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III.

Etwa gegen fünf Uhr morgens war es einigermaßen hell geworden; und Gregorow erteilte der Mannschaft Erlaubnis, sich in ihren Räumen zur Ruhe zu begeben und zu schlafen, oder auszuruhen – aber angekleidet.

Gleichzeitig erhielten alle Offiziere und Offizianten Order, in der Messe anzutreten:

»Meine Herren!« sagte der Kommandant, indem er sich an den Tisch lehnte. Das unklare Fleisch seiner Wangen hing ihm in flachen, grauen Beuteln im Gesicht herum. Tief drinnen in ihm war ein auffallend dunkler Fleck, ein pechschwarzer Ort, nach dem von Zeit zu Zeit in aller Stille zu schielen er sich nicht enthalten konnte: in dem Wunsche, festzustellen, was das in Wirklichkeit war:

»Meine Herren!

Eh ...

Ich werde ... ich werde es kurz machen!

Meine Herren ..., ja, wir gehen ja, wie Sie mehr als hinreichend wissen, beständig in zwei Kolonnen vorwärts, ké!« fuhr er fort, plötzlich einen Anlauf nehmend. Er fuhr mit der Rechten über die Seekarte hin, die himmelblau vor ihm auf dem Tische lag; ein Kork, mit einer gelben Glasnadel darin, deutete die Stelle an, wo sich die Armada augenblicklich auf ihrem Marsche befand.

Ein leichter Nebel hatte angefangen, sich aus dem Wasser aufzuziehen, da draußen. Gregorow wußte hin und wider nicht recht, ob die Dämmerung, die sich da unten an dem andern Ende der Messe angebracht hatte, auf dem ehemaligen Platze des ehemaligen Herrn Bogduroff: entweder hier hereinsickerte von dieser Diesung da draußen? ... oder war es am Ende vielleicht nur eine inwendige und verwirrte Erinnerung in seinem Auge, an Fedor Werowitschs Gesicht, so, wie es vorhin da unten in seiner Kammer ausgesehen: mit der Wunde stummer Reue und deren wortlosen, finstern Frieden?? ... oder waren es die Nachwirkungen von dem schwarzen Ärger, den er eben gehabt hatte, gerade jetzt, in Anlaß davon, daß der Admiral, trotz der unzweideutigsten Beweise davon, daß der Feind in der Nähe war und uns längst beobachtet hatte, doch nicht die ewige Marschformation in den beiden empörenden Kolonnen verlassen wollte??? ... Er atmete tief auf, und kam noch einmal aus dem heraus, was er sagen wollte:

»Wohlan!

Nicht wahr?

In zwei verdammten Ko ...

Krrrrm, wie gesagt, wir gehen – was an und für sich nichts Neues für uns ist – noch immer in zwei Kolonnen vorwärts. Vorläufig Kurs Nordost, 60 Grad, Fahrt zehn Knoten; mit sechs Kabellängen gegenseitigem Abstand.

Die Rechte, das sind wir selbst – nicht wahr, erste Division nämlich, mit ihren vier Schlachtschiffen unter dem persönlichen Befehl des höchstkommandierenden Admirals – und dahinter Völkersahms'. Haben Sie begriffen, lassen Sie mich der Sicherheit halber die Situation erklären: und die Linke besteht aus Nebogatoffs und Enkwisths Geschwadern. Drei, vier Kabellängen vor uns haben wir unsere »Aufklärungs«kreuzer; mitten zwischen uns Zerstörer und Hilfsschiffe, nun ja, das war wohl alles, die Herren sind sich ja von vornherein klar über die Lage. Und lassen wir uns nur nicht auf eine Diskussion ein über den Pseudowert einer so unerhört dicht zusammengedrängten Formation, die möglicherweise in Friedenszeiten ganz gut sein mag, die aber hier ...

Nun, was ich sagen wollte ...

Eh bien ...

Meine Herren Kameraden: ich war, wie Sie wissen, neulich zum Kriegsrat bei Rosch ... bei Roschdjèst ... bei ...« – und Gregorow, der – als ein paar Nernstlampen da unten am andern Ende des Zimmers plötzlich und lautlos aufflammten – abermals gemeint hatte, einen Schimmer dieses weißen und alles vergessenden Antlitzes des Toten gesehen zu haben, begann jäh mit ein paar tanzenden Fingern in seinem Taschenbuch herumzuwühlen.

Da bekam er glücklicherweise einen Lappen Papier gefaßt, der da drinnen im Portefeuille lag: er fächelte augenblicklich damit, und sprach dann weiter, fernere Momente zur Fortsetzung seiner Speech von seinen Noten auf dem Papier entnehmend:

»Ich habe, in aller Eile, ein paar Sachen niedergekritzelt, die an jenem neunten Mai, während des denkwürdigen, des berühmten Kriegsrates geäußert wurden – den wohl niemand von denen, die anwesend waren, jemals vergessen wird!

Also:

Seine Exzellenz betonte am meisten von allem, von Anfang bis zu Ende: unser Verhältnis in bezug auf die Munition!

Meine Herren, es soll Munition gespart, und wiederum gespart werden – befahl uns unser Chef! Schüsse aus zu weiter Entfernung treffen nicht – – und ein Schuß, der nicht trifft, das ist nicht nur ein vergeudetes Geschoß, sondern das bedeutet zugleich etwas viel Wichtigeres: daß die Geschützmannschaft das Vertrauen verliert, zu sich selbst wie auch zum Leiter des Schießens und zu ihrer Kanone. Selbstredend. Und ich möchte Ihnen daher, wieder und wieder auf das eindringlichste einschärfen ...« – und Gregorow fuhr fort weiterzureden, stotternd, mit seinem Stück Papier fächelnd, und gleichsam ohne eigentliche Stimme, in demselben Ton, schwer vor sich hinstarrend – nach den Worten tastend, immer wolliger und dunkler inwendig: beinahe, als ob irgend etwas Intimes in seinem Wesen, sozusagen das Zentrale in ihm, sich stillschweigend in ein total eingeschlossenes und rabenschwarzes Privatleben zurückgezogen habe, ein grämlicher Rentier geworden sei, nicht wahr, nun ja, ermannen wir uns, meine Offiziere warten, nur tapfer vorwärts! ...

Niemand hörte übrigens mehr zu – insofern also hatte der Kommandant sehr wohl seine schon im voraus offenbar nicht allzu zahlreichen Kräfte sparen können.

Sie saßen da, mit ihren Veitstanzfratzen, gerade in die Luft hinein – mit ihren Augen, die kein Licht vertragen konnten.

Sie nickten langsam, hin und wieder, wenn der Kapitän eine Pause machte:

»Jawohl!« bemerkten sie, halblaut, zu der Nernstlampen Schnitt aus weißem Feuer hinaufzwinkernd: »Sehr wohl, Herr Kommandant! Jawohl! An Munition sparen! Spät mit dem Schießen beginnen – am liebsten nicht, bevor die Japaner den ersten Schuß abgefeuert haben!

Natürlich!

Well!

Ja!«

Luschinskij war es plötzlich eingefallen: wo in aller Welt war nur Bogduroff eigentlich fortwährend?! Warum, zum Kuckuck, trat er nicht hier an zu dieser interessanten Assemblee? Ké! War er möglicherweise gar zu sehr in Anspruch genommen von seinen eigenen finsterniserfüllten Grübeleien, der hohe und sentimentale Herr, wie, mußte man ihn nicht endlich um Himmelswillen in seinem Dichterwerk von Gewäsch und Stummheit stören?! Hol' mich der Teufel! Auf alle Fälle war er tatsächlich nicht die Bohne hier! Aber wo denn nur?:

»Sagen Sie mir!« fragte er also, sich vornüberbeugend, Nakinskij lautlos in den Gehörgang hineinflüsternd – der gerade vor dem Platz saß, auf dem Peter Romanowitsch stand. »Erzählen Sie mir doch: wo zum Kuckuck ist denn Bogduroff? Wissen Sie davon?

Wie?«

Der Kommandant hatte auf eine völlig unbegreifliche Fasson diese Hinwendung gehört, trotz Luschinskijs Diskretion:

»Ja!« antwortete er, auf alle Fälle, laut – plötzlich in seinem Vortrag innehaltend – »ach, das ist ja ... das ist ja wahr: der Admiral übergab mir ... ja, Seine Exzellenz überlieferte mir gestern einige Schreiben, die für mich durchzulesen ich eben Premierleutnant Bogduroff gebeten habe, die Güte zu haben; und einige Auszüge daraus zu machen, jawohl, eine Reihe von Exzerpten daraus ...: er ist ja unten in seiner Kajüte beschäftigt, die Papiere zu studieren, es eilt nämlich – nicht wahr, Nakinskij: es kommt mir vor, daß ... ich meine, Sie kamen vorhin da heraus, will es mir scheinen – als ich gerade seine Tür passierte?!

Eh?«

»Jawohl!« antwortete der Arzt, mit einem Kopfnicken.

Luschinskij atmete kurz auf.

Er hatte auf einmal eine unbestimmte Empfindung bekommen, daß da wohl so allerlei mit diesem Herrn Bogduroff im Gange sei – etwas, wovon offenbar Gregorow und der Doktor Kenntnis hatten, womit sie aber nicht herauswollten. Ja, ich danke, die Stimme des Kommandants hatte eben gleichsam ein wenig sonderbar geklungen! Und Nakinskijs Lakonie, wie beliebt?! Und im übrigen: war da nicht etwas ganz exzeptionell Starres, ja geradezu Verwirrtes während dieser ganzen Äußerung in Gregorows Blicken gewesen – jetzt, wenn man darüber nachdachte! Ja, freilich! Hol' mich der Teufel: kein Zweifel daran! Und wo war Fedor gewesen, vorhin – als man ihn überall suchte, auch unten in dieser Kammer, wo er mit seinem Auszug hätte beschäftigt sein müssen??! ...

Also sah sich Peter Romanowitsch gleich auf dem Fleck ein wenig nach den anderen Offizieren um; er wollte untersuchen, ob auch sie etwa eine Fährte von dem Geheimnis bekommen hatten, das offenbar hierunter stecken mußte.

Aber es wurde ihm schnell klar, daß die anderen Herren entweder gar nicht über das Vorliegende nachdachten, infolge mehr persönlicher Angelegenheiten – oder auch ließen sie sich auf alle Fälle ganz und gar an Gregorows Erklärung genügen! Aber die Absicht hatte er bei Gott selber keineswegs: er hatte ernste Sachen mit Fedor Werowitsch zu bereden, es galt nichts Geringeres als das Heil seiner Seele vielleicht, nun war man hier die ganze Nacht umhergegangen, und hatte sich auf diese Zusammenkunft hin in der Messe vertröstet: die einzige Gelegenheit, wie man ohne Zudringlichkeit jenes Gentlemans habhaft werden konnte; und da sollte man dann gleich an die erste, beste Lüge in bezug auf das Fortbleiben des Burschen glauben!

Hä!

Nein, nein!

Selbstredend müßte da etwas ganz Faktisches hinter Bogduroffs Abwesenheit von diesem Kriegsrat stecken! Natürlich! »Papiere, die der Admiral Gregorow durchzusehen gebeten hatte« – Tratsch und Quatsch! Als ob diese Ameise von Maxim Mikailowitsch jemals auf den Einfall kommen würde, an einen andern das Vergnügen zu verschenken, eine Arbeit auszuführen, die auf seine eigenen Schultern gewälzt war! Nie im Leben! ...

Und auf diese Weise plötzlich kalt und feucht ums Herz gemacht, setzte Peter Romanowitsch – wie es ja nur natürlich war – in diesem Moment eine ganze Menge mehr Vertrauen in gerade diese seine eigenen Beobachtungen und Ahnungen, die ihm, weiß Gott, handgreiflich genug die Luftröhre zuklemmten: Ei, ei, und warum hatte der Chef gerade gleich den Arzt gefragt, ob Bogduroff in seiner Kammer sei? Ein höchst sonderbarer Zufall, in Wahrheit! Aha! Und der Schlüssel, der nicht in der Tür gesteckt hatte, als man selber vorhin da unten war! Oh!

Ob das alles zusammenaddiert also bedeutete, kurz und brutal: daß der Premierleutnant krank und elend geworden sein sollte, wie beliebt! So gerade vor der Bataille – war das denkbar von dem Helden von Tientzin und Taku, kaum ... nein, dann klang es plausibler, zu glauben, daß er sich möglicherweise infolge eines Versehens kanonenvollgesoffen hatte, im Laufe der nächtlichen Fahrt und Spannung, und deshalb nun auf Befehl auf seinem Bett lag und sich nach Aufforderung erbrach! Oder ... é ... é ... oder sollte ... ja, sollte die Schwermut, die Bogduroff in den letzten Wochen stumm geäußert hatte, sollte die schließlich ...

Peter Romanowitsch schluckte eiligst irgendeinen Kloß, der ihm mit verdammtem Brechreiz im Gaumen saß, hinunter – und es gelang ihm, auf die Weise für eine Minute seinen innerlichen Ängsten zu entgehen ... und statt dessen den ewigen Erklärungen des Kommandanten zu lauschen:

»Verstehen Sie!« sagte Gregorow, wieder auf die Karte zeigend, »während eines Kampfes beabsichtigt also der Admiral, zur Kielwasserformation überzugehen, alle Schiffe hintereinander. Die Hilfskreuzer steuerbord!

Und endlich – sehe ich hier auf meinem Papier – berichtete unser Chef, bezüglich eventueller Unterseeboote, daß er einigermaßen guten Grund zu der Annahme habe, daß die Japaner jetzt wirklich im Besitz von einigen dieser Fahrzeuge sind ... doch meine Meinung, meine Herren, ist nun übrigens gerade die entgegengesetzte, daß nämlich Togo keineswegs ...«

Aber schon bei der Erwähnung der Unterseeboote durch den Chef war Luschinskij auch selbst von neuem wieder tief unter die Oberfläche des Meeres seiner persönlichen Vermutungen gesunken, ké:

Selbstverständlich! dachte er: wenn Gregorows Erklärung bezüglich der Papiere eine Unwahrheit ist, und die Theorie von Bogduroffs Krankheit eine Absurdität ist – so bleibt nur noch eins übrig, was hinreichend und ganz diese sämtlichen Mysterien in bezug auf das Ausbleiben der Betreffenden erklärt, nämlich das: Fedor Werowitsch kann ganz einfach nicht erscheinen ... es ist ihm komplett unmöglich, anzutreten ... er hat eine ganz absolute Entschuldigung für seine Abwesenheit ... ja, und erst eine solche Erklärung war es, die mit wünschenswerter Deutlichkeit auch das Phänomen begreiflich machte, das Peter Romanowitsch in diesem Augenblick beobachtete – hellsehend gemacht durch die voraufgehende Gedankenreihe selbst: nämlich, daß Gregorow so abenteuerlich mager und abgetakelt im Gesicht geworden war, seit der letzten halben Stunde!

Ganz sicher!

Der Kommandant sah ja, sozusagen, einen ganzen Selbstmord älter aus in diesem Moment, als vor dreiviertel Stunden, wo man ihn zuletzt gesehen hatte!

Sehr recht!

Aha!

So als ...

Und Luschinskij schloß in aller Stille, erbleichend, die Augen.

Er lehnte den Nacken schwer gegen die holperige untere Kante des goldenen Rahmens um das große Gemälde von Nikolaus II.: ach, Bogduroff, sage mir, ist es wirklich richtig und wahr, was ich jetzt errate?

Hast du wirklich ... sage mir, hast du mit eigener Hand ... ja, hast du dich selbst zur Ruhe gelegt, mit einem Schußloch als Ausgangspforte für deine Seele, die heimzukehren begehrte und nicht länger warten wollte?! Bist du, des Ganzen überdrüssig, in unsere Misere bis auf den Grund hineinsehend, ohne Hoffnung, uns im geringsten helfen zu können, totmüde an deinem Körper, von uns allen endlich weggegangen – freiwillig, stumm und allein?

Bist du nun schon längst nach Hause gelangt, zu der ewigen Sonne, dem ewigen Frieden des großen Landes, wo die Bäume Sommer wie Winter Schatten und Schutz geben, wo der Wachstumlaut des Grases so fein wie eine Geige in unsere Ohren spinnt, wo die Blumen so kühl und süß duften, wie niemals hier – du, allein von uns allen?

Hat deine Seele mit langen Flügelschlägen, klappernd in der Finsternis der Nacht, dich über Sibiriens weitgestreckten Schnee getragen, über die endlosen Reiche und Steppen in Eis! Über der Tundra kriechendes Gestrüpp mit Reiffrost, über die Gebirgswälder, die du sahst, wie eine brausende Mooswiese unter deinem hohen Wege?

Wanderst du nun, in dieser Stunde, milde hinein in deiner Mutter Stübchen, siehst du ihr nun wie ein Sohn in die Augen, und flüsterst du ihr mit deiner lautlosen Stimme voll leisen Lachens, voll Weinen und voll Erkennen zu: daß du jetzt wieder heimgekehrt bist: ach, Mutter, ich bin zurückgekommen zu deinem uralten Schoß, zu deinem Herzen, das weise geworden ist von den vielen Jahren der Zärtlichkeit und Freude, sage mir: daß du mir verzeihst, weil ich von selbst gekommen bin, die Grausamkeit fassend, die in unsern Träumen von dem grenzenlosen Mut des roten Blutes lag?

Aber höre, Bogduroff, antworte mir auf das eine: siehst du nicht auch meine Eudoxia, daheim in dem flußreichen Lande?

Kannst du auch Eudoxia zu sehen bekommen: du kannst sie gleich an ihrem Haar aus Gold erkennen, sie ist so schmal um die Taille, ihr Busen ist so weiß und voll, und ihr großes Herz pocht so wild – du kannst sie an ihren blauen Augen erkennen, die nach mir ausstarren!

Kannst du auch mit ihr reden, mit deiner flüsternden Stimme, die in unsere Ohren klingt wie eine unfaßbare Erinnerung an tiefe Träume, wie eine meilenferne Melodie des Windes der Nacht im Laube?!

Dann erzähle ihr alles von mir: sage ihr, die kleinen Briefkarten, die sie mir gesandt hat, die trage ich an meiner Brust, da liegen sie Tag und Nacht – und mein Blut schreibt rieselnd meine Grüße, meinen Dank darauf! Ja, und erzähle ihr, Fedor Werowitsch Bogduroff, du Vorauswanderer, du Heimflieger, sage: daß nun, in dieser Stunde, stehe ich, stehe und erhebe meine Hände vor Sehnsucht und Kummer, und denke an das letztemal, als ich sie sah! An den letzten Morgen, ehe ich reiste ... und an den allerersten Abend denke ich, an das allererstemal in meinem Leben, wo ich sie kennen lernte!

Ach, Eudoxia, erinnerst du dich des großen Saales im »Varieté«, wo die blanken Wände schimmerten, wo die goldenen Kandelaber rot wuchsen mit ihren Flammen, wo alle Stühle schwarz von Menschen waren: und mitten auf der Bühne, über dem Weiß deiner großen Brüste, über dem Blut deines Mundes, über deiner Augen blaue Tiefe, da brannte dein goldenes Haar, zu Feuer entzündet von der Flamme des Reflektors ...

Peter Romanowitsch riß seine Augenlider auf: es war plötzlich um ihn her still geworden.

Gregorow war fertig mit seiner Rede.

Die Offiziere hatten sich erhoben. –

Luschinskij bahnte sich einen Weg zwischen ihnen hinaus, ohne ein Wort, und ging spornstreichs in seine Kammer hinab – mit einem Lächeln um seine Lippen, merkwürdig fern von allem, inwendig bis an den Rand angefüllt mit allen diesen Dingen, zu denen er, in dieser Stunde, gleichsam ganz und entscheidend zurückgekehrt war ... nach Jahrhunderten bitterer, meilenweiter Trennung.

