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Tag für Tag – während das Geschwader sich langsamerweise gen Süden hindurchsengte, über den glühenden Atlant, diesen unendlichen Ozean, der überall ewig gleich war: so daß man jeden Morgen gleichsam genau an demselben Platz erwachte, wo man gestern abend bewußtlos in Schlaf versunken war: eingeschlossen zwischen präzise denselben dunstgestreiften und bleischweren Horizonten, von gewissenhaft denselben, stumm kochenden Wogen gerollt –
Woche für Woche – während die Zeit, taumelnd wie ein Tier unter dem Sonnenstich, sich nach und nach durch einen hindurchfraß, alles verzehrend, was dahinter lag, so daß man Stück für Stück jede kleinste Kleinigkeit daheim vergaß, sowohl die kreideweißen und geschwollenen Hände der Exzellenz, als auch Eudoxias vollen Busen, und allmählich ein Gefühl bekam, als sei man sein ganzes Leben hindurch nur auf dieser einen Fahrt gewesen; oder als habe man seine bisherigen Inwendigkeiten völlig aufgebraucht in der Nacht bei den Doggerbanks, oder während der Moskitotage und -nächte auf der Reede Dakars, oder während der Affäre in der Fischbucht – wo die ganze Armada, als sei sie ein pestgefülltes Schweineschiff, von einem einzigen, gelben und schwadronierenden Torpedoboot vom portugiesischen Terrain verjagt worden war – oder unter der Sonnenbrunst gestern; schließlich konnte man eigentlich nur noch an die Dinge denken, die vielleicht morgen geschehen würden, oder an das, was möglicherweise übermorgen eintreffen konnte:
Auf diese Weise hatte Luschinskij, chemisch frei von jeglicher Vergangenheit – und damit von allen Verpflichtungen – das Dasein auf jedem Felde, während dieser Periode der Fahrt, genossen.
Selbst die Elemente hatten bisher die Sache sanft angehen lassen. Wind und See hatten sich rings um die Armada herum in der größten und schwärendsten Stille verhalten, von den blauen Wässern des Mittelmeeres bis hinab längs der unendlichen und gelben Küsten des schwarzen Festlands –: Eine an sich äußerst angenehme Tatsache, die obendrein voraussichtlich bald in einen abwechslungsvollen Gegensatz umschlagen würde, wenn jetzt die Regenzeit einsetzte – sagte der erste Maschinenmeister, Herr Nakhimoff, jeden Tag unten beim Morgentee, wo er, wie gewöhnlich, alle zehn Finger wie einen bleichfetten Kamm in den großen Bart hineingebohrt, dasaß, dieser Kauffartei- und Frachtonkel, der er war! –
Um die Mitte des Dezember, weder mehr noch weniger als zwei Monate nach der Abreise von Libau, passierte dann die Flotte die Südspitze Afrikas und bog darauf wieder gen Norden hinauf an der Ostseite des Kontinents entlang.
Schon allein dies empfanden sie alle zusammen als das schlimmste und weitgehendste Omen: als ob sie, gerade durch diese eine Kursänderung, die den Schiffssteven fast direkt nach der Heimat zeigen ließ, plötzlich und zum ersten Male Rußland gänzlich außer Sicht verloren hätten – oder als ob die Erde daheim auf einmal den Sinn geändert habe und ihnen jetzt den Rücken, Gleichgültigkeit und Vergessen zukehrte!
»Beachten sie folgendes, meine Herren!« sagte Dr. Nakinskij, in bezug auf dies Thema; er stand da und tastete mit seinen hellblauen Händen in die Schwüle hinein. »Ich bin selbstredend keine Spur von abergläubisch, nicht wahr, obwohl ich Schiffsarzt bin. Aber ich kann zufälligerweise buchstabieren und addieren – in mehr als einer Sprache!
Und daher fordere ich Sie auf, sich zu notieren, was ich sage: daß wir jetzt in diesen Tagen ›die gute Hoffnung‹ passiert haben!
Hahaha!
Jawohl!
Das ist natürlich zum Lachen – und Sie hören ja auch mein Gelächter!
Ganz gewiß!
Aber trotz allem gebe ich es Ihnen also anheim, sich meiner Worte zu erinnern: die gute Hoffnung liegt längst hinter uns! Aus den Augen – aus dem Sinn! In diesem Zusammenhang wird es Sie vielleicht interessieren, daran zu denken: daß es zirka 1000 Meilen von hier und bis nach St. Petersburg sind! Hahaha! Ich hoffe, die Herren verstehen meinen Witz!«
Zu diesem Zeitpunkt erwies es sich außerdem, daß Herrn Nakhimoffs zivilistische Erfahrungen in bezug auf das Wetter nun doch völlig korrekt gewesen waren. Luft wie Wasser ergossen sich aufs Reichlichste, in Stürmen wie in Schauern, so daß man fast vierzehn Tage gebrauchte, um bis Sainte Marie an der Ostseite von Madagaskar zu gelangen: am Morgen des vorletzten Dezember sahen sie die kleine Blech- und Holzstadt da drinnen auf der sauren Marschinsel liegen, halbwegs versteckt hinter dem weißen Wellengischt der donnernden Brandung, wo die Regenbogen, rote und blaue, unaufhörlich von links nach rechts liefen, so daß einem bei dem Anblick total schwindlig wurde.
Und dann begann also die zähe und unfaßliche Wartezeit um die nördlichen Ufer der Insel herum.
Diese jahrelange Stillstandsperiode, in einem fiebergeschwängerten Orkan- und Wasserklima, wo die Luft, die man einsog, wie Geschwüre war: abwechselnd entweder stinkend und übersüß von Sonne, oder schwammigfeucht und schleimverdorben von den gewöhnlichen sechsstündigen Regengüssen. Diese Lebensalterwochen bei Nosi Bé, Diego Suarez, Majunga oder anderen französischen Malaria- und Dysenteriehäfen. Diese Nervenmonate, wo man zu Anfang – seiner bisherigen Amüsements: dem Greinen in der Messe und dem Zähnefletschen den Leuten gegenüber, längst bis zum Übelwerden überdrüssig – noch nichts Neues erfunden hatte, womit man sich verlustieren konnte (es seien denn diese tropischen Krankheiten, die hier unten die Landatmosphäre anfüllten, wie, nicht wahr, haha), wo man dahingegen aber wieder gezwungen wurde, alle Kräfte zu Übungen anzuwenden.
Diese Bagatellen zusammen zeitigten dann, nach und nach, einige Ereignisse, die schließlich die Füße und die Knie unter Luschinskij und seinen Kameraden wegschlugen. – – –
In erster Linie war da der Umstand, daß es ihnen in dieser Zeit endlich vollständig klar geworden war: daß es selbstverständlich eine ganz ordinäre Unwahrheit, eine gemeine Lockspeise gewesen – als man ihnen in alten Zeiten erzählte und einprägte, diese Flotte sei nur eine Demonstration, nur eine Spiegelfechterei und eine Lustfahrt!
Sicher waren das Lügen!
Sie sollten wirklich hinüber, um zu kämpfen!
Selbst die Langsamkeit, mit der sich das Geschwader über den Atlantischen Ozean vorwärts bewegt hatte – und nun auch die Wochen, die es hier bei Madagaskar verzettelte: alles das, was man bisher ganz natürlich als unumstößliche Beweise dafür angesehen hatte, daß die ganze Fahrt wirklich nur eine Scheinaffäre war: denn warum beeilte man sich sonst nicht? Port Arthur jammerte ja mehr und mehr mit jedem Tage, der verging? Und die Japaner benutzten jede Minute, um sich noch fester zu beißen, als bisher, sowohl zu Lande als zur See!
Alle die Räsonnements also, auf die man bisher seine ganze Errettung und sein Leben aufgebaut hatte: die bewiesen jetzt, ganz im Gegenteil, daß man gerade kämpfen sollte! Gewiß! Daheim in Rußland benutzten sie nämlich diese Wartezeit, um noch eine unmögliche und tierische Armada auszurüsten, die in zwei oder drei Monaten mit dieser hier vereint werden sollte!
Freilich sollte man hinüber um Bataillen zu liefern.
Das sollte man wirklich!
Jawohl, mit diesen Schiffen, deren Böden bereits mit ganzen Inseln von Tang, Muscheln und Seegras bewachsen waren, so daß sie wie Prähme durch das Wasser gingen: aber nicht ein einziges Dock war da unterwegs, wo man die Fahrzeuge abschalen lassen konnte, ehe die Schlacht stattfinden sollte! Schwer und tot wie ein Klotz sollte man, mit anderen Worten, liegen und sich von allen Seiten beschießen lassen, wenn der behende Togo herankam!
Mit den Japanern sollten sie sich beißen; mit diesen kalten und katzengeborenen Feinden, die nie zu fassen waren – die aber beständig draußen am Horizont drohten, wie ein kohlschwarzes Gewitter über ihnen hingen, und ihre Hände und Herzen in Stücke erbeben machten, vor zitternder Sehnsucht endlich drauf loszuschlagen, sich aufzubrauchen, dem Ganzen ein Ende zu machen!
Ja!
Man sollte wirklich Krieg führen!
Mit diesen Matrosen und Unteroffizieren, die man (wenn man sich von Frau Frankreich endlich Erlaubnis erbeten und erbettelt hatte, ein paar Tage vor irgendeinem ihrer elenden Malheurhäfen hier unten liegen zu dürfen) doch nie wagte, an Land gehen zu lassen: weil man aus bitterer Erfahrung wußte, daß sie selbstverständlich nicht mehr an Bord zurückkamen! Diese Mannschaft, die mit Augen wie Torpedos umherschlich, so daß man zuweilen kaum wagte, sie zu kommandieren, geschweige denn, sie auszuschelten – wenn man nicht gerade selber siedend kochte, was man doch, Gott sei Dank, häufiger und häufiger tat.
Ja, schön! Mit dieser ganzen verpesteten und stinkenden Armada sollte man kämpfen: obendrein gegen Togo, diesen eisklaren und geschmeidigen Tigerfeind, diesen Ferntöter, der durch alle die Gerüchte, die er in Umlauf zu setzen wußte, gleichsam schon jetzt von ihren Kräften fraß, ohne selbst auch nur seine Zähne zu riskieren! –
Die ganzen Tage hindurch wurden von neuem die ewigen Übungen abgehalten.
Entweder in Sonnenflammen, die einen die eigene Stimme dumpf, steigend und fallend, hören machten – als komme sie unter irgendeinem wiegenden Schwindel oben im Kopfe heraus. Oder während der unermeßlichen Wolkengüsse, die, sozusagen, das Meer abwechselnd in die Höhe hoben und es darauf wieder herunterklatschen ließen: so dicht und steif, daß man nicht wußte, ob es überhaupt Ozean war oder Atmosphäre, das, worin man fuhr; Gewitter- und Sturmschauer, die einen in zehn Minuten taub und blind machten, ließen das Schiff von einem Ende zum anderen rasseln, und füllten es, füllten einem die Kleider und die Möbel und die Nase mit winzig kleinen, grauen und schleimigen Schimmelhaaren.
Unablässig inspizierten der Admiral, die Divisionschefs und die Kommandeure – alle schwelgend in Wut, um ihre Unaufgelegtheit zu bemänteln; in beständigem Herumtoben gehalten, teils durch alle die Gerüchte über die Nähe der Japaner und teils durch die endlosen Orders von Daheim: und folglich war da nicht der geringste Ausweg, sich ein wenig zu decken und ein bißchen an seinen Kräften zu sparen ... außer der matten Revanche seine Beißgerätschaften im stillen zu wetzen, bis sich die Gaumen anfühlten, als seien sie mit Skorbut geschlagen.
»Mehr Dienst!« schrie Roschdjèstwenskij in einem jeden seiner Tagesbefehle: noch mehr Dienst, verdammt und verflucht, meine Herren Kommandanten! Vielleicht ist der Feind uns ganz nahe! Das Gerücht gebietet ... und Seine Majestät der Kaiser befiehlt ... und die Situation erfordert ... Benutzen Sie also die Zeit! Mehr Dienst!
Und dann ging es wie ein langer Ochsenchor die ganze Reihe der unteren Befehlshaber hinab: Mehr Übungen! Und noch ein klein wenig mehr Übungen! Schießfertigkeit und Disziplin! Unterricht und Exerzieren! Navigation und Turnen, halten Sie die Leute und sich selbst zum Feuer, meine Herren Leutnants! ...
Stunde für Stunde stand man folglich jeden Tag unter dem Infanteriedienst und wiederholte einmal über das andere diese zusammengerechnet vielleicht dreißig Worte, die die Kommandos zu sämtlichen Gewehrgriffen bildeten:
»Gewehr in Ruhe! – Gewehr ab! – Präsentiert das Gewehr! – Zwei Schuß! – Laden! – Entladen!« Diese fünfzig gemeinen und unverständlichen Schreie, die man so unzähligemal in seinem Mund gehabt hatte, daß man sie schließlich ausspie, daß einem übel wurde, wenn man sie nur aus dem Halse zwischen den Lippen hindurch passieren lassen sollte.
Man stand – die Hitze wie ein Bleikissen auf den Schultern; oder feucht und kellerartig vom Regen – vierteltagelang an einen und denselben Fleck gebunden, bis man in den Knien ein Gefühl hatte, als seien sie schließlich von den zitternden Maschinenrotationen da unten aus den Kasematten angesteckt worden; und bis die Füße verschwollen und gefühllos wie Gummi wurden.
Oder es war Geschützexerzieren – aber, wohl zu beachten, fast immer ohne wirkliches Schießen: weil an den Geschützrohren und an Munition gespart werden sollte.
Man war da unten in seiner Batterie aufgestellt, stundenlang, oben auf dem Kopf schwitzend – entweder vor Schwüle oder infolge des Regengeprassels gegen das Deck über einem – glotzte töricht und violett diese Matrosen an, die umherschwankten, neun Mann bei jeder Kanone:
Sie taten so, als steckten sie eine Kartusche in das Rohr: mit der Naht voran, zum Teufel auch, Ihr Rindviecher!
Sie hoben ein Geschoß an das Hinterstück des Geschützes hinauf, ließen es gleichsam an dem Verschluß schnüffeln und legten es dann wieder auf den Boden, taten aber, als sei es hineingesteckt.
Sie setzten ein leeres, idiotisches, blankgeschlissenes Zündrohr ein, zogen an der Schnur (die Hand am Knie, verdammt und verflucht, du willst es also nicht behalten, 97? Zwei Tage Arrest, mein Freund, für diese Aufsätzigkeit!) und taten so, als ginge der Schuß los!
Jawohl!
Siebenfach engelsgleich!
Diese ganze Schinderei – ohne auch nur die geringe Ausbeute zu erlangen, die einem das wirkliche Schießen doch gewährte: daß sämtliche Nerven interimistisch zusammengerissen wurden, daß sie beim Knall und beim Feuer das Maul hielten mit all ihrem Geträtsch! ...
Gewiß: Tag für Tag mußte man sich auf diese Weise abschinden, um jeden einzelnen Mann im Kanonenbedienen und Gewehrexerzieren auszubilden!
Man schwitzte, schrie und ärgerte sich fiebertoll und totmüde, um alle diese siebenhundert Bauerlümmel so weit aufzustacheln, daß sie auch nur einen Bruchteil von der Arbeit begriffen, die sie während eines Kampfes ausführen sollten.
Aber damit war das Programm natürlich keineswegs erschöpft!
Das fehlte ja auch noch!
Nein: mindestens jeden zweiten Tag wurde außer aller Einzelausbildung noch ein Dutzend Stunden zum Evolutionieren verwendet: wovon man schon unterwegs über den Atlantischen Ozean so reichlich genossen, daß sie längst aufgehört hatten, auch nur den allergeringsten Reiz für einen zu besitzen!
Die Übungen wurden entweder schiffsweise abgehalten, oder vier bis sechs Fahrzeuge in ihrer Division vereinigt, oder schließlich sämtliche Abteilungen zusammen als Geschwader formiert.
Und jedesmal war Herr Gregorow selbstverständlich so bedachtsam, Luschinskij, Praxin und Lwow – die drei Landoffiziere – zu sich auf die Kommandobrücke einzuladen, um ihnen die Manöver zu erklären, oder, möglicherweise, wer konnte es wissen: vielleicht nur in einem Anfall von Mißgunst darüber, daß sie sonst diese Stunden, in denen sie keinen Dienst hatten, dazu benutzen könnten, sich auszuruhen! Mein Gott, wie ihm das auf alle Fälle ähnlich sehen würde, diesem unermüdlichen Ameisenhaufen!
»Nicht wahr, meine lieben Herren!« sagte er, mit seinen schwermütigen Augen einem im Gesicht herumwandernd, der Esel; von Zeit zu Zeit schielte er zu den Signalen des Admirals hinüber; er hatte seinen weißen Uniformrock aufgeknöpft, so daß man die hellgrüne, seidene Unterjacke sah, blank und quergefaltet mit einem großen, länglichen und dunklen Fleck über dem ganzen Brustbein:
»Jetzt sehen Sie also die Flotte in Geschwader-Kiellinie formiert; innerhalb jeder Division die Schiffe in Dwarslinie rechts geordnet!
Ich mache Sie namentlich auf diese Formation aufmerksam, meine Herren: weil voraussichtlich Verwendung dafür sein wird, einmal, verstehen Sie: das ist ja, so ungefähr, Thegetoffs Taktik von Lissa: dem Gegner direkt zu Leibe zu gehen, zu einer kompakten Masse vereinigt: um weniger gutes Schießen aufzuwiegen!
Das Prinzip ist in hohem Maße anwendbar – für uns, für uns allein!
Ich glaube daran!
Und vergessen Sie nicht, daß schließlich dieser Glaube ja nur ein maritimer Ausdruck für Dragomirows unerschütterten und unerschütterlichen Satz ist: daß nichts in der Welt einem russischen Bajonettangriff widersteht!
Nicht wahr?
Haben Sie begriffen?«
»Jawohl!« antwortete Luschinskij, selbstverständlich ohne ein Wort von all dem Quatsch zu hören.
»Sehr wohl, Herr Kapitän!« bemerkte Lwow mit einem Kichern, indem er heimlich Praxin und Peter Romanowitsch puffte. »Aber Thegetoff hatte Italiener unter Admiral Persano vor sich, soweit ich mich entsinne: wir dahingegen haben Herrn Togo, den Blitzmann, den Schiffsfresser!
Ich weiß nicht, wie Sie über die unbedeutende Differenz denken!?«
Die Schiffe durchschnitten das blanke Wasser – schwarz, mit blitzenden Sonnenstrichen längs der Masten und mit Stichen von Sonnenlicht aus Bullaugen und Metallflächen, mit der Bugwelle hoch an den Vordersteven hinauf – abteilungsweise geordnet, die Divisionen selbst hintereinander.
Der schwarzgraue Rauch quasselte aus den Schornsteinen heraus.
Schwarze und rote Kegel stiegen und sanken auf den Masten, die augenblicklichen Ruderstellungen angebend.
Die drei Offiziere hingen – hinten in den Backenmuskeln gähnend, schwindlig im Nacken – über dem Gitterwerk der Brücke, das durch die weißen Uniformen brannte. Sie zwinkerten mit den Augen und glotzten langsam und blinzelnd vor sich hin: Verteufelte Schweinerei, einen hier oben festzuhalten, was für einen Schlummer hätte man sich nicht in diesen Stunden leisten können, wie ... nicht wahr ... was sagen Sie ... nich' ...
Die Schwüle lastete schwer. Die See glitzerte spitz. Die Luft rührte sich heiß. Der Himmel war weiß, und stach.
Dann spritzten die Signalflaggen in die Höhe, eine gleich nach der anderen, grün mit goldenen Monden, blau oder rot – da drüben auf, »Knjas Ssuvarow«.
»Da, sehen Sie einmal!« schrie Gregorow, umherbellend und kommandierend. Der Maschinentelegraph erklang nach jedem Wort. Das Rudertelephon schwatzte gedämpft hinterdrein.
»Divisionsdwarslinie links – geöffnet; Geschwader-Staffel backbord vier Strich achteraus! Recht so: Äußerste Kraft voraus!«
Die Maschinen sprangen an. Die Brücke zitterte. Die Luft schwang sich. Die Schatten wechselten unten vor den Füßen, so daß man am unteren Rande seines Blickes schwindlig wurde.
Ganz unten im Süden beulten sich schwarze Wolken auf: hin und wieder wurden sie einen Augenblick gelb geschwefelt; und aus ihnen heraus polterten die unverkennbarsten Verheißungen auf eine binnen kurzem bevorstehende, angenehme Überraschung.
Aber dann war währenddes der Admiral da drüben in Veranlassung der Ausführung irgendeines Manövers offenbar aus der Haut gefahren: »Noch einmal!« flatterten die Signalflaggen, und dann mußte das Ganze noch einmal wieder von vorn gemacht werden, ahem, wie, und dann wagen Sie noch zu meinen, daß dergleichen Unterhaltung nicht erfrischend ist!? – – –
Aber außer allen diesen süßen kleinen Gründen zu Gehässigkeit und tödlicher Aufreibung, war es gleichzeitig, als ob der Feind ihnen auch körperlich näher gekommen sei.
Teils, nachdem man endlich überzeugt worden, daß man faktisch ausgeschickt war, um gegen ihn zu kämpfen; teils weil sich Port Arthur in diesen ersten Tagen des Januar Nogi übergeben hatte (was man sich freilich im voraus hätte denken sollen, von dem Augenblicke an, wo Kondratenko, the brave and gallant, an Pulver und Blei gestorben war, nicht wahr, so ein Mann, wie der!); und teils endlich fühlte man die Japaner intimer in seiner Nähe: weil man ja nun, obendrein, erfahren hatte, daß die Armada vermehrt werden sollte, ehe man wagte, sie kämpfen zu lassen; man war also überdies zu schwach, um vorläufig einen Angriff aufnehmen zu können! Die Niederlage war, mit anderen Worten, unvermeidlich, falls Togo sie überfiel, bevor die Verstärkung kam! Der Tod war ihnen gewiß! ...
Wieder und wieder, zuweilen wirklich drei- oder viermal im Laufe einer einzigen Nacht, geschah es daher, daß klar Schiff gepfiffen und alle geweckt wurden, Mannschaft, wie Offiziere: weil übernervöse Ausguckposten japanische Erscheinungen an dem geschlossenen Nachthorizont sahen, oder plötzlich die anderen Fahrzeuge des Geschwaders infolge des dichten Regens nicht mehr erkennen konnten, und ganz einfach glaubten, daß es Japaner seien, die sich hinter einem Glasfadenvorhang versteckten; oder, möglicherweise, wer konnte es wissen: vielleicht war da auch hin und wieder einmal wirklich etwas, was sie gesehen hatten: mochte dies Etwas nun eine Warnung von Gott dem Herrn sein, oder nur ein Blendwerk des Teufels, der durch die siedende und phosphorgeschwängerte Luft an ihnen vorüberpassiert war.
