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»Und warum also,« rekapitulierte der Benefiziat und Religionslehrer Scholl den Hauptinhalt seiner Erzählung, »warum also, Schuster Maria, ist der heilige Crispinus ein gar so großer Heiliger geworden?«
»Weil er das Leder gestohlen hat, damit er den Armen hat Schuhe machen können.«
»Nun ja. Wegen seiner großen Nächstenliebe. Einer der größten Heiligen. Ein ganz gewaltiger Heiliger. – Wer weiß noch so einen Heiligen?«
Die kleine Lärch hob den Finger.
»Also, Lärch?« – »Mein Bruder. Der Maxl.«
»Dein Bruder? Wieso?« Da liefen aber schon die Tränen über das blasse, eingefallene Großstadt-Kindergesicht herunter, und die Augen sahen so hilflos vor sich hin, und die Lippen zuckten. O hätte der unbedachte kleine Mund doch das nicht gesagt!
»Wieso dein Bruder? Und warum weinst du denn, Lärch?«
Aber jetzt, jetzt schwieg er, der dumme Mund. Dafür antwortete der der Rosa Schnegg, der immer vorn dran sein mußte, ob es gefehlt war oder getroffen: »Der Schuster ihr Bruder hat sich ...« Aber da schrillte das elektrische Läutwerk. Die Stunde war um und die Schule aus.
»Lina Lärch!« sagte der Religionslehrer Scholl und behielt das Mädchen zurück und strich ihm mit sanfter Hand über das dünne, blonde Haar, also, daß die Kleine wieder gefaßt wurde, für ein paar Worte wenigstens. Doch was haben oft nur wenige Kinderworte für eine göttliche Gewalt! Heben und tragen, wie der ewige Strom der Wahrheit, an dessen Ufern hin, irrend, die Menschheit wohnt.
Den Religionslehrer Scholl trugen sie, neben dem kleinen Mädchen her, bis in die Marchrainstraße, bis vor das Haus Nummer 122, bis hinauf in den vierten Stock und vor die Tür mit der Aufschrift: »Markus Lärch, Graveur«.
Eine abgehärmte Frau, ein Kind an der Hand, öffnete. Ein anderes hielt sich an ihrem Rock an. Allen miteinander sahen Not und Teuerung aus Kleidung und Gesicht.
»Ich bin der Religionslehrer Ihrer Kleinen und habe ...«
Die Frau bat hereinzukommen und führte in die Stube, die, bei abgeschrägter Mansardenwand, Küche, Wohn- und Schlafzimmer war.
»... und habe unbewußt eine Wunde aufgerissen.«
»Sie wissen?«
»Ja und nein.«
Da erzählte die Frau:
»Vor dem Krieg, da hat mich jedes Jahr mein Mann gefragt: ›Mutter, was wünschst du dir zum Namenstag?‹ Und ich hab' dies und das mir wünschen dürfen und hab's auch richtig frühmorgens an meinem Namenstag auf dem Tisch da gefunden, mit einem blühenden Blumenstock daneben.« Die Frau fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Mein Mann ist 1917 gefallen. Mit der kleinen Pension, mit Zugehplätzen und mit viel Not hab' ich mich und meine vier Kinder so durchgeschlagen. Hart genug, Herr; Sie dürfen's glauben. – Da fragt mich heuer mein Ältester, eben der Maxl – als Lehrbuben hab' ich ihn in der Buchbinderei da drüben untergebracht, weil der Herr Quendel, der Buchbinder, ein guter Freund von meinem Mann war, – ›Mutter‹, fragt mich der Bub ...« Die Frau mußte für die Augen das Taschentuch zu Hilfe nehmen. »›... Mutter, was tätst du dir jetzt zu deinem Namenstag wünschen, wenn der Vater noch da wär?‹ – ›Hör auf‹, sag ich, ›und mach mir 's Herz nicht noch schwerer! Es langt so schon.‹ Und er sagt daraufhin auch für diesmal nichts mehr. Aber nach ein paar Tagen fangt er wieder an: ›Mutter, was tatst du dir eigentlich wünschen zum Namenstag?‹ Und so gut und weich hat er 's schon sagen können! Grad wie der Vater. Ich aber, ich sag, noch dazu recht ärgerlich, daß der Bub schon wieder mit dem Zeug daherkommt, ich sag: ›Nichts wünschet ich mir als nur grad einmal so viel Milch, daß ich unsern zwei Kleinen ihren schwarzen Abendkaffee als Milchkaffee geben könnt; denn ihr zwei Großen wißt ja schon fast nimmer, wie gut die Milch den Gerstenkaffee macht, und die zwei Kleinen haben überhaupt noch keine Milch gesehn.