Ach Gott, ja, das Herz bleich und groß, der Hals heiß von diesem Gefühl der Rückkehr zu allem daheim – so wanderte Peter Romanowitsch, ohne es zu wissen, in seine Kajüte hinab:

»Gut!« sagte er laut, da unten, mitten im Raume stehen bleibend, das Kinn vorgestreckt, beständig lächelnd – »ja, Bogduroff, mein Freund, ich danke dir: auch ich bin bald den Kreis der Erde ganz herumgewandert, und bald wird mir Iwan befehlen, die letzte Grenze zu überschreiten!

Jawohl, auch ich sehe aus weiter Ferne die Stätte meiner Heimat wieder!

Mein Haus, meine Ruh' und meine Eudoxia!

Wir sehen uns!«

Dann durchzuckte ihn ein Ruck – als ob ihm auf einmal, noch ohne daß er es so recht bewußt zu begreifen vermochte, der Sinn der Worte, die er hier aussprach, undeutlich schimmerte.

Sein Busen begann so hart zu hacken.

Eine Schwäche sank in seine Beine hinab.

Er riß sein Schlüsselbund aus der Tasche in seinem Beinkleid, nestelte einen davon heraus, steckte ihn zitternd in das Schloß des Kleiderspinds, das zu öffnen ihm endlich gelang.

Er beugte sich vor, tastete klirrend herum, dort auf dem Bord, ergriff eine Flasche, und schenkte sich ein großes Glas voll.

Und erst als er den ersten Tropfen des Whiskys wie eine Torfglut durch den Schlund fahren fühlte, wußte er plötzlich, was er vor hatte – und riß zitternd den Becher von seinen Lippen:

»Sehr gut,« sagte er, nach allen Seiten umschauend, den Pokal anstarrend, aus dem nur so wenig getrunken war, daß es noch nicht zu sehen war – »es soll an der Munition gegeizt und gespart werden, sagt der alte Rosch: höchst verständig, aber dies hier sind vermutlich weder Kugeln noch Pulver!

Oder, möglicherweise, ganz gewiß, kä-kä, sind es eben beide Teile!

Wie!

Nicht wahr!

Sollte ich meinen!

Oder was glauben nun Sie, hochverehrter Herr Bogduroff Seelenvogel! Wie?!« – er hatte von neuem angefangen, das Glas zu seinem Munde zu erheben; aber im selben Augenblick, als er Fedor Werowitschs Namen nannte, begann er plötzlich lächelnd mit dem Kopf zu schütteln – und kehrte darauf den Boden seines Bechers in die Höhe, so daß aller Spiritus mit einem Klatsch auf den Fußboden stürzte:

»Dir zu Ehren, Eudoxia – und dir, Fedor Werowitsch!!

Ja, wir sehen uns – jawohl, bald treffen wir uns wieder, wir drei!

Weißt du, Eudoxe la belle: in diesen Tagen sind es drei Jahre, daß wir miteinander gelebt haben!

Zum Andenken an jenen ersten Abend im »Théâtre des variétés« schüttete ich den Branntwein hier an die Erde, ein Trankopfer den Göttern, die uns einander treffen ließen!

Ich gedenke meines Versprechens, freiwillig zu dir zurückzukehren – ja, ich komme mit Freuden!

Wir sehen uns!«

Er lachte ein wenig über dies Geschwätz, an dem offenbar weder sonderlich Schwanz noch Kopf war; ließ das Glas aus seinen Fingern rollen, sah sich in der Kammer um, ohne irgend etwas zu unterscheiden, blinzelnd – schaute dann mit gerunzelter Stirn ernsthaft nach seiner Uhr: zwanzig Minuten vor sieben, jawohl, zwanzig Minuten vor ... und drei Sommer und Winter hatte er seine Eudoxia geliebt, wie!

Er stieß die Spindtür zu, warf seine Mütze hin, rieb sich hart über den Scheitel, und hakte seinen Mantel am Halse auf.

Dann ging er die beiden Schritte bis an seinen Diwan, schlug einmal mit den Händen aus, lächelte, ließ sein Kinn auf die Brust herabsinken, fühlte sich von neuem vollständig matt und müde, hör: sein Schädel sang ein Wiegenlied oben über seinen Schultern! Er warf die Zigarette hin, es durchzuckte ihn ein winzig kleiner Ruck, bei dem Geräusch, das sie auf den Boden fallend verursachte – und eine Sekunde starrte er, schnobend, die lila Rauchsäule an, die gleich darauf lotrecht von dort aufstieg.

Er ließ sich platt auf die Polster fallen, wühlte das Gesicht tief in den Schrägkeil hinein, zog die kalten Füße zu sich hinauf unter den Rand des Mantels, hörte seine Nase einen großen Schnarch von sich geben, fühlte sein Gehirn kochend hinschwindeln, roch den Tabaksrauch einen Augenblick süß und trocken, sah plötzlich einen großen Raum vor sich: war es ein Theater? ... erwachte einen Moment und fühlte beruhigt das Sofa unter seinem Bauch.

Fußtritte bullerten wie ein Wagen da oben auf Deck, ké, Eudoxia, ja, vor drei Jahren, weißt du noch, als wir aus dem Varieté nach Hause fuhren! ...

Nicht wahr, nach Hause, zu mir, vom ...

nach Hause, vom Théâ ...

Théâtre des ...

variétés ...

Eudo ...

   

Während dieses Schlafes, in den letzten Stunden vor der Schlacht, hatte Peter Romanowitsch einen seltsamen Traum.

Einen höchst sonderbaren – und guten.

Er durchlebte nämlich in seinem pechschwarzen Schlummer noch einmal wieder den ganzen Abend vor drei Jahren, an dem er Eudoxia zum erstenmal im Théâtre des variétés gesehen hatte – ja, eine ganz genaue Reproduktion jener ehemaligen Wirklichkeit träumte er sich wunderbar herbei:

Es war ihm auf einmal, als sei die Luft, die er einsog, so merkwürdig heiß und schwer, jawohl, als seien da Hunderte von Menschen rings um ihn herum; und er vernahm auch den bittern und süßlichen Geruch der Zigaretten – war er denn in Gesellschaft, in einem Konzert ... oder in einem Varieté?

Er lauschte – und nun hörte er auch Musik, ja, ja, ach, diese Melodie: woher kannte er die doch so herrlich wieder? Eine Negermusik, die hitzig und warm über sein Ohr hinwackelte, hüü-hü-hü, der Flöten fröhliche Stöße ... der Rhythmus wanderte tastend um sein Herz herum, mit tiefen, heiseren Lauten von Gefahr und Küssen, er schluchzte erschreckt und leise an seiner Wange, füllte seine Kehle mit Schwellen und Gewimmer, er machte seine Augen so schwach vor Zärtlichkeit und Sehnsucht und Furcht, er zwang seine Zähne sich zusammenzukneifen, um nicht zu jammern, er lockte seinen Sinn tief hinein in einen dunklen Wald von Schmerz und Lust, siehe, der Mond segelt so blau dahin, Geliebte, Geliebte, schenke mir dein Umfangen, dein Geruch ist so nachtschwarz, verwildernd, deine Zähne sind so blaß, sie schimmern ... st! ... still ... horch: die Zweige rasseln so sacht, ist da ein Feind, ein Eifersüchtiger, der unsern Schritten folgt, küsse mich, es eilt, ach die Luft ist so heiß, ich ersticke, die Palmen knistern entsetzt, da hinten sehe ich seinen Flintenlauf blitzen, aber ich hab' ja keine Zeit uns zu verteidigen: meine Arme, meine Hände, meine Finger, können dich nicht lassen, dein gekräuseltes Haar prickelt mein Gesicht so gut, meine ganze Haut ist von Sinnen, wenn sie die deine berührt ... dein schwarzer, unersättlicher Bauch aus Sammet hält mich für ewig fest, beeile Dich, ach Gott, Geliebte ... ja, ja, sei die meine ehe ich sterbe ...

Luschinskij erhob die Hände, und fühlte in seinem Gesicht wie die Lippen zuckten und die Wangen ganz schwach zitterten ... ach Gott, du holdseliger Chor von gewaltsamen Synkopen, du Weinen von Liebenden, die einander in einem Nu verzehren, deine Tränen von Glück und Qual, ach, wie du mein Wesen erschütterst und mordest – und ängstlich es von neuem gebären läßt, sterben und wiedergebären, höre die zitternden Stimmen der Geigen, die klagen ... der Bratsche erstickte Töne einer flehenden Kehle ... der Pikkoloflöten langsame, klebende Küsse, die in einem lautlosen Seufzer brechen ... des Sandtanzes bitteres Schnurren, das sich über mein Herz hinschleppt, und mit ihm ins Stocken gerät ...

Dann öffnete Peter Romanowitsch seine Augen, er sah.

Ja – er erkannte den Raum sogleich wieder.

Er kannte augenblicklich das Lichtmeer, das über dem bläulichen Rauch wogte; die kreideweiß lackierten Wände, die durch die Luft aus Nebel und grellem Schein schimmerten. Die schweren Balkons, die mit Menschen überladen waren. Das Parterre da unten, ganz lebend von Kopf an Kopf. Hoch oben stand die Decke mit dem glitzernden Baldachin der Krone. Und darunter – vor der Bühne Purpurvorhang mit Gluten aus Gold – des Orchesters vierdoppelte Reihe; die Manschetthemden erblassen weiß; die Arme streichen im Takt; der Dirigent bewegt seinen schwarzen Stock leise; und die Melodie schleicht sich hervor; sie ist voll und schwindlig und süß, von Schreien, Küssen und Weinen – von Wollust und Mord. Ach, du, der Liebe steigender Laut der Qual und Wonne, deine schluchzende Stimme betört meinen Sinn!

Sein Herz bewegte sich, der Hals war ihm trocken: was war doch nur dies hier?

Wie kam er dazu, plötzlich hier in »Variétés« zu sitzen – er sollte ja doch mit den Japanern kämpfen und mit Iwan und Bobr?!

Er war auf einmal ängstlich, wollte sich umwenden, von dannen eilen, rufen – aber dann begriff er von neuem das Ganze: jawohl, die ganze Fahrt war aus seinem Leben gestrichen, er war wie Bogduroff in seine Heimat zurückgekommen, ja, noch mehr: er war drei Jahre in der Zeit umgekehrt: dies hier ist gerade der Abend, wo er zum erstenmal Eudoxia gesehen hat. Ja, freilich, ach Gott! Nur nicht unruhig oder bange sein, es ist ja alles so gut, so gut ... wenn du nur recht still und artig dasitzen willst ... so sollst du binnen kurzem Eudoxia zu sehen bekommen ...

Da wird er wieder froh.

Er senkt den Kopf ein klein wenig – um der Musik zu lauschen, und um sich an das Ganze zu gewöhnen.

Und nach und nach taucht es in ihm auf, jede Kleinigkeit: Ja, ja, er ist ja heute abend mit ein paar Kameraden ausgewesen, auf einer Tanzgesellschaft in irgendeiner Familie; aber er langweilte sich da so sehr, er ging seiner Wege – und nun ist die Uhr ein Viertel über elf, er ist eben hier herein auf seinen Platz gekommen, er sitzt rechts in der Balkonloge, ganz nahe an der Bühne.

Es sind nur noch drei Nummern vom Programm übrig: zuerst Mademoiselle Eudoxe la belle, chanteuse et diseuse; dann Mr. George Zwyss, Radfahrer – und dann ein Musikfinale zum Schluß, na, sehen wir uns die Sache 'mal an!

Der Klang des Orchesters ist im Begriff zu entschwinden: die Negermelodie ist nicht mehr gewaltsam wie vorher; jetzt sind es nur noch die Flöten, die ein wenig wimmern, tief unten weinen die Violoncellos noch, die Nacht seufzt in der Finsternis des Konterbasses, und der Triangel spinnt mit seinem kleinen, feinen Geklingel – wie ein Herz, das geschluchzt hat, ach, so lange, und nun kann es nicht mehr, hörst du, Geliebte, ich bin so müde hier drinnen in der Brust, von Sehnen und Jammer ... es tut so weh ... und ich bin nun ja auch wieder so froh, hörst du, ich brauche gar nicht mehr zu klagen, nein, nie mehr, wie? Jetzt ist es ... ja, ping-tingg, jetzt ist es alles so gut, die Nacht geht dahin, wir sollen miteinander sterben ... still! ... pingg ... tinggg ... du Geliebte, Geliebte, k-k-küsse mich noch einmal, zum letzten Ma ...

Die bunten elektrischen Lampen, die die Zahl der Nummern bilden, springen hervor – märchenhafte Blumen, die in Zahlen wachsen.

Der Kapellmeister blättert hastig in einem großen Buch, schwarz eingebunden.

Er drückt einen Finger auf den kleinen gelben Klingelknopf an der linken Seite seines Pultes, erhebt den Arm mit dem Taktstock.

Die Musik beginnt von neuem.

Sie sitzt tief drunten und knurrt auf einem Vorspiel; erst langsam, dann aber wird sie immer ausgelassener. Luschinskij lächelt einen Moment. Jawohl. Er findet, man kann es der Melodie anhören, daß Eudoxe la belle sicher wert ist, gesehen zu werden: sie muß zärtlich, wild und fröhlich sein, sie hat gewiß kleine, spitze Zähne, die sich in dem einen Mundwinkel zusammenbeißen, während sie singt, nicht wahr, und dann muß sie sehr dunkelrote, ein wenig feuchte Lippen haben – namentlich die Unterlippe voll und weich ...

Der Vorhang geht auf – Luschinskij hört sein leises Klatschen und Schlagen gegen die Stricke. Von seinem Platz aus kann er einen Feuerwehrmann da drinnen in der Kulisse sehen, die Daumen in seinem Gürtel, großer schwarzer Bart, der Helm leuchtet; und neben ihm einen Maschinisten in blauer Bluse.

Peter Romanowitsch, stützt den linken Ellenbogen auf den Logenrand und trinkt einen Schluck von seinem Absinth.

Eudoxe la belle kommt von links herein.

Sie geht langsam; der Schwung ihres schwarzen Kniekleides wogt nach allen Seiten, kurz, hastig, um ihre Beine. – Ihr Gesicht ist erhoben und lacht. Ihr goldenes Haar sitzt so üppig über die Stirn hinaus. Ihre frohen, blauen Augen.

Sie bleibt mitten auf der Bühne stehen.

Sie hat die beiden Hände ganz flach gegen das Kleid geklemmt. Die Brillanten spannen ihr Gemälde von Funken, rote, blaue, gelbe, weiße – im Licht des Reflektors aus.

Luschinskij sieht auf sie herab: sie hat fast keine Kleider über Brust und Rücken: nur Ausschnitt das Ganze: zwei dreieckige Flaggen aus Weiß. Ihre Beine stehen so stramm auf den hohen Absätzen. Herr Jesus, ist sie aus Atlas und Springfedern gemacht, die störrige Kleine – oder aus weißlackiertem Stahl und aus Gold!

Die Musik brummt noch an ihrem Vorspiel. Peter Romanowitsch atmet mühsam, und wartet.

Da erhebt sie ihren rechten Arm ganz wenig, zeigt hinaus, und fängt an zu singen. Sie hat eine winzig kleine Stimme, die lachend aus ihrer Kehle fliegt und in der heißen Luft des Raumes umherflattert – ein feiner, weißer Schrei, ein Morgen:

»De la scèn' chaque soir j'regarde les hommes,
qui là-bas se réchauffent et se pâment à ma danse,
et j'pense –:
bon dieu, que n' suis-j' moi-mêm' pas un homme!«

Sie lacht, und dreht die Arme in der Luft, den Nacken hintenüber, ihre Zungenspitze wird, wie ein rotes Blatt, einen Augenblick sichtbar.

Luschinskij hat sich mehr vornübergebeugt.

Er lächelt nicht mehr.

Er starrt sie an, von überall, mit allem:

Wenn sie geht, bewegt sie sich mit den Fußspitzen ein ganz klein wenig einwärts; in sonderbaren, langsamen Sprüngen, die in der Luft zaudern; er hat nie einen Menschen so gehen sehen: sind es ihre Lenden, die sie in die Höhe heben, die sie wiegend mit sich fortreißen?

Ach, die feinen Beine, wie sie gleich einem Seidengespinst glitzernd an der Rampe vorüberwandern. Er entdeckt ein Muttermal, einen runden, braunen Fleck, den sie an der linken Wade hat; man kann ihn durch den Strumpf schimmern sehen.

»Oui!« sagt sie, lachend; während das Orchester wieder auf seiner Introduktion klirrt und dröhnt, darauf wartend, daß sie den nächsten Vers singen soll; ihre Zähne sitzen ganz dicht zusammen, wie eine feine, weiße Säge in dem roten Mund:

»Oui, que vous êtes heureux, vous autres hommes! Vous êtes là-bas, buvants, fumants! à votre gré vous me dévorez de vos yeux humides et amusés – tandisque moi, je suis ici, trrravaillant, pour vot' plaisir!

Pas?« sie lacht aus vollem Halse, mit zurückgelehnter, schwellender Kehle – und zeigt fächelnd irgendwo in die Reihen hinein; aus dem ganzen Saal starren sie zu ihr auf, erbleichend, mit Zucken um ihre Münder, mit funkensprühenden Blicken.

Luschinskij schluckt. Aber dann lächelt er auf einmal, gleich darauf: denn er hat ihrer Stimme plötzlich angehört, daß sie, Gott sei Dank, keine Französin ist, ganz sicher nicht, nein, ach ja, sie ist ein Kind von Rußlands Ebene und Sonne, ja, ja, geboren aus dem rinnenden Lachen der ewigen Flüsse, aus der Steppen unzähligem Blumenflor! Ach, Eudoxia!

Sie ist bis unter Peter Romanowitschs Loge angelangt, gefolgt von dem flüsternden Entzücken des Vorspiels. Sie erhebt das Gesicht, streift das seine im Vorüberhuschen, es hüpft ein leiser Ruck über ihre Schulter, sie wendet ihm den Blick eine Sekunde voll zu – er wird weiß, greift um den Rand der Balustrade, kälteschaudernd auf einmal: ah, ihrer großen Augen langsame See, in der des Himmels Seide leuchtet, so blau!

Aber sie hat sich schon wieder von ihm abgewendet, sie soll singen, sie beugt sich vor, eindringlich. Die Flamme der Rampe macht ihre Haut so weiß und flaumig anzusehen:

»Et plus tard, au souper, à l'ami qui m'enflamme
par sa bouch' qui m' caress', qui promet et qui jure,
j'murmure –:
mon dieu, qu' c'est bon tout-d'-mêm' d'être femme!«

Ihr Blick trifft wieder Luschinskij, plötzlich anders als bisher, noch voller, wiedererkennend, kennend – aber dann sinkt ihr Antlitz schmachtend hin in den Worten des Textes, ein Schauder springt über ihre Lenden, unten im Ausschnitt des Kleides sieht Peter Romanowitsch die große Weiße der Brust, die wahnsinnigen Blumen; zwischen ihren Zähnen fliegt der Zunge Tropfen aus Blut eine Sekunde, dann tragen ihre Hüften sie hintenüber, lachend, gleitend ... und von neuem begegnet er ihren Augen. Einen Nu meint er, daß sie ja nur ein langbeiniges, weißes, kleines Mädchen ist, das sich lachlustig und gut und backfischartig hinter ein paar riesengroßen Veilchen versteckt – aber plötzlich öffnet sich da im innersten Innern ihrer Pupillen eine Luke, kohlschwarze Sammetpforten werden tief da drinnen weit aufgeschoben, und es stiebt eine schwirrende Glut da heraus, ein knitternder Schauer von Feuer, eine Flamme:

Sein Atem hält mit einem Seufzer inne.

Er fühlt sich sengend heiß.

Die Lippen brennen:

Mein Gott!