Aber, einerlei, was es sein mochte: aus den Kojen heraus mußte man, jedesmal, wenn die Signalpfeife schrie.
Mit Köpfen, die vor Müdigkeit und Schlaf schnurrten, tastete man sich in der schwülen Finsternis aus den Decken heraus, betäubt von dem gellenden Flötengeheul, das einem, Stoß auf Stoß, wie Fleurettklingen durch die Ohren fuhr.
Mit tastenden Händen riß man die Kleider an sich; zuerst entschlossen, nur das Allernotdürftigste anzuziehen, denn das Ganze war ja nur blinder Alarm, wie gewöhnlich, natürlich!
Aber in der letzten Sekunde erfüllten einen doch wieder unbestimmte Hoffnungen und dunkle Angstempfindungen, man wollte doch lieber völlig angekleidet sein, als sei man besser beschützt auf die Weise, wenn es nun trotz allem diesmal ernst sein sollte mit Herrn Togo!
Wer konnte es wissen?
Und Gott gebe in seiner Gnade, daß es geschehen möge, daß man doch bald das Ende von dieser Sache absehen konnte! ...
Dann stolperten sie durch die qualmende Nacht, auf ihre Plätze hinaus – an die Batterien oder an die Drehtürme, in die Gefechtsmarse, in die Munitionskammern, an die Dampfpumpen oder in die Lazarette – und da standen sie, alle Fibern ausgefaselt vor Scharfhörigkeit und dem Willen, grenzenlos weitsichtig zu sein; sie starrten in die sausende Finsternis hinaus, wo man immer ferne, wurmförmige, halb leuchtende Bewegungen zu sehen glaubte: wie von Raketen oder fremden Signalen.
In weiter Ferne schimmerten Laternenblitze von den anderen Schiffen – aber man erkannte sie nicht recht wieder, war ihrer nie sicher, irrte einmal über das andere: wer konnte übrigens wissen, ob nicht die Japaner den Einfall gehabt hatten, unseren Anstrich und unsere Lichterführung auf ihren eigenen Fahrzeugen zu imitieren?
Und dann glotzte man von neuem, geblendet und blind und mit Hohlschliffempfindungen im Auge, nach diesen kleinen Funkenpunkten hinüber – bis alles zu Nebel wurde, von dem man dann glaubte, daß es Pulverdampf sei; Aufblitzen und Aufflackern, was, wie man halbwegs erriet, Schüsse sein mußten; Dröhnen im Kopf, von dem man sich einbildete, daß es eine meilenferne Kanonade sei.
Oder es barst auf einmal der Weißschimmer eines Blitzes durch die Nacht.
Man sah in einem Nu irgendein Schiff einige hundert Meter entfernt: unterschied nur hinter dem auf einmal stillstehenden Gitter des Regens etwas Großes und Schwarzes, Längliches, das da auf dem Wasser lag mit ein paar schwarzen, lotrechten Stangen in die Luft hinauf ... und dann war die Erscheinung wieder in die Finsternis versunken.
War es wohl die »Knjas Ssuwaroff«, die man gesehen hatte? Sie müßte ja eigentlich nicht an der Stelle liegen, wie? Oder erinnerte es nicht eher an Admiral Togos Flaggschiff, die »Mikasa«, selber? Haben Sie die Schornsteine gezählt, Bootsmann Rurik? War es die Form der japanischen Gefechtsmasten? ...
Der Donner rollte, wanderte hin und her, in weiter Ferne: waren da nicht doch Schüsse? Jawohl, Herr Oberleutnant! Ja! Nicht wahr? Wie? Meinen Sie nicht auch, Gurukowitsch? Horchen Sie doch!
Man drehte den Kopf seitlich und hielt den Atem an, das Ohr mit aller Macht anspannend, plötzlich an den Händen zitternd – das Wiegen des Schiffes wie ein Saugen unter dem Herzen fühlend.
Und dann erschien es einem plötzlich, als ob die Kolbenschläge da unten aus der Maschinenkasematte von noch tiefer her stammten: vielleicht von Unterseebooten, diesen neuen und fremden Fahrzeugen, mit denen der Feind einem – unsichtbar, ungeahnt, fast unhörbar – direkt unter die Füße kroch, und auf einmal das ganze Schiff sich aufrichten machte, gleichsam sich bäumend, und es in die Luft sprengte von einem Ende zum anderen, jeden Mann in einem Nu tötend!
Surr-surr-surr, sagte es da unten.
Man fühlte sich vollgepfropft von jähen und unmenschlichen Hilflosigkeiten: von innen zerrten sie einem an der Kehle und kratzten an der Rückseite der Augen, so daß das Wasser anfing, daraus hervorzusickern.
Heilige Mutter Gottes!
Wenn doch der Feind gleich zu ihnen kommen wollte, jetzt, in diesem Augenblick!
Wenn er sich doch heulend auf sie stürzen wollte, so daß man keine Zeit behielt, zu denken, sondern nur seine Hände gegen ihn brauchen mußte – – keine Muße, zu zweifeln, zu grübeln und aufzugeben, sondern nur seine nötigen Schüsse durch den Leib bekam, und schlingernd und sprachlos und nicht mehr existierend, mit gespreizten Händen und unsehenden Augen, hinab ins Grundlose sank ...
Dann knackten auf einmal kurze Kommandorufe durch das ganze Schiff.
Der Telegraph erklang.
Die Maschinengeräusche änderten sich, wurden schneller, tickende und dumpfe durcheinander.
Matrosen liefen umher.
Die eine oder die andere der Batterien feuerte plötzlich ein paar Schüsse ab. Das Dröhnen bubbelte in langsamen Kreisen weiter; der Boden krachte, und gleich darauf durchklimperten ganz leise feine Klänge das eigene Geschütz hier unten. Man selbst stürzte plötzlich von einer Kanone zur anderen, beorderte noch einmal Aufsatz und Seitenstellung, puffte die Leute beiseite, um zu sehen: da drüben von dem Schiff, nach dem man geschossen, sausten Raketen in die Höhe: die goldenen Striche stiegen hinauf, schmolzen von unten her weg; sie hielten hoch oben mit einem kleinen Knall an und verschwanden; eine – zwei – drei gelbe und nun eine rote! Also war es ein Kamerad, auf den man gezielt hatte! Hahaha! Heh! Ja, selbstverständlich! Das Rindvieh von Kommandant da drüben, verdammt und verflucht, warum liegt er auch nicht so, daß man ihn erkennen kann! Haben Sie je so was gehört? Oder wer war das Kamel, das von hier oben aus schoß? Stellen Sie sich einmal vor: wenn wir das nun gewesen wären, denen man eine 30 cm-Granate hier ins Zimmer hereingeschleudert hätte: bei Gott, dem Betreffenden wäre seine Liebenswürdigkeit siebenfach heimgezahlt! Heh! Und das also war, mit anderen Worten, die Hilfe, deren man sich von seinen Kampfgenossen zu gewärtigen hatte! ...
Dann hüpften die Flötentriller von neuem mit ihren scharfen und glitzernden Lauten in den Räumen herum und kommandierten wieder alles zur Ruhe.
Das Ganze blinder Alarm!
Das Sämtliche vergebens!
Heh!
Diese Schurken und Spione von Ausguckposten, die sich nicht vorsahen! Diese Lumpenkerls von Wachtoffizieren, die ihre Pflicht nicht taten! Diese Imbezillitäten von Kommandanten, die nur an sich selbst dachten: nur danach strebten, sich Gewinn zu verschaffen, indem sie Wachsamkeit zeigten, um die ersten zu sein, die einen Schuß abgaben! Unsagbare Herzlosigkeit von der meineidigen Regierung, einen auf die Weise hinauszuschicken: mit nichts als Idioten und Banditen an Bord!
Jawohl: und dann diese Mörder und gelben Kujone von Japanern, die nie den Mut hatten, etwas zu wagen, wenn es darauf ankam!
Oh!
Hahaha!
Ja freilich!
Und dann schlich man, schulend und puffend, voll galoppierender Stiche, wieder in die Kojen hinab. Und da konnte man dann eine und auch zwei und drei Stunden liegen, ehe sich die Nerven vor Schmerz und Hautlosigkeit so tot gehüpft hatten, daß man schließlich in einen neuen Schlaf versank! ...
Wenn Luschinskij nach Nächten dieser Art erwachte, hatte er ein Gefühl, als sei seine Müdigkeit allmählich zu irgendeiner faktischen Seuche in jedem einzelnen Tropfen seines Blutes geworden; oder vielleicht hatte sie sich zu einem Explosionsstoff konzentriert, zu einer Art Dynamit, das in einem Klumpen mitten zwischen seinen Lungen lag und nur eines Funkens von einer Andeutung bedurfte, um sofort hervorzustürzen und mit Gepolter und Rissen und giftgefüllten Blutungen da drinnen zu zerspringen.
Und dieses Augenfieber, das man vom Abend bis zum Morgen bei den Ausguckposten verfluchte, das meldete sich dann täglich, nach dem unterbrochenen und gestörten nächtlichen Schlummer bei einem selbst.
Einerlei, was man unternahm – wenn man wie ein Lappen so unten in der Batterie hing und Unterricht und Exerzieren hatte; wenn man des Nachmittags auf dem Sofa in der Messe saß, ohne Muskeln oder Knochen irgendwo, und im Schlaf mit den Kameraden zusammen plauderte; und wenn man zu Bett gekommen war und sein Gehirn als Wasser durch die Augen sickern fühlte, vor Sehnsucht nach Ruhe: immer und ewig waren die Observationsmittel trotzdem in rasselnder Wirksamkeit (noch mehr als in früheren Zeiten, unmittelbar nach den Doggerbanks), sie schleppten sich draußen am Gesichtskreis herum, glotzten nach einem Angriff:
Luschinskijs Augen stengelten sich aus seinem Antlitz heraus und krabbelten zwinkernd an dem sonnenversengten Horizont umher, um sich darüber klar zu starren, ob sich möglicherweise einige von den unendlich kleinen, fernen Punkten zeigen sollten, die blitzschnell anwachsen und schließlich bedeuten würden: daß man jetzt binnen kurzem angegriffen, dann überwältigt und endlich getötet werden würde!
Sein Hörvermögen schlich – mit einer roten und weinerlichen Saite an sein Gehirn festgebunden – über Treppen, durch Luken, Skylights und auf Jakobsleitern durch das ganze Schiff, auf ununterbrochener Jammerjagd nach nur einem mäuschenleisen Geräusch, entweder aus dem verstohlenen Hinterhalt eines Unterseebootes oder von dem zerklüftenden Wege eines Torpedos durch das Wasser: irgend ein Laut, der ihn rechtzeitig benachrichtigen konnte, falls da wirklich etwas im Begriff war, sich zu ereignen!
Ewiglich war er auf seinem Posten: fast sehnsuchtsvoll, daß dies rein Faktische auf einmal sich über ihn wälzen und ihn ganz und gar an sich drücken sollte: ein ehrlicher und herzbetäubender Kampf, nicht wahr? Ein Schlag, der nicht nur eines Diebes Fußtritt in der Nacht, sondern der auch wirklich ein Einbrecher war, ein Wesen aus Fleisch und Blut, ein handfester Mensch ... selbst wenn es dann das eigene Leben war, das gestohlen werden sollte! ...
Peter Romanowitsch entdeckte die entzündeten Spuren von genau demselben inwendigen und verschwenderischen Nervenverbrauch auch in den Gesichtern der meisten seiner Kameraden!
Nicht bei ihnen allen, freilich!
Aber diese einzelnen Ausnahmen stützten ihn nicht mehr, so wie sie es in alten Zeiten getan hatten, in längst hingeschmolzenen Tagen, als man sich noch einbildete, daß man wieder in die Heimat zurückkommen würde!
Nein!
Sie wirkten keineswegs mehr belebend auf ihn; weder der große und schwere Bjelostskij mitsamt der übrigen massiven Bogduroff-Clique, noch die ganz jungen Springinsfelds, die Leutnants und Kadetten, auch nicht Kapitän Gregorow, der wandelnde Reglementspfahl ... alle diese Störeier, die im Schiff umherschwammen, blind und taub und hornhäutig – und gerade deshalb überzeugt, daß sie besser als die anderen sahen, wie auch hörten!
Heh!
Herr du mein Gott: wie er sich darauf freute, die Gesichter dieser Leute zu sehen, wenn der Tod plötzlich vor ihnen stand mit Meer in der einen und Kugeln in der anderen Hand, die Achseln zuckend über ihre Avancementbettelei, und ihnen unsagbar in Nase und Mund hineinstinkend mit seinem verwesten Atem, indem er sie aufforderte, so schnell wie möglich die Wahl zu treffen, zwischen dem, was er in der rechten oder in der linken Faust hielt! Wie? Hahaha!
Nein, diese Ausnahmen erfreuten ihn, weiß Gott, nicht mehr!
Entweder ärgerten sie ihn buchstäblich, wenn er schließlich dazu gezwungen wurde, sie zu konstatieren – oder in der Regel übersah er sie, bei Gott, oder, noch besser gesagt: er durchschaute sie: ließ ganz unbefangen seine Blicke, diese geglühten Bohrer, quer durch sie hindurchspazieren, meiner Treu!
Dahingegen die anderen, die Kameraden, die Praxins, die hatte er jetzt bis auf den Grund kennen gelernt – wie grundlos sie jetzt im übrigen auch allmählich geworden waren.
Er beobachtete bebend die blauen und erhabenen Ringe, die sie rings um ihre Augen angebracht hatten: als sei es mindestens ein paar Tage her, seit irgendein japanischer Schuß (oder meinetwegen auch einer von ihren eigenen Schiffen, nicht wahr?) gerade mitten in ihre Stirn hineingeprasselt war und ihnen den Schädel oben unterm Haar zertrümmert hatte. Oder als hätten sie schon jetzt Taucherbrillen aufgesetzt, in Erwartung der Arbeit, die sie allernächstens zu tun bekommen würden: nämlich sich persönlich in die Tangwälder da unten in den Ozeantiefen hinabbohren zu müssen, wie, hahaha!
Ihre Haut war naßkalt und rotgefleckt geworden: als wenn sie, wenigstens inwendig, entweder eine Zeitlang im Wasser gelegen oder sich längst innen in den Muskeln an einer Kartätschenwunde verblutet hätten, oder auch, als ob sie auf dem Wege wären, allen inneren Gehalt zu verlieren, infolge ihrer kleinen permanenten Dysenterieanfälle.
Ihre Blicke waren sonderbar zudringlich geworden und sahen trotzdem nichts – als habe sich jeder Mann ohne Ausnahme knallbesoffen gefüllt, sich steifäugig getrunken in dem bitteren Meer hier bei Madagaskar; oder als brauche man nur ihre Augenlider mit einem Zeigefinger oder mit einem Geldstück niederzustreichen: um den Betreffenden in den Zustand zu versetzen, daß er als Kadaver über Bord geworfen werden konnte!
Und warum auch nicht, insofern!
Wie?
Hahaha –:
Sie hatten ja alle, wie ein Mann, inwendig in ihren Köpfen – in Träumen, wie in Gedanken – mindestens Hunderte von Malen jede Kleinigkeit von alledem erlebt, das mit ihnen an dem Tage geschehen würde, wo die Japaner kamen!:
Ganz sicher! Was mit ihnen geschehen würde, wenn man nun bald von den zitronenfarbenen Herzensfressern und Übermachtmenschen eingeholt würde? Jawohl: darüber herrschte nicht der geringste Zweifel mehr: sowohl die Regierung, die Zeitungen (wenn man hin und wieder einmal welche zu Gesicht bekam), als auch jeder einzelne Kommandant in der Flotte, die würden zusammen schon dafür sorgen, mittels der nervösen Großmäuligkeit, an der sie litten, daß keine Spur von Unklarheit in bezug auf diesen Punkt existierte!: Das war nun einmal die Art und Weise, wodurch sie glaubten, einem die Lust am Dienst erhöhen zu können, hahaha, verblüffend schlau ausgetüftelt, diese Viecher, habe ich nicht recht?
Aber natürlich: jeder Mann in der Armada, würde selbstverständlich nicht getötet werden in dem Kampf!
Nicht einmal jeder zweite!
Aber wer dann?
Wer würde verschwinden, die Brust oder der Magen durchgruftet von einer Brisanzgranate – und wer würde frei ausgehen?
Würde zum Beispiel Praxin, dieser aufgeblasene Imbezilist, würde er es denn etwa wirklich fertig bringen, auch hier mit heiler Haut davonzukommen – so wie er sonst stets auf alle Viere zu fallen pflegte, das hinterlistige Katzentier?! Heh, mein Gott, mein Gott! Oder Iwan, wie? Sollte Iwan etwa ...?! Nein, das würde denn doch zu arg sein! Dann sollte man doch eher, ja dann mußte man doch weit lieber versuchen, diesen Burschen zu reizen, diesen Dieb und Mörder so weit aufzustacheln, daß er ... möglicherweise ... vielleicht ... sowie der Gemeine Tschuknin, dem man den Prozeß gemacht hatte, und der gestern erschossen war! Heh!
Oder man denke sich, daß irgendein Moskito so gefällig sein würde, einige lumpige tausend Malariaeier in den Burschen hineinzupflanzen, wie!
Oder, o ja: wenn Iwan eines schönen Tages, an dem man ihn in die Rue Colbert in Diego Suarez, oder nach der großen, vierreihigen Mangoallee in Nosi Bé zwecks unschuldiger und zufälliger Besorgungen geschickt hatte, vollgepfropft von Dysenterie zurückkommen würde, mit weißen Augenlidern und zitternd an Händen und Füßen, hahaha, nicht wahr?
Sehr richtig, ja: denn das war ja nämlich die nächste und ermunterndste Möglichkeit, die man vor Augen hatte!
Wenn es wirklich geschehen sollte, daß man, wie durch ein Wunder, den Japanern wohlbehalten entging: so waren da ja, in der letzten Zeit, außerdem Aussichten aufgetaucht, daß man in diesem Falle trotzdem sein Teil bekam, auf anderem Wege: in Form von Blutgang oder Sumpffieber!
Jedesmal, entweder wenn das Geschwader Kohlen von den deutschen Mietsdampfern einnahm, oder bei den ewigen Reparaturen, oder wenn man sich aus allen möglichen anderen Gründen auf der Reede von Nosi Bé oder Diego Suarez aufhielt – in der vorschriftsmäßigen drei Kilometer-Neutralitätsentfernung von Land: jedesmal, sobald eine Windstille oder Landwind herrschte: augenblicklich füllten sich Lazarett wie Hospitalschiff, und Begräbnisse fanden Tag für Tag statt.
Alle vierundzwanzig Stunden waren da ein oder zwei von den Gemeinen, den Unteroffizieren oder den Kameraden, die während der Übungen plötzlich anfingen, wie betrunken auf Deck herumzuschwanken, mit von Malaria blauen Nägeln; oder sie bekamen buchenblattgrüne Gesichter und unaufhaltsame Magengeschäftigkeit von eintretendem Blutgang.
Ein paar Stunden hindurch versuchten sie – zu wohlbekannt mit den unabwendbaren Ereignissen, die die Lazarettluft schon verschiedenen ihrer Genossen gegenüber gezeitigt hatte: sie versuchten eine Weile, sich aufrecht zu halten: dahin stelzend, aus dem Munde geifernd, mit den himmelblauen Fäusten um sich fuchtelnd – bis sie plötzlich, aus ihren sämtlichen Öffnungen herausspritzend, auf Deck zusammenplumpsten und hinuntergeschleppt werden mußten.
Da unten im Lazarett – wo Unterarzt Wassilij Dobrotworskij immer und ewig saß, bleichfett im Gesicht, von all dem Dunst, den er hier unten hereinfraß, die Turnschuhe weit vor sich hingestreckt und die beiden Hände in den Taschen seines weißen Schlupfrocks begraben, während er den Krankenwärtern, die speiend und greinend um ihn herumhingen und hin und wieder ihre hellgrauen Beinkleider mit den Ellenbogen in die Höhe zogen, seine hübschen Geschichten erzählte: da lagen sie dann massenweise, die Kranken, in den Kojen, die je zu zweien an Spiralfedern übereinander aufgehängt waren.
Knochenhager und delirierend lagen sie da und füllten das Schiff mit ihrem dicken, weißen Pestatem und mit dem sachten Gegluckse ihres Jammers.
Sie duselten vor sich hin, mit starren Feueraugen, abwechselnd mit den Zähnen klappernd, oder wie Pechfackeln glühend. Mit scharfkantigen Mündern, aus denen das Röcheln aus und ein lief und Schaum erzeugte; mit spitzen Nasen, die langsam blau wurden.
Sie matteten sich Nerv für Nerv zu Tode infolge von Fieber und Entleerungen – und tief drinnen in ihren Knabenherzen flennte es verborgen: daß sie hier unten sterben sollten, fern von Varenka und Manischka und Darja und Vater und Mutter: éhé, jawohl, die armen Schweine; aber warum, zum Teufel, waren sie denn nicht längst desertiert und ausgerissen, alle miteinander, nicht wahr: denn dadurch würde die Armada ja gezwungen werden, spornstreichs in die Heimat zurückzukehren mit uns anderen, habe ich nicht recht?
Ja, freilich! Selbstverständlich war es nach jeder Richtung hin ein ausgezeichnetes und energisches Arrangement, dies hier, die Flotte Monat für Monat hier in diesem Prachtklima warten zu lassen!
Aber es gab, weiß Gott, doch noch einige andere Methoden, um überflüssige Leute loszuwerden!
So fehlte denn beinahe einmal jede Woche plötzlich dieser oder jener von der Mannschaft beim Morgenappell.
Stets einer der flinksten von den Matrosen – die daheim und auch noch, als man sich nur auf der Ostsee oder dem Atlantischen Ozean befand, die tüchtigsten und zuverlässigsten gewesen waren:
»Männer!« erklärte Dr. Nakinskij, der Laffe, während er mit gespreizten Knien dastand und seine spitzen Zähne unter dem tusch-schwarzen Schnurrbart hervorlugten: »Männer, sage ich Ihnen, bei denen die Herzentzündung nach innen schlägt: weil das Disziplingefühl ihr verbietet, sich an der Stelle zu äußern, wo sie es wohl möchte: nämlich Ihnen gegenüber, meine geehrten Herren Kameraden!