‹ – ›Und der Herr Gürtler‹ – wissen Sie, Herr, dem unser Haus gehört – ›der Herr Gürtler‹ sagt darauf die Lina, ›hat so viel Büchsenmilch im Keller! Gestern‹, sagt die Lina, ›hab' ich's gesehn, Mutter. Gewiß dreißig Büchsen, und ohne Milch, Mutter, hat die Gürtlermagd gesagt, trinken sie überhaupt keinen Kaffee; das wär' ihnen schon zu dumm.‹ – ›Dafür,‹ sag' ich, ›Lina, ist auch der Herr Gürtler bei der Lebensmittelzentralversorgung unabkömmlich gewesen, und wer weiß, vielleicht hat grad wegen dem Herrn Gürtler seiner Unabkömmlichkeit, anstatt des Herrn Gürtler, euer Vater in den Krieg hinaus müssen.‹ Und das war eine unüberlegte, eine dumme Red, Herr, wie man sie vor Kindern nicht tun darf, und eine Mutter schon gleich gar nicht, und hundertmal hab' ich's schon bereut. Denn der Bub, der Maxl, ist ganz still geworden, und dann ist er fort. Und wie er wieder gekommen ist, da war der Herr Gürtler bei ihm und hat in der einen Hand eine Büchse Kondensmilch und mit der andern« – hier konnte die Frau vor Schluchzen nicht mehr weiter – »mit der andern meinen Buben am Ohr gehabt und hat geschrien: ›So. Sie haben da Ihren Einbruchdieb und ich hab' meinen Kündigungsgrund! Und damit ich ihn gewiß hab', ist bereits die Polizei verständigt. Diebsleut duld' ich nicht in meinem Haus.‹ – ›Maxl!‹ schrei ich. Der aber hat seine zwei Hände vor 's Gesicht gehalten und hat geweint, geweint, sag' ich Ihnen, Herr, – nie noch hab' ich einen Menschen so weinen sehen. ›Bub,‹ sag' ich, ›Bub, was hast gemacht!‹ Er aber reißt sich los und ist hinunter und fort in einem Trieb und einem Saus, und nimmer hab' ich ihn einholen können. Dann aber, scheint es, ist er doch bald wieder zurück ins Haus. Denn wie die Polizei gekommen ist, haben sie ihn im Keller gefunden, an der Fensterwand, an einem Fleischhaken, kaum eine Handbreit überm Boden, und alle Bemühung und Wiederbelebung war umsonst.«
»Das ist seine Photographie«, sagte die kleine Lina und holte ein steifes Erstkommunikantenbild von der Wand, in so abgegriffenem Papperahmen, als würde es gar oft von seinem Platz genommen.
»Und gewiß, ganz gewiß nicht für sich«, schluchzte die Frau. »Oh, er ist so viel gut gewesen! Nur für mich, wegen meinem dummen Wunsch, und für unsre zwei Kleinen, die ihrer Lebtag noch keine Milch gesehn haben! Schaun Sie s' nur an, Herr! Muß man mit so einem Ausschaun nicht den Himmel rühren, wenn schon auf Erden kein Erbarmen ist?« Die zwei welken Kindergesichter richteten sich zum Religionslehrer Scholl empor. Und wenn man etwa, weil nun doch einmal in der engen Dachstube nicht mehr Leute Platz haben, den Religionslehrer Scholl in dem speziellen Fall als Vertreter der Öffentlichkeit, der Allgemeinheit, der Christenheit, der Menschheit gelten lassen will, so richteten sich in der engen Dachstube die zwei welken, hinsterbenden Kindergesichter an die ganze Welt. »O Herr, alles ist zu ertragen, Armut, Schinderei, Überfluß der andern, alles; nur das stille Kinderelend mit ansehn müssen Tag für Tag und Jahr um Jahr, – Herr, das geht über die Kraft, und nur darum hat mein Bub« – die Frau schluchzte und würgte es heraus – »gestohlen.«
»Der heilige Crispinus auch, Mutter«, sagte die blonde, bleiche, kleine Lina. »Auch wegen seiner großen Nächstenlieb. Und er ist deswegen ein ganz gewaltiger Heiliger. Und unser Maxl auch.«
Und wiederum, durch Unglück, Schmerz und Not, klang es wie das Rauschen jenes ewigen Stroms, an dessen Ufern hin, irrend, die Menschheit wohnt. Diesmal hob seine göttliche Gewalt den Religionslehrer Scholl und mit ihm alle andern in der Dachstube in ein wundermildes Schweigen hinein. Und der letzte Himmelsstrahl des kurzen Tags verklärte es, wie eine weltenferne Verheißung auf ein Ende aller Qual.