Sie! Noch heute abend! Sie, Sie! Immer! Sie! Komm', komm' herauf, komm', ja hier, ich warte, auf dich, auf dich, dich ...

Aber dann ist sie wieder fort von dieser Seite. In einem dunkeln Sausen ist ihr Kleid über die Bühne geflogen, in Bogen aus Nacht.

Die Herren da unten lachen halb – langsam, mit beschwerlichem Glucksen. Sie pressen die Ellbogen fest an sich.

»Vraiment!« sagt sie, und Luschinskij versteht jäh – aus irgend etwas in ihrem Gesicht und aus den Bewegungen ihrer Hände: daß er es wirklich ist, zu dem sie redet, obwohl sie fast nicht hinauf sieht; ihre Brust hebt sich höher als bisher, sinkt tiefer, rührt sich hastiger; es wird einem seltsam verrückt und pochend an den Schläfen, wenn man das ansieht:

»Qui, mais, tant pis, jusqu'ici j'n'ai point d'amant de cœur!

C'est vrai!

Pas de blague, ca, j'l'jure!

J'm'en cherche encore, toujours, partout!

Est-ce-que vous voulez être mon vrai ami, eh?«

Sie streckt die Arme aus, lacht plötzlich wieder – aber sonderbar kurz, heiser, ihre ausgestreckten Hände zittern, ist sie auf einmal bange geworden, ist sie zornig auf ihr ganzes bisheriges Leben, plötzlich; oder habe ich sie beleidigt oder verletzt: mein Gott, Eudoxia, ja, ja, hörst du denn nicht, ich verstehe ja alles woran du denkst, alles was du sagst und tust, Geliebte ...

»Mais la nuit, à l'maison, quand au lit òu nous sommes,
Nous écras' doucement le suprême délire,
J'soupire –:
Bon dieu, si j'fus à l'fois femme et homme!«

In einem langen Seufzer aus Lust und Mattigkeit läßt sie die Arme an den Seiten niederfallen. Das rote Aufflammen ihrer Zunge welkt dahin. Ihre Augenlider schwindeln zu ... aber noch vorher hat sie es erreicht, in einem ewigen Blick in Luschinskijs Antlitz hineinzustarren.

Aber Peter Romanowitsch selbst sieht nicht mehr, hört nicht:

Er meint auf einmal, daß er bisher noch nimmer eine Frau gekannt hat. Oder, er hat sie alle zusammen in einem Nu vergessen. Oder keine von ihnen ist jemals bis zu dem alles Erinnernden in ihm gelangt. Keine. Keine, außer ihr. Eudoxia!

Sein Herz steht ihm bebend in der Kehle: Eudoxe la Belle, oh, ja, la belle! Höre! Ich will dir sagen! ... Eudoxia! Sage mir, nicht wahr ... ach, Geliebte, ich sah nur eine einzige Sekunde in deine Augen hinein – und wußte jäh, daß du es warst! Verstehst du! Jeden Tag du! Immer du! In Ewigkeit du! Ach, Eudoxia, ich kenne Sie nicht, aber ich schreibe hier auf diese Karte nur zwei Worte: Komm', komm', komm', komm', komm'!

Er reißt sein Taschenbuch heraus, zitternd, die Augen voll Fieber und Wasser: eine Visitenkarte, rasende Eile, es hastet ja, es sitzen fünfhundert Menschen da unten, den Fall gesetzt, daß nun einer von ihnen ...

Der Vorhang fällt.

Die Luft berstet vor Rufen und Klatschen.

Ja, schreibe, hier, beeile dich, schnell, komm' jetzt ... Hören Sie, Kellner, haben Sie die Güte, mir dies hier zu besorgen, in fliegendem Galopp, an Mademoiselle Eudoxe la Belle, verstanden, kommen Sie hierher, noch näher heran, sagen Sie mir erst: sagen Sie mir, glauben Sie, daß da jemand anders ist, der sonst ... ich meine: haben Sie die Beobachtung gemacht, daß sie schon ... nein, ich mache mir doch nichts daraus, es von Ihnen zu hören ... allons, tummeln Sie sich, zum Teufel auch, geschwind!

Aber im selben Augenblick geschieht da ja dies Unfaßliche und Wunderbare.

Das Licht in der Welt!

Höre:

Einer von den Kontrolleuren kommt in die Loge herein, Briefumschlag in der Hand, sich verneigend:

»Euer Exzellenz?

Bitte schön, von Mademoiselle, für Sie!

Bitte zu entschuldigen – hoffe, Euer Hochwohlgeboren werden es nicht übel nehmen, daß ...!«

Luschinskij reißt ihm den Brief aus den Fingern, bebend: kann sie etwa nicht? hat sie seine Absicht erraten, kann aber heute abend nicht, ist da schon ein anderer, der ...

Verwirrt beginnt er hinabzustarren: auf der einen Seite der Karte steht nur:

Eudoxe la Belle, chant ... dis ... jawohl, aber hier, auf der anderen Seite: »Erwarte Sie heute abend, bei dem kleinen Ausgang, um zwölf Uhr, tout à vous« ... Herr Jesus, ach Gott ... ich danke! Vielen Dank, Herr Kontrolleur! Sehen Sie hier, diese zwölf Rubel, die sind für Sie, nicht wahr, verstehen Sie! Ké! Danke sehr! Jawohl! Ich werde zur Stelle sein! Sagen Sie, daß ich schon da sein werde, sagen Sie, daß ich ... sagen Sie ... Ja, daß ich komme, komme, komme! Jetzt, sofort: daß ich warte, daß ich mich sehn ... daß ich mich außerordentlich freue, daß es mir eine Ehre ist ... sagen Sie ihr, daß von allem ich stets zu ihr zurückkehren werde ... gleichgültig, was, oder wo es auch sein mag ...!

Und dann sitzt Peter Romanowitsch da, allein in der Loge, heiß: habe ich Fieber, ich zittere, ich bin krank, ach, Eudoxia! »Tout à vous« schreibst du mir, ja, ja, aber auch ich bin ja tout à vous! Nicht wahr! Oh, Eudoxia, du weißt nicht, wie glücklich ich darüber bin, daß wir beide einander geschrieben haben – auf einmal wußten wir alle beide, daß wir es waren, nicht? ...

Luschinskij lächelt plötzlich im Traum.

Sein Antlitz bebt und lacht.

Er bewegt die Lippen, er stammelt und lacht; sein Kopf wankt auf den Kissen:

Mein Gott!

Oh, meine ewig Geliebte, nichts im Himmel oder auf Erden kann mich von dir forthalten, sieh', sieh', sieh', selbst im Schlaf bin ich dir ganz nah', und in wenigen Stunden werden Iwan und Bobr mich heimführen durch das dunkle Tor, zu deinem Umfangen, deiner Ruhe, deinem goldenen Haar und deiner Güte lichtem Frieden ...

Und dann steht er also schon da unten an dem Ausgang der Artisten, in der Stockfinsternis, vor der Tür.

Nur eine winzig kleine rote Laterne über einem Plakat: »Unbefugten ist der Zutritt verboten« ... es ist Winter, aber es ist ganz und gar nicht kalt. Es ist merkwürdig warm, es ist wahnsinnig heiß, sind da Vulkane und Sommer überall, ist der Frühling plötzlich übersprungen ... die Bäume dort am Prospekt knacken und schnacken und lachen, der Wind flüstert so leise und sanft, ach, so traulich ist es überall! Ach Gott, ist die Uhr wirklich nicht mehr als fünf Minuten vor zwölf ... Die Droschke hält da drüben, zehn Schritt entfernt, ich kann die kleinen Glocken des Pferdes klingeln hören, sie tönen so fein und froh ...

Er zieht ihre Visitenkarte aus der innern Brusttasche heraus, einen Augenblick, dort bei der Laterne des Wagens, und starrt hinab mit zusammengezogenen Brauen, um ihre Schrift von neuem wieder entzückt zu betrachten; nein, aber das ist offenbar gar nicht die ihre, es ist ja eine Männerhand, sie hat wohl einem der Kontrolleure diktiert, vermutlich kann sie selbst nicht schreiben, wahrscheinlich ist sie ganz und gar nichts anderes als ein kleines, berauschendes und buchstabenloses, unsagbares Kind, das nicht einmal lesen kann, mein Gott, ja, ach, ja ... aber das ist noch ein Grund mehr, weshalb wir diese Nacht nicht in ein Restaurant wollen – nein, wir wollen nicht ausgehen, wir fahren geradewegs nach Hause zu mir. Und wir müssen auch viel zusammen reden, ja, ich will kein Mann ihr gegenüber sein, gar nicht, ich darf ihr kein Leids antun, dem Kinde, ihr Haar ist so hell und blank, ich will nur dasitzen und mit ihr reden und ihre Hand halten und sie küssen und ihr alles erzählen und sagen, daß sie es ist, sie, verstehen Sie, Mademoiselle! Ach, Eudoxia, sieh', heute hat unser Leben angefangen, ich kann unser ganzes Leben aus Gold und Wonne aus der Ferne sehen, ein schimmernder Weg der Sonne für dich und mich – und wohin in der Welt ich auch komme, lebend oder tot, werden alle meine Gedanken immer bei dir sein ... von nun an und bis zu der letzten Stunde wo ich lebe, will ich an nichts anderes denken als an dich ...

Die Tür dort unter der Laterne geht auf.

Sie ist es, sie ist es.

Selbstverständlich.

Pelzmantel, schwarzer Schleier, lange Stiefel, die man unten sieht, so schmal im Schaft und hoch:

»Monsieur?« – Er erkennt ihre Stimme wieder, und die schlägt sich in seinen Hals hinein, und in seine Brust.

»Made-Mademoiselle!« stammelt er, tief in der Kehle, und tritt ein paar Schritte auf sie zu, den Hut in der Hand, starrend, der Busen ein Zittern der Angst und Wonne, ach, der schwarze Schleier: »Ja!

Der Wagen!

Hier!« sagt er, und dann sind sie da drin – fahren.

Er nimmt gleich ihren Kopf in seine Hände, fängt plötzlich an zu erzählen: Verstehen Sie, Fräulein, ach es ist so gut, daß Sie mir schrieben, denn, sehen Sie, nun hier meine eigene Karte, wo ist sie nur? Ich war schon im Begriff, darauf zu schreiben und Sie zu bitten, heute abend zu kommen, nicht wahr, begreifen Sie mich nun, ist es nicht ein Wunder, Sie und ich, nicht wahr ...

Er lacht, weint, lacht wieder, flucht, jagt plötzlich beide Arme rund um sie, reißt sie an sich, drückt sie vollständig gegen seine Brust in einem Nu, läßt sie mit einmal los: Hol' mich der Teufel, ich hatte ja doch die Karte noch vor einem Augenblick, deucht mir! Er fängt an rasend in seinen Taschen zu suchen, um sie ihr zu zeigen, findet sie nicht, stockdunkel im Wagen, ach Eudoxia, meine Geliebte, alles in mir ist verrückt und wild, küsse mich, ja, ja, weiter, weiter ... aber wo ist denn die Visitenkarte nur einmal geblieben, vergaß ich sie da drinnen im Fieber und Fahrt. Ach, dein Mund küßt mich so lieblich, ich kann deine Lippen bis ganz in mein Herz hinab fühlen – das ist, als stürze etwas Kühles und Heißes und Berauschendes durch meinen Gaumen und in meine Kehle hinab, jedesmal wenn du mich küssest ... deine Augen sind so blau, du duftest nach Veilchen überall, wenn meine Nase zu dir hinkommt ist es, als würde ich in einen meilengroßen Wald hineingelockt, es ist dunkel dort und blau von Veilchen und Mondenschein ... ich kann es an deiner Wange fühlen, wie fein und weiß deine ganze Haut sein muß, du bist so warm und kühlend überall ... wie schön du bist, Geliebte, so wunderbar! Auf den allerersten Blick sah ich gleich, wie schön du bist ... verstehst du, ich heiße Peter Romanowitsch Luschinskij, kannst du dich dessen erinnern, wir werden nimmer wieder Zeit haben einander mehr zu erzählen, du darfst nie von mir gehen, ich töte dich, wenn du das tust, nicht wahr.

Ach, du weißt ganz und gar nicht, wie lieb ich dich augenblicklich gewann, da drinnen ...!

Wir fahren geradewegs nach Hause zu mir, zuerst hatte ich an ein Café gedacht, aber wir wollen viel lieber nach Hause zu mir, ich bin so besorgt, daß die Zeit uns wegläuft, bist du hungrig und durstig: Kind, friert dich nicht, es ist Winter, ach ich bin so warm, sieh', wie entzückt ich darüber bin, dich bei mir zu haben! Ich lasse dich nie wieder von mir, bis wir sterben wollen wir beieinander bleiben, verstehst du; und wenn ich einstmals in vielen, vielen Jahren fern von dir sterben muß, so wird das allerletzte, an das ich denke, das wird dieser Abend sein, da du mir schriebst, daß ich dich liebte, nicht wahr ...

Er beugt sich ganz vor, über ihre Brust, ihren Schoß; er fühlt ihre Hände, die zitternd um seinen Nacken gehen, die nach seiner Wange suchen.

Er erhebt sein Gesicht, fühlt auf einmal, daß das ihre feucht und warm ist, sie schluchzt – und er schlingt die Arme ganz um sie, quetscht sie an sich, bis er fühlt, wie der Weidenkorb ihrer Rippen nachgibt, sie stöhnt ... da wird er bange, daß er ihr wehe getan hat, grauenvoll erschreckt, er löst seine Umarmung, faßt sie wahnsinnig vorsichtig mit der einen Hand um das Kinn, lehnt ihren Kopf langsam hintenüber, klebt seinen Mund auf den ihren – haut einen Augenblick seine Zähne in ihre Lippen, kurz und hastig, küßt sie behutsam von neuem, reißt an ihren Fingern ... und währenddes hört er plötzlich das Rollen der Droschke über das Pflaster, stärker und stärker, buller-bulller -bullller, er muß seinen Kopf von ihren Knien erheben, warum donnert es so tief unter den Rädern, wie? warum? sind hier so viele Wagen? Ist da ... Jawohl, horch, sie schießen, gilt es uns beiden, ist es ein Eifersüchtiger, ein Feind? Haben sie gemerkt, daß wir beide geflohen sind, fort von den schwarzen Schiffen? Aus dem turmhohen Palast der Mikroben, der wackelnd dahinbraust, um uns alle dem Tode entgegenzutragen! Hörst du! Schüsse! Ja! Ich verstehe nicht!

Worauf schießet Ihr denn nur!?

Und wieder ... hör ...

Nun ...

Und von neuem ...

Aber jetzt ist es weiter weg!

Schüsse, hör', bum ... bum-rum-rrrumm!

Noch ferner ... sind wir denn vorbeigekommen? ...

Sehr wohl, ja freilich, ich kann es ganz deutlich unterscheiden:

Alles ist wieder still, horch ... still ...

Luschinskij erwachte jäh:

Das Gehirn polternd. Ohne ein Glied rühren zu können. Todmüde. Verzweifelt, außer sich – daß das alles nur ein Traum gewesen war.

Oder war es eine Vision von Fieber und Tod?

Oder eine mahnende Wirklichkeit?

Ein Revenant??? ...

Er erhob den Kopf und sah – fast ohne es zu wissen – nach seiner Uhr: ein Heimkehrtraum, laß einmal sehen, die Uhr ist elf, was, wieviel, soviel!

Er dachte einen Augenblick, ob er wohl wirklich Schüsse gehört habe? Ach Gott, schlaf, schlaf, schlaf, könnte ich doch wieder träumen, könnte ich abermals heimkehren durch Raum und Zeit, Eudoxia, ja, oh, könnte ich doch wieder umke ...

Und damit versank er wieder in Schlaf, klaftertief, meilentief hinab – plötzlich traumlos, schwer, erdrückend ... er schlug um sich, seufzte.

Grenzenlos tief fiel er nieder – durch Finsternis und Nächte sausend.

Schwindelnd stürzte er nieder – bis auf den Grund, durch Entfernungen und Jahre.

Abwärts und weg.

Abwärts.

Heim.

Und ganz langsam, nach und nach, fing es allmählich wieder an, leichter und klarer, lichter um ihn her zu werden.

Auf einmal saß er dann wieder im Wagen. Er sitzt, mit Eudoxia in seinen Armen, ach sie ist so schwer, eine Last, sage mir, Geliebte, warum rührst du dich gar nicht, mir wird so angst, ich kenne dich nicht wieder, erzähle mir irgend etwas, so daß ich weiß, daß du es bist ...

Sie erhebt ihre Hand: die ist ganz milchweiß, und gleichsam weich durch und durch – sein Herz fängt auf einmal an zu schluchzen, er beugt sich nieder über ihre Finger und küßt sie wieder und wieder:

»Vater!« sagt er; und im selben Augenblick begreift er es: ja, er hat sich ja nur geirrt, er entsinnt sich genau, er sitzt ja nicht in einer Droschke, nein, er steht ja daheim bei der Exzellenz, die unbeweglich, regungslos, starr in ihrem Bett liegt.

Ach Gott, alle Zeiten sind entschwunden, seine Seele ist sonderbar nackend, es friert sie ein ganz klein wenig, sie zittert ein bißchen vor Kälte hin und wieder! Er ist vollständig losgelöst von Zeit und Raum, er ist ein Heimwanderer, ein Seelenvogel! er steht vor seinem Vater, sie sollen einander Gutentag sagen: denn Peter Romanowitsch ist jetzt eben von einer Reise heimgekommen, von einer sehr langen, einer meilenweiten Fahrt! Er ist zurückgekehrt von dem grenzenlosen Feldzug des Lebens: ja, von einer einunddreißigjährigen Wanderung ist er von neuem nach Hause gelangt.

Luschinskij beugt sich abermals nieder und küßt die bleiche Hand.

Es dringt eine feuchte Kälte in sein Gemüt, ach, ein Beben, ein Frost. Er wendet sich mit einem Ruck nach dem Arzt um – der, mit seinem großen Bart, einem Priester gleicht. Ja, er gleicht einem Popen, er sieht so aus als sei er Woldugirow; und er ist zornig. Er hebt seine gelben Hände zum Himmel empor, er flucht und rast, es geht eine Flamme von Worten aus seinem Munde: Äuge für Auge, Blut für Blut, siehe: der Herr hat gesagt: wer mit dem Schwerte tötet, gegen den soll auch das Schwert gezogen werden ...

Peter Romanowitsch schwankt zurück.

Und dann pfeift er einen Schrei aus: denn das ist ja Iwan, der da hinten enorm sitzt, den Donnerkeil des Gewehres zwischen den Knien, und aus seinem Halse – ohne Kopf darauf – steigt eine spinnende Stimme von Grauen, ein Nebel von Zorn, ein erstickender Rauch von Klage und Schmerz.

Iwan erhebt sich, langsam, mühselig, den Raum vom Himmel bis zur Erde erfüllend, eine Wolke, ein Berg – und fängt an zu flüstern, ja, er droht, die Luft wird entsetzlich scharf einzusaugen, ach, Pulverrauch und flüssiges Blei ... Ta'Ngena ... Krieg ... mein Herz ... das ganze Zimmer ist voll von Menschen, alle zusammen starren sie Peter Romanowitsch an; Bobr 'steht zuvorderst von ihnen allen, er stimmt ein in Iwans Ruf und Anklage:

»Sehet da!

Sehet ihn an: das ist Peter Romanowitsch Luschinskij!

Das ist Peter Romanowitsch Luschinskij, der das alles, alles getan hat!

Er und ich – wir sind die Mikroben voneinander! Der Arzt hat es selbst gesagt: erst schlug Luschinskij mich tot: jetzt töte ich ihn!

