um den Mund; und vor ihr, in einer Stellung, als hätte er kniend auf die Hände der Mariann sein Haupt betten wollen, sei aber dann unter der Wucht des Schusses etwas abgeglitten, den Kogler Franz; und beide tot.
Und es begab sich das Sonderbare, ja Unerhörte, daß unter dem ungeheuren Eindruck der Tat selbst jene Zungen schwiegen, für die sonst fremdes Unglück erst der rechte Antrieb zu Deutung und Urteil ist. Und da den Guten und Treuen sowieso das Mitgefühl die Sprache verschlug, so war eine große Stille im Dorf, von der sich die lateinischen Grabgesänge des alten Pfarrers Lambert feierlich und ergreifend abhoben.
Denn der hochwürdige Herr hat in seinem milden Priestersinn, gestützt auf das menschliche Gutachten eines Arztes, den jungen, unglücklichen Mitbruder und die Jungfrau Maria Anna Zwerger in die geweihte Erde des Würflinger Gottesackers aufgenommen. Zwar die Nelly in ihrer Verzweiflung kam in den Pfarrhof gelaufen und forderte, halb wahnsinnig vor Reue und Schmerz, für den Kogler Franz das Grab auf der Insel, das allein seinem Wunsch und Willen, entspreche. Und des zum Beweis übergab sie, von Franzens Hand geschrieben, ein paar Zeilen, die sie vor vielen Jahren habe abschreiben müssen, daher sie noch besitze, und die der Franz selber auf ihre Frage, und das auch später noch, auf die Insel bezogen hätte. Die Zeilen lauteten:
Wo der Boden klingt,
wo der Traum versiegt,
da möcht' ich begraben sein!
Wohlig knisternd
schürfte die Erdenkraft,
weither käme aus dem Dorf
der Stundenschlag;
über'm Rasen,
über'm jungen Rasen
irrte ein verwehtes Lied:
Muß wandern! muß wandern!
Die Afra allerdings hat schon damals von diesem Geschreibsel, wie sie es nannte, nichts wissen wollen, ja, hat es geradezu als Spinnerei bezeichnet, und jetzt lehnte es auch der Pfarrer Lambert ab und nahm, wie gesagt, die beiden Toten im Würflinger Friedhof in die geweihte Erde auf.
Und da liegen sie denn nicht allzu weit voneinander, jung und unverbraucht, nachdem im breit dahinwallenden Strom der Zeit eine ungestüme Welle sie, über die wehrenden Dämme menschlicher Satzung hinweg, auf die Höhe des Lebens getragen und eine Springflut irrender Härte sie wieder herabgespült hat bis hinein ins Grab.
Nur noch zwei aus dem Blut der Zwerger und Kogler gehen über die Felder und Landstraßen, und auch die werden bald für immer auf dem Rücken liegen; denn Gram und Alkohol sind prompte Totengräber. Dann, ihr Heimgartenleut jenes selig-unseligen Abends, auf immer und ewig gute Nacht!
Vierzehn Tage mochten seit dem Begräbnis verflossen sein, da flog in der Nacht ein Steinchen nach dem andern an das Kammerfenster des Pfannamichl, so lang, bis der Klachl endlich aufwachte, ans Fenster fuhr und es aufriß: »Wer is 's? Was gibt's?«
»I bin 's, d' Nelly«, kam es mit verhaltener Stimme herauf. »Wennst as no a so in Sinn hast, mir is 's recht. I geh mit ins Weitmoos. Aber glei muaß 's sei.«
»Nelly!« entfuhr es da dem Michl viel zu laut. Aber Bauern schlafen fest; niemand hörte. »Glei bin i drunt.« Und fünf Minuten darauf stand er schon neben ihr und gab ihr die Hand, zaghaft, schüchtern, nicht gewärtig eines solchen Glücks. Und wagte, um es nicht zu verscheuchen, keine Frage.
Sie gingen miteinander, der Pfannamichl sein Hab und Gut im Rucksack, die Nelly das ihre in einem Pack unterm Arm, in die Nacht hinein. Die war zwar voller Sterne, aber finster, weil ihr der Mond fehlte; auch blies ein scharfer Wind von Osten her.
Und sie gingen um die Nordspitze des Sees herum und, weil die Nelly es durchaus so wollte, auf den »Hennendreck« hinauf, wie die Anhöhe im Volksmund heißt, dem Ulrichshügel schräg gegenüber und der Schelchinsel benachbart. »Wirst viel sehgn da droben bei der stockfinsten Nacht!« brummte der Michl hinter der Nelly drein.
Oben setzten sie sich, wiederum weil die Nelly es nicht anders tat, und warteten. Allmählich aber ging dem Pfannamichl die Geduld aus, also, daß er benzte: »Ja sag doch grad ums Himmis willen, auf was wartst denn?«
Im selben Augenblick schlug aus dem Scheunendach des Koglerhofes eine riesige Flamme empor.
»Auf dös«, sagt die Nelly und deutet nach dem schon in den nächsten Minuten lichterloh brennenden Gehöft. Schon überzieht die Brandröte den Himmel, daß die Sterne erbleichen, schon spiegelt sich das Himmelsrot im nächtigen See bis zur Insel hin. »I waar ja scho lang zu dir kömma, wenn i nöt hätt warten wollen, bis der Wind vom Kogler auf 'n Zwerger zua geht. Vielleicht daß do der Lump aa no Feuer fangt.«
»Ja, Madl, is dös« – und jetzt deutet der Michl nach dem Feuer – »von dir?«
»Ja«, sagt die Nelly. »Weil er an Franz so abscheuli traktiert hat. Weil er 'n in Tod neitrieben hat. Hamm mi ja scho meine Leut zrucklassen, damit i anzünd. Weil der Bauer uns zerst, bevor mir hamm dableiben derfen, a Saubande, a verreckte, ghoaßen hat, dö wo ma verbrenna sollt wia d' Raupennester an dö Weißdorn. Hab's nur bloß wegen an Franzi nöt tan. Und hab 's iatz, so lang danach, doch nur bloß wegen an Franz no toa müassen!« Weil Haß und Liebe beieinander stehen wie Sternenhimmel und Feuerschein, wie Feuerschein und dunkler See.
»Geh!« sagt der Pfannamichl. »Aber 's Weitmoos langt für dös da« – und wieder deutet er nach dem im Feuer prasselnden Koglerhof, von dem die Funken gegen den Zwerger fliegen – »für dös da nimmer. Verstehst? Iatz ghört dö weite Welt her. Mach! Geh!«
Noch einen letzten Blick wirft die Nelly auf die Insel im glühenden See und verschwindet mit dem Landfahrer in Wald und Nacht.