Hahaha!«
Luschinskij lernte allmählich, allein von dem Aussehen und den Manieren dieser Matrosen ihre intimen Kämpfe mit dieser Seuche – wie der Arzt es nannte – zu unterscheiden.
Er verstand, was auf dem Grunde von ihnen vor sich ging, schon wenn sie anfingen, mit geduckten Köpfen bei den Übungen dazustehen – als seien sie Stiere vor einem Bluttuch; wenn sie rotblaue Gesichter bekamen infolge von Atemmangel, und gleichsam nicht wagten, ihre schweißigen Augen zu den Offizieren zu erheben: als wußten sie selber, daß sie es nicht mehr vertragen konnten, ihre Vorgesetzten nur anzusehen.
Er begriff sie gründlich: sowohl, wenn sie komplett die Worte überhörten, falls man versuchte, ihnen freundlich und gemütlich zuzureden – wie auch, wenn sie, ohne es selbst zu wissen, lange Rucke durch den Körper bekamen, sobald man seine Hand auf ihre Schulter legte oder seinen Arm um ihren Hals schlang.
Ja, Peter Romanowitsch wurde nach und nach – er gab schließlich diese doch vergeblichen Besänftigungsversuche auf und beschränkte sich darauf, ausschließlich zu beobachten: er wurde allmählich ein Meister darin, diese Burschen auszutüfteln.
Jedesmal, wenn er wieder einen von diesen schwindligen Respektleuten entdeckte, die während des Unterrichts oder des Exerzierens stundenlang mit schwärenden Schläfen, mit kleinen Speichelfäden aus den Mundwinkeln dastanden, ohne auch nur ihre teure Kautabaksauce halten zu können, und mit beständig geballten Fäusten – weil sie mit ihrem eigenen inwendigen Herzaufstoßen kämpften: dann wußte Luschinskij ganz genau: daß, wenn der Name und die Nummer dieses Mannes morgen oder übermorgen aufgerufen wurden (nach der ersten mondlosen Nacht): so würde der Betreffende in höchstem Grade nicht fähig sein, »Zu Befehl!« zu antworten.
»Verstehen Sie!« sagte Dr. Nakinskij, mit erhobenem Zeigefinger und unterbrochen von ganz leisem Kichern, »diese Bazillenseuche, die sich in diese Menschen hineingefressen hat, die verpestet ihr Blut peu à peu, ja, das tut sie!
Sie übervergiftet ihr Gehirn, begreifen Sie: weil sie von ihrer angeborenen Ehrfurcht vor den Epauletts niedergehalten wird!
Sie endet damit, diese Matrosen, sozusagen, vor sich hin zu treiben!
Sie zwingt sie, sich in der ersten, besten dunklen Nachtwache über die Reeling zu schleichen: und da haben Sie also den Grund zu den vielen Selbstmorden in dieser Zeit!
Mein Verehrter: Ihr Eifer und Ihr Interesse für die Kerle ist selbstverständlich wunderbar schön, ich zolle Ihnen meine Bewunderung, heh: aber wie Sie selbst sagen: da hilft nichts!
Nicht einmal, wenn Sie das Geschwader bewegen wollten, morgen am Tage heimzukehren: denn die Menschen sind ganz einfach gerade ins Herz getroffen, begreifen Sie: sie haben, sehr berechtigterweise, jeglichen Glauben an alles verloren, was Autorität, Obrigkeit und Vorsehung heißt!
Es unterliegt keinem Zweifel: diese Fahrt hat sie zu Lebensnihilisten gemacht, sie wollen sterben!
Weiß Gott, das wollen sie!
Mit zusammengekniffenen und weißen Mündern – verstehen Sie: stumm, ohne auch nur eine einzige Silbe von ihren ehemals ellenlangen Gebeten, flüstern zu wollen; mutterseelenallein (innerlich wie äußerlich) krabbeln diese herzensleeren Mannsleute aus ihren Kojen heraus – wo sie Nacht für Nacht gelegen und geschwitzt und gestarrt und das Maul gehalten haben, während die anderen schliefen!
Sie schmatzen sich auf ihren großen, schweißschleimigen, nackten Füßen ganz leise auf Deck hinauf, schlingernd (ich habe selbst die Spuren ihrer schwankenden Schritte gesehen, Stunden später, steif geworden: sie standen wie ganz feine Rillen von getrocknetem Schleim auf den Planken). Sie benutzen einen Augenblick, wo die Wache den Rücken wendet, dann setzen sie sich rittlings über die Reeling, nicht wahr; sie schaudern, wenn die kalte eiserne Stange ihren Schritt berührt, und dann lassen sie sich, plötzlich schluchzend und jammernd – als erinnerten sie sich erst in dem Augenblick alles dessen, wovon sie jetzt fortgehen – hicksend, das Hemd um ihren Magen gebläht, lassen sie sich ins Meer hinausplumpsen!
Hinab zu den geöffneten Rachen aller der gleisnerischen Fische da unten in der Tiefe!
Pfui Deubel!
Habe ich nicht recht?
Denn, sich selbst zu töten, das ist schließlich ihr einziger Ausweg in dieser Welt, verstehen Sie wohl: da sie ja doch nun einmal gezwungen sind, alles zu leugnen und alles zu hassen, aber doch nicht imstande sind, andere totzuschlagen, die Würmer, weder ihre Kameraden, noch die Offiziere – meine lieben Kollegen!
Haben Sie nun das Ganze begriffen, mein zartbesaiteter Luschinskij!
Bin ich detailliert genug gewesen, habe ich Ihr viel zu weiches Gewissen beschwichtigt – sonst können Sie ja weiter fragen!« fügte der Arzt hinzu; er hatte allmählich hellblau punktierte seidene Beutel unter den Augen bekommen: jetzt blinzelte er mit den Lidern und sein Kichern entfuhr ihm plötzlich wie ein kleiner Wind aus den Mundwinkeln:
»Krieg, nicht wahr, ganz einfach!
Jawohl – so und nicht anders sieht der Krieg im zwanzigsten Jahrhundert aus: Selbstmord in stockfinsterer Nacht, mutterseelenallein! Splitternackend, in einem demokratischen blauen Hemd, heulen wir uns in die Ewigkeit hinein, ohne Rangunterschied!
Wie beliebt?
Ja, mir ist es, bei Gott, persönlich gleichgültig! Sie kennen meine Anschauungen über das Jenseitige! Abergläubisch bin ich nicht!
Mindestens alle acht Tage passierten ein oder zwei von diesen vorübergehenden Ereignissen.
Aber mehr als einmal die Woche erlagen schlechtere Männer. Matrosen, bei denen die Anlage zu Disziplin und Respekt offenbar weniger fest in den ungesund erzeugten Gehirnen und Körpern saß – nicht tief genug auf alle Fälle, um den Deckel auf ihrem kochenden Maulwerk und ihren explodierenden Blutgefäßen geschlossen zu halten:
Und dann vergriffen sie sich plötzlich, mitten während einer Übung an dem Offizier, der ihnen zufälligerweise am nächsten bei den Händen war ...
Vorausgegangen war da in der Regel bei jedem einzelnen von diesen Meuterern, eine gradweise, aber geschwinde Entwicklung.
Zu allererst hatten sie angefangen, ihren sämtlichen Kameraden gegenüber zänkisch und prügelsüchtig zu werden. Wieder und wieder verwickelten sie sich in einen Faustkampf bald mit diesem, bald mit jenem – bis sie eines schönen Tages endlich deswegen gemeldet wurden und eine Zurechtweisung erhielten.
Schon eine Woche später war der Fortschritt inwendig in ihnen im vollen Gange: jetzt konnten sie sich bei Gott mit nichts Geringerem mehr begnügen, als grob gegen einen Unteroffizier zu sein. Also muckten sie von Zeit zu Zeit auf, hatten jedesmal Widerreden, wenn sie eine Order bekamen, machten bissige Gesichter und mochten nicht gehorchen, trieben ihre Frechheit weiter und weiter – und dann endete es selbstverständlich damit, daß sie sich schließlich drei oder vier Tage dunklen Arrest für Aufsätzigkeit erwarben.
Und wenn sie danach wieder aus dem Loch kamen – samtartig und weiß von Haut wie eine Dame, mit schlotterigen Knien und zusammengekniffenen Augen – so waren sie in dieser stillen Zwischenzeit hinreichend aufgeschwollen, um ihre Sache ganz durchführen zu können.
Sobald die Unterrichtsstunde kam, konnte man es sozusagen ihren Gesichtern ansehen, wie inwendige Teile in ihrem Fleisch alle Vernunft beiseite schoben und darauf selbst das Kommando über das Ganze übernahmen.
Erst standen die Betreffenden eine kleine Zeit und trippelten auf den Füßen, als sei drinnen in ihnen etwas, das auf einmal große Eile bekommen hatte und sich gar nicht länger aufschieben lassen wollte.
Sie drückten die Mütze in den Nacken, hicksten nach Atem, schüttelten den Kopf – als fühlten sie sich von den langen, gestreiften Tsetsefliegen gestochen.
Sie wurden aufgedunsen und rot im Gesicht, stöhnten plötzlich ganz leise – als lägen sie bei einem Frauenzimmer; ihre Blicke wurden nach und nach schleimig und kochend, und ohne ein Wort wälzten sie sich schließlich auf einmal über den Offizier: heulend, mit weißem Schaum um den Mund, mit Augen, die Blutblasen glichen.
Sie schlugen ihre Knöchel an seiner Stirn und seinen Zähnen in Stücke, sie schafften ihren Absätzen Linderung durch Fußtritte in seine Lippen und seinen Magen, sie geiferten Bruchstücke von Flüchen und Unflätigkeiten über seine ganze Person – bis die Unteroffiziere herbeigeeilt kamen und Auslösung für ihr eigenes, privates Kochen fanden, indem sie ohne Erbarmen nach rechts und nach links darauf losprügelten, während sie den Leutnant befreiten.
Und den Tag darauf hißte das Schiff die Signalflagge, daß jetzt, in einem Augenblick, der Aufrührer, laut Urteil des vereidigten Kriegsgerichts, erschossen würde, von einem Dutzend Mann, die schon sechs Schritte vor ihm aufgestellt standen.
Die Hände der zwölf Profos-Matrosen schlenkerten, während sie die Gewehre an die Wangen legten – als seien sie berauscht von dem Gedanken, sich gleichsam in Flüssigkeit und in Blut baden und erfrischen zu sollen. Da war auch nicht eine Sekunde Zaudern in ihnen, nicht die geringste Verblüffung darüber, diesen Kameraden, der dahin gepflanzt war, erschießen zu sollen. Im Gegenteil: fast jedesmal war da der eine oder andere unter ihnen, der, als fürchte er, daß ihm etwas entgehen könne, sein Gewehr schon abschoß, noch ehe das Kommando gefallen war.
Dann erhob der Offizier seinen Säbel und rief:
»Feuer!«
Die Schüsse gingen los und schmissen die zwölf Geschosse quer durch die Brust des Burschen, so daß seine Verzweiflung flugs aus den Löchern hinausfuhr, und das Leben – Gott sei gelobt – vorbei war, das Jux! – – –
Bei Luschinskijs Kameraden hatte sich in dieser Zeit etwas eingestellt, das ihm – ohne daß er sich über diese Erinnerung schon so recht klar war – ganz unbestimmt den ehemaligen Kadetten Uschtujew ins Gedächtnis zurückrief, den langen und blassen Stengel da unten von der Kadettenakademie: ihn, dem Nikodemus Porphyrij, der unsagbar harte Hund, immer auf den Fersen war, in der Hoffnung, ihn bei der ersten besten Schwäche zu ertappen – um einen Vorwand zu finden, unter dem er ihn kassieren und nach Hause schicken konnte; nur einen winzig kleinen Anlaß, so daß Nikodemus – wie er sich ausdrückte – seine Augen mit dem Anblick von Uschtujews unmilitärischer und widerlicher Kränklichkeit verschonen konnte.
Schließlich, eines schönen Vormittags, hatte Porphyrij dann selbst den Befehl über sämtliche Eleven unten in dem großen, halbdunklen Turnsaal übernommen.
Der Staub stieg in massigen Säulen, gleich Wasserhosen, vom Fußboden bis zu den schweren, weißgetünchten und spinnenwebüberzogenen Balken unter der Decke auf. Aus dem dunklen Gitterraum heraus, wo die Fechthandschuhe und Plastrons lagen, machte sich der säuerlich-süße Dunst früherer Schwitztouren bemerkbar.
Und plötzlich fing der Vorsteher an, sie zu einem wahnsinnigen Extravergnügen zu kommandieren.
Sie waren mitten in einer Übung, die Kniebeuge heißt: Sie stemmten die Hände in die Seiten; bei Eins hoben sie sich auf die Fußspitzen – wehe dem, der da wackelte! Bei Zwei sanken sie langsam hinab, die Knie nach außen gebogen, bis sie mit dem Hintern ganz auf den Absätzen saßen, und mit geradem Oberkörper.
Aber als sie soweit gekommen waren, kommandierte Nikodemus auf einmal:
»Schlußsprung auf der Stelle! Springt!«
Sie fingen an, in die Höhe zu springen; nach jedem Hüpfen ganz in die gebogenen Knie hinabsinkend, bis sie von neuem wieder auf den Absätzen saßen; dann wieder in die Höhe wie ein Blitz, Körper und Beine in die Luft streckend; von neuem in die tief gekrümmten Knie nieder; wieder in die Höhe.
Während der ersten fünf Minuten war das Ganze köstlich, hahaha, worauf Nikodemus auch verfallen konnte, und dies hier war, weiß Gott, vorschriftswidrig, was; und wie es ihm ähnlich sah!
Springt! Porphyrij ging, lautlos wie eine Schlange, hin und her und gab während der ganzen Zeit in Uschtujews Nähe acht. Springt!
Sie fingen an, schlaff in den Knien zu werden und fühlten hin und wieder einen kleinen Stich oben im Kopf.
Springt! Sie gelangten über die zehn Minuten hinweg, und der Vorsteher grinste mit seinen langen und schwarzen Giftzähnen.
Springt! Ihre Kniekehlen schnitten in sie ein, als stießen sie bei jedem einzelnen Niederspringen mit dem ganzen Gewicht des Körpers gegen eine scharfe Kante. Springt! Die Wadenmuskeln und die Schenkel fühlten sich an, als zerspringe da drinnen etwas. Springt! »Zum Teufel auch,« zischte Porphyrij: »Springt! meine jungen Herren! Strecken Sie sich!
Wie zappeln denn Sie da mit den Zehen, Kadett Andrejewitsch!
Und Sie, Uschtujew: ganz in die Knie hinab, jedesmal!«
Der Schweiß trieb an ihnen herunter und biß in ihren Augenwinkeln. Der Atem hickste ihnen in der Brust. Springt! Blind und taub waren sie; sie grinsten blödsinnig, verloren gleichsam die Unterkiefer. Oben in ihren Schädeln saß irgend etwas, das sie zu dem Versuch, innezuhalten, verlocken wollte, koste es, was es wolle; sie konnten nicht mehr! Nein ... sie ... konn' ... nich' ... me'! Konn' ... nich' ...
Springt!
Aber Porphyrij ließ nicht nach: »Was, zum Teufel, zaudert Ihr!
Noch schneller!« Seine starren Augen sogen sich an Uschtujew fest.
Springt! Bei jeder Bewegung war es, als komme eine Faust und zerre die Muskeln von den Knochen und Sehnen los:
Ö ... ö ... ö ... öhö ...
Springt!
Aber dann stürzte Uschtujew plötzlich aus den Reihen vor. Er schlingerte in den Knöcheln und schwankte auf Nikodemus zu, mit aufgedunsenem, kreideweißem Gesicht, den Kehlkopf ganz zum Halse heraus.
Er weinte schrill wie ein Kind, das überfahren wird – abwechselnd gellend und jammernd –, versuchte aber gleichzeitig zu lachen, um sich nicht zu verraten.
Er lachte, toll vor Hoffnung, sich trotz allem herauszurappeln, mit Schaum um den Mund, schwarzem Blut aus den Nasenlöchern und mit den langen Armen in der Luft herumfuchtelnd.
Er lachte mit einem geistesschwachen Versuch, den Schneidigen zu spielen und dadurch Porphyrij milder zu stimmen – während ihm die Tränen aus den Augen rannen und sein heiserer Husten, wie die Schüsse eines Revolvers, Staub und Lunge aus ihm herausschwälte.
»Kéhirr!« lachte er, indem er Nikodemus anstarrte, um zu zeigen, daß da nichts mit ihm im Wege sei, schnaubend. »Kéhé-Kéhirr!« greinte er noch einmal, jammernd mit seiner gipsweißen Unterlippe, und dann taumelte er plötzlich um, auf die Erde ...
Und jedesmal, wenn Luschinskij jetzt, während dieses ersten Teiles der Madagaskar-Monate, seine Kameraden auf dem Schiff mit diesem langgestreckten klirrenden Greinen lachen hörte – als sei alles Mögliche da drinnen in ihnen zersprungen, als rasselten sie nun trübselig mit den Scherben: dann war es, als ob eine bleiche und graue Erinnerung an diese ganze Geschichte aus der Kadettenakademie aus ihrem Schlummer unter Peter Romanowitsch' Gehirn wieder aufzuleben versuchte, indem sie ganz langsam neues Leben aus seinem Nacken sog.
Ohne begreifen zu können, weshalb, hatte er beständig so eine innere Kehlenneigung, eine jede Lachsalve damit zu beantworten, daß er gerade von diesem alten Geschehnis erzählte.
Und schließlich – eines Tages, unten am Frühstückstisch, am Morgen, nachdem der zweite Maschinenmeister, Herr Schreiner, von drei Heizern sein gräßliches Teil bekommen hatte – platzte ja auch richtig Luschinskij das Ganze erlösend aus dem Halse heraus.
Die Kameraden waren selbstredend – sowohl die Bogduroffs, wie auch die Praxins – an jenem Vormittag in ganz besonders wärmlicher Stimmung.
Schon als sie bei Tische erschienen, waren ihre sämtlichen Gesichter noch kolorierter als sonst; sie klirrten ganz ungewöhnlich mit den Messern, während sie so taten, als äßen sie; Schnaps wie Madeira flossen ungewöhnlich reichlich – und alle zusammen schnarrten sie ununterbrochen durcheinander; die ganze Zeit natürlich von nichts, als von der Schreineraffäre diese Nacht redend!
Wie?
Nicht wahr?
Nie im Leben hat man wahrhaftig etwas Ähnliches auf einem Kriegsschiff erlebt!
Nur gut, daß die drei Banditen stehenden Fußes ihr Todesurteil erhalten hatten, und folglich morgen erschossen wurden, die Mörder! Man stelle sich vor: Zu später nächtlicher Stunde waren diese drei Heizer, natürlich gehörig betrunken, zufälligerweise ein paar Minuten allein unten bei den Dampfkesseln gewesen – und in einem Nu einigten sie sich, daß sie die Gelegenheit benutzen und sich warm rächen wollten: nämlich wegen der extra-ordinären Partie Prügel, die ihnen Schreiner neulich, zum Teil zu seinem Privatamüsement, hatte zukommen lassen.
Yes; und also brachen sie alle drei sofort in die Kammer des Maschinenmeisters ein, wo er lag und schlief.
Sie verstopften ihm den Mund mit einer Faust voll gut geölten Twists, zerrten ihn im Handumdrehen aus dem Bett, spannten ihm ihre Leibriemen unter die Schultern und in die Kniekehlen und schleppten ihn dann, grinsend und die steilen eisernen Leitern hinaufklimmend, an die schmale Galerie, die rings um den Kesselraum lief – oben in einer Höhe von anderthalb Geschoß.
Und dort, auf dem geriefelten eisernen Fußboden tanzend, der ihnen die Fußsohlen wärmte – während die Maschinen da unten stampften, gleisnerisch von Öl: und die Luft glänzte und sich siedend blähte: da rissen sie mit einem Ratsch dem Maschinenmeister das blaue Hemd ab, machten ihn splitternackend wie vor Gott: alles, noch ehe der Mann so recht wach geworden war, und ehe die anderen Maschinisten in dem großen Raum das geringste bemerkt hatten, so affenartig geschwind und hinterlistig war das Ganze vor sich gegangen, im Laufe einer einzigen Minute, hol' mich der Deubel:
Zwei von den Kerls hielten ihn dann zwischen sich fest, mit gestreckten Armen, so daß seine nackte Brust und sein Bauch sich unmittelbar vor diesem großen, schwitzenden Leitungsrohr befanden, das, verstehen Sie, den überhitzten Dampf nach der Expansion hinführt.
Der dritte schrob das Ventil auf.
Die Dampfsäule quoll heraus, gerade auf Schreiners zottigen Busen, in dem gelblichen Licht nur wie eine Stange aus Bebern erkennbar – dreiundeinhalbhundert Grad heiß: und mit einem Schluck trank sie sozusagen alles Fleisch von seinen Rippen und Brustknochen! Er kam nicht einmal dazu, sich ordentlich zu winden: nur ein »ö!« fuhr ihm aus den Nasenlöchern, dann war er fertig, ward zu einem Lappen in ihren Fäusten.
Die Heizer ließen den gargekochten Körper, der mit einem mageren Laut umfiel, sinken: alle drei lachten sie auf einmal aus vollem Halse infolge von Trunk, Hitze und Verrücktheit, mit Hummeraugen und nackten, plötzlich klatschnassen Oberkörpern. Auf ihren weißen Drellhosen hoben sich im Nu große, graue Flecke ab. Es sang sacht aus Kesseln und Röhren. Von Schreiners Fleisch stieg hier und da ein klein wenig Suppendampf auf.
»Ich will es Ihnen ersparen, meine Herren!« sagte Dr. Nakinskij bei diesem Punkt seines rekonstruierenden Berichts, indem er unaufhörlich auf seinem Stuhl hin und her rückte, und mit beiden Händen auf dem Tischtuch herumfingerte, das feuchte Flecke davon bekam. »Ich will Sie damit verschonen, mé-hé, anhören zu müssen, wie Schreiner aussah mit seinem gesprungenen Bauchfell, mein Gott, als wir ihn gleich nach der Katastrophe in die Finger bekamen.
Wahrscheinlich wird es Ihnen genügen: daß das erste, was ich von dem Manne sah, als er da oben auf dem kleinen, eisernen Fußboden, in Öl und Wasser schwimmend, lag, eine hellblaue, gutgekochte Leber war, die wie ein Schlips zwischen seinen Gedärmen heraus stak! Pfui Deubel!« Der Arzt kicherte einen Augenblick, pfropfte sich eine Brotkugel zwischen die Lippen, und dann hieb er mit beiden Händen auf den Tisch:
»Verstehen Sie!