Peter Romanowitsch Luschinskij!« das brüllen Iwan und Bobr aller Welt zu; ihr Geschrei lärmt dröhnend aufwärts, er zerquetscht ihn mit einem Fels von Lauten, einer Lawine von Steinen – und tausend Menschen wälzen sich plötzlich auf ihn, sie brüllen seinen Namen voller Haß, sie bullern und trampeln, sie wollen ihn in Stücke und Fetzen zerreißen, hört, Hilfe, Hill-l-fe ...

Luschinskij sprang mit einem Geheul vom Sofa auf.

Er stand mitten in der Kammer – die Arme vorgestreckt, das Herz wahnsinnig ...

Die Tür zur Kammer war offen – Sekondeleutnant Weronoff lehnte sich gegen den Rahmen:

»Hol' mich der Teufel, Herr Peter Romanowitsch Luschinskij!« sagte er, lachend. – »Hier also liegen Sie und schlummern noch so friedlich, während wir anderen längst alle Hände voll zu tun haben! Ich glaubte beinahe nicht, daß es mir jemals gelingen würde, Sie zu wecken! Wissen Sie denn, daß die Uhr über eins ist?

Wir haben den Feind schon längst in Sicht gehabt!

Und hier duseln Sie ungestört weiter, die Nase in Ihrem Diwan!«

Luschinskij starrte ihn an, taumelnd vor Schlaf und Müdigkeit, noch eiskalt, schluckend:

»Was ist da?« fragte er, sich die Stirn reibend, bemüht, sich zu erinnern, zu sammeln. – »Was ist da? Wie sind Sie hierher gekommen? Haben Sie hier gestanden und meinen Namen gerufen?

So!

So-o, das waren Sie also ...!

Nun ja!

Ist da etwas los? Was sagen Sie ... Der Feind!?« – und Peter Romanowitsch ließ sich wieder auf den Rand des Sofas gleiten. Er hüllte sich besser in den Mantel und schauderte vor Kälte: ach so, dachte er währenddes weiter: dann war es also doch weder Iwan, noch Bobr, die seinen Taufnamen auf diese widerliche Art und Weise gebrüllt hatten, Gott sei Dank:

»Setzen Sie sich!« sagte er, plötzlich milde, mit einer Handbewegung auf den Stuhl:

»Lassen Sie mich hören: wie weit sind wir?

Ist die Uhr wirklich über eins – ja, bei meiner Seligkeit! Wie lange habe ich denn geschlafen?

Und die ganze Zeit träumte mir von Eudo ... haha, ja, ja, ich habe so gut, so gut geträumt!

Eh bien!

Na, dann lassen Sie mich mal was Näheres hören, liebes Kind, wir haben die Japaner bereits gesehen, sagen Sie: was meinen Sie damit: haben gesehen? Ich verstehe nicht, setzen Sie sich doch hin, nehmen Sie eine Zigarette, sehen Sie hier, Streichhölzer, liebster Junge, wie vergnügt Sie aussehen und wie frisch!«

Weronoff setzte sich auf den Rand eines Stuhles nieder und lachte, die Nase in der Luft – er hatte eine ganz kurze Nase, die aber trotzdem ziemlich groß war, seine blauen Augen tummelten sich entzückt im Zimmer umher:

»Ach!« antwortete er, und zündete die Zigarette an; noch mehr lachend, rot im Gesicht auf einmal. – »Nun, Sie haben also geträumt, Herr Premierleutnant! Das habe ich auch getan! Das heißt, ich träumte ... ja, dies ist also etwas, das ich nicht hinterher ersonnen habe, ich träumte es wirklich ...: daß ich mitten in der Schlacht Kapitän wurde! Admiral Roschdjèstwenskij selber ernannte mich dazu! Haha! Ich liebe es überhaupt sehr zu träumen! Aber Sie selbst: Sie wurden wohl allermindestens Kommandant, in Ihrem Traum, wie, das kann ich mir ja denken! Ach ja, wenn man doch so alt wäre wie Sie!

Aber im Ernst, es ist wirklich ein Skandal, daß Sie geschlafen haben – wäre ich nur ein wenig früher auf den Gedanken gekommen, hinunterzugehen und Sie zu wecken! Aber nun will ich statt dessen erzählen, denken Sie nur: heute morgen gegen acht Uhr, als der Nebel anfing eine Weile wegzurauchen – da sahen wir einen japanischen Kreuzer, vom Idzumityp ganz hinten backbords; er sah eigentlich verteufelt schneidig aus! Ich war der erste, der ihn bemerkte – hier auf unserem Schiff wenigstens.

Sie sagen, er wäre auf Spionage hinter uns her gewesen! Er hätte uns schon lange, lange gesehen, denn die Luft wäre weniger dicht hier draußen – und hatte Togo Bescheid hinübergefunkt, daß wir jetzt kämen, haha: können Sie begreifen, daß wir ihn nicht sofort wegjagten?

Na, Gregorow und ich sind nun alle beide sehr froh darüber, daß wir das nicht taten – denn nun riskieren wir wenigstens nicht, daß wir und Togo umeinander herumschlüpfen, wie?

Aber also, denken Sie sich: erst als die Uhr beinahe elf war, gab der Admiral uns Order, ihn wegzuschaffen. ›Monomach‹ wurde auf ihn abgeschickt und gab einige wenige Schüsse ab – und dann verschwand er im Nu!

Seither haben wir übrigens ein paarmal auch eine ganze Menge von den anderen feindlichen Schiffen sehen können – alles Kreuzer; sie gingen südlich um Tsuschima vor, so weit man nach der Richtung urteilen konnte, in der sie sich zeigten; aber sie waren sehr weit weg und zogen schnell vorüber!

Na!

Kommen Sie denn nun nicht mit auf Deck hinauf, Peter Romanowitsch?

Sie behaupten, wenn sich der Nebel ein klein wenig lichten wollte, so müßten wir allem Anschein nach Tsuschima und Ikischima sehen können: die beiden Inseln, wissen Sie, die hier irgendwo liegen sollen!

Übrigens ist es ein echtes Sauwetter: man könnte ganz gut vor Wut brüllen über die dicke Luft, denken Sie nur, wenn wir wirklich um Togo herum laufen sollten, so daß nichts aus der Schlacht würde! Na, nun träumte ich ja vorhin davon – das ist doch immer so 'ne Art Omen; scheint es mir!

Und Gregorow meint, spätestens in einer Stunde wird es sich zeigen, ob es zum Kampfe kommt. Und er glaubt es nun – wenigstens bilde ich mir das ein. Auf alle Fälle geht er herum und reibt sich die Hände, und lacht geheimnisvoll uns allen zu, so recht kreuzfidel. Ich hab' ihn, weiß Gott, nie so vergnügt gesehen, glaube ich. Er freut sich sicher ebenso sehr wie ich.

Nicht wahr, der ist doch ein Prachtkerl – verzeihen Sie!«

Luschinskij hörte nicht mehr nach ihm hin.

Schau-schau – dachte er, indem er sich langsam das Kinn rieb; er hatte sich seitwärts über die Kissen hinabgelehnt; er nickte Weronoff zu, und konnte ihn plötzlich so gut leiden, warum wußte er nicht; fühlte aber nur, daß das immer so gewesen war, so in seinem tiefsten Innern: ei, ei, wir haben also ganz handgreiflich geschossen! Um elf Uhr! Sehr wohl! Ja, ich hab's ja auch im Schlaf gehört ... bedeutet das etwa, daß mein ganzer Traum richtig und wahr war? War ich wirklich zurückgekehrt, so wie die Toten, durch der Zeiten sausenden Nebel und Finsternis? Habe ich faktisch eben jetzt mit Eudoxia geredet?

Aber dann fiel ihm auf einmal Iwan ein: was hatte ihm doch noch der Bursche zugerufen? War es nicht der alte und unvergeßliche Satz, den man einmal von Nakinskij gehört hatte, daß wir alle ... ja, daß ein jeder von uns auf dieser Flotte, ohne Ausnahme, gegenseitige, todbringende Mikrobe seien!

Er zog die Brauen zusammen bei diesem Gedanken, einen Augenblick – erinnerte sich dann aber sofort wieder seiner Begegnung mit Eudoxia vor kurzem, mußte darüber lächeln, und konnte selbst, an der Art und Weise, wie seine Lippen sich kräuselten, merken, daß es ein munteres, ein angenehmes Lächeln sein mußte:

Ja, grübelte er währenddes weiter: da kann man nun sehen, wie viel hier im Leben zu lernen ist! Vor nur noch einem Monat würde er ganz einfach folgendermaßen geschlußfolgert haben: daß ein lebender Mann einem anderen schaden kann, das ist ja ganz klar! Und das ein toter Mikrobe sein kann – das kann man auch zur Not begreifen, in Anbetracht der Fäulnis und der übrigen Giftigkeit der Kadaver! Aber ein Begrabener – ach, so ein Unsinn, unmöglich, Schnickschnack, wie? ... ja ha, sicher, so würde er, weiß Gott, die Sache betrachtet haben, noch vor einer Woche: aber nun, nachdem er selbst imstande gewesen war, die lotrechten Wege des Raumes, die wir Zeit nennen, auch rückwärts zu durchschreiten, jetzt erst verstand er diesen Satz so recht eigentlich: daß die Erinnerung an den Menschen, den wir getötet haben, unverscheuchbar in unserem Busen wohnt! Sie breitet sich allmählich über unser Gehirn aus wie ein Schatten, ein Rauch; sie zieht wie ein Schwarm von Bakterien in unser Blut hinein; sie brennt bei Tag und Nacht in unseren Herzen; sie veranlaßt uns unaufhaltsam im Verborgenen zu schluchzen – bis wir uns allmählich von dem Schmerz unserer geheimen Reue besiegt erkennen, bis wir uns vor unserer Seele auf die Knie legen, und dem Richtspruch gehorchen: wer mit dem Schwerte tötet, der soll auch durch das Schwert getötet werden ... und dann sind wir freigekauft, wir haben unsere Schuld bezahlt, wir können uns erheben, wir können gehen wohin wir wollen, wir können fröhlich zu unseren Geliebten zurückkehren!

»Nun!« sagte er dann laut, abermals lächelnd, und beständig leichter inwendig, als sei sein Herz ein Ballon geworden, ja, eine eben erfundene Flugmaschine, die, mit ihren großen, gerippten Flügeln in seiner Brust leise klappernd, mit ihren tausend feinen Rädern unten in seinen Lungen schnurrend, versuchte, ihn in die Höhe zu heben, hinauf zum Himmel – »erzählen Sie also, nun!

Wir haben also den Feind in den Fingern gehabt – wir haben ihn gesehen, nicht wahr?

Sonst ist doch wohl nichts neues da oben, wie?

Lassen Sie mich einmal hören, mein Freund! ...

Ja, lieber Weronoff!« fuhr er gleich darauf fort, sein Zigarettenfutteral aus der Brusttasche ziehend und anbietend – »liebes Kind: auch ich habe einen wahrhaftigen Traum vor kurzem gehabt: von Schüssen und von meiner Geliebten!

Und von einem Verbrechen, das ich einstmals begangen habe!

Das war es, was meine Gedanken erfüllte!« – Er sah blinzelnd zu dem Sekondeleutnant hinüber und fühlte auf einmal: daß nie im Leben Weronoff Eudoxia so sehr geähnelt habe, wie jetzt!

Er streckte die linke Hand aus und klopfte ihm zweimal leise auf das Knie, indem er nickte:

»Ja, ja, mein Junge,« sagte er, hastig – »ja, ja, nun kommt der Kampf, und was der in seinem Gefolge hat – und Sie werden aus dem Jüngling in einem einzigen Tage zum Mann werden!

Können Sie mehr verlangen?

Und hören Sie, W'off: ich will Ihnen was erzählen: da ist irgend etwas in Ihrem Gesicht, was mir immer gesagt hat, daß Sie zu dem Richtigen taugen, allen Ernstes! Verstehen Sie, heute will ich es Ihnen selbst sagen! Natürlich kann es Ihnen an und für sich gleichgültig sein, was ich meine oder nicht: aber ich kann es Ihnen unumstößlich ansehen, daß Ihr Leben Sie tausendmal besser und glücklicher geboren hat ... als die meisten!

Hören Sie einmal zu: ich kenne ... ja, ich kenne viele Männer, die Russia lieben, aus ihrem ganzen Herzen, feurig – und doch ist es ihnen sonderbar schlecht ergangen. Denn es ist nämlich ganz und gar nicht hinreichend, wenn wir auch noch so sehr lieben: Rußland muß auch uns lieben; eher kann das Ganze nicht gut werden.

Denken Sie daran, W'off!

Und sehen Sie: Menschen können vielleicht, ausnahmsweise einmal, ihre Liebe auf einen ... Unwürdigen, wie man zu sagen pflegt, werfen: aber das tun die Länder, die Erde, die Natur, nimmer! Das weiß ich bestimmt!

Und nun machen Sie, daß Sie hinauskommen, kleiner Weronoff – und werden Sie ein großer Weronoff!

Ich habe noch so vielerlei, woran ich denken muß – und deshalb muß ich jetzt allein sein!

Aber ehe wir scheiden, will ich es Ihnen noch einmal sagen: ich weiß, daß Russia Sie eines Tages lieben wird!

Kommen Sie, lassen Sie mich Sie zum Abschied umarmen, mein Junge!

Ach wärst du mein Sohn mit Eudoxia!

Geh' mit Gott!«

Sobald Peter Romanowitsch darauf die Tür hinter dem Sekondeleutnant geschlossen hatte, wunderte er sich wieder über den höchst angenehmen Zustand der Klarheit, der jetzt nach seinem Schlaf und Traum allmählich in seinem obersten Stockwerk entstanden war.

Er nahm wieder Platz auf dem Sofa, bog schleunigst den Kopf vornüber, stützte die beiden Ellenbogen auf die Knie, steckte das Kinn zwischen die Hände, und wollte sich spornstreichs diese plötzliche Erleuchtung des Gehirns zunutze machen – um so eingehend wie möglich auf den Grund der Merkwürdigkeiten zu gelangen, die ihn so lange beschäftigt hatten.

Um so eifriger war er in diesem Bestreben, als es ihm unbestimmt so vorkam, als ob diese ganze schimmernde Leichtigkeit und Freude und Kraft in der obersten Partie seines Korpus – hauptsächlich nur auf Kosten der Beweglichkeit der übrigen Körperteile aufrecht erhalten würde; ja, er empfand wirklich eine ganz entsprechende, ungewöhnlich stockfinstere Schwerheit in seinen Lenden und Beinen!

Aber übrigens hatte er auch gleichzeitig ein Gefühl davon: daß diese Eigentümlichkeit, die ihn also annäherungsweise in eine obere und untere Hälfte, in einen höheren und niederen Abschnitt einteilte – daß sie keineswegs neu für ihn war.

Nein, sie hatte wohl schon längst so bei kleinem angefangen, sich zu offenbaren; wenn sie auch erst jetzt, während seines abenteuerlichen und entzückenden Schlummererlebnisses vorhin, zur gänzlichen Vervollkommnung gelangt war!

Sollte sie, kurzgefaßt, in Wirklichkeit also identisch sein mit jenem sonderbaren Spaltungsphänomen, das ihn viele Wochen hindurch zu einem Menschen während der Nacht – am Tage aber zu einem ganz anderen gemacht hatte?

Wie?

Meiner Treu!

Höchstwahrscheinlich!

Kein Zweifel in bezug darauf!

Ach ja, nun begriff er das ja alles auf einmal: diese Einteilung in ihm stammte wahrhaftig nicht allein aus seinem Traum von vorhin; und auch nicht bloß aus dem letzten Monat, oder von dem gräulichen Aufenthalt bei Madagaskar: nein, sie kam von noch viel weiter zurück!

Freilich, hören Sie einmal: sie stammte schon aus der Minute daheim in Petersburg, wo Ubuseff, dieser Bauer, und dann eine ganze Menge anderer schlecht gesprochen hatten von dem Zustand auf dieser ganzen Armada, mit der er die weite Reise antreten sollte: ja, von da an war da etwas gewisses Fremdes und Erstickendes und Fiebertolles in seinem Gehirn, in seine Nerven hineingekommen!

Herr Jesus, und dieser häßliche Keim hatte sich immer mehr und mehr entwickelt – mit jedem Tag, der zur Hölle ging, mit jeder Katastrophe, die eintraf und die Situation verschlimmerte! Dies Böse hatte gar zu geschwind die Übermacht über den eigentlichen, alten Peter Romanowitsch erlangt – es hatte sich schmutzig in jeden einzigen seiner Gedanken hineingeschlichen, es hatte alle seine Gefühle geschwärzt ... und schließlich hatte es ihn kohlschwarz wie einen Neger gemacht, vor Düsterheit und dunklen Einfällen! Es durstete dreckig nach Schlägereien und Totschlag; es gebärdete sich verrückt und gemein wie ein Menschenfresser; es wollte töten – es zwang ihn, ohne Zaudern Gorkin zum Krüppel zu treten, und bald darauf Iwan mit einem Greinen zu morden: mein Gott, mein Gott, so schlimm war es mit ihm bestellt gewesen – ehe es ganz langsam wieder gut werden konnte!

Ja, genau so: so schlimm: denn gerade bei diesen beiden, ganz besonders schurkenhaften Gelegenheiten, hatte ja das Ehemalige, das Gute in ihm angefangen sich aufzulehnen ... und hatte dadurch die nun durchgeführte neue Veränderung eingeleitet!

Ja, ja: noch am selben Abend, an dem er Gorkin schimpfiert hatte – da war seine wirkliche Seele ja auf einmal zu sich gekommen, vor Schrecken und Zorn, tief drinnen im Keller von ihm, wo sie lag: und ihr ward gleich so widerlich bei dem, was sein Körper hier getan hatte, daß sie sich ihm auf der Stelle aus seinem Gesicht heraus erbrach!

Und ein paar Tage später, als sein Geist zum zweitenmal Kräfte genug gesammelt hatte, um mit Nachdruck Einwendungen machen zu können, und als er sah, wie Iwan da hinten in der Ecke saß, tot, gemordet, ohne Kopf – da wurde er so toll vor Wut, daß er mir nichts dir nichts Peter Romanowitsch bei der Kehle packte, bis er ohnmächtig wurde, und eine ganze Woche krank danieder lag ... so krank, daß man diese Affäre nie wieder werde vergessen können!

Und von da an hatte ein Kampf aufs Messer begonnen – und hatte Monate hindurch gewährt ... bis jetzt!

Nämlich zwischen seiner Seele, dem wirklichen, angeborenen Peter Romanowitsch, dem Sohn von Marfa Alexandrowna und der weißen Exzellenz, Eudoxias ewig Geliebten – und ihm, dem Verkehrten, dem Taugenichts, dem pechschwarzen Nigger, der Gorkin mit einem Knie kastriert und Iwans Kopf kaput vergiftet hatte!

Ach ja, Gottlob, wie klug man heute geworden war, ké, nicht wahr, so daß man jäh den Gang des Ganzen begreifen konnte: aber während der Meuterei bei Simoffs Hinrichtung wusch man, zusammen mit seinen Kameraden, das Schwarze mit Blut ab, ward mit Wonne ein Indianer – das war doch immerhin ein Fortschritt in bezug auf den Teint!

Während der Stille auf dem Indischen Ozean hatte man ja dann Muße genug gehabt, sich aus aller Kraft über seine bisherige, blutige Gemeinheit zu schämen, ja, man ärgerte sich gelb wie ein Mongole über die anderen, wie über sich selbst – was wiederum ein Avancement hinsichts der Hautfarbe war!

