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Der Sechzehnender

Kein stolzeres Bild von Ebenmaß und Kraft, als wenn im letzten Tagesschein der Edelhirsch herauszieht aus dem Waldesdickicht, das schon das Dunkel für die Nacht aufspeichert, zur Äsung heraus auf die Bergwiese. Man muß das gesehen haben, sagt der Förster Hattinger. Und wenn im grauenden Morgen, meint der Förster Hattinger weiter, so ein kapitaler Sechzehnender wieder einzieht in sein Revier, so ist es fast noch schöner. Heraus oder hinein, das bleibt sich gleich; aber gesehen muß man 's haben. Ha! Wenn er an der Waldecke plötzlich anhält, das Riesengeweih langsam wendet und alle Sinne dem feinen Wind entgegenrichtet. Und wenn er dann, wie ich beifüge, an der Ecke der Pauli- und Wendlandstraße prüfend auf die Uhr schaut. Denn mein Sechzehnender trägt im linken Täschchen seiner Phantasieweste eine goldene Remontoir mit Sprungdeckel, muß sich dafür aber mit nur zwei Beinen begnügen. Ist auch kein stolzes Bild von Kraft und Ebenmaß, führt dafür aber den Titel Kanzleirat und heißt Josef. Als nämlich Gott in seinem Zorn das deutsche Volk nicht bloß mit Skorpionen, sondern sogar mit Wohnungs- und Mieteinigungsämtern züchtigte, da suchten die Bürger der guten Stadt Blasberg wenigstens dem ärgsten vorzubeugen, indem sie den gerechtesten unter ihnen als Beisitzer in das Wohnungsamt abordneten. Das war aber der Kanzleirat Josef Wurzbichler.

Indes, nicht selten gleichen angesehene Männer ihre für die Öffentlichkeit bestimmten Qualitäten innerhalb ihrer vier Wände durch ebenso unbestreitbare Gemütsdefekte aus, und so wirkte z. B. Herr Wurzbichler hinter den Kulissen seiner Häuslichkeit als vollendeter Tyrann, unter dessen engherziger Pedanterie seine um viele Jahre jüngere Gattin nicht wenig litt. Frauen hinwiederum, denen solch seelenunkundige Griesgrame das stille Hausgärtlein verdüstern, darin an sich genug Platz für Sonne und Freude wäre, spähen begehrlichen Auges über die Gartenmauer nach Welt und Leben und getrösten sich der eheherrlichen Unausstehlichkeit im Anblick umgänglicherer Zeitgenossen. So die Frau Kanzleirat, und übrigens noch eine Anzahl anderer Damen, sich im Anblick des Herrn Willy Schrumbs.

Der wäre in den Tagen des Minnesangs recht gewesen als fahrender Ritter: heute hier, morgen dort in Frauengunst, immer heischend, überall empfangend und nirgends verweilend. Doch den Frauen von Blasberg war er es auch heute noch und als Ingenieur. Besonders aber auch als Besitzer des entzückenden Nußbergschlößchens, eines kleinen Landgutes vor dem Stadttor draußen.

Dort erwachten im Garten die ersten Veilchen, hörten im Treibhaus überhaupt das ganze Jahr hindurch Blühen und Duften nicht auf und lag, von mannshoher, undurchdringlicher Fichtenhecke umfriedet und von verschwiegenen Maiersleuten betreut, eine so wundersame Entrücktheit auf allem und jedem, den lauschigen Wegen, dem alten, niedern, efeuumsponnenen Haus und seinen paar nach Vorväterart eingerichteten, stimmungsvollen Räumen, daß es sensiblen Besuchern wie ein Zaubertrank ins Blut fiel, der, selbst wenn die Gartenpforte sich wieder hinter ihnen geschlossen hatte, noch als Zweifel nachwirkte: – Erlebnis oder Traum.

In dieses reizvolle Milieu hinein war nun an dem gleichen Nachmittag, der ihren Gatten in das Wohnungsamt rief, die Frau Kanzleirat geschlüpft und erfuhr dieses Wunder: die Sonne ging, die Zeit blieb stehen, von selbst wand sich die Rosenpracht zum Kranz. Geheimnisvolle Quellen rauschten aus dunklen Tiefen auf und lockende Stimmen luden zu betörter Lust. Und die Sonne ging, und die Zeit blieb stehen, und die Worte wurden zu glühenden Sternen für eine ganze, lange Lebensnacht.

Während solches sich begab, gelangte auch das Wohnungsamt in seiner Sitzung an das Nußbergschlößchen oder vielmehr an die Frage: sollen wir oder sollen wir nicht? Nämlich die paar stimmungsvollen Räume dort für eine wohnungsuchende Familie in Beschlag nehmen. »Wir sollen nicht«, sprach da auf die gegenteilige Meinung des Vorsitzenden hin der Herr Kanzleirat Wurzbichler mit dem ganzen Gewicht seines Ansehens. »Denn erstens«, sprach er, »bedarf ein Mann von der umfassenden Betätigung des Ingenieurs Schrumbs neben seiner Stadtwohnung unbedingt einer Erholungsstätte in gesegneter Stille. Zweitens ist alles, was der Herr Vorsitzende von ›ärgerniserregendem Betrieb‹ und dergleichen uns vorzuführen versuchte, unerwiesener Klatsch. Und drittens bin ich der unerschütterlichen Überzeugung, daß, wenn wirklich einmal eine Frau sich mit Herrn Schrumbs so weit vergessen haben sollte, die Schuld daran nur ihr Mann trägt, indem er entweder nicht die Gabe oder nicht den Willen hat, seine Frau an sich zu ketten.« Das letzte Argument war durchschlagend, das Nußbergschlößchen für Herrn Schrumbs gerettet. Immerhin hatte das Hin und Her der Debatte sich so in die Länge gezogen, daß der Kanzleirat auf seinem Heimweg noch dem erst spät von seiner gesegneten Erholungsstätte in die Stadt zurückkehrenden Herrn Schrumbs begegnete.

»Heut«, rief er ihm schon von weitem zu, »ist es scharf hergegangen um Ihr Nußbergschlößchen (› in meinem Nußbergschlößchen ebenfalls‹, dachte Herr Schrumbs). Aber ich bin mit meiner ganzen Autorität dafür eingetreten, daß es Ihnen ungeschmälert für Ihre Zwecke erhalten bleibt.«

»Bei Ihrer Gerechtigkeit nicht anders zu erwarten,« – entgegnete Herr Schrumbs, »ich danke.« Und die beiden Männer gingen, Herr Schrumbs dem Weinhaus, Herr Kanzleirat Wurzbichler seiner Wohnung zu. Und wenn ich, alle Abstufungen von Fehl und Schuld erwägend, den Fall beurteilen soll, so muß ich sagen: Recht hat der Förster Hattinger: es ist fast noch schöner, wenn so ein kapitaler Sechzehnender wieder einzieht in sein Revier.


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