Und dergleichen muß man also ausgesetzt sein, wenn man an Bord dieses Mustergeschwaders den Rang eines Vorgesetzten einnimmt!
Sagen Sie mir: wie weit, glauben Sie, daß wir gekommen sein werden, wenn nichts als gebratene oder farcierte Offiziere mehr auf unseren Kästen vorhanden sind!
Oder ist wirklich noch einer von den Herren der Meinung, daß wir überhaupt jemals in Japan, dem Lande der Blumen, anlangen werden? Hahaha!
Prost, meine lieben Kollegen! Ich trinke einen Extraschnaps: selbstredend in der Hoffnung, dadurch mein Fleisch noch wohlschmeckender zu machen für den Fall, daß es in einer nahen Zukunft der geehrten Besatzung in gekochtem Zustand serviert werden sollte!
Prost!
Kéhé! Kéhirr! Kirr!« – und damit schlingerte er auf seinen Stuhl zurück, und goß sich den Branntwein in den Hals hinein, vor lautlosem Lachen mit den Schultern hüpfend.
Aber im selben Augenblick beugte Peter Romanowitsch sich vor, schob die Teller und Gläser mit seinen Ellenbogen zurück – die Stille benutzend, die sich auf einmal nach den Worten des Arztes eingestellt hatte:
»Wohl haben Sie recht, Nakinskij!« flüsterte er, plötzlich ohne zu wissen, was er selbst sagte; aber mit einem dumpfen und schweren Gefühl, als sei da irgend etwas, was ihm in der Brust hämmerte und also offenbar heraus wollte. »Natürlich muß man Ihnen recht geben! Wir gelangen nie im Leben nach Japan hinüber! Wir kommen überhaupt nie mehr von diesem Fleck! Der ganze Zug ist ja überhaupt nichts weiter, als Schlußsprung auf der Stelle!
Ganz und gar nichts weiter!
Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!
Ich weiß es!
Jetzt sollen Sie selbst hören, kéhé, hé, kéhirr!« – und dann erzählte Luschinskij darauf los, von Uschtujew und Porphyrij, die ganze Geschichte von da unten aus der Kadettenakademie, von Anfang bis zu Ende. Er focht mit den Armen und glotzte der Runde nach die Kameraden an, die in ihren Stühlen lagen und lauschten, während es in ihren Gesichtern tanzte und ihre Finger das Tischtuch zerknüllten.
Und schließlich beugte er sich noch weiter über den Rand des Tisches vor, sperrte den Mund weit auf und lachte tief unten:
»Die ganze Fahrt, wie ich Ihnen sage – ist also genau dasselbe, wie mit Uschtujew! Über Nacht war an Schreiner die Reihe! Morgen kommt der nächste. Nichts weiter als Schlußsprung auf der Stelle – während einem alles Mögliche aus dem Halse herausschwält! Nicht wahr?
Danke schön!
Prost, Kameraden!
Der Spiritus wirkt konservierend!
Wie?«
Es ging wie ein heißer Luftzug durch ihn. Seine Zähne klapperten gegeneinander; die Zunge füllte ihm die Mundhöhle aus und war fett. Seine Hand zitterte, als er den nächsten Freunden das Madeiraglas hinhielt, und er verschüttete von dem Wein über ihre Finger.
Es war gar still in dem ganzen Raum.
Der Messediener rasselte mit den Tellern draußen vor der Tür. Die Maschinen pulsierten tief unten zur Linken.
Und dann fingen alle Praxins plötzlich, gleichzeitig, an zu lachen: als hätten sie schließlich auf einmal irgendeinen formidablen Witz hinter Luschinskijs Worten entdeckt, oder als seien sie jäh entweder beschämt oder unheimlich gestimmt durch das Schweigen, oder als fühlten sie selber alle zu gleicher Zeit, daß sie, koste es, was es wolle, diese Sache von der spaßhaften Seite nehmen mußten – und das wollten sie jetzt also versuchen –:
»Kéhé! Kéhirr!« sagten sie, flüsternd, trinkend, stammelnd, einer nach dem anderen. »Sehr gut, Luschinskij! Prost, mein Freund! Sowohl in bezug auf Schreiner, wie auf all das andere gebe ich Ihnen recht, mit Ihrer kolossalen Bemerkung! Nichts weiter als Schlußsprung auf der Stelle, Gott soll mich strafen!
Unleugenbar!
Niemand kann so geistreich sein, wie Sie!
Schlußsprung auf der Stelle! Wie? Hahaha! Einzig und allein, Schlußsprung auf der Stelle! Ja, Ihre Definition ist, weiß Gott, völlig korrekt, mein bester Herr!
Der ganze Zug gar und ganz nichts weiter! der ganze Krieg! die ganze Welt!: Schlußsprung auf der Stelle! Sprung in die Luft!
Vielen Dank für Ihren befreienden Witz!
Und es wird ja eine überaus gesunde Motion für unsere Gemeinen werden, wenn sie einmal – ohne einen einzigen Offizier an Bord – mit dem Admiral, Herrn Togo, zusammentreffen! Nicht wahr? Mit dieser tanzsüchtigen Dampfbadeanstalt von Armada!
Kéhirr! Kéhé! Ké! Prost!« Es ging ein Klirren von Gläsern und vom Greinen durch den Raum; alle redeten sie durcheinander. Luschinskij warf den Kopf in den Nacken und lachte aus voller, äußerer Kraft. Praxin stützte den Ellenbogen auf den Tisch und trank, mit geschlossenen Augen, glucksend.
Dr. Nakinskij richtete sich auf seinem Stuhl auf.
Er guckte, indem er den Kopf mit kleinen Rucken herumdrehte: sowohl seine Kameraden an diesem Tischende der Reihe nach an – als zu den Bogduroffs hinauf, die mit starren Augen da saßen, um die Lippen bebend, an ihrem Bart zupfend: als hätten sie nicht das geringste von dem gehört, worüber gesprochen war, leider, aber an und für sich waren sie selbstverständlich bereit, die Munterkeit der übrigen Herren zu teilen, gégé, géhé!
»Ja freilich!« bemerkte der Arzt dann, kichernd und blinzelnd, seinen schwarzen Schnurrbart drehend. »Ich höre, daß Sie alle zusammen lächeln, meine Lieben! Und natürlich tun Sie gut daran! Luschinskijs Äußerungen verdienen allen möglichen Applaus!
Aber sagen Sie mir außerdem folgendes, das mir eben in den Sinn kam: warum hat uns nie irgendein Dichter bewiesen, wie es zugeht, daß es faktisch so formidabel witzerfüllte Dinge, so außerordentlich ermunternde, gibt – daß wir laut darüber brüllen, statt zu lachen? Wie?
Und vice versa!
Oder wie denken Sie darüber, Herr Kommandant? Ich entsinne mich gar nicht, Ihre Stimme gehört zu haben, Kapitän!« rief er plötzlich nach dem oberen Ende des Tisches hinauf, Gregorow zu, der (offenbar – nach seinem weißen Gesicht zu urteilen – nur um zu verbergen, daß er dem Ganzen sehr wohl gelauscht hatte, aber nur nicht wußte, was er dabei tun sollte!) dasaß und so tat, als hinge er mit dem ersten Maschinenmeister zusammen und müsse über Reparaturen und Beförderungen reden. »Halloh, Herr Kommandant! Ich bitte Sie, sehen Sie hier herunter und urteilen Sie zwischen uns:
Wie denken Sie also, Herr Chef – der in jeder Beziehung ernste Mann, der Sie sind – über die Sache, über die wir uns hier streiten?!
Ist es nicht ganz richtig, daß Männer allerdings bisweilen ziemlich leicht eine oder zwei Tränen vergießen – in gewissen aufregenden Situationen, die die Frauenzimmer nicht sonderlich angreifen! Aber daß wir dafür immer imstande sind, den Ernst des Eindruckes hinter schlechten Witzen und viel Gelächter zu verbergen – unter wirklich gefahrvollen, todbringenden Umständen, wo Kinder, Frauensleute oder Greise ganz einfach vor Weinen und Geschrei bersten und dann umsinken und sterben!!
Ké! Kéhé! Nicht wahr? Und was ist also Ihre betagte Ansicht hierüber?
Sagen Sie doch?!« ...
Kurz und bündig:
Schon an diesem Frühstückstisch – der allerersten Gelegenheit, bei der man sich dieser Form des Zähnelachens bediente (empfangen und geboren in früheren Zeiten, also von Uschtujew; niedergefahren in Luschinskij; aber von neuem, durch des Maschinenmeisters Schreiner unfreiwillige Hilfe jetzt wieder auferstanden bei Peter Romanowitsch und seinen nächsten Freunden): schon hier erwies es sich also im Besitz vorzüglicher Ansteckungsfähigkeiten; mochte es nun sein entweder, weil man sich so herrlich selbst hinter all dem Lärm verstecken konnte, den es hervorrief – oder weil es im Gegenteil so trefflich (und ohne bindende Äußerungen, wohl zu merken) alle die allerintimsten Ansichten entschleierte, die man über die Fahrt und über das Ganze hegte, nicht wahr?
Tatsache war nur, daß, noch ehe man sich vom Tische erhoben hatte – ein wenig schlingerig von dem vielen Zutrinken in der freudigen Veranlassung des Tages –, das Uschtujew-Lachen in den Kehlen sämtlicher Praxins Platz genommen hatte.
Aber damit hielt seine Ausbreitung keineswegs inne.
Weit entfernt davon.
Tag für Tag erweiterte es sein Gebiet – zuerst nur hier und da, so hin und wieder, bloß als eine Art von gemeinem, witzigem Refrain benutzt, gemütlich hindeutend auf die Annehmlichkeit der an jenem Vormittag plötzlichen und zum erstenmal wirklich allgemeinen Nacktheit und Ratlosigkeit.
Aber gerade unter dieser tiefwirkenden Form vermochte es noch weiter um sich zu greifen; nach und nach hörte man es überall, ké, als ob das ganze Fahrzeug, kéhé, mit Besatzung und Kanonen, mit Maschinen und mit allem, kéhirr, unter diesem klatschenden, gemeinsamen Banner sich zu irgendeiner schmutzigen und geheimnisvollen und disziplinwidrigen Schwagerschaft zusammen gerasselt hätte.
Jedes einzige Mal, wenn sich Zweie begegneten: augenblicklich brachen beide, noch ehe sie irgend etwas gesagt hatten, einander an den Knopflöchern tolkend – in Kéhé und Kéhirr aus.
Ja, so munter ging es zu, Tag für Tag: sowohl Offiziere als auch Unteroffiziere und Mannschaft kamen auf zärtlichen Fuß miteinander; man spie sozusagen so viel wie möglich jeglichen Militarismus von sich; man verabredete wortlos, nur indem man einander gegenseitig auf diese Art und Weise begreinte: daß die Zeit jetzt wohl bald gekommen sein müsse, kéhé, jetzt dürfe es wahrhaftig nicht mehr zu lange währen, ké, bis der Streik proklamiert würde, wie beliebt, bis der Kurs nach dem bezaubernden Rußland gerichtet wurde, kirr-kirrr, und nach seinem unverletzlichen und zuverlässigen Boden, kéhirr! Alter Freund! Éhé! Ké! Jawohl! Geben Sie mir nicht recht hierin, wie, Höchstverehrter! Khsss! ...
Und zur selben Zeit, als sich dies Galgengekicher so herumfraß und sein Teil beitrug zu der Gleichheit und Brüderlichkeit an Bord – zu gleicher Zeit geschah es, daß auch die Bogduroffs plötzlich ihre Taktik änderten und von einem halben Standpunkt zu einem ganzen übergingen.
Mochte die Ursache dazu nun sein, daß auch sie sich verlockt fühlten von all dieser bedeutungsvollen Belustigung, durch die sich die Praxins Freunde erwarben – oder fühlten sie sich ganz einfach ein wenig ungemütlich bei der Aufrechterhaltung ihrer bisherigen Großspurigkeit, nach der Behandlung, die dem aufgeblasenen Herrn Schreiner zuteil geworden war.
Kurz, auch sie schritten zu diesem Zeitpunkt ganz offenbar und aus vollem Ernst dazu, vollständige Kameradschaft mit den Praxins schließen zu wollen!
Ja, ja: war das nicht großartig!
Die Bogduroffs, die steifen, machten sich, offen gestanden, lieb Kind bei den Praxins: bei diesen ihren ehemaligen Erbfeinden und Untertanen, der »kompakten und unindividualisierten« Mehrzahl an Bord, bei denen, die sie zwei ganze Monate nach den Doggerbanks so gut wie gar nicht angesehen hatten – und deren Dasein nur ein klein wenig zu konstatieren sie sich erst in den allerletzten Wochen so eben herabgelassen hatten!
Und nun wollten sie, wie gesagt, plötzlich und jäh gut Freund mit uns sein! Käh! Einfach wunderbar! ...
Das heißt: etwas völlig Neues und Ungeahntes waren ihre Absichten selbst, sich mit den Praxins verbinden zu wollen, ja an und für sich eigentlich nicht.
Freilich waren sie das nicht!
Aber die bisherigen Annäherungen waren allerdings sowohl zerstreut, als auch unbestimmt gewesen – selbst wenn sie auf der andern Seite absolut unzweideutig genug gewesen waren, so daß man jetzt, wo sie wiederholt wurden, nicht deutlich ihren Zweck hätte erkennen können!
So hatten schon vor ein paar Wochen sowohl Bogduroff, als auch Starck, hin und wieder einmal, des Abends in der Messe, von Zeit zu Zeit einladende Seitenblicke zu dem Grafen und seinen Majoritätsfreunden hinübergeworfen. Und da selbstredend ganz und gar nicht auf dies süßes Anblitzen reflektiert worden war, hatte Bogduroff darauf angefangen, mittels der Themata selbst, die er mit seinen Genossen debattierte, den andern, sozusagen, ein Fingergelenk hinzuhalten:
Er kam z. B. mit Bemerkungen, daß er allerdings Herrn Luschinskij Recht schenken müsse, in bezug auf seine Klagen über diese teuflischen Tsetsefliegen und Moskitos! Diese bestachelten kleinen Schurken nicht wahr, die einem die Haut mit roten Dornröschen bestickten und einen jede Nacht, die Gott werden ließ, wach hielten – gar nicht zu reden von der Ansteckungsgefahr, die damit verbunden war, wie! Ja freilich, sie jagten jeden Versuch zu schlummern zur Hölle, und bewirkten dadurch, daß sich die Augen den ganzen Tag hindurch anfühlten, als lägen sie in Seifenlauge oder in Whisky-and-Soda.
Ebenso war es, der Teufel frikassiere ihn – pardon! – war es, wahrhaftig bald zu arg mit dem Koch, Monsieur Duval, der ein so miserables Essen bereitete, daß man nur von dem Anschauen Magentanz bekam, ja, weiß Gott, so war es; man ging nach jeder Mahlzeit umher und hatte ein unsagbares Gefühl, als habe man einen Eimer voll eiskalten Wassers gerade unterm Herzen liegen, ist das nicht korrekt? Wohl haben Sie recht in Ihren Beschwerden, mein lieber Peter Romanowitsch Luschinskij – sagte Bogduroff, lächelnd und holdselig, sich auf seinem Stuhl wiegend, inmitten seiner Freunde, die Ellenbogen fest auf den Tisch gehakt und mit der Hand nach den Praxins hinüberschwenkend:
»Köstlich war auch Ihre verdammte Bemerkung, Nakinskij, als Sie neulich in Anbetracht der traurigen Wirkung auf unser Blut, die Monsieur Duval hat, ihn den Strepto-Koch nannten: das ist ja der griechische Name für einen Blutvergiftungsbazillus, nicht wahr?
Bei meines Vaters Bart!
Hahaha!
Das vergesse ich nie!« ...
Und als ob die Bogduroffs gleichzeitig mit diesen zarten Andeutungen einer bisher ungekannten Freundlichkeit, auch gern das Wegerklären der Tatsache erreichen wollten, die alle an Bord längst beobachtet hatten: daß ihre Kleider allmählich sonderbar geräumig und beutelig für sie geworden waren, daß ihre Beinkleider ihnen um die Knöcheln schlackerten und ihr Redingot über ihren Schultern hing wie auf einem Kleiderständer – gleichsam von einem doppelten Drang getrieben: von einer Sehnsucht, sowohl Freundschaft zu schließen, gleichzeitig aber doch an ihrer erhabenen Würde festzuhalten:
So gingen sie, nach den einleitenden Entrechats, mit stattlichen Schritten noch ein wenig weiter in ihren Annäherungen.
Sie nickten vertraulich quer über den Tisch, auf dem sich Whisky und Gläser herumtrieben, zu den Praxins hinüber und äußerten sich – ohne Spur von Rücksicht auf das maulige Schweigen, mit dem ihre Zärtlichkeit natürlich aufgenommen wurde: daß sie, weiß Gott, feurig übereinstimmten mit der Erbitterung dieser Herren über Dr. Nakinskij, nicht wahr, wie, Doktor?
Kéhé!
Gestatten Sie, daß wir ein wenig mit Ihnen scherzen: mit diesem gelehrten Spezialisten, der trotzdem über keine krasseren Mittel verfüge, als Chinin und Aspirin, um alle die gottverlassene Malaria zu besänftigen, die die Flotte in diesen angenehmen Zeiten bespeit! – Wie geht es à propos mit dem armen Leutnant Boruffkin da unten? Der Reservearzt Arissij meinte ja, daß er es nicht mehr lange machen würde, Herr mein Gott!
Ja, freilich: dies gemeine Morastfieber, das einen seine Adern fühlen ließ, als seien sie, gelinde gesprochen, mit verhungerten Flöhen angefüllt, statt mit Blutkörperchen; und das einem alles Fleisch abschabte, so daß man einer längst begrabenen Skelettausgabe von sich selbst glich!
Héhé!
Nicht wahr, meine Herren?
Sehen Sie meinen Unterarm – der könnte bequem als Zahnstocher Verwendung finden oder als Spekulum, heh! Oder wie lautete doch noch Ihre amüsante und zynische Äußerung betreffs dieser Teile, mein lieber Graf Praxin?! ...
So weit waren die Präliminarien zur Allianz also schon vorgeschritten, ehe noch Uschtujews Lachen von den Entschlafenen auferstanden war.
Gleich von dem allerersten Aufblitzen an hatte die ganze Angelegenheit indessen eine dunkle und höchst berechtigte Beleidigung bei den Praxins hervorgerufen.
Sie hatten hin und wieder eine Empfindung dabei, als liege etwas ganz besonders Hinterhaltiges in dem Umstand, daß die Bogduroffs jetzt plötzlich – gerade zu diesem Zeitpunkt, wo man im Grunde die allergrößte Verwendung für sie hatte, wo es eine so ganz spezielle Notwendigkeit war, daß sie auch fernerhin an ihrer Unberührtheit von den Umständen festhielten: daß sie nun gerade jetzt auf einmal das ganze Verhältnis umkehrten und erklärten, daß jetzt zufälligerweise sie ein Bedürfnis für die Praxins hatten!
Ja pfui, akkurat: da war ganz einfach etwas Abnormes, etwas Unnatürliches in der Freundschaft der Bogduroffs gerade jetzt.
Ihre Annäherungen waren sozusagen eine Art Blutschande – gleichsam als becoure ein Vater seine eigenen Töchter, das Schwein, statt sie vornehm und gut zu verheiraten, so daß für eine schöne und weibliche Zukunft für sie gesorgt war!
Darum also hatten sich die Praxins keineswegs durch diese Ouvertüre-Zärtlichkeiten schmelzen lassen: sie stellten sich nur so, als sähen oder hörten sie sie nicht!
Aber in aller Stille hatten sie natürlich die Augen aufgehalten; das fehlte auch noch!
So bemerkten sie recht gut – und das erhielt ihre Kränkung am Leben – daß, je mehr sie sich der Schmeicheleien der Bogduroffs erwehrten, um so eifriger wurden diese Herren in ihrer Zudringlichkeit, und um so krankhafter und gebrechlicher waren sie anzuschauen.
Zum Beispiel bemerkte Luschinskij, daß sowohl Bogduroff selber, wie auch ein Teil der übrigen Mitglieder seiner Clique immer und ewig den Mund mit Pfeffermünzcachou oder Veilchenwurz vollgepfropft umhergingen; sie salbten ihre Bärte verschwenderisch mit Brillantine und ließen nie die Zigarette aus den Lippen: das alles offenbar, um die Anfälle von dreckigem Atem zu verdecken, die jetzt das Ergebnis ihrer ständigen Schlaflosigkeit, ihres permanenten Appetitmangels und ihrer widerlichen Magerkeit geworden waren!
Hin und wieder sah Praxin oder Peter Romanowitsch sogar deutlich genug, um auch persönlich schlimm und übel dabei zu werden: wie der eine oder der andere von diesen Leuten ganz im geheimen einen Augenblick seine hohle Hand als Verbindungsrohr zwischen Nase und Mund hielt, tief aufschnüffelte, und offenbar die herzbrechendsten Beweise dafür erhielt, daß noch immer Duftzeichen von ihren inwendigen Pestgeschwüren vorhanden waren.
Äh, bäh, sehen Sie: so gemein hatten sich die Bogduroffs schon seit einiger Zeit benommen.
Gottlob aber jedoch noch so zögernd in ihren Approximationen, daß es bisher wenigstens einigermaßen möglich gewesen war, zu tun, als bemerke man sie nicht ...
Aber jetzt, in diesen Tagen, wo Schreiners dampfgereinigte Knochen, im Verein mit der von des armen Uschtujews Himmelfahrt ererbten Starrkrampfmunterkeit, angefangen hatten wie ein tuberkulöses und sich räusperndes Gespenst auf dem Schiffe herumzutraben – – jetzt waren die Bogduroffs offenbar in ihrem Hunger nach Geselligkeit so weit gekommen, daß sie, vielleicht in der Hoffnung, dadurch ihr persönliches Risiko zu vermindern, früher oder später einmal eine ähnliche Behandlung zu erfahren wie der Maschinenmeister, sich vollständig über diese Maulerei hinwegsetzten, mit der ihre vorläufigen Versuche beantwortet waren.