Im Laufe des letzten Monats hatte darauf sein unsterblicher Geist sich auch durch diese fahle Schicht von Couleur hindurchgeschlissen: so daß er zum mindesten zur nächtlichen Zeit, wo die Farben nicht allzusehr in die Augen stachen, sehr wohl zur Not für weiß gelten konnte – und nur am Tage war er noch immer jener wildfremde, mürrische, ziemlich dunkelfarbige Herr: derselbe, der sich während der Affäre auf den Doggerbanks, während man ohnmächtig war, in unsere Gemächer geschlichen und unsere intimere Person in irgendein verborgenes Loch hineingeschleudert hatte – der einem sämtliche Garderobe und Visitenkarte gestohlen hatte, um Monate hindurch Hochstapeleien zu betreiben und Leute totzuschlagen, alles im Namen des ursprünglichen Besitzers, pfui Deubel, so ein Kannibale!

Haha, aber nun waren die Tage dieses Schlingels bei meiner Seligkeit also gezählt!

Man hatte mit anderen Worten, während dieser Fahrt, eigenhändig ein kleines Resümee von der Geschichte der ganzen Menschheit erlebt: von Anfang bis zum Schluß, von schwarz bis weiß, durch alle Nuancen hindurch – und nun stand man am Ende davon, so herzensfroh, und konnte das Ganze durch eine Träne oder viele überschauen!

Das heißt, ach hier: bisher hatte seine Seele ja nur auf kürzere Zeit regiert! Bisher hatte ihre Herrschaft allerhöchstens einige Stunden zur Zeit gewährt! Sie war bisher nur dann imstande gewesen, Alleinherrscherin über ihn zu sein, wenn er mutterseelenallein war, oder wenn er schlief – oder jetzt, wo seine Beine ihrerseits so sonderbar dunkel, schwerfällig und schlaff waren!

Ja, ja, aber binnen kurzem sollte auch diese letzte Spaltung ein Ende haben!

Bald würde seines Geistes Sieg ein ewiger sein!

Nicht wahr!?

Ich fühle es deutlich in meinem Sinn! Die Lichtheit in mir wächst so tief und rot in einer Böe unten, aus meinem Herzen heraus; kleine, schimmernde Funken regnen auf meine Knie herab; sie machen meine Füße so gesund, ich lache, ich werde so stark und rein, ich sehne mich nach einer noch reiferen Wonne!

O Geliebte, sieh, bald werde ich heim gelangen, ganz heim – zu deiner blütenweißen, geäderten Brust, wo des Glückes Holdseligkeit wächst!

Zu deiner Arme leuchtender Unvergänglichkeit, zu ihrer Ruhe! Zu deinem lachenden Munde, wo sich die Rosen des Kusses glühend kräuseln! Zu deines unsterblichen Herzens strahlendem Purpur von Güte!

Ja, ich will meine Abrechnung ganz vollenden, ich will heim!

Komm du nur, Iwan, mein Freund, mein Erlöser! Früher hielt ich nichts für so wichtig in der Welt, als daß mein Leben nicht zerstört würde – aber jetzt wünsche ich auch, daß die anderen es gut haben mögen! Alle meine Angst und Qual ist vorbei, nur die Erinnerung daran sitzt milde und unvergeßlich in meinem Busen!

Komm, ich will meine Schulden an dich mit Dank abbezahlen, auch du sollst froh und hoch werden! Ach, daß doch alle Menschen der Erde es so hell in ihren Herzen haben möchten – wie ich, wenn ich binnen ganz kurzem durch die dröhnende Pforte gewandert bin, und sehnsuchtsvoll der lieblichen Stätte meines Vaterlandes entgegenstrebe.

Komm, komm du nur, du alte Iwanmikrobe: ich war ein pechschwarzer Teufel mit Pferdehuf; meine Mutter und meine Eudoxia haben mich zu guterletzt wieder zu Peter Romanowitsch gemacht; komm, schenke mir auch du nun deine Verzeihung! Tue auch du das deine, damit ich frei und froh werden kann, wenn ich heimgehe – so wie ich es zuweilen in meinen Träumen, als ich noch ein Kind war ... oder immer wenn mein Kopf bei meiner sonnenhaarigen Einzigen lag! ...

Luschinskij streckte seine Arme zur Decke empor, seine Augen wurden groß, sie lachten. Durch seinen Körper spürte er den fröhlichen Marsch des Blutes, seinen warmen und sangvollen Takt, eine glasklare Melodie, eine sehr feine Orgel.

Da erstrahlte ein Lächeln auf seinem Gesicht.

Tief drinnen in ihm stieg eine zitternde Frische auf, ein Morgen, ein Salzwasserbad:

»Komm!« flüsterte er, ohne es selbst zu wissen, indem er sein Antlitz froh erhob:

»Die Zeit entschwindet!

Meines Herzens Krankheit ist vorüber! Meine Seele hat sich zur Wanderung erhoben, sie wartet!

Komm, Iwan, komm und hole mich, laß uns von dannen ziehen, du und ich, hinauf zu dem Licht, das uns allen funkelt, hinauf zur Sonne!« ...

Im selben Augenblick wurde die Tür hinter ihm aufgerissen.

Bobr taumelte herein – Peter Romanowitsch begann heftig zu blinzeln bei dem Lärm, und wandte sich mit einem Ruck nach ihm um.

Die Augen des Burschen beulten sich ihm aus dem Gesicht, feuerrot, flackernd; Herr Jesus, er hatte ein Gewehr bei sich, eine große Muskete, Berdan II. Jetzt schloß er die Tür mit bebenden Fingern hinter sich – mit dem Gewehr gegen die Füllung bullernd, und über ihren Schaft strauchelnd.

Ein wunderlich eiskaltes und rieselndes Gefühl durchzuckte Luschinskij; ein Gefühl des Staunens, des Schmerzes, der Angst: fast als ob Bobr und Iwan eine und dieselbe Person wären; und als ob wirklich seine stummen Worte soeben vermocht hätten Iwan vor seine Augen hervor zu zaubern!? Sollte das möglich sein ... Oder, wie war es doch gleich: eins stand auf alle Fälle fest, daß an jenem Abend, als man hier in die Kammer eingetreten war und den Burschen, den man getötet hatte, mit zerschmettertem Kopf dort sitzen sah: da hatte er genau denselben Drellanzug angehabt, wie Bobr jetzt, sozusagen eben denselben, viel zu weiten, befleckten und vergilbten Anzug?! Und eine schweißnasse Flinte zwischen den Beinen?!!

Heilige Maria, was soll ich nur tun?

Kommt diese Ähnlichkeit etwa davon, daß Bobr so oft gesagt hat, er wolle den toten Kameraden rächen ... oder ist es nur die Folge eines bloßen Zufalls: daß Bobr gerade in dem Augenblick erschien, wo ich nach Iwan gerufen hatte ... oder bedeutet es: daß das Verbrechen, das ich Iwan gegenüber begangen habe, in Wirklichkeit rätselhaft auch alle die anderen hier an Bord betroffen hat, mein Gott, mein Gott, was hilft es dann, daß ich ihm gegenüber zur Buße bereit bin ...

»Hast du es gehört ... hast du es gehört, meine Taube?!« fragte der Messediener flüsternd, mit flackernden Blicken, noch immer dort auf der Schwelle stehend, die Muskete gegen seine Knie gelehnt – »Ké! Ja! Jaha!

Wir können sie sehen – draußen am Himmelsrand!

Auch ohne Kikorb kann man sie beobachten. Ich hab' sie selbst gesehen, ihre großen, grauen, vielen Schiffe. Sie sind viel stärker als wir. Wir können ihnen nicht mehr auskneifen. Alles is' aus. Ich muß mein Leben lassen, es is' aus mit mir!

Da oben is' klar Schiff gemacht. Gleich werden sie losballern, die Trommeln rühren, die Signalhörner bl-blasen. Sie gehen alle herum und warten, Gregorow grinst, bist du nicht bange, Brüderchen?!« – und Bobr legte den Kopf auf die Seite; die dicken Lippen zu einem langen Rüssel geformt, lauschte er dem Getümmel da draußen; fuhr dabei aber fort zu reden:

»Hör'!

St! St!

Nun kommen sie angesegelt – über die sa-sa-salzigen Wellen. Ich hab' sie selbst obsalviert. Du weißt nich', wie viel mehr es sind als wir!«

Luschinskij nickte stumm; er saß hintenüber gelehnt da und starrte ununterbrochen den Matrosen an: noch ohne sich so recht klar darüber zu sein, ob es nun der eine war oder der andere. Er beschloß ein paarmal seine Hand zu ergreifen, seinen eigenen Rock aufzureißen und ihm das Ganze von Anfang bis zu Ende zu erzählen ... oder war es verkehrt, sich seine Erregung und Angst zunutze zu machen; sollte man sich vorläufig daran genügen lassen, aufzustehen und zu ihm heranzutreten mit einem weitgeöffneten Gesicht und ihn nur beruhigend auf die Schulter zu klopfen ... oder sollte man zu allererst ihn gerade heraus fragen, ob er im Namen des verstorbenen Burschen oder in seinem eigenen komme – ob er Bobr sei oder Iwan ...

Aber da schlingerte der andere einen Schritt ins Zimmer vor:

»Sag mir!« fuhr er fort, auf einmal kichernd – »ist es wirklich wahr, daß wir uns gleich in der Minute ergeben wollen, und daß dann keine Spur von Schießen oder Krieg wird, wir werden in dem warmen Japan an Land gesetzt und kriegen Essen und Trinken und Tee soviel wir haben wollen, und haben gar nichts nich' zu tun, is' das richtig?

Habt ihr das zusammen verabredet, ihr Offiziere alle?

Hahaha, das wäre famos, fein!

Was?«

Er trat noch näher heran, grinsend, mit stechenden Augen.

Peter Romanowitsch warf unwillkürlich seinen Nacken weit hintenüber und hielt den Atem an: Herr Jesus, ja, kein anderer als Iwan würde einem so lauernd, so tief in den Kopf hineinstarren, mein Gott, was soll ich ihm doch nur sagen, damit er das Ganze verstehen kann! Was soll ich tun, um ihm zu zeigen, daß ich zu allem bereit bin, um mein Verbrechen zu sühnen ... soll ich ... nein, still, pst, störe ihn doch nicht, laß ihn reden, jetzt beginnt er selbst von dem allen zu erzählen, höre nur zu:

»Aber wenn uns nun die Japaner den Frieden nicht geben wollen, worum wir sie bitten?

Wenn sie dabei bleiben, daß sie uns ohne Schonung töten wollen?

Nicht?

Die Unteroffiziere sagen alle zusammen: sie sind im Grunde gar keine Menschen, bloß Zauberer, sonst hätten sie unsere Generale da drüben in dem fremden Land, wo wir auch jetzt kämpfen, nie überwinden können! Große, wilde Affen sind sie. Sie haben Götzen, die sehen aus wie schreckliche Tiere, Bootsmann Schur hat selbst 'ne ganze Masse gesehen – und sie beten bloß zum Teufel mit Klauen und Hörnern, Haar auf dem ganzen Leib, der Leibhaftige ...« fuhr Bobr fort, den Kopf hin und her wiegend, und mit seinen schwimmenden Augen in Luschinskijs Gesicht herum plätschernd; es floß unaufhörlich ein weißer Schaum aus seinem Mund heraus, ein merkwürdig zäher und langsam fließender Geifer, wie von Tod oder Gift – Peter Romanowitsch konnte den Blick nicht davon abwenden; tief in seinem Innern war er von neuem schlaff und müde geworden, gleichsam erschöpft von seinen verzweifelten und ergebnislosen Anstrengungen, die vermutete, verborgene Absicht zu finden, entweder hinter Bobrs Worten, oder drinnen unter seinen Manieren, oder auch auf dem Grunde seines Antlitzes versteckt.

»Wenn sie sich nun gar nichts daraus machen, daß wir uns ergeben wollen, wer weiß, sie greinen vielleicht am Ende bloß über uns – und wenn wir dann die Gewehre und Säbel und Dolche und Beile weggeworfen haben, dann kommen sie möglicherweise und schlachten uns für ihre Götzen. Bootsmann Schur hat uns ein Bild von einem von ihren Götzens gezeigt: der is' zwanzig-, ne, hundertmal so groß wie ein Mensch, er sieht aus wie ein greuliches Tier, er ist ein Drache mit große, zackige Flügel und einen schrecklichen Rachen mit Feuer, sein Schwanz sieht aus wie eines Lindwurms, er sitzt oben auf ein Haus, das er gerade verschlingen will ... Schur meint auch, wir sollten lieber unsere Waffen in einen Ruff gegen die Offiziere kehren, und denn segeln wir nach Hause! In Petersburg da is' ein Verein, der will den Zaren totschlagen – denen woll'n wir mit alle Mann helfen, schlägt Schur, der Höllenhund, vor, kä, und denn is' die Reihe an uns, wie die feinen Herren zu leben! Käkä! kä! Aber wir haben man bloß keinen Mut, un ich glaub' auch, das sind man lauter Lügen, was er erzählt; und wir können uns auch nich' einig werden – und ich für mein Teil hab' ja auch nichts davon, daß sie mich portofrei ins Loch stecken oder nach Sib ...

Aber hör' nun mal zu!

Und nich' genug damit, ne!

Aber nu den Fall gesetzt, daß die Japaner am Ende gar nich' mal hören, sehen oder begreifen können, daß wir uns übergeben wollen – was dann?

Sie verstehen ja keinen Muck davon, was wir sagen, wie? Sie können ja nich' sprechen wie wir anderen Menschen. Hör' nur mal, Brüderchen: und alle Leute hier erzählen, daß unser Schiff nich' einen einzigen, ordentlichen Schuß vertragen kann! Sie sagen, erstens haben der Minister und der Admiral den eigentlichen Panzer verkauft, der hier auf dem Schiff sein sollt', schon ehe wir von Hause wegsegelten; sie kriegten über hundert Millionen Silberrubel dafür, die Schweinehunde – und das, was da nun noch sitzt, das is' der reine Betrug! Sie sagen auch, außerdem hätten wir viel zu viele Kohlen an Bord, der ganze Panzer is' unter den Wasserspiegel runtergedrückt, hörst du? Wir gehen gleich zugrunde, bei dem allerersten Schuß – runter, wo es eiskalt is', un wo die mächtigen Wälder aus Tang sind un die Haifische! Hörst du, was ich hier stehe und dir sage, warum glotzt du mich so schnurrig und eingehend an, was is' denn los, seh' ich bange aus, die anderen haben immer gesagt, ich bin die größte Bangebüx, du mußt mich nich' so schnurrig anglotzen, warum tust du das eigentlich, mein süßes Täubchen, so mach' mich doch nich' ängstlich ... hör' ... hör' nu, Väterchen, hör', da is' was Funkelnagelneues, was ich dir erzählen will, ja, was ich vor kurzem gehört hab', aber ich weiß nich' recht, ob es Wahrheit is', oder bloß Lügen: 486 hat über Nacht geträumt, daß um sieben Uhr zehn Minuten heute abend das Schiff mit uns all zusammen versinken wird, hörst du, ja, mit Mann und Maus – glaubst du wohl, daß das wahr sein kann! Er sagt, ein großer Mann, der vor seiner Koje stand, klatschnaß, mit Priesterbart, hörst du, der zeigte auf eine Uhr, wo die Zeiger auf zehn Minuten nach sieben standen!

Glaubst du, daß man hier herauskommen kann, wenn ein Schiff untergeht – aus der Kammer hier, wie?

Sie sagen, wir müssen vorsichtig damit sein, was wir trinken – welche von ihnen, die wollen die Schnäpse nicht haben, die Gregorow uns allen angeboten hat; denn sie sagen: wenn wir so viel reintüllen, wenn wir bloß einen ganz kleinen Schwipps haben, dann können wir nich' schwimmen! Und am Ende muß man vielleicht mehrere Stunden schwimmen, ehe wir von den anderen Schiffen aufgefischt werden können! Kisss, du kannst dich darauf verlassen, mein Herzensfreund: ach, ich kann großartig schwimmen: auf'n Bauch, auf'n Rücken, auf'er Seite, mit einem Arm und auch so: wie ein Hund! Ganz und gar wie du es haben willst, das kann ich, ja!

Kkkkk!

Ich hab' richtig schwimmen gelernt, schon als Jung' und ganz gründlich, haha! Ich kann mich, wahrhaftig un Gott, viele, viele Stunden über Wasser halten; so lange es sein soll; darüber kannst du dich beruhigen: mich kann keine Katz' zum Ersaufen bringen!

Um sieben – ne, zehn Minuten nach sieben – sagt er, wird das ganze Schiff untergehen!

Er hat es selbst gesehen, auf dies Uhrwerk, das der klatschnasse Mann in 'ner Hand hielt und wo er auf zeigte!

Glaubst du, daß ich doch noch ein klein bißchen trinken kann, bloß einen Schluck – man denkt, sozusagen, nich' so schrecklich über das alles, nich' wahr, wenn man sich die Kehle ein Körnchen geschmiert hat!

Bloß so einen einzigen kleinen Schnaps oder auch zwei, bloß akkurat so viel, wie auf 'ner Kopeke liegen kann – denn das Allerschlimmste is', so lange man rumgeht, und da auf wartet, daß es geschehen soll! Aber wenn wir uns nu übergeben, denn muß es ja doch Weibergeträtsch sein, daß der Kasten sinken soll, nich' wahr, das is' doch klar und denn is' da ja keine Bohne von Sinn in, daß man sich nich einen unschuldigen kleinen Schwips antrinken sollt'!

Meinst du nich' auch?«

Bobr fuhr fort zu reden. Er stand, den Kopf hin und her wiegend, kichernd, auf den Beinen schlingernd, mit einer hellblauen Flamme von Branntweingestank aus dem Halse heraus, das Gewehr aus der einen Hand in die andere wechselnd – ohne Aufenthalt schwatzend –:

»Meinst du denn, daß ich mir ein paar kleine Schlucke leisten sollt – oder is' es besser, nüchtern zu sein? Und das muß woll wahr sein, daß ich 'ne gewaltige Bangbüx bin, denn das haben meine Kameraden vom allerersten Tag an gesagt, ach, aber das is' greulich, alles is' zehnmal so schlimm zu einem, wenn man von Natur bange is'! Die andern, die können woll lachen – aber was soll ich anfangen!

Meinst du nich' auch, daß du und ich viel lieber hier unten bleiben woll'n, denn sind wir die andern los; wir können es fein haben, mein süßes Täubchen und ich: nu hol ich die Flaschen raus, Gläser, Sodawasser ..., findest du eigentlich, daß wir was zu morgen übrig zu lassen brauchen, denn riskieren wir ja man bloß, daß die Japaner sich da über hermachen, nich'?

Fnsss!

Ich hab' ganz vergessen dir zu erzählen, daß ich ganz gewaltig gut schwimme, mir macht es nicht das Geringste, wenn ich auch sternhagelduhn bin, ich kann mich auch treiben lassen – und das is' ja das Leichteste, wenn man sehr lange liegen soll!

Hirr-hirr-hirr!

Ja, hirr, komm' du nur mal her, Peter Romanowitsch, und gieß' dir 'n Becher in die Kehle rein, du brauchst um mich nich' bange zu sein, Väterchen, ich will schon fertig werden – und wenn es sein soll, dann kann ich dich zur Not auch noch bergen! Verlaß du dich da auf!

Verlaß du dich bloß auf mich, wie beliebt, ja, was das Schwimmen anbetrifft!« – und Bobr schlug sich donnernd an die Brust – kam indessen entsetzt zu sich bei diesem Laut, glotzte erbleichend umher, beeilte sich ein paar Gläser voll zu schenken, und leerte sie, mit zitternden Händen.

Luschinskij hatte ihn während all dieser Zeit unverwandt angestarrt, mit gerunzelter Stirn, den Hals zusammengeklemmt –: schon längst hatte er es aufgeben müssen, irgendeine direkte oder verborgene Anspielung auf die Affäre mit Iwan in Bobrs Worten zu finden; und nun war es ihm allmählich eingefallen: daß vielleicht der entscheidende Augenblick ganz einfach noch nicht gekommen war! war es nicht auch natürlich sich zu denken, daß Iwan warten würde, bis der Kampf begonnen hatte, bis die Schlacht in vollem Gange war, bis die Aufmerksamkeit der Umgebung anderwärts hingelenkt war, bis die Kanonade angefangen hatte.