Offen gestanden, als seien sie begeifert und glatt geworden durch das Blödsinnige und Splitternackte in der Praxinschen Nachäffung des Uschtujew-Greinens – gleichsam auf eine schleimüberzogene, abschüssige Bahn geraten, fühlten die Bogduroffs plötzlich, daß ihre Füße unter ihnen weggitschten, bei dem Stoß, den dies Ereignis mit Schreiner ihrer im voraus schwankenden Erhabenheit versetzte. Mit einem Bums fielen sie von ihrem ehemaligen steifen Standpunkt auf den Hintern nieder, glitten in einem einzigen Nu weit hinüber auf die andere Seite aller ihrer bisherigen viertel und halben Annäherungen den Praxins gegenüber und rutschten ihnen darauf, schäumend, greinend und schwindlig, mit ihrer Courmacherei direkt und intim zu Leibe.
Auf allen möglichen Gebieten, während des Dienstes und in der freien Zeit, steckten sie ganz ungeniert ihre schweißigen Fühlhörner und ihren schmutzigen Atem dicht unter die Nasen Luschinskijs und der anderen Praxine.
Des Morgens, des Mittags und des Abends kamen sie jeden Augenblick zu einem hin, tasteten einem laut lachend an den Händen herum und klatschten einem kichernd auf die Schulter.
Unter dem Vorwand, Anteil haben zu wollen an der allgemeinen Lachlust, héhé, warben sie förmlich unflätig um Freundschaft.
Wenn dann der Graf selber oder einer seiner Kameraden, mehr und mehr empört über diesen unfeinen Umschlag in den Manieren der Bogduroffs, sich dagegen auflehnte, indem er nach besten Kräften ein Eisgesicht aufsetzte: dann ließen sich die hohen Herren dadurch keineswegs erkälten!
Ganz und gar nicht!
Sie rückten nur nach, wenn Luschinskij demonstrativ seinen Stuhl von ihnen wegrückte; und wenn Simoff tat, als überhöre er ihr Anschnattern, so waren sie von engelhafter Geduld, indem sie einmal über das andere wiederholten, was sie gesagt hatten.
Sie waren ganz einfach nicht abzuschütteln – so krank nach Kollegialität waren sie geworden!
Und so voll Unwahrheit waren sie obendrein, diese großartigen, selbstüberzogenen Burschen, daß, obwohl sie natürlich sehr gut begreifen mußten, daß das zähnerasselnde Lachen der Praxins keineswegs irgendeine humoristische Auffassung von der Fahrt bedeutete; und obwohl sie offenbar auch selbst bis auf den Grund ihres Wesens von diesem Gegreine und von der Ursache seines Entstehens erschüttert und besudelt waren – sie sich dennoch anstrengten, so zu tun, als sei es nur ein freiwilliges Amüsement, oder nur gleichsam eine Art gegenseitigen Erkennungssignals, oder nur eine Folge privater Gemütlichkeit, daß sie, jedesmal, wo sie ein Gespräch mit den Praxins begannen, immer und ausnahmslos ihren Diskurs mit einer Nummer dieser neuen, hinten ausschlagenden Hicksen-Hilaritas einleiteten.
»Kéhirr! Meine lieben Kameraden!« sagten sie bei jeder Gelegenheit, mit ihren blanken Augen flackernd, und auf den Fußboden stampfend, um so recht zu beweisen, wie feurig und spontan sie teilnahmen an der jugendlichen und von Grund aus natürlichen Munterkeit der anderen, und wie getreu und männlich sie selbst, trotz aller Lustigkeit, sich ihrer Pflichten als Offiziere erinnerten:
»Ja! Wahrlich! Wie es uns ältere Befehlshaber erfreut, zu sehen, daß Sie sich Ihre Lebensfreude in dem Maße erhalten! Ganz was wir im voraus von Ihnen erwartet hatten! Verstanden?
Begreifen Sie: gerade unter diesen Verhältnissen, nicht wahr, wo es doch etwas zu sagen hat, daß man die scherzhafte Laune unter der Mannschaft aufrecht hält: hier müssen wir, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Leute lehren, sich auch auf andere Weise zu erheitern, als indem sie Ingenieure und sonstige Vorgesetzte verbrühen, hahaha, heh! Nun, Sie verstehen!
Kéhé! Ja: wir danken Ihnen – wir, Ihre betagten Kollegen, ganz einfach!
Mon dieu!
Fahren Sie so fort!
Vorzüglich!
Selbst der elendeste Matrose wird geradezu bezaubert sein, von Ihrer jubilierenden Tapferkeit!
Ké! Gestatten Sie, mein Freund, daß auch wir mit Ihnen lachen!
Kéhirr! Kéhé! Ké! Kksss!« – und von neuem streckten sie ihre scheckigen Malariahände aus und tanzten einem damit auf der Schulter herum – die Augen feuerrot und zusammengekniffen, als sei ihnen vor ein paar Minuten ein reichlicher Strahl Anilin in die Pupillen hineingespritzt worden.
Aber im selben Nu, wo Luschinskij und seine Kameraden auch diese seelenverschwärten Leute auf diese Weise lachen hörten – als hingen die Knochen selbst abgenagt und schlotternd dadrinnen in ihren weiten Kleidern –, da hatte er auf einmal die Empfindung, als würde eine seiner allerletzten Hoffnungen, mit heiler Haut von dieser Fahrt heim zu gelangen, plötzlich in den Grund geschossen und umgestürzt.
Er fühlte einige dunkle einschnürende Trauerflore hinten im Nacken, das Fleisch seiner Wangen saugte sich an seinen Zähnen fest und er wurde, ohne zu wissen warum, knochentrocken oben am Gaumenzapfen:
»Zum Teufel auch! Sie erfreuen mich gewaltig durch Ihre vorzügliche Meinung von uns!« sagte er, ganz leise, über die Wörter strauchelnd; darauf schubste er Bogduroffs Hand von seinem Schlüsselbein herunter – in einem plötzlichen, unbewußten und instinktiven Verständnis, daß man ein Nahetreten am allerbesten durch Zunahetreten ablehnt:
»Aber um der ewigen Jungfrau willen, lieber Freund, lachen Sie, so viel Sie wollen!
Bitte sehr!
Aber sagen Sie mir doch – und verzeihen Sie, daß wenigstens ich ganz offen rede: glauben Sie, daß es mir Vergnügen macht, wenn Sie hier stehen und mich gerade ins Gesicht anpesten mit Ihrem ... Sargtischleratem?
Sie verstehen: Scherz erzeugt Scherz!« und damit wandte Luschinskij sein glühendes Antlitz nach seinen Kameraden um, ihnen mit aller Macht zublinzelnd. Dann sah er verstohlen wieder zu Bogduroff hinüber – der am Tischende stand, die kleinen Überreste seiner Wangen lila gefärbt, auf den Füßen wackelnd und an seinem Bart zerrend, als sei er dumm genug, zu glauben, daß er seinen bösen Atem geradeswegs aus dem Mund herausziehen und wegschmeißen könne.
Augenblicklich brachen alle Peter Romanowitsch' Genossen in eine Heiterkeit aus, so daß es ihnen in den Lungen schurrte; sie stemmten ihre langen Finger in die Seiten und beugten ihre Vogelhälse hintenüber:
»Um Christi Leiden willen!« hicksten sie, sobald ihr Lachen ihnen gestattete, ein klein wenig Luft zu schöpfen. »Ja freilich!
Peter hat wirklich recht!
Ihr sonderbarer Atem, der wie eine Grabkapelle duftet oder wie ein Totengräber!
Oder haben Sie etwa, hochverehrter Herr Bogduroff, Ihren formidablen Sarg schon in Ihrer Brust parat? Wie? Nicht wahr? Kähä!«
Und jedesmal in den folgenden Tagen, wenn irgendeiner der Bogduroffs nur mit dem allerleisesten Versuch, die Annäherung aufzufrischen, herankam, so brachen die Praxins sofort wieder in ein Gelächter aus und tischten Luschinskijs feinen Witz von neuem auf.
Oder sie baten – zusammengekrümmt vor innerer Wonne, dieses scherzhafte und ganz unantastbare Mittel gefunden zu haben, wodurch sie die anderen zwangen, auf ihrem majestätischen Standpunkt zu verharren – sie baten die Betreffenden höflichst, sie zu entschuldigen, während sie aber hinabliefen und ein paar Riechfläschchen heraufholten, oder einen Respirator, um ihrer Nase willen, wie, lieber Starck.
Warten Sie nur eine Minute, Herr Bjelostskij; ich werde gleich wieder hier sein, in voller Vigueur, um Ihre Bemerkungen unbeschädigt hineinschnüffeln zu können!
Kéhé!
Heh!
Kssss!
Und seien Sie so freundlich, mir diese geistreiche Bemerkung zu verzeihen!« ...
Unter diesen trübseligen Verhältnissen kam es daher den Bogduroffs ganz besonders gelegen, daß das Geschwader, ein paar Tage nach dieser Affäre mit Luschinskij, Order erhielt, aus seinem Anker-, Reparatur-, Malaria- und Schwitzplatz auf der Reede von Diego Suarez auszulaufen, um eine der gewöhnlichen, wöchentlichen und törichten dreitägigen Übungsfahrten in offener See zu machen.
Die Armada wurde, wie immer, in zwei Parteien geteilt.
Die eine stellte Togo vor und malte deswegen blaue Streifen rund um ihre Schornsteine herum, so daß sie höhnisch Frauenzimmerstrümpfen glichen – die andere Hälfte aber blieb dem Zaren ewig treu, sie waren echte Russen.
Und dann zogen die beiden Gruppen von dannen – die eine am Morgen, die andere am Abend.
Beide bis an den Top voll von Geheimnissen und versiegelten Orders, die erst auf der Höhe von Camp d'Ambre oder sonst irgendeinem verblüffenden Ort erbrochen werden durften.
Und sobald die Befehle geöffnet waren, begannen die Feindlichkeiten.
Man kämpfte ein paar Tage und Nächte mit allen möglichen und unmöglichen Listen gegeneinander.
Die Kreuzer durchschnitten die Fahrwasser und suchten sie mit ihren Messerschnauzen gerade über dem Meeresrande ab.
Die Schlachtschiffe schaukelten langsam hinterdrein, alle Knochen parat.
Die Torpedoflottillen flensten sich heftig in der See umher, schäumend vor Eifer und Willigkeit.
Jawohl! Kampf und Taktik, Streitlust und Strategie! Heh! Diese übertalentvollen Übungsfahrten, die buchstäblich gleichsam einzig und allein dazu arrangiert waren, um den inneren Ekel bei einem in sprudelnder Routine zu halten!
Denn allerdings gestaltete sich der Dienst an Bord ja selbstverständlich, in den ersten Stunden eines jeden von diesen kleinen Ausflügen, einigermaßen als Abwechslung von der kaltschwitzenden Faulenzerei auf der Reede – und den daraus fließenden Tendenzen zu Dysenterie.
Das Blut konnte förmlich einen Anlauf nehmen, sich wieder in den Adern zu bewegen, und die Haut dehnte sich halbwegs von neuem lebendig – vor Geschäftigkeit, während der Dampf aufgemacht wurde, der Anker gelichtet, die Instruktionen erteilt, die Kriegsartikel verlesen und nochmals eingeschärft, die Handwaffen nachgesehen wurden, und während man die Mannschaft im Galopp herumhetzte, um ihnen die Kriegsstimmung auf die Oberfläche hervorzuzaubern.
Ganz recht ja: über die ersten zwei, drei Stunden von jeder Fahrt konnte man wirklich nicht sonderlich klagen – namentlich wenn sich das Wetter einigermaßen im Zaun hielt und sich wenigstens damit begnügte, des Nachts zu platschen.
Und hin und wieder später, in einem einzelnen spannenden Moment – wo der eine Torpedozerstörer nach dem anderen längsschiffs dahergerauscht kam, so klein wie eine Zigarre neben einem Walfisch, und Meldungen überbrachte. Oder wenn man zu nächtlicher Zeit oben auf dem Kommandoturm stand – wissend, daß die Vorpostenschiffe des Gegners nicht sonderlich weit entfernt sein konnten – und abwechselnd in das Brandauge des Kompaßhäuschens starrte, oder versuchte, die Brauen gleich einem Nachtfernrohrschirm über die Nasenwurzel gezogen, seinen Blick auf den Grund der blauen und spiralenden Finsternis hineinzuglotzen. Oder wenn man dann, nachdem die Wachtzeit um war, aus dem Turm herauskam, wo die Luft aus dem eigenen Schweiß und dem der Vorgänger fabriziert war, sich halbschlafend auf der Brücke aufstellte und sich langsam auf und nieder wiegen ließ, herrlich durchkühlt von Dunkelheit und Schläfrigkeit, von Wind und Fahrt – oder vielleicht von einem kleinen und alerten Regenschauer – so daß man eine Sekunde die sonst längst vergessene Empfindung spürte: als wenn die Haut plötzlich erwachte und sich streckte, als gähne sie zufrieden und riesele dann über sich selbst herab wie ein plätscherndes Sturzbad:
Ja, freilich – dann und wann konnte man auf einen oder den anderen kurzen Augenblick fast nachlassen, sich all des Unabwendlichen zu erinnern, das in Wirklichkeit da draußen in der Zukunft herumkroch und darauf wartete, einen tödlich zu begeifern!
Und hin und wieder – wenn man nach einer der gewöhnlichen schmutzigen Nächte, wo alles Bettzeug klatschnaß und sauer war von Schweiß, so daß einem die Haut langsam verzehrt wurde, wie bei einem Wickelkind, das seine Zeit in ungewechselten Windeln zubringt – ja, wenn man nach solch einer Rasiernacht schließlich ein klein wenig wund geworden war, sozusagen, und deswegen ganz früh aus der Koje herausschwankte, gleich nach Sonnenaufgang, in den Sturzbadraum schlich, eine Viertelstunde dadrinnen stehen blieb, bis einem das Gehirn zu einer Glaskugel geworden war, ein Paar weiße Beinkleider und eine Flanelljacke anzog, auf Deck hinaufpatschte, ganz nach Achtern, seine Zigarette anzündete, die Arme kreuzweise auf die graue Reeling legte, sich über das Wasser lehnte und sich halbblind glotzte, indem man auf die tischgroßen, grünen Flaschenböden hinabstarrte, die ununterbrochen zu Dutzenden von den drei Schrauben aufgesprudelt wurden – als puste das Schiff alle seine Luft da unten unter der Meeresfläche hervor, aus dem Munde wie aus beiden Nasenlöchern; und wenn man dann nach und nach, während sich die Augen gleichsam mehr und mehr aus dem Kopf herausbeulten, schließlich ein Gefühl hatte: als bestünde das Leben überhaupt aus nichts weiter als, gleich zwei Beulen oder Blasen, so zu hängen und hinabzustarren auf Tausende:
Ja, in so einem einzelnen Ohnmachtsnu konnte man, hin und wieder, ungefähr ein sekundenlanges Aufblitzen von Vergessen und Frieden haben, ganz einfach, als ob da niemals auch nur ein einziger Mensch existiert habe, der nur ahnte, was Krieg ist.
Hehe!
Nicht wahr?
Sehen Sie hier einmal: oder was sagen die Herren zu diesen Blasen, die hier unten von den Schrauben angeschwellt werden, eine dicht neben der anderen: sagen Sie mir, können auch Sie merken, daß es bis hier oben hinauf spritzt, ganz, als säße man, taumelnd betrunken, oben auf dem Rande eines Champagnerglases und würde ins Gesicht hinein geperlt, bis man nieste! Habe ich nicht recht? Und hinter Ihnen geht die Sonne auf, das stinkende Fieberschwein! Oder haben Sie sich vielleicht schon vor mehreren Minuten über den Duft aus ihrem roten Schlund erbrochen?
Wie beliebt?
Kéhé
Ké
Kkssss! ...
Also während fünf oder sechs einzelner Sekunden dieser kleinen Fahrten konnte man sich vollkommen wunderbar fühlen und – offen gestanden – über alle menschliche Weise gut zuwege sein.
Aber wenn dann die beiden Parteien der Armada – – nach aller dieser, sozusagen, Angespanntheit, nach genialen Fahrten hin und her und dann wieder zurück und vorwärts (wobei man selbstverständlich ab und zu das eine oder das andere Torpedoboot mehr oder weniger mit Mann und Maus in den Grund bohrte, und auch selbst einen argen Nervenchoc bekam, indem das Schiff über das betreffende Boot hinwegfuhr: denn man glaubte ja in der Regel, daß es entweder ein Japaner oder eine Mine sei, nicht wahr?), nach großartigen und ganz verwirrenden Schwenkmanieren der Scheinwerfer; und nach göttlich geduldigen Wiederholungen von Ausbringen und Bergen des Torpedonetzes und so weiter:
Wenn dann die beiden Parteien sich schließlich im Kampf begegnen, wenn die Übungen also wirklich zeigen sollten, wozu man taugte: Ja dann erhielt man allerdings auch gründlichen Bescheid nach dieser Richtung hin!
Kéhé!
Jawohl, Gott sei's geklagt!
Entweder gelang es nämlich ganz einfach gar nicht, einander zu begegnen: man rannte gegenseitig wieder und wieder umeinander herum, oder man hatte verkehrte Orders erhalten, man hörte keinen Muck voneinander, sah auch nicht eine Spur voneinander!
Oder auch, wenn man dann endlich zufälligerweise die Nasen zusammenstieß, so geschah selbstverständlich auch da irgendein kleines Mißverständnis – zum Beispiel etwas Ähnliches wie das, was sich diesmal ereignete.
Luschinskijs Partei hatte schließlich, dem Plan des Leiters folgend, ihre drei Panzerschiffe unter Nosi Lavas blaue Klippen versteckt (Kreuzer und Torpedoboote patrouillierten draußen in offener See vor der Reede) und lagen da, die letzte Nacht, bevor die Übungsschlacht der Annahme nach stattfinden sollte. Sämtliche Schiffe waren natürlich – wie Frauenzimmer, die sich fürchten, vergewaltigt und mit Spermatozoen durchspritzt zu werden – mit ihrem Panzerrock aus Torpedonetzen umhängt worden. Alle Lichter waren abgeblendet. Jeder Mann an Bord war in den Kleidern: sie lagen ringsumher in dunklen Ecken und Winkeln verborgen, schlaff wie Waschlappen, und schliefen mit offenen Mündern, die Lippen von Moskitos zischelnd.
Die Nacht hatte ihre Hitze noch höher hinaufgeschroben denn je zuvor.
Nosi Lava schwindelte in die Höhe wie eine kohlschwarze Explosionspforte. Der Wind zog feuerheiß um die Klippe herum. Die Wärme sengte gestreift durch die Luft. Hin und wieder ging der phosphorblaue Schimmer einer Fischflosse über die Stille des Wassers dahin. Tief da unten glühten die roten Schleimtiere. Die Masttoppen schwälten violett.
Die anderen Schiffe waren rechts und links sichtbar. Pechschwarz ragten sie aus dem Meere auf, jedes gleichsam auf seiner gewölbten Linie von Bläue stehend.
Der Rauch aus den Schornsteinen fühlte sich wie noch eine Trockenheit in der Atmosphäre an und kratzte im Halse.
Und zum Tode gespannt, éhé, wartete man auf den Kreuzer, der Meldung von dem »Feind« bringen sollte.
Stunde auf Stunde verging; man saß unten in der Messe, das Haar klatschnaß und schwer, entweder duselnd, ohne ein Wort zu sagen, oder plötzlich für einen Augenblick mit der ersten besten Wut rasselnd. Oder man wanderte, hin und wieder, engbrüstig, keuchend, auf die Kommandobrücke hinauf, lehnte sich gegen das Geländer, bog den Nacken hintenüber und machte seine heißen Augen schwiemeln, indem man in die spiralende Finsternis hinaufglotzte.
Da stand ein kreideweißer Stern und flackerte, gerade über »Orels« vorderem Mast ...
Gregorow fing allmählich an, sich selbst am Bart zu ziehen; er bewegte seine Schwermütigkeiten von Blicken immer langsamer.
Minute für Minute empfand man selbst, alle miteinander, wie man allmählich erblaßte und fahl wurde, vor Mattigkeit – und vor verzehrender Gereiztheit über diese grenzenlose Wartezeit, der Teufel hole uns samt und sonders, wollen sie das denn ewig in die Länge ziehen, diese Quatschköpfe, Gott gnade ihnen, wenn sie nicht bald hier sind! ...
Aber dann sah man, endlich, auf einmal, dort bei der Einfahrt – dicht vor dem fernen, weißen und geräuschlos aufspritzenden Gischt über dem Korallenriff – den dunklen Schatten eines Schiffes, gleitend, gezackt.
Und im selben Augenblick also war es, daß der »Orel« plötzlich das Amoklaufen begann.
Pfeifensignale trillerten da drüben auf, Rufe trichterten sich hinaus, und eine Sekunde später zerplatzte die Nacht von Kanonenblitzen und Gebrüll, eins, zwei, vier, sieben große Schüsse, die dröhnend durch den Raum dahinwanderten.
Bei dem dritten konnte man an dem Anschlag, dem Krachen und gleich darauf an dem Schrei erkennen, daß es da draußen getroffen, in das entgegenkommende Schiff eingeschlagen hatte.
Aber dann wurde ebenso jäh wieder alles still da drüben auf dem »Orel«: selbstverständlich war es unser eigener Kreuzer, auf den sie geschossen hatten, die verrückten Viecher – und mit scharfen Geschossen!
Und die Kanonade war natürlich ausnahmsweise einmal nicht resultatlos gewesen: vier Tote und siebzehn Verwundete, von dem einen einzigen Treffer! Kann man viel mehr verlangen? Noch dazu, wenn man in Betracht zieht, daß man den Schuß doch als eine Friedensübung betrachten mußte, sintemal es ein Kamerad war, über den es herging!
Danke sehr: vier Leichen und siebzehn Krüppel hatte der Kreuzer zu verzeichnen von dem einen Geschoß von Freundeshand; ein vorzügliches Ergebnis, das wirklich das Beste verhieß, in bezug darauf, wie es gehen würde, wenn man einmal von einem Feind getroffen würde, nicht wahr? Und unter den vier Getöteten war also obendrein der Kommandant des Schiffes, Kapitän Kirin, der lächelnde Herr: ihm wurde seine große Brust allerliebst der Länge nach aufgeschlitzt von einem Granatensplitter, und er starb ein paar Minuten nach der »Schlacht«: aber seine letzten Worte machten kichernd die Runde durch die ganze Armada:
»Ich denke daran ...« – erzählten seine Kameraden, habe er unterwegs zum Lazarett gesagt, während er die Bahre mit seiner privaten und inwendigsten Röte füllte – »daß dies hier wohl die einzige Freundlichkeit ist, die mir die Regierung jemals erwiesen hat!
Ich beklage – rrr –, ich beklag' nu', daß sie ..., sie ... orrr ... die Folge eines Missv ... Mißverständ ... Miß ...« und dann konnte er nicht mehr, der arme Kerl, hol' mich der Teufel, das Blut quatschte ihm aus dem Munde heraus, und er himmelte: aber was sagen Sie zu dem Schlußwitz? Wahr, ja das war er, weiß Gott! Jawohl, die einzige Zärtlichkeit, die ihm die Regierung je erwiesen hatte! Kéhé! Hahaha! Ach ja! O Gott! Hahaha! ...
Yes, auf diese Weise endete die instruktive Übungsfahrt des Geschwaders für diesmal.
Die Armada hißte Halbmast und richtete den Kurs nach dem gewöhnlichen Malheurhafen, in einer ganz sonderlich aufgelegten und munteren Stimmung.
Und als man dann endlich wieder bei Diego Suarez, dieser Lebensretirade, lag und wie immer haufenweise Maschinenhavarien und andere erdenkliche Reparaturen hatte, und als die Krankenliste unter den Leuten noch mehr anwuchs als bisher – und man auch persönlich gleichsam eine gesammelte Übersicht über sämtliche Fiebermaladien war, ké: während alledem wurde man sich auf einmal wieder noch mehr als sonst vollkommen klar über das Ganze!
Man begriff zur Genüge, wie großartig schlecht jedes einzelne Schiff bemannt und gebaut war.
Man verstand verteufelt gründlich, wie vorzüglich unzureichend sowohl für die eigene, wie für der Mannschaft Gesundheit gesorgt war!
Man wurde komisch befreit von jeglichem Zweifel darüber, wozu dies alles führen würde: entweder wenn man wirklich einmal dazu kommen sollte, gegen Togo zu kämpfen, oder selbst, wenn man es nie soweit bringen sollte!
Kéhirr!
Und die Hitze, die fortfuhr herniederzuschmelzen, alle Welt in einen blauen Backofen hineinsperrend (obwohl es übrigens obendrein in den Nächten hin und wieder kühl genug sein konnte) – oder der Regen, der einen von oben und von unten rings umschwälte; diese beiden Dinge verschafften einem die allerletzten, beziehungsweise glutsauren und zähneklappernden oder grundverwesten und fieberhaften Erinnerungen daran, wo man war, wer man war, und was binnen geraumer Zeit das einzige, aber wohldurchgeführte Ergebnis sein würde: falls es nicht vorher gelang, das Geschwader zur Umkehr zu zwingen – o Gott, wenn das doch baldigst gelingen möchte!
Kä! Kähä! Ja!
Wiederum blieb einem, mit anderen Worten, nichts weiter übrig, als Iwan mit den Füßen zu stoßen – in der dunklen Hoffnung, auf diese Fasson das Rechte zu erlangen.
Oder man sehnte sich geradezu danach, daß die Bogduroffs noch einmal ihre an und für sich klotzigen und widerlichen Annäherungsversuche machen würden, so daß man wieder etwas mehr Äußerliches zu denken bekam – während man gleichzeitig durch die Zurückweisung der Freundlichkeit dieser Leute selbst im Allerinnersten erwartete, so zerrüttend auf sie zu wirken, daß auch sie anfingen, sich ein wenig energischer für die Heimkehr zu interessieren! ...
Und wirklich zeigte es sich auch, als das Geschwader also wieder vor Anker gegangen war: daß jetzt die Herren Bogduroffs, vermutlich infolge ihrer tiefen Teilnahme für Herrn Kapitän Kirin, entweder gänzlich vergessen hatten, wie traurig es ihnen selbst mit ihren Zärtlichkeiten vor der Fahrt ergangen war –
oder sie hatten auf alle Fälle hinreichend gewichtige Gründe in sich, so zu tun, als erinnerten sie sich der Bagatellen nicht mehr!
Kurz, schon am Abend, nachdem man wieder nach Diego, diesem schwälenden Krematorium, zurückgekehrt war, benutzten sie dies als Vorwand, um plötzlich die ganze Offiziersmesse auf Champagner einzuladen.
»Freilich!« sagten sie, über das ganze Gesicht mit ihren Beberlippen lachend. »Kommen Sie, meine Herren! Lassen Sie uns die interessante und instruktive Übung feiern, die wir hinter uns haben, indem wir Kommandant Gregorow zum Fest einladen! Unseren energischen und hochbegabten Chef!
Éhé!
Und gleichzeitig gedenken wir, den Becher in der Hand, unseres Freundes, des Kapitäns Kirin – des Mannes mit dem erstaunlich kühnen, jetzt leider stehengebliebenen Herzen!
Nicht wahr, meine Herren? Einstimmig angenommen!?
Und Starck und ich haben die Ehre, die Kosten zu tragen!
Unsinn!
Hahaha!«
Abend für Abend ging es so.
Am Tage schuftete und exerzierte man, an das Deck oder die Batterie festgelötet, während die Maschineningenieure da unten mit ihren Reparationen Gong-gong machten, und jeden Abend lud der eine oder der andere der Bogduroffs zum Feste ein.
Die Herren schmissen förmlich um sich mit ihren Spardukaten.
Und gleichzeitig waren sie auf den Einfall gekommen, als Gelegenheitsredner aufzutreten:
Während man dasaß und ihr Traktement schlürfte, benutzten sie diese erkaufte Zentralität, um mit moralischen Toasten aufzuwarten. Selbst unter Madame Cliquots Brausehahn vergaßen sie augenscheinlich nicht einen einzigen Augenblick ihre hühnerdummen Hoffnungen, einen ethischen Einfluß auf die Praxins zu erlangen – um sich selber dadurch Rückgrat zu verleihen.
»Auf Zusammenhalten und Kameradschaft, meine allerliebsten Herren!« schrien sie, indem sie die Becher in ihren Trinkerhänden schwangen. Sie hatten feuerrote Rostflecke ringsumher in den Gesichtern. Ihre Backenknochen hatten in den letzten Wochen gleichsam eine Neigung verraten, sich nach den Seiten hinauszustempeln: als hätten sie die Absicht, nach heftiger Beratung mit anderen inwendigen Teilen, einmal bei gegebener Gelegenheit ihnen vollständig aus dem Kopfe herauszuspazieren; möchte es doch bald geschehen:
»Amüsieren wir uns doch miteinander! Lassen wir Parteien und Cliquenwesen verschwinden! Lassen Sie uns entzückt miteinander sein! Trinken Sie aus! So wie wir nun doch einmal die männliche Verantwortung miteinander tragen sollen, nicht wahr, héhé, wenn die Zeit dazu gekommen sein wird!
Schenken Sie doch wieder ein!
Lange lebe der Dienst und die Arbeit!
Meine Kameraden! Wir Offiziere! Peter des Großen ehrlich geborene Enkel! Rußlands jugendliche Marine! Unseres hochgeliebten Kriegsherrn, des Zaren Wohl!
Auf Glück und Sieg!
Denken Sie an Kirin, der mit einem Lächeln starb!« – und indem Starck seine Magenhöhlung gegen die Tischkante stützte, und mit den Händen in der Luft herumboxend, diese Lüge ausrief, an die er vermutlich persönlich nicht einen Muck mehr glaubte – saßen seine Augen wie zwei haarige Spinnen drinnen in ihren schmutzigen Höhlen auf der Lauer, um zu erspähen, ob er wirklich noch so viel Herrschaft über sich selbst haben sollte, daß er beständig den anderen imponieren konnte.
Aber oho!
Nein, nein!
Nicht einmal Praxin ließ sich düpieren!
Selbst er hatte längst bemerkt, daß die Bogduroffs sozusagen nahe daran waren, sich totzuhungern vor Sehnsucht nach Gesellschaft, daß sie im Begriff standen, ihre gegenseitigen Schenkelmuskeln und Arme zu verzehren, aus Bedürfnis, den Mund zu gebrauchen, ohne gezwungen zu sein, Zweifel zu äußern. Aus ihren knochenmageren und delirierenden Hungerfratzen hatte er schon herausgelesen, daß sie wahrlich bereit waren, alles Mögliche von ihrem Ruhm und ihrer Reputation, sowohl als Soldaten, wie als Männer und Gentlemen, nur für ein einziges kleines Krümchen Bewunderung hinzugeben!
Aber gerade deswegen fehlte es ja auch nur noch, daß man ihnen dergleichen servierte!
Hahaha!
Nie in diesem Leben, bei Gott!
Man hatte es seinerzeit selbst nicht übermäßig gut gehabt, damals, als die Fahrt begann!
Man kannte aus persönlicher Erfahrung, sowohl, was es heißt, wenn die Speiseröhre – hochrot und wollig behaart – fortfährt, sich einem im Schlund heraufzukrempeln, vor Durst nach nur einem einzigen Schluck Hoffnung für die Zukunft!
Und man hatte selbst spüren müssen, wie das Herz in einem umherkrabbeln und flennen kann, wie es einem im Brustkasten herumschwankt, schreiend und brüllend, überall anklopfend, um möglicherweise einen Ausweg aus dem Ganzen zu finden!
Jawohl, ehéhé, ehéhéhé! durch das alles hatte man sich infam und persönlich hindurchhungern müssen – und nun fehlte es ja nur noch, daß man sich dies unwiderruflich letzte Entzücken in diesem Leben versagen sollte: die Freude darüber, daß jetzt an den Bogduroffs die Reihe war!:
Jetzt waren es wohl diese großen Herren, deren Gesichter besudelt und übertrampelt werden sollten, von eben diesem selben Todeswissen, von dieser Hoffnungslosigkeit, von genau demselben winzig kleinen und niederträchtig zählebigen Resten von Willen zum Mut und zum Leben!
Kä!
Jawohl, messieurs: und wie denken Sie denn darüber, noch ein paar Monate, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Nacht für Nacht, in dieser selben, viel zu gemütlichen Situation zu verharren?! In dieser dreieinhalbhundert Grad heißen Verzweiflung – mit jeder Katastrophe in Temperatur steigend!
Hahaha!
Und im übrigen – ganz abgesehen von der Gerechtigkeit und Selbstverständlichkeit, die darin lag, daß auch die Bogduroffs, ehe ihr Ende kam, Gelegenheit hatten, ein wenig von der Würze des Lebens zu erproben: sintemal diese massiven Herren zu Anfang der Fahrt ein für allemal der ganzen Welt eingebildet hatten, daß sie mehr wert waren, als irgend jemand sonst, so war es wohl ganz einfach ihre selige Pflicht, an dieser Position auch festzuhalten!
Nicht wahr? Und wenn sie das nicht selbst mehr konnten – eh bien, so waren ja Gottlob wir anderen da, um es für sie zu besorgen! Wie? Oder ist da irgend jemand, der irgend etwas gegen diese unsere Logik einzuwenden hätte? ...
Vier oder fünf Abende hintereinander – entweder an Bord oder ausnahmsweise einmal im Café de Paris, rue de Colbert, oben in Diego – duldeten die Praxins also diese Traktements mit Champagner, und die begleitenden Toaste: aber nur der Neuheit halber, oder weil ein paar von den französischen Landoffizieren mit eingeladen waren, oder weil man dem geizigen Starck und der sparsamen Haushälterin Bogduroff den Ärger gönnte, ihr Geld umsonst auszugeben!
Denn selbstredend würde man natürlich dafür sorgen, daß es vergeblich sein würde, das Ganze!
Im übrigen aber nahm man natürlich aus verschwärtem und daher großem Herzen ihre sämtlichen Einladungen an.
Praxin trank sich einen Bombenrausch in diesen Nächten an: er lag stundenlang auf dem Diwan, das Gesicht leuchtend wie eine Bordellampel und erzählte Dirnengeschichten aus Paris – ohne auch nur einen Zuhörer nötig zu haben.
Simoff vergaß seine Umgebung, sobald Mitternacht nahte; er setzte sich in eine Ecke der Messe und fing an Briefe nach Hause an seine Braut zu schreiben – mit einem solchen Eifer, daß er ganz und gar nicht merkte, daß er weder Feder noch Federhalter in der Hand hielt, während er darauf los kritzelte; in ein paar Stunden füllte er fünf oder sechs große Bogen mit nichts – außer den Flecken, mit denen seine Champagnertränen das Papier besudelten.
Und der kleine Oberleutnant Sergius Rosen – der sich selbst, eine Frau, eine Schwiegermutter und sechs schreiende Kinder daheim von seinen zweitausend Rubeln im Jahr zu versorgen hatte, und der sich seit der Affäre bei den Doggerbanks ungebührlich auf Meukow und Hennessy geworfen hatte – er füllte sich schon den dritten dieser fünf Abende so übervoll, daß er an die Erde trundelte, sein Champagnerglas in der Hand, als er sich erheben wollte, um ein spezielles Glas mit seinem ewig geliebten Freund, Herrn Peter Ro-Ro-Romanowitsch Luschinskij, zu trinken.
Direkt auf die Nase fiel er, zwischen den Stühlen hindurchrasselnd, und zersplitterte seinen Kelch in hundert Stücke.
Und ein wenig später am Abend stieß er sich, wie das nur natürlich war, sein ganzes linkes Auge aus dem Kopf heraus mit einem der Splitter: weil er auf demselben Fleck liegen geblieben, auf den er hingetaumelt war, das Schwein, und sich damit belustigte, mit dem Gesicht in den Glasscherben herumzuwühlen.
Na ja!
Dies hier mit Sergius Rosen, war ja nichts, worüber man sich zu beklagen brauchte.
Denn er wurde ja augenblicklich ins Lazarett gebracht – schon ein paar Stunden nach dem Ereignis –, und Dr. Nakinskij sah sich gezwungen, auch das andere Auge zu entfernen, um einer geringen Entzündung vorzubeugen.
Also über Sergius ärgerte sich kein Mensch: denn der hatte ja sein Schäflein ins Trockene gebracht, er würde nach Hause geschickt werden, sobald er sich hinreichend erholt, und folglich hatte er das bessere Teil erwählt.
Nein, es war gar nicht dieser Glückszufall, der allmählich das Mißfallen der Praxins an diesen perlenden Gesellschaften erregt hatte.
Aber da man schließlich nach Verlauf einiger Tage so recht aufmerksam auf das Ganze wurde und begriff, daß man Abend für Abend auf Rubel und Kopeken dies Champagnervergnügen bezahlen mußte, indem man gezwungen wurde, dem Eigenlob der Bogduroffs – ihrer wabbeligen Beredsamkeit zu lauschen, die einen gerade mit den Themata anfüllte, die man zu vergessen suchte, indem man trank: als man schließlich einsah, daß die Herren sich wirklich einbildeten, sich auf diesem Wege die Anbetung erschachern zu können, die sie sich nicht mehr auf ehrliche Weise zu erwerben vermochten; als man begriff, daß alle diese Feste nur ein Versuch mehr waren, einen in Freundschaft und Ehrerbietung hineinzulocken –
als man dessen sicher geworden war, so meinte man endlich, daß jetzt der Augenblick wirklich reif sei, um einen formvollendeten und kräftigen Protest zu erheben ...
Das war, mit anderen Worten, der Grund, weshalb Praxin einige Abende später, als Antwort auf einen von Starcks gewöhnlichen patriotischen Offizierstoasten, plötzlich anfing, ein klein wenig zu seinen persönlichen Freunden hinüberzukichern und ganz leise mit den Fingern zu schlackern.
»Hm, ja! Messieurs!« schmollte er, und schob sein Glas, das noch halb angefüllt war mit Bogduroffs trockenem Heidsieck, von sich: »Weiß Gott, haben Sie recht, Herr Starck! Zweifelsohne! Und Sie hatten mit ebendenselben Worten ebenso recht gestern und vorgestern! Selbstverständlich! Lange lebe der Krieg! Und Gott beschütze den weisen Zaren! In alle Ewigkeit! Amen!
Natürlich!
Aber, liebster Herr, allen möglichen Respekt vor Ihrer großartigen Mildtätigkeit! Und natürlich liegt es niemand ferner, als mir, zu glauben, daß Sie irgendwelchen Hintergedanken haben sollten, mit all dieser Champagnerflottheit! Hahaha! Ça va sans dire!
Und gewiß haben Sie, wie gesagt, recht darin, daß Kirin greinte, während er himmelte: Aber warum greinen Sie nicht, statt uns mit Ihrer ganzen Erhabenheit zu füllen! Wie?
Nicht wahr: verschonen Sie uns also damit, mehr von diesem allen hier, vom Zar, von Krieg und von Bataille zu hören!
Und von Ihren eigenen und Ihrer verehrten Freunde – an und für sich selbstredend ganz unantastbaren – Vortrefflichkeit!
Politik und Dienstangelegenheiten sollten wahrhaftig nicht an diesem Ort beredet werden: unter Kameraden!
Und Eigenlob noch weniger!
Haha! Wie?
Lassen Sie Kirin jetzt in Frieden ruhen, der Jammerlappen, ich mag seinen Namen nicht mehr hören; was für ein Verdienst ist übrigens dabei, sich so ungewandt zu benehmen, daß man von seinen eigenen Kameraden erschossen wird – und ihnen dadurch ein Kriegsgericht auf den Hals schickt?!
Ich begreife das wahrhaftig nicht!
Oder darf ich vielleicht die anderen Herren nach ihrer Ansicht fragen?« sagte er, seine Mannen der Reihe nach ansehend. Und dabei schmatzte er kennerhaft unter seinem schwarzen Bart:
»Was zum Teufel!« fuhr er fort und kräuselte die Nase. »Sie müssen es mir, weiß Gott, verzeihen, mein Bester: aber jetzt kann ich nicht mehr all den Champagnerfusel ertragen!
Ich ziehe es vor, meinen Schlund auszuruhen – und mein Bäuchlein – mittels eines ganz einfachen Bechers Absinth!
Wollen Sie auch einen Grünen haben, Peter Romanowitsch, mein Freund?
Kadett Owen, seien Sie so liebenswert und schenken Sie hier an diesem Tischende eine Runde Pernod ein, mein Täuberich!
Und dann kommen Sie selbst her und setzen sich hier neben mich: dann erzähle ich eine entsprechende Alkovengeschichte von meinem Pariser Aufenthalt!
Und überlasse es den Herren von Bogduroff, weiter den Militarismus und Kirins banalen und uralten Witz zu reiten: aber unter sich, allein miteinander!
Hahaha!
Pardon, lieber Starck; verzeihen Sie meine Spaßhaftigkeit!
Habe ich nicht recht, Ihr anderen?«
Und gleich darauf rutschten alle seine Freunde gemütlich auf ihren Stühlen herum, indem sie sich die Fingerspitzen in den Mund pfropften – als Sordine für ihr Entzücken über diesen, dem Gegner erteilten Hieb; sie starrten den Grafen erwartungsvoll an – während die Bogduroffs einsam dasaßen, gänzlich wirr, umgeben von einem Dutzend noch halb gefüllter Flaschen mit Goldhals, wimmernd, mit Augen wie ausgepustete und ölblaue Schleimblasen ...
Ja ja!
Dergestalt wurde dieser großartigen Gentlemen zuerst witzige und nun in diesen Tagen feierliche Introduktion in das kameradschaftliche Leben zurückgewiesen.
Diese Versuche, die sie arrangierten, als sie so allmählich anfingen, zu begreifen (gerädert in allen Ecken und Enden ihres mageren Fieberfleisches durch die voraufgegangenen kleinen Katastrophen Schreiners, Kirins, wie aller der anderen), daß sie nicht mehr imstande waren, einander gegenseitig zu stützen – und daher diese verzweifelten Anstrengungen machten, um ihre eigene persönliche Stärke wiederzugewinnen in der eifrigen Sehnsucht nach einem Anschluß, den sie bei den Praxins anzuregen hofften.
Aber weder Luschinskij noch seine Kameraden ließen sich also narren.
Nicht nur widersetzten sie sich mit Händen und Füßen jedem Trick von Seiten der anderen; sie durchschauten nicht nur sehr wohl, welch einen Verlust dies alles für ihre von vornherein schwächlichen Hoffnungen für die Zukunft bedeutete; sie begriffen nicht nur die dunklen Absichten der anderen mit diesen Versuchen – sondern sie konnten sogar hin und wieder mit ziemlich großer Sicherheit im voraus erraten, was Herrn Bogduroffs nächste Angriffstaktik sein würde, wenn er und die übrigen Bullenbeißer sich doch nur ein paar Tage von den vorläufigen, vergeblichen Anstrengungen besonnen hatten.
Peter Romanowitsch konnte, durch dies vergnügliche Biographentheater, in der nun folgenden Periode in seinem Gedächtnis den ganzen Gang der Entwicklung wieder auffrischen, durch die er selbst und seine Clique sich vor langer Zeit hindurch geschwitzt und gehungert und gehickst hatten: denn genau in derselben Weise erging es nun den anderen.
Das dritte, was man tat – nachdem also erst Kordialität und Witz und darauf Champagner und rhetorischer Schwulst sich außerstande erwiesen hatten, den beabsichtigten Eindruck auf die Umgebung zu machen und so einem sein persönliches Vertrauen wiederzugeben – war, daß man schließlich sich selbst gegenüber einräumte: daß einem ja allerdings, mit anderen Worten, offenbar dies oder jenes fehlte, da man dieser Geborgenheit in sich selbst ermangelte.
Da war zweifellos ein Haufe weißer Würmer, die einem in Magen und Brustkasten krabbelten! Ja, so war es!
Sie fraßen und stachen und heulten so gottsjämmerlich bei Tag und bei Nacht da drinnen!
Man konnte ja weder essen, noch schlafen, obwohl alles aus einem herauswanderte aus Mangel an Versorgung!
Jawohl, man war also krank!
Man war sogar ziemlich ernsthaft elend: aber bei Gott, bei der Jungfrau und bei Georg, an Mut fehlte es einem nicht! Hahaha! Mut hatte man buchstäblich mehr als genug!
Selbstverständlich!
Und um nun auch die anderen Menschen von dieser Courage zu überzeugen, deren nicht das geringste fehlte, ging man – nachdem erst scherzhafte und darauf ernste Worte sich unzulänglich gezeigt hatten, als Beweise für Kampfeifer und Mut – als dritten Ausweg dazu über, Handlungen auszubrüten, die dasselbe demonstrieren konnten.
Und als das einfachste Mittel in dieser Beziehung, verfiel man natürlich darauf, die Gemeinen zu reizen, die Matrosen nach allen Regeln der Kunst aufzustacheln.
Denn sowohl das Kochen Schreiners, wie auch verschiedene andere kleine Ereignisse hatten ja längst und zur Genüge bewiesen, wie riskant und lebensgefährlich es war, sich die Mannschaft zu Feinden zu machen! Es war wahrhaftig ein Zeichen von nicht geringer Kühnheit, wenn man sich auf eine so vielversprechende Affäre einließ: und gerade deswegen war es sehr passend für einen in dieser Situation, nicht wahr? ...