Aber in diesem Moment kam es ihm auf einmal vor, als unterscheide er in meilenweiter Entfernung einen leisen, brüllenden Ton, ja, ein Rummeln fast wie von Schüssen, horch: ein unbestimmtes, gedämpftes Donnern, das murmelte: bulll-ulll-ulll ...

Er fuhr mit einem Ruck vom Diwan auf –:

Was war doch das nur, hör, still!

Ja, das waren Schüsse!

Hör'!

Er sah sich verwirrt um: war es der Traum von vorhin, der wiederkehrte; oder war es ein wirkliches Schießen; war es Iwans Kommen, das sich donnernd ankündete?

Aber auch Bobr hatte offenbar das dumpf dahinrollende Getöse bemerkt ... und nun folgte es schneller aufeinander, ward stärker als bisher, bum, bumbum, rummm, es murrte einem ununterbrochen durchs Ohr. Peter Romanowitsch atmete tief auf, plötzlich erleichtert: ja, das waren Kanonen!

»Hörst du? ...!« – sagte der Bursche leise, indem er sich mit der linken Faust auf den Tisch stützte, und die andere tastend das Gewehr umklammerte – schaudernd, während die bläulichen Lippen langsam um die Mundhöhlung herumkrochen – »da sind sie, die Teufel aus Japan her, die kleinen Gelben!

Sie schießen schon nach uns!

Ja, hör'!

Hilfe!

Du mußt nicht von mir gehen, du mußt nicht ... du mu ...!«

Luschinskij hatte, ohne es zu wissen, die Hand vor sich in der Luft erhoben, seine Brust war wieder gesund geworden; es durchbebte ihn abermals dieselbe lichte und frohe Ahnung wie vorhin, als er allein war; er lächelte –: Ja, der Herr sei gepriesen, jetzt sind die Japaner hier!

Wir werden binnen kurzem kämpfen, mit aller Macht!

Wir werden alle unsere grauenvollen Erinnerungen, unsere blutigen Erinnerungen vergessen – wir werden unsere Muskeln und Gehirne gebrauchen, wir werden unsere Sünden mit unserm Blut abwaschen, wir werden Rehabilitation durch unsere Tapferkeit finden! Die Stunde der Befreiung ist nah', wir werden in einem Augenblicke leben und sterben, mit dem Expreß sieben Uhr zehn kehren wir glückselig zurück nach Rußland und zum Frieden – zu allem Guten, was wir daheim haben, zu uns selbst und unsern Geliebten!

Er riß den Mantel ab, griff nach seinem Säbel der am Riegel hing, wickelte das schwarze Ledergehänge rund um seine Taille und wollte zur Tür hinaus.

Da aber flog ihm Bobr mit einem Sprung entgegen, stapelte sich ihm bebend in den Weg, in seiner Eile Flaschen und Gläser vom Tisch herunterreißend. Schluchzend schlang er seine Arme um Luschinskijs Hals, schmiegte sich jammernd an ihn, barg zitternd den Kopf an seiner Brust –: »Ach, Bruder, mein Schmetterling, nein, höre, geh' nicht von mir!

Verlaß mich nicht, ach, Gottchen, ich bin bange!

Blei-ei-eib' bei-ei mir!« – er glitt auf den Fußboden nieder; und auf den Knien liegend, Luschinskijs Beine umschlingend, bohrte er ihm seine Stirn in den Magen hinein, in lautes Weinen ausbrechend –:

»Hör' du ...

Ich kann nich' allei' sei' ...!«

Peter Romanowitsch war kurz davor umzufallen, infolge aller dieser Umarmungen, er schwankte, mußte einen langen Schritt mit dem linken Bein machen; jetzt beugte er sich zornig vorüber, starrte mit gerunzelter Stirn auf den Burschen hinab, erhob die geballte Rechte: – da aber hatte ihm Bobr seinen Hals ganz zwischen die Knie hineingepreßt ... und jäh erschien es Luschinskij von neuem: daß es ja doch trotz alledem Iwan war, der da unten kopflos lag, am ganzen Körper zitternd, mein Gott, mein Gott, ja, ja, höre nur auf zu weinen, Iwan, ich will schon bei dir bleiben, ich verspreche es dir ... ich schwöre dir, daß ich blei ...

Aber gleich darauf begriff er sich, und sagte zu sich selbst: daß dies ja doch Unsinn sei, selbstredend, bewahre war dies nicht Iwan, keine Spur, im Gegenteil, es war ganz und gar kein anderer als Bobr – der sich nur in Iwans fahle Kleider gesteckt hatte, nicht wahr! ... Aber, auf der andern Seite – fiel es ihm gleichzeitig ein: könnte man sich nicht denken, daß dies sekundenkurze Mißverständnis ein ausgeprägtes Omen war, ein Fingerzeig aus dem Lande der Toten: daß man trotz allem hier weder weggehen, noch sonst an der Schlacht teilnehmen durfte?! Wie? Konnte es nicht möglich sein, daß Iwan auf diese geheimnisvolle und unerhörte Fasson einem zu verstehen geben wollte, daß dies die erste Stufe zur Versöhnung war: daß man, ohne eine Hand zur Verteidigung zu rühren, auf das warten sollte, was da kommen würde – ganz so, wie Iwan es selbst seinerzeit hatte tun müssen, während des Mordes!? Daß man nicht einmal das Recht hatte zu einer Erleichterung wie die, sich im Kampf zu berauschen, sich in der Geschäftigkeit zu betäuben, die Vergangenheit in der Eile, in der Pflicht des Augenblicks zu vergessen!

Gut!

Wie du willst!

Auch das will ich auf mich nehmen, wenn du befiehlst! ...

Abermals lächelte Luschinskij licht, er lehnte sich zärtlich vornüber, streichelte Bobr leise und behutsam über den braunen Nacken:

»Still, Kind, soso, ja, ich verspreche dir, hier unten zu bleiben!

Bis andere nach mir schicken, daß ich kommen soll – bis die letzte Stunde schlägt!

Steh' auf, sei nicht bange, nimm dein Gewehr!

Fürchte dich nicht!« – Vorsichtig löste er Bobrs Umklammerung, griff unter seine Achselhöhlen, richtete ihn auf, setzte ihn auf den festgeschrobenen Stuhl zwischen Sofa und Tisch und reichte ihm sein Gewehr. Er selber sprang dann auf den Diwan, lauschte einen Augenblick angespannt dem Schießen, ward sich klar darüber, daß vorläufig nur hier auf seiner eigenen Armada geschossen wurde, nun ja, der Feind war vermutlich noch zu weit entfernt, sehen wir uns nach ihm um! – Hastig begann er durch die runde Scheibe des Bullauges zu starren – vorwärts zu, die linke Wange hart an den grauen Bolzen des Metallrahmens gelehnt.

Und da entdeckte er die Japaner, da draußen in der Ferne:

Ja, weit da draußen nach Osten zu kamen sie in einer dicht geschlossenen Reihe hintereinander, dunkel, ungeheuer, unsern Kurs von steuerbord Bug kreuzend – unter dem blanken Schimmer von Sonnenschein, hinter dem feinen Flor von Nebel, über den grünen Wogen!

Ein riesenmäßiger Zug von rauchenden Stahlkolossen!

Eine unüberschreitbare Grenzscheide aus Eisen!

Ein Weltgerichtsgewitter! ...

Er sperrte die Augen weit auf, es ging auf einmal ein Zittern durch seine Schultern, ein Frieren; er starrte blinzelnd da hinaus, das Ohr dröhnend von dem unablässigen Gebuller der Kanonen in seiner eigenen Flotte:

Schiff für Schiff hob sich da drüben auf die ferne, blaue Linie des Gesichtskreises hinauf. Es ward zu einer Mauer von düsteren Rümpfen, einer schwälenden Wolke am Horizont.

Sekunde auf Sekunde schwoll es schwärzlich, ward größer und massiver zu sehen – ein stockdunkles Gewitterschauer, das unaufhaltsam über Himmel und Meer dahinzog, herbeigerufen von dem Gekrach unserer Geschütze: siehe, aus der See auf, vor ihnen, erhebt sich wieder und wieder das eisweiße Aufspritzen des Wassers, von unsern nutzlosen Geschossen, die zu kurz schießen! ...

Peter Romanowitsch machte unwillkürlich Kehrt, droben auf dem Sofa: sollte er in fliegender Fahrt zu seinen drei Kanonen auf der Batterie da draußen hinausstürzen, Gott sei Dank, jetzt hatte die Schlacht begonnen, aber weshalb war es so still hier auf dem Schiff, auf den andern Fahrzeugen schossen sie ja schon aus voller Kraft, aber hier war nicht einmal das Signal zum Kampf gegeben! ... Aber dann begriff er, daß die Entfernung bis zu den Japanern ja auch offenbar viel zu groß war, deswegen schwiegen die noch – und deswegen war es, daß unsere eigenen Schüsse die See dort trafen, statt den Feind, ja, es war geradezu sinnlos, zu schießen, Roschdjestwenskij hatte ja außerdem ausdrücklich gesagt, daß da an Munition gespart und abermals gespart werden sollte ... aber vielleicht geschah es nur, um ihre Mannschaft zu beruhigen, daß die Kapitäne der anderen Schiffe ihnen Erlaubnis gaben, das Feuer zu eröffnen, vermutlich waren sie zitternd krank vor Spannung, Nervosität ...

Er zog seine Uhr aus der Hosentasche, mußte eine Zeitlang darauf niederstarren, ehe es ihm gelang, festzustellen, daß es jetzt fünfzehn Minuten vor zwei war, jawohl, vierzehn Minuten vor zwei präzise, aber im Laufe der ersten Viertelstunde würde da augenscheinlich noch nichts geschehen können ... und im übrigen hatte er ja außerdem Bobr geschworen, bei ihm zu bleiben ... und wenn nun Iwan ... aber warum schoß man nicht doch auch hier ... und es ist ja meine Pflicht hinauszugehen ... was soll ich doch nur machen? ...

Er merkte selbst auf einmal, daß da eine sonderbare Unruhe in seine Finger, seine Augen, seine Ohren gekommen war; er zitterte ein wenig am ganzen Körper; da saß ein wunderlicher Kitzel drinnen hinter seinen Knien, war er denn bange, ein Feigling, riß der ferne, grummelnde Laut seine Nerven entzwei, ängstigte er sich vor dem Kommen des Kampfes, mein Gott, da ist ja nichts Schlimmes im Anzüge, so sei doch ruhig, sonst wird es nur wieder ganz arg mit Bobr ... Und ergo wandte er sich wieder nach dem Fenster um, diesmal sein Gesicht gegen die rechte Seite des Rahmens lehnend, und nach den Schiffen seiner eigenen Flotte aussehend:

Und stellte also fest, daß ihre Formation offenbar nicht ganz dieselbe war, wie über Nacht und heute morgen, nein, wie war es doch jetzt nur: ja, die beiden Kolonnen liefen nicht mehr nebeneinander, sondern ein wenig achter einander, und es waren ja auch nicht mehr Nebogatoffs alte Blechpötte, die das linke Glied bildeten, nein, es waren ja Völkersahms, jawohl, die des, wie es hieß, gestern verstorbenen Admiral Völkersahms: zuerst »Osljablja«: sein Flaggschiff, dann »Sissoi Weliki« und dann »Nawàrin«, wohl eintausend Meter nach der Seite hinaus gingen sie!

Und sie schossen!

Hör'!

Unablässig donnerten sie darauf los, jetzt konnte man plötzlich »Nawàrins« zween Paar Schornsteine nicht mehr sehen, sie waren im Augenblick total versteckt hinter dem hellblauen Dunst – und im selben Nu unterschied er auch das Gekrach von daher, dumpf, echobegleitet: Pang-pang-rummrumm-rrummm, das waren sicher die großen Kanonen in dem Panzerturm da drüben! Er legte schleunigst den Kopf nach links hinüber, und es gelang ihm das blanke Aufspritzen dort weithin da draußen auf dem Meere aufzischen zu sehen.

Wieder starrte er zu den Japanern hinüber, die schon viel näher waren als vorhin, eine graue und schwindelnde Felsenkette auf der Wanderung!

Ja, mein Gott, sieh' jetzt nur hin!

Dort kommen die Dai Nipponesen direkt aus der See heraus, mit ihrer ungeheuren Suite, die länger und länger wird, von mächtigen, alles besiegenden Kolossen!

Eine ganz andere Art von Leuten sind sie, als irgend jemand von uns. Kleine, emsige Kerle: ach, Krabater, die damit warten, auch nur ein einziges Geschoß zu opfern, bis sie nicht wissen, daß sie treffen können! Ja, sie werden gar nicht eingeschüchtert durch den dröhnenden Lärm unserer Schüsse, die ihnen donnernd, mit einem Blitz, entgegen wandern – und auch nicht durch die turmhohen Kaskaden, die der Stahl bei seinem Niederschlag aus dem Ozean vor ihnen aufreist! Nein, sie lauschen lächelnd der Kanonade, als seien es nur die Paukenschläge in einem Promenadenkonzert ihnen zu Ehren – und das Aufspritzen betrachten sie zufrieden wie eine Allee aus silbernen Pappeln, gepflanzt, um Schatten und Kühle über ihren Weg zu verbreiten! Ja, sie haben jeder Mann einen Doweschen Panzer um sich, aus Djùniform und Stahlfeilspänen, aus Vergessen für Qual und Tod – aber tief drinnen in ihnen brennen unsichtbar die holden Flammen ihrer ewigen, roten Sonne: Banzai, für Mikado-Tenna, Yes, for das very old Japan, das von Gott herstammt, drauf los ...

Hinter sich hörte er die Signaltriller der Flöten auf einmal gellend aufsteigen, die heisern Rufe der Hörner bebten hervor, und hoch oben da drüber rasselten die Trommelwirbel, die alle zur Stelle riefen. Ein Hagelwetter von Zittern ging durch seine Schultern, seinen Rücken und seine Beine. Er sah sich unschlüssig um, war wieder im Begriff hinauszustürzen, es sprangen Zuckungen durch seine Arme ... aber dann fiel sein Auge auf den Burschen:

Bobr hatte sich erhoben und stand gelbweiß dort in der Ecke; lange, wogende Zitterschauer durchfuhren ihn. Während der schallenden Stangen von Gekrache aus den andern Fahrzeugen, kamen und schwanden geschwollene Streifen in seinem Gesicht; seine Hände flogen krampfend umher; jäh wälzte sich der Raballer eines Schusses herab, von dem Schiffe hier:

»Hörs' du ...« brüllte er durch den Lärm, lallend, mit hängender Unterlippe, sabbelnd, sich zu Luschinskij hinüberbeugend – der vom Diwan heruntergestiegen und jetzt mitten in der Kammer stehen geblieben war – »sie rufen uns alle mit Hörner' und Trommel', sie schießen, aber wir beiden woll'n die ganze Zeit hier unten bleiben!

Wir gehen nie wieder hier weg!

Wir verstecken uns hier unten!«

Aber im selben Moment hackte Peter Romanowitsch eine Sekunde hintenüber, atemlos.

Ein klaftergroßer Ratsch stürmte durch das Schiff. Die Kammer machte, sich räuspernd, einen Sprung. Der Fußboden wogte. Luschinskij klammerte sich an die Tischkante.

Ein Dröhnen schudderte sich von da draußen herauf.

Und gleich darauf gellte ein ungeheurer, zitternder Schrei auf ihn nieder:

Piih-jakrjakrjakrjakr – sagte es; ein schwindelnder Pfiff von Qual und Tod, ein kreideweißes Signal durch die Nacht.

Bobr war rückwärts auf den Stuhl niedergesteppt, das Gewehr aus den Fingern verlierend – so daß es gegen seine Schulter gelehnt stand, inwendig zwischen seinen Knien. Nun stach er auf einmal den linken Arm in die Höhe, als von neuem die Detonation eines Schusses von einer der eigenen Kanonen des Schiffes hallend durch den Raum hinabsank. Er riß den Mund weit offen – klappte die Zähne wieder zusammen, während noch eines polternden Knalles, machte auf dem Sitz einen Sprung in die Höhe und fing an laut zu rufen. Wieder und wieder trampsten die gewaltigen Laute mitten in seine Worte hinein, und zerschmetterten, was sie davon trafen:

»... uns verstecken ... niemand uns finden kann ...

wir woll' nich' ...

wir woll' nich' raus in all das ...« stammelte er, heiser, hintenübersinkend, mit den Augen blinzelnd, bei jedem neuen Lärm willenlos hin und her schlingernd.

Peter Romanowitsch zog die Brauen zusammen, er hatte abermals diese unfaßliche, sinnlose Vorstellung, daß es doch, trotz aller Vernunftgründe, schließlich wirklich nicht Bobr war, der da saß, genau so wie an jenem Abend – nach jeder Richtung hin ebenso: selbst was das Gewehr anbetraf, an dessen braunen Schaft sich nun auch die nackten Füße schweißig hinaufbewegten, ganz so wie Iwan! Mein Gott, ich kann es nicht aushalten hier drinnen zu sein, ich sterbe wenn ich dahin sehe, was soll ich nur einmal anfangen, darf ich von hier weglaufen, hinaus ...

Hastige und schwere Tritte rollten wie große Kugeln da draußen umher, mitten hinein in das tiefe, anhaltende, enorme Gurgeln der Artillerie – nach allen Seiten, oben, unten, überall. Das Schleichen der Maschinen hatte sich dadurch gleichsam verkrümelt. »Hier!« schrie eine dünne Stimme, in der Ferne hinter Luschinskij: war das nicht auf Starcks Batterie? »Bahre! Schnell! Kommt!« wurde gleich darauf gerufen, mit einer Baßstimme, in derselben Richtung. Und dann noch ein drittes Gebrüll, ebenfalls daher: »Feuer!«

Piih-jakrjakrjakr ... turkelte das Geheul da draußen, ununterbrochen, wiegend, sich aufbäumend.

Luschinskij schauderte auf einmal: warum kreischen sie doch nur so, st, hör', da hör' nur wieder, ach heilige Jungfrau, es ist mir immer erzählt, daß die Schmerzen und Schreie erst lange nachher kämen, wenn der Kampf vorbei ist, warum heu ...

Er warf den Kopf in den Nacken, schlug die Hände vor die Ohren – aber unaufhörlich durchgellte ihn der zerreißende Laut wieder, und jäh sah er das Ganze vor sich: Herr Jesus, ein Krater voll Schrecken und Pein! Es schwang sich verrückt in die Höhe, jammerte sich meilenhoch, zähneknirschend in die Luft hinauf, fiel auf einmal wieder nieder, zerschmetterte, zerschellte, spritzte von neuem auf, heulte sich grenzenlos über die ganze Welt hinaus, Jesus Maria, oder ist es gar nicht die Wildheit und das Grauen von Menschen, das ich höre, ist es ein Orchester von Wahnsinn, sind es die Flöten aus einer Fabrik für Tortur, fährt da donnernd ein Eisenbahnzug mit Sterbenden vor, mit Pfeifen der Lokomotive ...

Wieder erbebte das Schiff, hohl, klagend, unter dem zerfetzenden Stahl eines Geschosses, das traf.

Die Explosion schmetterte einen Erzhammer mitten in seinen Kopf hinein.

Er taumelte hintenüber durch seine eigenen Knochen hinab.

Der Fußboden gluckste.

Piih-jakr.

Piih ...

Luschinskij schwankte auf den schaukelnden Planken, mußte sich an dem Griff der Tür festhalten: heiliger Georg, schon zweimal sind wir getroffen, und der Kampf hat noch nicht länger als ein paar Minuten gewährt!