Das Verfahren bei dieser Aufreizungsarbeit war ganz einfach:
Man vernachlässigte den Dienst ganz ungeniert vor den Augen der Leute, delektierte sie währenddes mit unverfrorenen Witzen über den Chef und die übrigen Vorgesetzten – damit sie so schnell wie möglich auch den letzten kleinen Rest ihrer Begriffe über Disziplin und Respekt vergessen sollten: und gleichzeitig fuhr man fort, sie persönlich zu reizen, sowohl mit verblüffenden Prügeln, wie mit blitzplötzlichen Arreststrafen:
Das alles also in der schwälenden Hoffnung, einen oder mehrere von ihnen derartig anzufeuern, daß sie eine körperliche Prügelei, einen faustrohen Überfall auf einen begannen! Eine Bataille Mann gegen Mann, so daß man also wirklich aller Welt beweisen konnte, wie streitlustig und kampffähig man war! Kä! Sehr gut! Äußerst korrekt gedacht, nicht wahr? ...
Sowohl den Burschen, wie auch später – als man etwas wählerischer in seinen Mitteln geworden war – den übrigen Gemeinen gegenüber, hatte natürlich Luschinskij selber, wie auch alle die anderen aus Praxins Gruppe, längst wieder und wieder, mit nicht geringem Glück, dieses Verfahren angewendet: mindestens einem Fünftel der Leute, die bisher als Aufrührer erschossen waren, hatte man auf diese Weise den Kamm rot aufgeblasen!
Aber jetzt, in diesem Brandstadium der Reise, waren die Praxins unleugenbar allmählich – während sie gleichzeitig, in krassem Widerspruch mit der Ansicht der Bogduroffs, es für klüger gehalten hatten, sich auf einen mehr freundschaftlichen Fuß zu den Leuten zu stellen: sie waren gottlob ein klein wenig blasiert geworden, gegenüber einem so atavistischen Kniff, wie diese altmodischen Tierquälereien!
Und darum erlangten die Bogduroffs auch keine Spur von wirklichem Erfolg, damals, als sie schließlich, nach fast zweiwöchentlichem, heißem Stillstand, als dritten Weg zur Vertraulichkeit mit den Praxins, sich auf jenem veralteten Faust- und Fußfelde versuchten – indem sie sich folgende, inzwischen eingetroffenen, eminent günstigen Ereignisse frech zu Nutzen machten.
Ungefähr in der Mitte der Zwischenzeit war ja, erstens, auf einem der Schiffe diese große und erhebende Katastrophe eingetroffen: daß einer der Dampfkessel des Fahrzeuges in die Luft sprang, eine größere Anzahl von Gemeinen, Heizern und Maschinisten plus zwei Kadetten und Reserveleutnant Mugin mit fortreißend»
Die Sache hatte sich folgendermaßen zugetragen: Der betreffende Kessel war zufälligerweise noch einen Grad schlechter gebaut, als die anderen. Natürlich hatte sich der Ingenieur des Schiffes hin und wieder, wenn er den Chef ein wenig ärgern wollte, darüber beklagt und eine gründliche Reparatur des Kochtopfes verlangt; aber zum Teufel auch, nitchevò – antwortete der Kommandant regelmäßig: hat er so lange gehalten, so hält er wohl auch noch ein wenig, nicht wahr, wir können, weiß Gott, unsere kostbare Zeit auch nicht damit vergeuden, daß wir dergleichen Bagatellen flicken, und im übrigen möchte ich Ihnen in hohem Maße anempfehlen, sich zum Teufel zu scheren mit all Ihrem Gequatsche, Sie, Maschinenmeister, verstehen Sie!
Und dabei blieb es.
Aber infolge dieser seiner permanenten Schwächlichkeit flößte der Kessel selbstredend den Heizern, wie den Maschinisten ein erklärliches Mißtrauen ein und dies führte dazu, daß nur der verworfenste Teil dieser Kerle angestellt wurde, ihn zu bedienen, und zwar jedesmal, wenn sie sich eines kleinen Extravergnügens verdient gemacht hatten.
Hieraus folgte dann wieder, daß gerade dieser Röhrenkessel noch ein klein wenig schweinischer behandelt wurde, als die übrigen – und dies endlich bewirkte also schließlich, eines schönen Tages, während einer Übung, wo das Schiff vor voller Kraft gehen sollte und daher besonders hohen Druck auf seinen Maschinen hatte: daß der Schwächling donnernd in die Luft platzte; der Dampf spritzte im Nu alle Bolzen kreischend aus ihren Poren, die Stahlwände klafften mit Krachen, Wasser und Blasen standen meterhoch in die Höhe ... und zerpflückten, wie gesagt, die dreiundzwanzig Menschen, die sich nach Gottes Ratschluß binnen Armlänge befanden; die Überbleibsel von ihnen wurden hinterher zusammengeschabt, in dreiundzwanzig gleichgroße Pakete verteilt, in Flaggentuch genäht und über Bord begraben ...
Dies Ereignis also – das einen Tag vorher eintraf, ehe das Geschwader vor vierundzwanzig Stunden bei Sainte Marie auf der kleinen flachen Insel an der Ostküste von Madagaskar vor Anker ging – hatte unleugenbar eine gewisse fromme Stimmung auf der Armada hervorgeschmolzen, als ob die Mannschaft bei dieser Gelegenheit allen Ernstes begriff: erstens, daß sie diesen Weg alle miteinander früher oder später gehen mußten – und zweitens, daß es infolgedessen gewiß klug sein würde, sich mit Beten und Fasten darauf vorzubereiten.
Tatsache war es auf alle Fälle, daß auf sämtlichen Schiffen der Flotte eine Art momentaner, überreligiöser Neigung, mit nackten Worten, eine Art plötzlichen Liebäugelns mit dem Himmel erzeugt wurde und auf dem »Orel« erhielt diese Stimmung eine erhöhte Kraft infolge eines neuen, einflussreichen Ereignisses und bildete mit diesem zusammen die Basis für eben die bereits erwähnte, eminent günstige Veranlassung für die neuen Annäherungsversuche der Bogduroffs.
Was geschah, war folgendes:
Am Morgen nach der Kesselexplosion plumpste der Gemeine, Matrose Dmitrij Ponjalzew, auf dem »Orel« zufälligerweise über Bord.
Es floß, an jenem Tage, eine sehr starke Strömung, um das Schiff herum; und obwohl der Kerl schwimmen konnte, und keine andere Belastung am Leibe hatte, als seine schmutzige Drellhose und seine allzu große Frömmigkeit, war er daher zirka fünfzig Faden fortgetrieben, ehe er sich von der Verblüffung erholte, und ehe man ihm eine Boje zuschmeißen konnte.
Die Strömung nahm sie und führte sie geschwind auf ihn zu; er trat mit aller Macht Wasser; das Ganze war im Grunde ein Spaß.
Aber dann, als der weißgestrichene Korkring noch ungefähr zwanzig Meter von ihm entfernt war, sprang plötzlich ein Ruck über seine Fratze: denn dicht neben der Rettungsboje entdeckte er die schweren Rückenflossen eines ungeheuren Haifisches, der sich gemütlich und höflichst an ihrer Seite hielt.
Dmitrij Stack die Hände in die Höhe, ohne es zu ahnen:
»Allmächtiger Vater! Hilfe! Hilfe!« gurgelte er, schon schnaufend vor Wasser, der Wicht, und vergaß, die See zu treten.
Und da geschah das Wunder.
Die Bestie war ganz nahe bei ihm. Sie wandte mit einem Schmatzen ihren weißen und klafterlangen Grützbauch nach oben, wie um zu beißen – aber im nächsten Moment glitt sie, ohne auch nur den Rachen aufzusperren, ja, ohne eine einzige Bewegung, hart an seiner Schulter vorüber und war verschwunden.
Oben vom »Orel« hatten sie alles mit angesehen.
Die anderen Matrosen wichen Dmitrij seitlich aus, als man ihn an Bord gezogen hatte: sie umkreisten ihn von weitem, falteten offensichtlich die Fäuste, schauten Stunde auf Stunde gebeterfüllt zu ihm hinüber, mummelten mit den Lippen, und waren drei Viertel geistesabwesend, wenn die Offiziere sie anredeten.
Er selbst hatte sich ein Paar sonderbare blanke Augen zugelegt; er bewegte Arme und Beine mit Erhabenheit, seufzte milde, wenn ihm ein Befehl erteilt wurde, und nahm im übrigen mit offener Hand die ehrerbietige Anbetung der Kameraden entgegen.
»Esch, eh, beh, hol' mich der Satan, haben Sie je was Ähnliches gehört: siebenhundert Mann, die in zwei Sekunden alle miteinander trailerig geworden sind! Und da haben wir also noch eins von den Resultaten, wie sie dergleichen Dampfkessel zeitigen, die durch ihre in die Höhe spritzenden Tendenzen die Aufmerksamkeit der Mannschaft sozusagen ausdrücklich auf den Himmel hinlenken!
Hahaha!
Herr du meines Lebens!
Aber nun sollen Sie ja weiter von unseren Beschwerden hören, ehe wir Dmitrij, das verrückte und heilige, minderwertige Aas los wurden!« fuhr Oberleutnant Boris Twer fort, der auch selber vom »Orel« war. Er saß, ein paar Tage später, da und erzählte Luschinskij und einigen anderen die Geschichte, während eines Berichtsbesuches drüben auf ihrem Schiff:
»Ich stand selbst auf der Brücke und sah das Ganze, zusammen mit Chef Baratinskij – Gott segne ihn, das Rindvieh – und Dwuri: wir dachten uns ja gleich, daß der Fisch selbstverständlich tot gewesen sein muß, ehe er da bei der Boje auftauchte: er verhielt sich nämlich sonderbar steif die ganze Zeit hindurch. Die Strömung hat ganz einfach den Kadaver mit sich geführt, und infolge irgendeines Zufalls ist er dann herumgekentert, gerade ehe er Dmitrij Ponjalzew erreichte.
Aber die Matrosen sind natürlich klüger als so – namentlich in diesen christlichen Zeiten.
Dies hier war ja, offen gestanden, eine längst erwünschte Veranlassung: so recht eine wunderbare Gelegenheit, um mit allen zehn Fingern in der Dreieinigkeit herumzuwühlen, und um orgelmäßig in jedweder Himmelhinsicht zu flennen!
Und folglich rechneten sie in einem Nu aus, die Viecher ...: daß Dmitrij Ponjalzew kurz und gut offenbar weder mehr noch weniger sein könne, als ein leibhaftiger Sohn des lieben Gottes! Hahaha! Esch, wie? Jawohl! Konnte man sich eine schönere Basis für all seine Wut und seinen Schmerz vorstellen?
Gestern sprach ich mit 417, einem von Dmitrijs Kameraden, einem der Verständigeren unter allen den Idioten: Ja, sagte er zu mir, als ich ihn ein wenig genauer ausfragte, Euer Hochwohlgeboren haben ja gehört, daß damals, als der Hai herankam, Ponjalzew rief: › Hilf mir, du mein allmächtiger Vater!‹ – und im selben Augenblick war das Wunder da: folglich muß es also wirklich richtig und wahr sein, daß der liebe Gott Dmitrijs Vater ist, Euer Hochwohlgeboren! Sonst könnte das Mirakel niemals geschehen sein! Nie im Leben sind Wunderwerke auf Grund von Lügen geschehen, wie? Nein, ach nein, es ist ganz bestimmt: Dmitrij ist wahrhaftig ein Sohn Gottes des Herrn!
Ja – solchermaßen lautete 417's weise Auslegung!
Hahaha!
Ich versichere die Herren, es ist kein Funke von Übertreibsel in meiner Nacherzählung!
Was sagen Sie zu den Schlingeln?
Ponjalzew wanderte umher mit Sonnenaugen, kupferrot vor Größe, vor Heiligkeit mit den Fäusten tastend. Er hatte verdammt und verflucht, buchstäblich Halluzinationen vor Prahlerei, und verweigerte – schon seit dem Nachmittag nach dem Morgen, an dem das Unglück geschah – konsequent jeglichen Gehorsam.
Und infolge davon blieb dem Admiral also nichts weiter übrig, verstehen Sie, als ihn noch in derselben Nacht auf sein Schiff herüberkommen zu lassen – in aller Stille und unter dem hochheiligen Vorwand nur den Bericht aus seinem eigenen Munde hören zu wollen. Um zweieinhalb Uhr des Nachts saßen wir noch zum Kriegsgericht über ihn, wegen wiederholter Weigerung des Gehorsams und Anstiftung von Meuterei – und drei Stunden später wurde er begreiflicherweise erschossen: und ich erkühne mich ganz einfach, Ihnen mein Wort darauf zu geben, daß, wenn wir auch nur einen einzigen Tag mit der Exekution gewartet hätten, auch die ganze Mannschaft des Admiralschiffes meschucke geworden wäre und protestiert hätte!
Aber nun glückte es also, ihn zu beseitigen!
Und nun müssen wir ja sehen, ob das nützt: da haben Sie, weiß Gott, die ganze Geschichte, vom Ei bis zur Henne, und nun soll mich der Fürst der Finsternis holen, wenn das nicht das steifste Stück ist, das ich bisher erlebt habe!
Prost, meine Herren: nun, da entdecke ich aber, daß mein Glas und mein Hals einander aufs Haar gleichen, sie sind ganz trocken – hahaha: sie haben beide das Bedürfnis, wieder gefüllt zu werden!
Danke!
Also Prost!
Ja – hole der Teufel alle diese Rindviecher, derentwegen man sich sein Gehirn tagtäglich zermartern muß, um einen Vorwand zu finden, damit man sie niederpaffen kann, nicht wahr?« ...
Bei Gott: so berichtete Boris Twer.
Aber im Laufe der Tage, die darauf folgten – die Armada hatte längst Sainte Marie verlassen, dieses Fisch- und Franzosennest, und lag jetzt bei Nosi Bé, zwischen den hohen, bewaldeten Klippen, wo die weißen Tamarindenstämme jede Nacht Gespenster spielten, und wo jeder Laut eine verblüffende Geisterfähigkeit besaß, sich selbst in klagende Länge zu ziehen: in der Woche, die darauf folgte, also, war das Ereignis noch immer im Wachstum begriffen.
Zu allererst hatte die Besatzung des »Orel« ja natürlich versucht, einen größeren Aufstand aus der Sache zu machen, als sie schließlich herausgeschnüffelt hatten, daß man ihrem Christus die Brust kurz und gut in ein Sieb verwandelt hatte, so daß ihm für Zeit und Ewigkeit der Atem vergangen war.
Aber da fiel ihnen, glücklicherweise noch zu rechter Zeit, ein, daß Ponjalzew ja mehrmals – schon ehe das Ereignis mit dem Haifisch stattfand – hin und wieder mit zum Himmel erhobenen Augen und Schaum vor dem Munde, steif von Krämpfen über den Lenden, sich dahin geäußert hatte, daß er bald aus dieser Welt von dannen wandern werde.
Und also, rechneten sich die Leute aus: da ja nun Ponjalzew faktisch erschossen war, so mußte das selbstverständlich mit seinem vollen Wissen und Willen geschehen sein: entweder vor Betrübnis über die besudelte Sündhaftigkeit der ganzen Welt, ach Gott, ach Gott, oder vielleicht auch, um hinaufzugehen und zu versuchen, das künftige Schicksal seiner Kameraden zu mildern, nicht wahr, ach, daß es doch so wäre!
Aber in beiden Fällen galt es ja, sich mörderlich anzustrengen mit Gesang und mit Gebeten! ...
Abend für Abend, fast eine Woche hindurch – bis eine neue Übungsfahrt kam und die Leute mit Beschlag belegte – hörte man dann da drüben vom »Orel« her die dumpfen und stundenlangen geistlichen Lieder, die die Matrosen sich abharften, statt zu schlafen.
In den siedenden Nächten hier in Nosi Bés Kesselhafen wimmerten die Töne, langgezogen, aus dem Schiffe aus: sie jammerten sich empor, schleppten sich nach und nach höher hinauf, und stürzten schließlich wieder klagend hernieder: als sei das ganze Fahrzeug ein herzkrankes Tier, in dem Blasen von Verzweiflung umherwanderten und, gegen die Wände stoßend, zerplatzten.
Über das Wasser dahin wogten die Melodien, steigend, fallend, sich wiegend – als weinten auch die großen, naßkalten Fische und Kröten da unten, mit ihren sprachlosen Stimmen.
Von den Klippen und den Wäldern klafften die leisen Echos zurück – noch langsamer, schwankend und sacht, wackelnd und vag: gleich ferner und fremder Pflanzen Klage.
Und die Stimmen der Mannschaft klangen trauervoll und schwer in das Schluchzen der Widerhalle hinein, folgten ihnen im Steigen und Fallen: als seien die Leute auf einmal zu der Tiefe der Natur zurückgekehrt: so weit zurück, daß sie weder Menschen noch Tiere oder Pflanzen mehr waren, sondern nur Klage, die sang, Jammer, der barst, Weinen, das flüsternd und langsam erstarb ...
Und hin und wieder geschah es – an späten und wolkenlosen Abenden, wo alle Arbeit beendet war, wo der Himmel unendlich hoch oben hing, und wo die Luft unbeweglich stand – ringsumher auf den anderen Schiffen geschah es ab und zu: daß entweder Luschinskij selber, oder einer von den anderen, oder zehn, zwölf Stück auf einmal, plötzlich gleichsam von dem Gesang ergriffen und gepackt wurden, ohne es selbst zu wissen.
Sie saßen lange da, die Hände zwischen den Knien, im Takt die Köpfe wiegend, die Gesichter zu Boden gewandt, ohne zu sprechen – und tief in ihnen wanderten leise die sachten Töne umher.
Jäh traten dann Tränen und Weinen gleich milden Schleiern vor ihre Blicke, sie zogen die Mundwinkel bebend und schief, falteten ihre Finger weiß um ein Knie, lehnten die Nacken ein wenig hintenüber, und aus ihren Gaumen schritten langsame Stimmen herauf:
»So wandre ich heim
Zum Himmel, dem Heim,
Wo bei Christus mein Bettlein bereitet wird sein ...«
Bis sie, ebenso plötzlich, tief drinnen im Schlund aufschluchzend, selbst entdeckten, daß sie hier ja saßen und mit musizierten; dann hieben sie mit den Armen um sich, schneuzten die Nase mit Trompetenstößen – die Luft mit Essbukett oder Idealparfüm aus ihren Taschentüchern erfüllend –, krümmten sich vor Lachen, und spotteten mit derben Flüchen:
»Zum Teufel auch, Simoff: Gott der Herr kastriere mich, wenn Sie da nicht sitzen und einem steinernen Löwen an einem Quellbrunnen gleichen: das Wasser strömt Ihnen ja eimerweise aus den Augen, Verehrtester!
Eh! eh! Ehéhéhé!
Haben Sie gesehen, Praxin, haben Sie gesehen, wie ich dasaß und mich lustig machte über Simoffs Rührung, indem ich sein Psalmieren nachplärrte?
Hahaha!
Tod und Hölle, wie glänzend es mir gelang, seine zitternde Sängerstimme nachzupapageien! Haben Sie es wohl gehört?
Kéhé!
Ja, nicht wahr?
Sagen Sie mir doch: können wir den Kerlen da drüben auf dem ›Orel‹ nicht bald die Mäuler stopfen? Ist es wirklich wahr, was Boris Twer gestern nachmittag erzählte: daß der Admiral es nicht wagt, den Leuten das Geplärre aller dieser widerlichen geistlichen Lieder zu verbieten, sondern daß er nun endlich einen Plan ausgeheckt hat, wie er es ihnen mit aller List abgewöhnen kann?« ...
Diese religiöse Sache also war es, die den Bogduroffs eine so außergewöhnliche Gelegenheit zu ihrer neuen Annäherung gab – da sie zu diesem Zeitpunkt darauf verfallen waren, Bewunderung erlangen zu wollen, indem sie erst Prügeleien mit den Gemeinen arrangierten, um dann hinterdrein den Praxins gegenüber damit zu prahlen.
Ein glänzender Anlaß, jawohl: denn einesteils war die Mannschaft ja nämlich ganz außerordentlich leicht aufzustacheln in dieser Periode; und andererseits waren die Offiziere auch selbst noch erfüllt von einer gewissermaßen ehrlichen Tendenz, sich rächen zu wollen: aus Grimm und Scham darüber, daß die Matrosen hin und wieder auch sie durch ihren Gesang mit in den Chor hineingelockt hatten.
Und eine Folge dieser mehrfach doppelt günstigen Umstände war es ebenfalls, daß sich die Praxins eine Zeitlang ganz ruhig und fast erkenntlich darin fanden, sich tagtäglich die Ohren wund machen zu lassen von den Berichten dieser Herren über die Überfälle und Fußtrittzweikämpfe, die sie gestern oder vorgestern hervorgerufen und darauf gestern abend oder über Nacht ausgekämpft hatten.
Gewiß, selbst ein wenig verletzbar und empört über den Zustand rings um sie her, duldeten die Praxins für eine Weile diese Roheiten – und die Bogduroffs gingen infolgedessen weiter und weiter, schon fast siegesberauscht, überzeugt, daß ihnen nun das Ganze gelingen müsse, jetzt imponierten sie, weiß Gott, jetzt errangen sie, verdammt und verflucht Applaus, jetzt eroberten sie, bei meiner Seligkeit – gespickt von Bewunderung –, ihre eigene Selbstkraft wieder! Also, nur drauf los: noch mehr von diesen Prügeleien und Angriffen! Noch ein wenig mehr von den Bosheiten, mit denen sie die Leute aufreizten! ...
Es fanden zum Beispiel für die Mannschaften Übungen statt im Zusammenrollen des Torpedonetzes und seinem Verstauen als Traversen zwischen je zwei der schnellschießenden Kanonen – nicht wahr!?
Das große Netz lag ausgebreitet auf dem Vorderdeck wie ein filierter Teppich aus rostroten, eisernen Armbändern.
Ein Dutzend Leute setzten sich kauernd längs der einen Seite – den Hintern in die Luft, und die Hände zwischen den Füßen – und fingen an, es zu einer Wurst aufzurollen.
Premierleutnant Starck, der die Aufsicht führte, dieser dünnhaarige Kinnbackenherr, stolzierte auf und nieder, schimpfte über alles Mögliche im allgemeinen – bis er selbst in die richtige Stimmung hineingeraten war.