Es fuhr ein sonderbares Sieden, ein Schäumen – aus seinem Blut auf, wo die Schreie hinabpeitschten. Er fühlte einen erstickenden Kloß in seiner Brust. Hatte ein glühendes Gefühl in seinem Gesicht, waren seine Augen auf einmal feuerrot, sie brannten: zum Teufel auch, schon zwei Geschosse haben uns getroffen, ich höre das schreckliche Kreischen von Menschen, die sterben, beeilen wir uns, die Schüsse mit aller Macht zu beantworten, schießt drauf los, Achtung, feuert, Rache! – Dann bebte der Boden wieder, unter dem donnernden Raballer aus den Turmkanonen des Schiffes, bàm-bam-bàm, rrràmm ... Haha, jawohl, nur zu, schlagt sie nieder die Schlingel, die unsere Leute dazu bringen, daß sie heulen und sterben, jawohl, noch mehr, bum-rrummm, jaha, das war wohl der kolossale Rachen der hintersten Panzerkuppel, die da rief: dàmm-dàmmm: und dies war einer von den Skandalmachern hier gerade über mir, nicht wahr, gut gemacht, nur immer zu, sollte man also da hinaus galoppieren, sich daran machen, seine eigenen, kleinen, lieben Kanonen zu befehligen – selbst wenn der Feind wohl noch nicht nahe genug war, um sie mit Nutzen anwenden zu können; sollte man die Brandröhren tempieren, dem Telephon von der Kommandobrücke oder von dem Abstandmesser herab lauschen, den Aufsatz beordern, war es nicht trotz allem seine Pflicht, er war ja doch Offizier, war es nicht das einzige Mittel, um nicht toll und verrückt zu werden, ist es nicht die einzige Art und Weise mein Leben zu erretten, nur ein Schuß oder zwei, dann komme ich wieder hier herein.

Er klemmte die Augen zu, wandte sich mit einem Ruck nach der Tür um, griff den Drücker – war sich aber im selben Nu vollkommen klar darüber, daß er doch nicht kämpfen wollte, nein, nun sehe ich es ganz deutlich, wenn ich jetzt von hier fortgehe – so ist es nur eine Wiederholung dessen, was ich das vorige Mal mit Iwan tat, als ich sein Leben nahm, um selbst leben zu können ... nein, ich muß jetzt hier bei ihm bleiben ... ich darf nicht von ihm gehen ... er sitzt da hinten und verläßt sich darauf, daß ich ihn nicht verlasse ...

»Ach-ach, Peter Romanowitsch!« flüsterte Bobr bebend, dort aus Iwans Ecke; die Augäpfel gelb und rot; mit den bloßen Zehen an dem Riemen des Gewehrs auf und nieder tastend, mit der rechten Hand vor sich hin grapsend. Sein weit geöffneter, sabbelnder Schlund sah aus wie eine ungeheure, bluttriefende Wunde zwischen den Schultern – »ich wi' hie' unten bleib'! Ich geh' hie' nich' weg!

Du sollst nich' ...

Du unte'stehst dich nich' un' sagst, daß ich hie' bin ...

Denk' da an ... hörst du ... denk' da an, was ich von di' weiß ...!

Von jener Nacht ... hörst du ... von jener Nacht ohn' Kopp ...«

Luschinskij fühlte, wie seine Knie spröde wurden und kalt wie Eis, sie zersplitterten. Es fiel eine Kälte durch sein Gehirn: was war das hier nur einmal! So war es also in der Tat Iwan, der da saß, das Gewehr zwischen seinen Knien, mit der schäumenden, roten Wunde des Halses ... wer sonst sollte wohl auch Bescheid wissen von jener Nacht ... ich habe es ja niemals an irgend jemand erzählt ...

Er knickte erbleichend vornüber im Bauch, bekam eine körnige und bittere Grütze durch die Gurgel hinauf, hatte nicht den Mut, nach da drüben hinüber in die Ecke zu sehen – wußte nur genau, in seinem Innern, wie es dort aussehen würde: Iwan! Ohn' Kopp ... Ja ...

Er entdeckte plötzlich, daß er den Türdrücker in der Hand hielt: ein Omen! Alles um ihn her wurde schwarz, Nacht, bullernd; meilenfern hing das Brüllen der Schlacht hinter ihm; er zerrte blindlings mit beiden Händen den Metallknopf, es gelang ihm die Tür zu öffnen, er schwankt hinaus, ja,

fort,

weg von hier,

Herr Jesus Christus ...

Aber ein paar Schritte hinter der Schwelle blieb er auf einmal stehen, jäh, den Nacken hintenüber, tief aufatmend, wild mit beiden Fäusten vor sich herfächelnd, mit den Augen zwinkernd: ohne den länglichen, großen Raum wieder erkennen zu können, in dem er doch so viele Stunden verbracht hatte: wie hellblau war alles hier drinnen, war es Wasser, oder Himmel, oder Rauch, mein Gott, was ist das für ein Spektakel da hinter mir, weit weg?

Er rieb die Augen gewaltsam, sie brannten; merkte selbst, daß er hustete und nieste – und wunderte sich einen Moment darüber, daß er den Laut davon gar nicht unterscheiden konnte, war er denn auf einmal taub geworden?

Dann sah er sich um, ganz verwirrt.

Durch die Länge der ganzen Batterie flossen Streifen von Pulverdampf, weißblau; sie segelten in Kissen unter der niedrigen, grauen Decke – wogten im Geräusch; sie wickelten sich spiralförmig um die runden, braunen Tragpfeiler hier und da – hin und wieder wurden sie flach geklemmt von dem Getöse. Mitten vor der Außenwand, links von ihm, hingen zwei schwere Splitternetze aus Tauwerk nieder, die hier nicht zu sein pflegten, zwischen den drei 7,5-Zentimeter, wo kamen die nur einmal her? – aber gleich darauf erkannte er sie sehr wohl wieder: er war ja selbst mit dabei gewesen, sie zu machen, gestern abend, hatte sie nur noch nicht in dieser grellen Beleuchtung gesehen: sie glichen ein paar gelblichen, geriefelten Portieren – und bargen die beiden entferntesten von den drei Kanonen seinen Blicken. Die Bedienung stürzte hin und her mit vollen Händen, die Oberkörper vornüber gebeugt, mit geschwärzten Gesichtern, die blauen Hemden flatterten in Fetzen hinter ihnen her. Oder sie erstarrten plötzlich, krumm, im Kreise um die Raperts: mein Gott, die Entfernung bis zum Feind kann ja noch gar nicht kurz genug sein, als daß auch dieses leichte Geschütz mit reden kann ... das ist ja unmöglich ... ja, aber warum sind denn so wenig Leute bei diesen Kanonen, wo sind die übrigen nur einmal? Herr Jesus, sind sie am Ende schon verwundet oder getötet, so viele ... nein, gewiß nicht, das kann nicht richtig sein: an dieser Stelle des Schiffes sind wir ja noch gar nicht getroffen ... Aber dann entdeckte er, da ganz vorne im Raum, in der am weitesten von ihm entfernten Ecke, hinter dem Abstieg in das untere Deck, da stand ja ein ganzer Haufe von Männern, wenigstens zwanzig, dicht in der Ecke zusammengestaut; ihre Gesichter sahen aus wie ein schmaler, bleicher, wagrechter Nebelstreif; sie rührten sich nicht; warum hingen ihre Arme so sonderbar schlaff herab; ein weißhaariger Bootsmann tanzte auf dem Fußboden vor ihnen, das Antlitz ihnen zugewendet, jetzt glänzte der Beschlag eines Revolvers grau in seiner rechten Hand, wer war er? Zwei jüngere Unteroffiziere standen daneben, glotzten die Gemeinen an, ohne eine Bewegung; der eine weinte, das runzlige Gesicht gerade aufwärts gerichtet; der Alte erhob im selben Augenblick die Rechte, es entflog ihr ein sonderbar stummer Blitz, feuerrot: einer von den Leuten strauchelte einen Schritt aus dem Haufen hervor, schlug mit den Armen um sich, Luschinskij sah in einem Nu einen dunklen Klecks mitten in seiner Stirn, dann fiel er glatt zu Boden, blieb unbeweglich liegen; der Mund des weinenden Unteroffiziers öffnete sich ganz weit, erstarrte zu einem runden, schwarzen Loch ... aber die andern rührten sich nicht, ihre fahlen Gesichter fuhren fort unveränderlich in der Luft zu hängen wie ein Streif aus Nebeln, und nun puffte eine Rauchwolke an ihren Bäuchen vorüber, was ging dort nur einmal vor sich, ich verstehe nicht recht, ich begreife es nicht ...

Rufe und Geschrei barsten überall hervor, der Raum erbebte davon, ein formidabler Trichter von Lärm.

Oben über dem Kopf hing das unaufhaltsame Mahlen der Kanonade.

Zermalmend – und in Rauch gehüllt.

Enorm.

Leute liefen an Peter Romanowitsch vorüber, pufften ihn einmal über das andere beiseite in der Fahrt, ohne zu sehen. Hört doch, Matrosen: begreift ihr denn nicht, daß ihr die Japaner noch gar nicht erreichen könnt, mit dem Geschütz ... aber sie stürzten taub weiter. Die langen, fettigen und geschwärzten Zündstöcke in den Händen. Oder mit den schwarzen, zylindrischen Blechbehältern für Pulver. Oder mit den silberweißen, spitzen Granaten, die geölt leuchteten. Man roch ihren Schweiß durch den bittern und wolligen Gestank des Schießens hindurch. Sie kapriolierten wunderlich auf ihren Standplätzen, sie schrien oder sangen. Der geriefelte, schenkeldicke Bodenklotz dahinten schimmerte auf einmal bleich, indem er aus dem hinteren Ende der Kanone herausgeschwungen wurde. Das scharfe Tageslicht schwirrte an der Mündung des braunen, dicken Rohres vorüber, fiel in zitternden, goldenen Strichen auf den Boden herab, legte eine blanke Stange von Bronze quer über die Nase und Wange des Matrosen, der das Geschoß in das dunkle Loch des geöffneten Mechanismus schob – aber da war nicht ein einziger weder von Verwundeten noch von Getöteten, hier war also faktisch noch niemand getroffen worden: schossen die Japaner etwa wie gewöhnlich erst auf das vordere Fahrzeug des Geschwaders, auf das Schiff des Admirals – ging es, mit andern Worten, vorläufig der »Knjàs Ssuworow« am schlimmsten? Also daher kam es, daß hier auf dieser Batterie noch keine Tote lagen ... aber warum hatten die Leute dort in der Ecke jetzt alle auf einmal ihren Kopf auf die Seite gelegt, und warum sperrten sie alle wie auf Kommando den Mund auf, lauschten sie etwa?

Ja, ja, nun begriff er es, nun hörte er es ja auch selbst: von der achteren Batterie, hinter ihm, unterschied er von neuem diese schrecklichen Schreie: Piih-ihih-jakrjakr ...; bàm-bumm, jetzt schoß eins der Kolosse im Turm wieder, und nun das andere, tàmmbam bàmm, ach Gott, wie erstickend schwer und heiß die Luft ist, mein Haar ist ganz naß ... und was ist doch das nur für ein sonderbares Knittern und Knallen da drüben, woher auch das Kreischen kommt, ist da Feuer, brennt es ... ja ... Er observierte plötzlich, in einem meilentiefen Sekundenloch von Stille, das prasselnde Plätschern von Wasserstrahlen gegen Flammen und Wände, nun ja, soll ich mitkämpfen, was ist das für ein Zittern, das wahnsinnig durch meine Brust geht, bin ich verrückt; soll ich nach dem Feuer laufen und dort helfen, oder zu Nakinskij, heilige Jungfrau, höre, höre: den flötenden Stock von Jammer da drau ...

Er bekam einen keuchenden Stoß mitten in den Rücken.

Er schrie.

Stürzte platt zu Boden, trundelte herum, sein Gesicht gab ein Gebrüll, er stieß wild mit den Füßen um sich, kam plötzlich mit einem Satz wieder auf die Beine: sah, daß zwei Matrosen gegen ihn gerannt waren, sie trugen jeder einen von den schwarzlackierten Blechbehältern mit Kardusen; der eine war schon aufgestanden und stürmte weiter; jetzt rappelte sich auch der andere wieder auf: es war ja der Gemeine 87, Foma! er platschte sich so sonderbar über die nasse Fratze, rief irgend etwas, das nicht aufgefaßt werden konnte, trabte strauchelnd von dannen zu seiner Kanone hin – ließ aber, zum Teufel auch, den Pulverbehälter liegen! Peter Romanowitsch drehte sich, ohne es recht zu wissen, nach ihm um – verfolgte ihn mit den Blicken bis ganz hin zu dem nächsten 7,5 Geschütz, wohin er gehörte; sah die andern Matrosen dort eine Granate in das offene Hinterstück schieben und dann schließen. Es war ihm, als höre er den kleinen, klingenden Metallton indem der Haken die Konsole losließ, gleich nachher den saugenden Laut der geölten Wände im Lauf, die den Schlußmechanismus in sich aufnahmen, und dann das Knacken des Schlosses: wie beliebt, weil Foma, das Rindvieh, seine Kardusen verloren hat, so vergessen auch die andern total Pulver hinter das Geschoß zu stecken, das ist eine funkelnagelneue Methode für hoffnungsloses Schießen, wo ist ihr Geschützbefehlshaber denn geblieben, ach Gott, jetzt entsinne ich mich auf einmal: das ist ja Gurukowitsch, derselbe, der dort in der Ecke steht, und seine Leute nicht zum Gehorsam bewegen kann, ach Jesus Maria, und mit solchen Soldaten sollen wir gegen Togo kämpfen!

Er tat ein paar Schritte auf die Kanone zu, schlug mit den Händen aus, stampfte verbittert auf den Fußboden – aber dann hatten sie dahinten das Zündrohr schon eingeführt, sie sprangen an ihren Platz im Rundkreis, zogen ab, es gab ein kurzes Zischen, als der Zündsatz abblitzte; aber sie rasten ungestört weiter, ohne auch nur zu bemerken, daß das Rohr gar nicht recyliert hatte; nun glotzten sie noch obendrein zur Geschützpforte hinaus, vermutlich, um zu »sehen, ob der Schuß getroffen habe«, verdammt und verflucht, die armen Bauernbengel, die niemals ordentlich gelernt haben, was Artillerie bedeutet!

Und da befiel Peter Romanowitsch ein naßkalt schweißiges Grausen.

Er begriff auf einmal das Ganze:

So also!

Hier wußte man ja faktisch weder aus noch ein!

Und dort in der Ecke stand der Rest der Bedienungsmannschaft und weigerte sich, ihre Schuldigkeit zu tun!

Man war vollständig verrückt und tot, von dem Warten und Haß und Jammer, von Qual und Zorn, von Mangel an Vertrauen, an Kenntnissen und an Glauben!

Ja, aber ist das denn nicht meine einzige Pflicht, trotz allem, dennoch augenblicklich hinzueilen und ihnen zu helfen, was schert es uns alle, daß ich von Iwan Befehl erhalten habe keine Hand zu rühren, jetzt gilt es für jeden einzelnen das Leben, ja, selbstredend, jetzt stürze ich dahin!

Aber da unterschied er plötzlich Weronoffs Stimme, wohl zwanzig Schritt weiter in den Raum hinein, hinter einer der Splitternetze, dort bei der mittleren der drei Kanonen: wie kommt der hierher? Hatte er ohne weiteres den Posten als Befehlshaber für die drei Stück Geschütze übernommen, wie? Oder hatte man geglaubt, daß Peter Romanowitsch getötet sei, sintemal er nicht angetreten war als das Signal pfiff – und nun hatte man Weronoff statt seiner hierher gesandt? Oder hatte man Luschinskij ganz einfach vergessen? Wie? Ja, ja, wie man wollte! Sehr wohl! Noch ein Fingerzeig mehr, daß ich selbst nicht kämpfen soll: und was bedeutet es übrigens schließlich, ob überhaupt kommandiert wird oder nicht, wenn die Leute so verrückt sind! da ist nichts zu machen, niemand kann hier helfen, wir sind längst verurteilt! Aber dir danke ich, Weronoff: du kämpfst mit Recht – denn so ist nun einmal dein lichtes und frohes Wesen, und sicherlich tust du es nicht um deines eigenen Lebens willen, sondern um das anderer! Aber ich fühle in mir nur Angst vor dem Töten, ein entsetzliches, unüberwindliches Grausen noch mehr zu morden als ich bereits getan habe – und deshalb muß ich, ohne mich zu rühren, warten, bis die Sache an mich kommt!

»Feuert!« rief der Sekondeleutnant unsichtbar, mit seiner klaren Stimme – Luschinskij lächelte einen Augenblick darüber.

Das Krachen sprang auf, rummelte herum, hämmerte gegen die Wände, die Decke; trampelte umher, klopfte einem oben auf den Schädel, fiel plötzlich zu Boden und entschwand, wo war es nur geblieben – aber neuer Lärm stampfte im selben Nu von allen Seiten herauf, die Luft zu Fetzen zerknallend.

Auch anderswo auf dem Schiff hatte das kleine Geschütz nun auch angefangen, loszupaffen – begriff Luschinskij: da hagelte ein unaufhörliches Schmettern herab, in den tiefen Schall der schweren Schüsse hinein, ein Läuten während Gewitters, nun ja, man war ergo dem Feind jetzt wirklich recht nahe, ein drei-, viertausend Meter, wann sind sie damit fertig, die »Ssuworow« in Splitter zu schießen, wann kommt die Reihe an uns?

Das Gebrüll der Flammen dort hinter ihm war stärker geworden als bisher; in einer blinkkurzen Pause hörte er es von neuem – aber gleich darauf ward dies Geräusch in dem unabläßlichen Knattern der Maschinenkanonen erstickt. Aber abgesehen hiervon und von dem Geschrei, war da im Grunde noch gar nichts so besonders Schlimmes hier auf dem Schiff, wie lange Zeit ist denn seit dem Anfang des Kampfes vergangen, höchstens zwanzig Minuten, ja laß mich einmal sehen: die Uhr ist jetzt halb drei! Jawohl, genau zweiundeinhalb, also nur 23 Minuten haben wir gekämpft, so weit ich mich entsinnen kann, aber weshalb sind denn alle Leute so verrückt?

Er versuchte zu lauschen, sich richtig umzusehen – merkte aber nur, daß alle Sinne merkwürdig zerschlagen waren; sie lagen wie ein weißes, trockenes Pulver in ihm, fein, weich, mehlig, hin und wieder in kleinen, bleichen Atemzügen aufstiebend, die einem im Gehirn weh taten und alle Schleimhäute ekelhaft eintrockneten; man war taub und blind und stumm, es wurde einem grauenvoll ängstlich dabei.

Erschreckt suchte er ein paar Schritte vorwärts zu machen, blieb aber verwirrt stehen: ging er in Quicksand, auf einem Federbett, waren seine Beine auf einmal wollig geworden, schliefen sie entsetzlich, war er im Rückgrat getroffen worden?

Oben über dem Schädel hingen einem allerwelt Kirchenglocken bimmelnd, hört auf, hört doch auf zum Teufel auch, ich werde toll, haltet doch die Schlägel still, in Satans Namen! banng-banng-nng, ach, es tut so weh in meinem Nacken!

Da stand ein Mann dicht neben ihm zur Rechten, die Arme um einen Deckenpfeiler geschlungen; seine Schultern hüpften sonderbar. Peter Romanowitsch tat einen Schritt vor auf seinen Gummifüßen, konnte trotzdem nicht unterscheiden, ob der Mensch dort lachte oder weinte; beugte sich deshalb in einem Knick noch näher vor, piekste ihn mit einem außerordentlich langen Finger, einem Meter, an den Hals:

»Sagen Sie mir!« schrie er, ohne es hören zu können.

Der Bursche erhob das Gesicht: es war Mugin, hol' mich der Deubel, er weinte laut, das Gesicht naß und runzelig, die Unterlippe vor: eine Schublade, sabbelnd; Rauch fuhr in einem dünnen Schleier durch sein Haar, brannte er denn?

»Hören Sie!« brüllte Luschinskij, indem er sich beide Daumen in die Ohren steckte; er erinnerte sich plötzlich der Äußerung des Reservearztes von übernacht, daß das Lazarett der einzige sichere Ort sei – und begriff daher, daß der arme Tropf offenbar kommandiert war, hier draußen auf der Batterie Dienst zu tun, deswegen flennte er! Peter Romanowitsch beschloß, ihn zu ermuntern mit ein wenig von der fröhlichen Weisheit, zu der er selbst kürzlich in seiner Kammer gelangt war: zum Beispiel, daß es an und für sich nicht das Geringste ausmachte, ob man tapfer war, oder feige, ob man weinte oder greinte, das Leben hat nämlich Verwendung für beides, nichts kann entbehrt werden, trösten Sie sich damit ...

Aber dann wälzten die Schüsse krachend von neuem herab: sie knallten ihm den Kopf ab mit Raballer, stießen ihn herum über Fußboden und Decken, pflanzten ihn mit einem Quatsch wieder auf seinen Hals, walzten eisenhart in seinem Gehirn herum, warfen Wackensteine in seinen Nacken nieder.

Der Rauch biß.

Ein Donner stand mitten im Raum und gongte unaufhaltsam.

Die roten Blitze krochen schwefelnd hier und da hervor, aus Wolken von Weiß. Sie schössen blutig nach rechts und links.

Ein Unteroffizier hatte sich auf einmal vor Luschinskij angebracht. Mit beiden Armen wirbelnd. Es puffte ein heller Dampf ununterbrochen an seinem Knie vorüber, stand er auf einem Schuß? Er rief offenbar irgend etwas, es war indessen total nicht zu verstehen – aber dahingegen hatte er zwei kohlschwarze Backenzähne tief hinten an der linken Seite des Unterkie ...

Peter Romanowitsch bekam einen erstickenden Gestank in seine Nase hinein, übersüß und herbe; er wich einen Schritt zurück, blinzelnd – und entdeckte im selben Augenblick, daß da eine merkwürdige, hellbraune Lache unten auf dem Fußboden neben dem rechten Absatz des Mannes zurückgeblieben war, lief da etwas Entsetzliches aus seinem Hosenbein heraus, waren seine Eingeweide kaput geschossen?

»... Order ... kommandieren ...« hörte er gleichzeitig.

Er begriff, daß der Unteroffizier zornig über irgend etwas war, aber was war das Bräunliche da unten, eine gelbliche Suppe ... verlangte er etwa, daß man kommandieren sollte, Herrgott, Weronoff hatte ja das Komman ... und was bedeutete es, im Grunde, ob da überhaupt etwas befohlen wurde oder nicht, unter Verhältnissen, wie die ...

Luschinskij streckte also seine Hand aus, zeigte auf den Stiefelabsatz des andern nieder und wollte eben fragen: Sagen Sie mir, Gurukowitsch, mein Gott, was ist das für eine grauenvolle Diarrhoe, die da liegt – schwieg aber plötzlich, sonderbar geniert, ohne zu wissen warum, verwirrt, während ihm das Herz gegen die Kehle pochte.

Und im selben Moment wurde die Luft ellendick, ein Wall, ein Berg.

Ein blutrotes Feuer, ein kilometergroßes Krachen klatschte aus dem Fußboden auf, irgendwo hinter dem Unteroffizier.

Es zischte vorüber, schrammte hart gegen alle Ecken, Peter Romanowitsch bekam einen singenden Schlag in seine Schläfe – heiß, ein Amboß. Er schmiß die Arme vor, taumelte hintenüber, fiel, die Fußbodenplanken schlugen ungeheuer gegen seinen Nacken an. Er hieb blitzschnell die Hände nieder, war plötzlich wieder auf den Beinen, stöhnend, schlingernd.

Es flog ohrenzerreißend eine Schar von Geheulen durch den Raum, überall um ihn her, hoch oben über den Erzplatten des Dröhnens.

Piih-ihih-jakr jakr jakr, sägte es durch sein Gehirn.

Seine Augen waren voll von Rauch, er tat einige Schritte rückwärts, tastete mit den Fäusten im Gesicht herum und rieb drauf los – blinzelnd. Das linke Augenlid klebte, feucht, brennend, wog hundert Pfund. Er hustete wild, krra-u, krrra-a-u, sah darauf wieder rund herum, den Hals unerhört zusammengeschnürt, halb erstickt, krächzend infolge eines betäubenden Gestanks von Schwefel, verbrannter Wolle, faulen Eiern, Asche auf Wasser.

Vorne links, ungefähr zwanzig Ellen von ihm entfernt, war eine gewaltige, hellblaue, gezackte Pforte in der Schiffswand geworden; die zerrissene Kante des schweren Panzers schien silbern, gelbe Holzsplitter stachen heraus, das Tageslicht knallte blendend-weißlich herein; der Pulverdampf flatterte dadurch hinaus wie weiße Gardinen im Zugwinde. Fern da draußen in Sonne und in feiner blaßlila Nebel waren einige helle Kissen, die über ein himmelfarbenes Meer trieben, längs einer unendlichen Reihe von mächtigen, grauen Schiffen mit Schaum um den Bug: sie sahen aus, als habe ihr Kurs dieselbe Richtung wie wir, aber es waren ja Japaner, gingen sie denn Seite an Seite mit uns und schossen uns in Stücke? ... der Steven eines großen schwarzen Fahrzeuges tauchte einen Nu auf, ganz dicht vor der Öffnung, nur ein paar hundert Meter entfernt, den Feind vor seinem Blick verbergend, auf- und niederstampfend, merkwürdig schwer, vornübergebeugt: war das nicht »Alexander III.«, ja, nun hatte also auch der sein Teil bekommen, hatte Togo deswegen angefangen jetzt den Kasten hier wieder zu beschießen? ... es war einen Augenblick totenstill rings um ihn her, so schien es ihm – oder war er wirklich auf einmal taub geworden. Drei von den Deckenpfeilern dicht neben ihm waren durchgeschlagen, die Splitter hingen ganz gekrümmt und schwarz gebrannt, mit blanken Punkten im Bruch, alle Farbe war weggebrannt – aber wo waren die Überreste von ihnen geblieben, vollständig verschwunden, waren sie weggeschmolzen? war die Hitze der Explosion so gewaltsam? Und alle die Leute, die da hinten in der Ecke gestanden hatten, vor denen Gurukowitsch getanzt hatte ... Jesus, ich will nicht mehr dahin sehen, ach heiliger Georg, ist das alles, was von zwanzig Mann übrig ist! Ach, Herr im Himmel, nie hab' ich geträumt, daß eine einzelne Granate soviel Unheil anrichten könne, was sind das für Sprengstoffe, die sie da drüben gebrauchen, sie zermalmen und zerreißen und verbrennen uns ganz!

Gerade vor seinen Füßen lag ein wunderlich zusammengewühlter Haufen, tuchblau, glührot.

Er beugte sich nieder, plötzlich schluchzend, lallend, während ihm Wasser aus den Augen stürzte – und berührte, mit dem Finger, zuerst das Marinefarbene: das war schlüpfrig. Dann das andere: das war warm und glatt, es schmatzte schauerlich unter seinen Nagel hinein:

»Gurukowitsch!« flüsterte er, hichsend; richtete sich dann wieder auf, mit zusammengezogenen Brauen, die zitterten, und mußte schnauben. Er fühlte seine Wangen, die sich klatschnaß unter seinen Gaumen einsogen: mein Gott, mein Gott, ging es hier so zu, dies alles hier rings umher – und man selbst war ja auch getroffen, hier oben in der Stirn irgendwo war man getroffen worden, da war etwas Lauwarmes, das von dort herabtropfte, aber warum war man dann nicht lieber gleich totgeschlagen, sage mir, warum bin ich nicht auch selbst ... ja ... ist es denn ... ist es also Iwan, der mich noch aufspart, um mich selbst töten zu können, wann es ihm paßt ...

Er führte, auf einmal stöhnend, die Hand zu seiner linken Schläfe hinauf, das tat so weh, saß da ein ungeheurer, glühender Eisensplitter, eine Brisanzgranate; sollte er schreien und sterben binnen kurzem; einige Fetzen hingen von da oben herunter, und etwas Warmes und Weiches trieb ihm nun ganz in den Ärmel hinab und gleichzeitig merkte er, daß sich das Schiff anders als sonst unter seinen Fußsohlen bewegte, schwerer, war es vielleicht auch verwundet, ja, fühle nur, das Deck neigt sich ja, sind wir unter das Wasserlinie getroffen, braust das Meer da unten, unter mir herein?

Und von neuem vermochte sein Ohr, für einen Moment, das unaufhörliche zermalmende Bombardement um ihn her zu unterscheiden.

Die gewaltigen Kanonenschläge fielen krachend auf ihn nieder, in Scharen, in Schichten.

Die Schreie flogen pfriemspitz in die Höhe.

Piih-jakrjakr.

Ach, war das eine entsetzlich gezackte Klinge von Stahl, die durch sein Gehirn sang, eine Rundsäge! Herr, mein Christus, geht es so zu im Kriege: Dutzende von Menschen, die zu einem blutroten Mus zermalmt werden durch einen einzigen Schuß, und Hunderte, die unablässig dem gräßlichen Tod entgegenkrähen – all dem beißenden Blei und Pulver, das tief in ihnen wühlt mit Nägeln von Eisen und Grauen. Hilfe. Laßt mich bald frei sein. Iwan. Ich kann es nicht aushalten. Ich ersticke, meine Lungen bubbeln kaput ...

Er machte Kehrt mit einem Krabbensprung und wollte von hier wegstürzen, hinaus nach dem Feuer, das da achtern girrte, er wollte mit Wasser in Berührung kommen, mit freier Luft, mit Himmel, er wollte etwas zu trinken haben, er war nahe daran, vor Durst zu sterben, er wollte hinaus zu Nakinskij!

Vier Mann rannten gegen ihn an – und mußten infolgedessen Halt machen.

Sie schleppten etwas zwischen sich.

Luschinskij beugte sich zähneklappernd darüber nieder, die Stirn bis an den Schädel in die Höhe gezogen, wahnsinnig. Es war Premierleutnant Starck, den sie trugen. Seine Brust war ganz eingeschlagen, eine purpurfarbene Bütte mit Splittern; die Uniform zerrissen und feucht; die Rippen und Brustknochen staken zertrümmert daraus hervor, zerfasert, weiße Spleiße.

»Ja!« stammelte Peter Romanowitsch plötzlich, hintenüberschwankend, die Mundhöhle voll von Galle und Brechels, kauend, der Nacken flach von Lärm – »Starck!«

Er lehnte sich auf einmal vor, ganz hinab zu dem leise rauchenden Loch in des Oberleutnants Busen, schaudernd, mit geschlossenen Augen. Er fühlte, wie sein Gesicht warm betaut wurde, von dem blutroten Dampf aus der Wunde:

»Hörst du, was ich sage!« flüsterte er, ohne selbst von seinen Worten zu wissen – »hörst du, Starck, vergiß, was ich dir über nacht Böses gesagt habe – von ihr, du weißt ja! Es war das verkehrte Ich, das damals sprach: Ich meinte es nicht!

Hörst du, auch ich werde bald heimkehren zu meiner Geliebten!

Wollen wir zusammen gehen, du und ich?!

Wir sehen uns, ja, ja!

Lebe wohl!«

Sein Herz weitete sich aus mit einem Sprung. Sein Kopf ward von Eis, dünne, so mürbe, mit Rissen. Das Blut schneite erbleichend hinab durch seine Glieder. Sein Mark ward Frost. Mein Gott, mein Gott, Starck. Eudoxia. Iwan. Ich kann es ja nicht mehr aushalten ...

Vom Deck da oben donnerte eine Lawine herab, ein Erdbeben: waren es die Schornsteine, die zusammenstürzten, war der Panzerturm auf einmal gesprengt?

Hinter ihm explodierte das Gekrach von noch einem Treffer.

Der Raum ward eine einzige, berghohe Kanonade, ein Katarakt von Alarm.

Und mitten darin sprang das Geheul in die Höhe – war es ein blendendweißer Drachen hoch oben in der Luft, der verrückte Purzelbäume schlug, rasend an dem blanken Haken rüttelte, mit dem seine Schnur einem in den Schläfen befestigt war.

Er schlug seine Zähne mit einem Knack zusammen, stieß einen bellenden Laut aus, klemmte die Augen zusammen, preßte das Kinn gegen die Brust.

Piih-jakrjakr: war da wirklich ein glänzender Meißel zwischen den Knochen seines Schädels hineingetrieben, oder ragte eine wahnsinnig lange, glatte, schimmernde Eisenstange, unter Hammerschlägen bammelnd, aus der Mitte seiner Stirn heraus ...

Er schwenkte die Arme über dem Kopf, konnte nicht mehr, er schrie – ein gellendes Geheul, das fortfuhr aus seinen Ohren herauszuschnellen. Sein Nacken fiel hintenüber. Er wollte etwas tun, umherlaufen wie ein Verrückter, rufen, an einer Kanone zerren, wo sollte er nur hingaloppieren, ich will schießen, fechten, heulen, ich will irgendeinen totschlagen, ich will tausend Feinde töten, ich will Frieden haben, kommt hierher, Hilfe, ich will fort, ich will weg, nehmt euch in acht, ich will auf der Stelle sterben ...

Da ward alles von einem monumentalen Raballer zerschmettert, Gaurisankar – Paläste, die zu Splittern zertrümmerten.

Ein meilenbreites Feld aus Feuer flammte auf.

Piih-jakr.

Die ganze Mannschaft bei der mittleren Kanone wurde weggespritzt, Leiber und Glieder stoben umher.

Das Stahlrohr selbst rutschte donnernd von der Lafette herunter, ein ungeheures, dunkelbraunes Tier, zerquetschend – Arme und Beine ragten darunter hervor mit rotem Aufspritzen. Der Schrei spaltete die Luft mit einem Schlachtschwert. Der Shimosegestank brach erstickend hervor, ein Morast.

Peter Romanowitsch Luschinskij sank vollständig zusammen, inwendig in sich.

Der Blutgeruch versetzte ihm einen teuflischen Stoß unter der Weste.

Er brach mittendurch, vornüberfallend:

Ö-ö ...

Aber brüllend krepierte noch eine Granate, da hinter ihm.

Er drehte verwirrt den Kopf dahin um, greinend vor Ratlosigkeit: in der Nähe seiner Kammer war sie explodiert, heiliger Wlasz: sollte Bobr etwa ...

Er machte ein paar schlingernde Polkaschritte vorwärts, wollte hin und durch die Türe hineingucken. Aber dann wurde der Rauch auf einmal weggefegt: er sah, daß die ganze Wand da hinein weg war, der Diwan da drinnen war zertrümmert, und da, auf dem Stuhl ...

Sein Herz riß ihm die Brust mit einem Geheul auf:

Denn da!

Da drinnen, auf dem festgeschrobenen Stuhl in seiner Kammer, ké ... é ...

Das Gewehr zwischen seinen Beinen, da saß ...

Ja ...

Ja!

Iwan! Ja, zurückgelehnt, ohne Kopf, der hochrote Hals eine wuchernde Zündrute, ach Gott, die Mikrobe, er tötet mich, Hilfe, Hilll ...

Er machte kehrt, ohne es zu ahnen und lief, strauchelnd, puffend, heulend, an die Leiter, die zum obersten Deck führte, fort, weg, von dannen, ja, es nie mehr sehen, weg, vo' danne' ...

Piih-jakrjakr. Die Luft schleimte blau mit rotem Feuer. Banng-bang. Piihihih-jakrjakr.

Auf Händen und Knien tastete er sich die Sprossen hinauf, schluchzend, wild, während ihm das Wasser aus dem Munde trieb. Die Granaten schleuderten ihren Bergrutsch umher gegen Fußboden und Decke. Die Schreie warfen sich meilenweit von hoch oben hinunter auf ihn nieder, sausend, stahlschimmernd, messerscharfe Klingen. Sein Herz funkelte sich kreischend aus seinem Busen heraus. Seine Lungen wurden in Fetzen zerrissen. Sein Inneres röchelte entsetzlich durch seine Kehle hinaus ...

Auf Deck, gerade über dem Rande der Luke, lagen zwei lange, dunkle Uniformen mit feurigen Flecken hier und da – oben übereinander. Luschinskij häkelte den Fuß auf den oberen von ihnen hinauf, und wollte weiter.

Da brannte eine Glut, ein glühender Stich durch sein rechtes Bein.

Er sah nieder mit einem Ruck, keuchend:

Der eine von den beiden hatte ein kreideweißes Gesicht erhoben, die Zähne in das Bein hineinhauend, das auf seinen Bauch trat.

Peter Romanowitsch stieß einen Schrei aus, umklammerte mit beiden Fäusten das Geländer um die Öffnung, hob den andern Fuß in die Höhe und trat zu und nieder, um den Biß von sich abzuschaben, ohne sich in seiner Flucht hemmen zu lassen, was war es doch was da an ihm festhing, fort, in einer Fahrt, weg.

Er fühlte seinen Absatz rutschen, auf etwas Weichem, das zerplatzte – und dann stieß er, hakk, gegen etwas Hartes.

Er sah zwinkernd nieder, schwankend: erblickte die Zahnreihe im Munde da unten, sie war plötzlich klatschnaß und rot.

Es zuckte blutig auf in seinem Gehirn, und dann schrie er wieder: war das nich' ... ja, ja ... kannte er nicht das Gesicht da unten ... war das nicht Graf Pr...

Er taumelte einen Schritt vorwärts, röchelnd, warf den Kopf hintenüber. Sah auf einmal, wie die Sonne golden schien. Sah das blaugrüne Meer nach allen Seiten schimmern, mit hohen Säulen von Silber oder Glas. Da vorne vor ihm eine Menge von den Schiffen des Geschwaders, sonderbar umkreist von weißen, runden Wolken. Kohlschwarze Pfeiler aus Rauch stiegen aus ihnen allen auf.

Des Schlachtenlärms Posaunen standen brüllend in seinem Nacken ...

Dann knickte er jäh seitwärts nach links hinüber, auf einmal:

Denn polternd schlug eine Granate in das Vorderdeck ein, draußen, rechts von ihm.

Donnernd erhob sich der graue Kuppelturm der Explosion aus Rauch. Kupferrot flammte ein gigantisches Tor von Feuer mitten darin. Und daraus heraus stürmte mit Gekrache eine Horde von Stahlklumpen.

Er spürte einen glühenden Brand in der ganzen Seite des Körpers, die dahin wendete.

Unterschied ein klaftergroßes Loch im Deck dort, Flammen knallten hoch auf.

Er ward eingehüllt in einen gelblichen, stinkenden Dampf, der ihm mit einem Stich durch Nase und Hals fuhr. Eine Lanze stürzte grauenvoll durch seine Lungen.

Er sauste wackelnd seine Arme nach den Seiten hinaus: sie gelangten starr vor Kälte zum Himmel hinauf, fegten eiskalt und wollig durch die Wolken.

»Iwan!« hörte er, das er selbst sagte ... und dann erschien es ihm, als beulten sich die Planken haarig und daunig nach oben; sie legten sich vorsichtig an seinen Bauch entlang, klemmten sich ihm in die Brust – und kniffen ihn ins Kinn, das warm und naß davon wurde.

Alles Licht brach weg, es ward pechdunkel rings um ihn her.

Stumm und schwarz.

Nacht ...


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