Und plötzlich stürzte er dann hin und versetzte einem der Matrosen einen dröhnenden Fußtritt gegen den in die Höhe gewendeten Hintern, so daß der Betreffende kopfüber mitten ins Netz hineinsauste, ein paar Finger in den Maschen abbrach, die Haut an Kinn und Schnauze abschürfte – und auf diese Weise die Ringe mit einer nochmaligen reichlichen Purpurbeschmierung schmückte ...
Oder es war Bajonettfechten.
Die Leute standen da unten auf der Batterie oder dem Vorderdeck in zween Reihen einander gegenüber.
Sie hatten schwarze eiserne Plastrons über der Brust, und gepolsterte Fechtmasken aus schwerem Stahldraht vor dem Gesicht und über dem Scheitel. Als Übungswaffen hatten sie Gewehre aus wuchtigem Holz mit einem dicken eisernen Rohr, das das Bajonett vorstellte – außen an der Spitze mit einem kleinen Lappenbündel versehen.
Der Turnlehrer leitete den Unterricht und kommandierte.
Die anderen Unteroffiziere schlenderten an den Reihen auf und nieder, um acht zu geben, daß jeder seine Kräfte gut gebrauchte.
Abwechselnd sollte das eine oder das andere Glied einen Ausfall machen – das andere sollte parieren.
»Stoßt ordentlich zu, verdammt und verflucht: oder seid Ihr etwa Frauenzimmer, die eine Stichwaffe nicht zu führen wissen!« rief der Lehrer, selbstredend toll vor Wut wie immer, klatschnaß von Schweiß, mit geschwollenen Augen. »Stoßt bis auf den Grund, bei allen sieben Teufeln!
Nummer Eins = Reihe: Ziehen Sie eine Terz an und stoßen Sie Quart ... Los!«
Aber währenddes torkelte der Offizier, der die Inspektion hatte, hinter den Reihen auf und nieder und gab acht – bis er den Mann ausfindig gemacht hatte, zu dem er Lust empfand.
Plötzlich fuhr er auf einen Unteroffizier los, riß ihm die Maske ab und klemmte sie sich über sein eigenes Gesicht – obwohl sie schlimmer stank als ein krebskranker Hyänenkäfig, pfui Kuckuck, von dem dreckigen und subalternen Schweiß des Kerls; ließ sich ein Plastron befestigen, zog Handschuhe an, nahm ein Gewehr in die Hand und rief dann:
»43! Trödelfedor! Rindvieh! Das also nennst du etwas tun? Kähä!
Komm hierher!
Hol' mich der Teufel!
Du glaubst also, daß ...«
Man stellte sich auf, ein wenig seitwärts von den anderen; ließ den Burschen sich in die rechte Position niederbeugen: gut hinab in die Knie, du Esel, und die Ellenbogen an den Körper ... Und kommandierte ihn dann zu einem Ausfall gegen einen selber, einmal über das andere, wieder und wieder.
Währenddes sorgte man dafür, daß das Bajonett des Mannes hin und wieder Gelegenheit fand, einen mit aller Kraft zu treffen – am liebsten an einigermaßen empfindlichen Stellen, in den Achselhöhlen oder in die Weiche: wo sich jeder Stoß anfühlte, wie ein blitzschnelles und heulendes reifes Brandgeschwür, das da drinnen vom Knochen aus explodierte: so daß man wirklich im allertiefsten Ernst feuerrot aus den Augen sehen konnte.
Und schließlich glückte dies ja auch.
Man raste plötzlich in die Höhe – auf einmal auf den Beinen storchend, ohne Atem: der Schmerz von dem empfangenen Stoß wie ein langer Stock durch den Körper fahrend – mit schwindelndem Gehirn und blutroter Farbe vor den Augen. Man kehrte in einem Nu das Gewehr in der Hand um, schwang es hoch über seinem Kopf und knallte den Kolben mit aller Gewalt oben auf die Maske des Burschen herab ... Tssjamm! sagte es, und er torkelte auf der Stelle um, ohnmächtig und schnarchend, die Drellhose im Schritt plötzlich schwarz von Urin, und mußte zum Arzt hinuntergetragen werden, wegen »Sonnenstich oder Hitzschlag«. Kähä!
»Turnlehrer!« schrie man währenddes, schwankend, und die Maske abreißend, so daß Barthaare und Kopfbüschel mit ausgerupft wurden und einem noch eine Idee zitternder und kreideweißer machten. »Wollen Sie augenblicks die ganze Bande eine mörderische Übung machen lassen! Zwanzig Minuten bis aufs Blut!
Der Teufel soll mich frikassieren, wenn ich jemals etwas Ähnliches von Bummelei gesehen habe, wie Sie es den Leuten erlauben! Tun Sie Ihre Pflicht, Unteroffizier, das will ich Ihnen verflucht geraten haben, oder wünschen Sie vielleicht vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden wegen Gehorsamsverweigerung, wissen Sie, was das kostet?«
»Jawohl, Euer Hochwohlgeboren!« antwortete der Lehrer, blau im Gesicht von Überblut, ohne Spur von Luft zwischen den Zähnen. »Soll geschehen!«
Und dann ging er drauf los.
Fünfzigmal in rasender Geschwindigkeit ließ er die Leute ausfallen: in so langen Schritten, daß ihre Sehnen sich anfühlten wie Messer, die zwischen ihren Schenkeln saßen. Er ließ sie minutenlang die schweren Gewehre in steifem Arm ausgestreckt halten – bis Schultern und Ellenbogen knirschten und schwollen, und die Muskeln sich krampften. Er ließ sie hin und her springen, nach rechts und nach links – bis das Herz in ihnen erbleichte und hickste.
Sie stießen aufeinander los, hüpfend und parierend – schließlich selbst boshaft vor Schmerz, bissig vor Haß und Ermattung, die empfindlichsten Stellen aneinander suchend, was, zum Teufel, schert es mich, ob es vorschriftsmäßig ist, stech' ihm einen direkt in den Nabel hinein, dem Kerl ... bis dumpfes Stöhnen und klappernder Jammer allen Mündern entfuhr, bis das Deck dunkle Flecken von ihrem Schweiß bekam, bis sie alle Mann auf den Beinen schwammen, und ihre Atemzüge zischten und sangen, wie in einer einzigen sägenden Musik von Totschlag und Schmerz ...
Und nach dergleichen Umgängen wußten die Bogduroffs ganz zuverlässig, daß sie reiche Gelegenheit haben würden, Kräfte zu gebrauchen und Mut zu zeigen; sobald es Abend wurde nach einem solchen Vormittag, würden da wieder und immer wieder sonderbare Dinge geschehen: zum Beispiel, daß ein paar von den Matrosen plötzlich kurzsichtig und unsicher auf den Füßen wurden und so unversehens den Versuch machten, einem ein scharfgeschliffenes Bajonett durch den Leib zu rennen, indem sie gerade vor dem Platz strauchelten, wo man stand; oder daß andere Gemeine ebenso zufällig das Unglück haben würden, gegen einen zu puffen, wenn man sich zu nahe an die Reeling gestellt hatte; oder daß vier oder fünf von ihnen in der Nacht auf einem der Batteriegänge auf der Lauer stehen würden, die Hände voller Säbelscheiden und Riemen, in der Hoffnung, Gelegenheit zum Wiederschlagen zu haben!
Kähä!
Und damit hatte man ja gerade akkurat das erreicht, was man wollte! Ganz abgesehen von der Wonne, die stets damit verbunden war, wenn man in Ekstase geriet und von der wunderbaren und traueraufhebenden Mattigkeit, die unweigerlich auf den Anfall folgte! Ja, das war es ja gerade, was man wollte: körperlich überfallen zu werden, eines Abends oder eines Nachts angegriffen zu werden (am liebsten von drei oder vier Männern auf einmal) und dabei doch persönlich die Angreifer zurückzujagen; sich mit eigener Kraft aus der Affäre zu ziehen – statt Hilfe herbeizurufen oder die Schlingel anzuzeigen und sie auf dienstlichem Wege bestrafen zu lassen: und dann das Ganze, am nächsten Tage, den Praxins erzählen zu können, um dadurch auch sie von seinem unbezähmbaren Mut zu überzeugen! ...
Ja, auf diese Weise ergo setzten die Bogduroffs ihre neuen Versuche, zu imponieren, ins Werk – indem sie die Sache noch mehr auf die Spitze trieben, als sie je zuvor gewesen war.
Und eine Zeitlang fanden sich ja also die Praxins auch darin, die Berichte darüber anzuhören.
Aber als dann, nach Verlauf von ungefähr einer Woche, die beiden zugrunde liegenden Ereignisse – mit der Kesselexplosion und mit Dmitrij Ponjalzew – so ziemlich ins Vergessen geraten waren; als Roschdjestwenskijs schönes Mittel, den Gesang geistlicher Lieder zu beschwören, sich, hol' mich der Teufel, als nichts geringeres denn eine Extraübungsfahrt für das ganze Geschwader entpuppte, und als die Praxins endlich selbst allen Ernstes begriffen: daß auch diese Prügeleigeschichten in Wirklichkeit nur ein neues Attentat der Bogduroffs auf Einheimsung von Bewunderung waren: ja, gestärkt durch so viele Argumente, wollte man selbstverständlich nicht eine einzige Minute mehr auf dergleichen Erzählungen lauschen.
Gott bewahre, das wollte man nicht!
Im Gegenteil!
»Que diantre!« brach daher Lwow ab, als Bjelostskij eines Abends unten in der Messe saß, den ganzen Mund und den ganzen gelben Bart flackernd vor Ekstase und Hoffnung, und der Gesellschaft eingehender erklären wollte, wie er im Fußumdrehen die drei Gemeinen, Nummer 77, 78 und 81, zu Krüppeln gemacht hatte, gestern abend, als sie ihm unten im Batteriegange aufgepaßt und sich plötzlich alle drei auf einmal auf ihn gestürzt hatten, aus Rache für einen kleinen Scherz, den er sich am Vormittag in bezug auf den eventuellen Zusammenhang zwischen Dmitrij Ponjalzews Göttlichkeit und desselben ehemaligen Herrn allzu zärtliche Freundschaft zu dem bartlosen Matrosen 77 erlaubt hatte:
»Que diantre!« wiederholte Lwow, indem er Bjelostskij auf seine beiden großen Schultern schlug und ihm, so gut er das mit seiner einsamen Lunge fertigbrachte, direkt in die Gesichtshaare hineinsprudelte. »Köstlicher Bericht, dieser hier! weiß Gott!
Glänzende Leistung, diese Ihre Heldentat drei lumpigen Gemeinen gegenüber!
Was für einen Mut Sie haben, Herr Oberleutnant!
Und welche Kräfte!
Wie?
Hahaha!
Aber hören Sie mal, wissen Sie was. Das Ganze erinnert mich übrigens an einen Unteroffizier, den ich einmal hatte. Den sibirischen Goliath oder den falschen Rurik nannten wir ihn, das mächtige Tier! Er konnte nämlich auch drei, vier Soldaten auf einmal zerquetschen – ganz genau so wie Sie, mein Freund!
Im Anfang belustigte es uns ja, von allen seinen Faustballaden zu hören; namentlich hatte er eine Spezialität, verstehen Sie: dem Betreffenden eine geballte Faust unters Kinn zu schmettern und ihm gleichzeitig ein Knie in den Schritt zu stoßen, so daß gleichzeitig die Männlichkeit und der Atem buchstäblich aus dem Kerl herausflogen. An und für sich also genau dasselbe, was Sie erwähnten, liebster Bjelostskij, von Ihrer Kampagne über Nacht!
Wohl war es lachhaft anzuhören – in der ersten Zeit, mit diesen Keilereien. Aber schließlich entdeckten wir ja, daß das Ganze im Grunde die reine Spiegelfechterei, der pure Humbug war.
Natürlich:
Denn sehen Sie: es existiert nun einmal auf der ganzen Welt nicht der Gemeine, der wirklich und ehrlich einem Vorgesetzten gegenüber alle seine Kräfte zu gebrauchen wagt! Es bleibt beständig eine winzig kleine Bagatelle Respekt zurück, wie ein Paar Handeisen, die ihm die Arme binden. Ja, wirklich, so ist es! Und das ermöglicht es einem Vorgesetzten, Wunderwerke auszurichten – wenn diejenigen, mit denen er kämpft, seine eigenen Soldaten sind!
Es gehört im Grunde keine Spur von Kunst dazu, mit seinen Untergebenen fertig zu werden – die Entdeckung machten wir damals.
Ein Knabe, der Offiziersabzeichen trägt, kann einen Riesen, der nur eine Nummer und nichts weiter hat, pulverisieren – das bemerkten und registrierten wir in jener Zeit mit dem falschen Rurik.
Und wir haben ja dasselbe nun in diesen Tagen gesehen, als die Leute es doch nicht wagten, Meuterei auf dem ›Orel‹ anzustiften – obwohl man ihnen ihren Christus erschossen hatte; so lange ein Soldat Soldat ist, so ist jeder einzelne von seinen Offizieren, gottlob, noch mehr für ihn als der liebe Gott!
Hahaha!
Aber im übrigen!« fügte Lwow hinzu, indem er zu Luschinskij hinüberblinzelte, »im übrigen ist es ganz amüsant, Herr Bjelostskij, daß Sie aufs Haar diesem Goliath gleichen, kä, von dem ich vorhin sprach!
Das tun Sie wirklich – fällt mir eben ein!
Verzeihen Sie, daß ich die Sache berühre!
Nicht wahr?
Hahaha!
Und ich meine selbstverständlich nur, daß dies eine rein äußere Ähnlichkeit ist – natürlich! Das fehlte auch noch, daß es anders wäre! Denn er war ja ganz einfach ein Waschlappen, das war er; einer, der den Kraftkerl denen gegenüber spielte, die es nicht wagten, wieder zu schlagen – Sie begreifen es wohl! Er war ja in Wirklichkeit inwendig bange, immer und ewig, der Schlingel – darum behandelte er alle, die unter ihm standen, wie die Hunde! Um aller Welt einzubilden, daß sie sich entweder von ihm in acht nehmen – oder auch ihn gewaltig bewundern müßten! Verstehen Sie mich nun?
Kéhé!
Wie?
Aber ich würde grenzenlos verzweifelt sein, wenn Sie meine treuherzigen Äußerungen übelnehmen wollten, allerliebster Herr! Hahaha!
Jetzt ist, bei Gott, die Reihe an Ihnen!« –
Nach dieser hübsch turnierten aber energischen Andeutung mußten Bjelostskij ja notgezwungen die Augen dafür aufgehen, daß die Praxins vollständig und gänzlich die wirklichen, geheimen Ursachen zu seinem großartigen Fausttanz mit den drei Gemeinen durchschaut hatten.
Darum fing er selbst, wie auch die anderen Bogduroffs, schon am Tage nach Lwows kleinem Vortrag, an, ganz leise die Lippen einzuziehen.
Zuerst gaben sie die Benutzung der Triumphatorensprache auf, in der sie bisher von den verschiedenen Überfällen berichtet hatten, deren freiwillige Gegenstände sie gewesen waren; dann legten sie sich während der darauffolgenden Tage nach und nach einen außerordentlich empfindlichen und klagend-tiefen Ton zu, sobald sie diese Sachen berührten.
Und schließlich schwiegen sie ganz davon still.
Aber damit räumten sie also faktisch ein, daß auch dieser ihr dritter Versuch, Freundschaft und Bewunderung bei den Praxins zu erwecken, mißlungen war.
Man mußte notwendigerweise, zum viertenmal, etwas Neues aushecken, falls sie wirklich auch nur einen einzigen Mundvoll Hoffnung erreichen wollten in bezug auf die Erwerbung des hochmoralischen Einflusses auf die anderen, um dessen Erlangung sie sich selbst hinzehrten und unmoralisch wurden ...
In den Wartetagen, die nun folgten – bis die Bogduroffs in der Verfassung zu dem neuen Attentat zu sein vermeinten –, in diesem Zwischenraum machten die Praxins übrigens eine schmutzige Beobachtung, die ihnen allerdings auf der einen Seite eine nicht geringe, stille Wonne eintrug, die aber gleichzeitig auch bewirkte, daß sie im allertiefsten Innnern sich noch naßkalter und krötenartiger fühlten:
Wenn Luschinskij oder ein anderer von ihnen Nachtwache hatte, hörte er zuweilen – plötzlich darob in den Knien schlotternd – hin und wieder sonderbar zoologische Laute aus den Kammern der Bogduroffs heraus.
Fast jedesmal, wenn er – in Finsternis und Einsamkeit zu den vorschriftsmäßigen Zeiten die Runde durch das Schiff machte, sich vorwärts tastend in diesen dunklen Nachtstunden, die den Eindruck von bodenlosen Löchern machten, mit dunkellila Samtfasern ausgefüllt, die einem den Schlund häßlich ausdörrten, und einem fieberhaft in sämtlichen Adern kribbelten – ungefähr auf jeder einzelnen Nachtwache konnte Peter Romanowitsch, wenn er an dieser oder jener Bogduroff-Kajüte vorüberkam, hören, wie diese Herren sich in ihren Kojen wälzten.
Er unterschied – plötzlich roh in den Knochen und kichernd – ihre heiseren und erstickten Stimmen, wenn sie im Schlaf schrien; oder seine inwendigen Brustpartien krempelten sich ihm auf einmal bis an den Gaumen hinauf, wenn ihm durch die Türspalte der bittere und süße Sarggestank von dem kalten Schweiß aus den wollenen Decken der Herren entgegendrang.
Er schaute sie sozusagen leibhaftig vor sich in der Finsternis, wie sie mit klatschroten und nassen Gesichtern, mit weitgeöffneten Mündern, die Hände im Bett umherkrabbelnd, dalagen – und es war ihm, als könne er förmlich sehen, wie ihre wärmeschwärenden und schleimigen Gehirne, räuspernd und hustend, sogar im Traum oben über ihre Nase umherröchelten, um Auswege und Mittel zu dem neuen Versuch einer Annäherung zu finden.
Dann hatte Luschinskij plötzlich ein Gefühl, als wühle sich eine naßkalte Faust vorn in den zugeknöpften Schluß seiner Hose hinein.
Sie tastete sich langsam in seinem Unterleib und Bauch aufwärts und fing an, seine Lungen stramm und flach zu ziehen.
Er knixte auf einmal in den Hüften vornüber, ohne Spur von Atem, die Hände vor sich ausgestreckt, die Speiseröhre kalt und lang wie eine Schlange – und schwankte so schnell wie möglich wieder in die freie Luft hinauf.
Und erst wenn er wieder droben auf Deck stand und die Meldungen des Rudergastes und der Posten in Empfang genommen hatte, fing er an, sich mit der linken Hand im Gesicht herumzuwühlen und kicherte ganz leise, in vorempfindender Freude über alles, was er nun morgen an Praxin zu erzählen hatte von seiner Runde da unten.
Bei Gott, meiner Treu!
Mit der größten und energischsten Spannung sah man, mit anderen Worten, dem entgegen, auf was die Bogduroffs nun diesmal verfallen würden ...
Und eines schönen Tages konnte man spüren – an ihren Händen, die sich vor Wonne wie Kastagnetten gebärdeten, und an ihren Hautfratzen, in die, unter die klecksigen Augen, Reservesäcke mit lauwarmem Wasser angebracht waren: daß sie nun ihren ganzen Plan in Ordnung hatten.
Bei den Übungen, die jeden zweiten Morgen in dem gemeinsamen und privaten Pistolenschießverein der Offiziere abgehalten wurden, liefen sie plötzlich, mitten während des Schießens hin, und rissen die Scheibe von der Stahlplatte herunter, an der sie hing.
Sie stellten sich, die Scheibe in der Hand, dortselbst auf, streckten die Arme nach der Seite aus und forderten nun, glucksend vor Lachen, die Kameraden auf, nach dem Pappstück zu paffen, während sie es mit den Fingerspitzen hielten:
»Keine Widerreden!« schrien sie, und trampelten auf die Deckplanken, um anzudeuten, was für ein amüsanter Einfall dies hier, weiß Gott, war. »Zum Teufel auch! Sollten wir einem Schuß von Freundeshand nicht gewachsen sein! Wenn wir im Begriff sind, gegen brandgelbe Hausteufel zu kämpfen!
Schießen Sie nur drauf los!
Mein Name ist Kirin-römische-Zwei!
Keine Redensarten!
Kéhé!
Hahaha!
Sehen Sie mir in die Augen!«
Aber auch diese Kühnheitsreklame war leider eine antike Sache.
Eine Mumie sozusagen.
In längst entschwundenen Zeiten, noch während das Geschwader oben in den spanischen Gewässern bei Vigo lag, um ein paar von den Malheurherren von der Lügengeschichte bei den Doggerbanks an Land zu setzen, schon damals war Praxin der Erfinder dieser Zerstreuungen gewesen. Und seine ganze Clique hatte, von Gemütlichkeit kläffend, selbstverständlich den geistreichen Sport weiter und weiter getrieben – obwohl Bogduroff und seine Freunde damals täglich und laut dagegen protestiert hatten.
Unbeirrt hatten die Praxins damit fortgefahren.
Bis zu dem Sonnabendnachmittag, wo Lwow – dessen Hände seit seinem Duell im vorigen Frühjahr stets Kasatschok tanzten, wenn er schießen sollte und eine Mannsperson vor dem Lauf seiner Pistole hatte –, bis Lwow also einmal fehlschoß, und dabei die äußere Hälfte von des kleinen Westers süßem Daumen abriß.
Nach diesem aufregenden Ereignis hatte Kommandant Gregorow ja das Spiel verboten, und es war seit Jahrtausenden in Vergessenheit geraten.
Aber nun in diesen Tagen, wo Bogduroff auf dem vierten Pfad versuchen wollte, einen selbstermunternden Anschluß an die Praxins zu bewerkstelligen – nun hatte er offenbar den ehemaligen Abscheu vor dieser Art »dummdreister Knabenstreiche« abgestreift –, so wie er und Starck in alten Zeiten Praxins Fingerschießen bezeichnet hatten.
Zweifellos, diesen Unwillen hatte Bogduroff augensichtlich vergessen.
Oder er fühlte sich möglicherweise plötzlich darüber erhaben!
Hä!
Warum auch nicht!
Auf alle Fälle stand also er selbst, zusammen mit Bjelostskij-Goliath, Tscherikoff, Starck und ein paar anderen von den Kettenhunden eines schönen Morgens da und zielten gegenseitig auf ihre Fäuste – mit ihren geifernden Augen, die jetzt, wo ihre Backenknochen spitzer und länger geworden waren, gleichsam einen größeren Platz in ihrem Gesicht einnahmen.
Sobald einer von den Praxins vorüberkam, oder wenn man nur seine Nasenspitze in der Nähe des Schießstandes zeigte, sofort fing Tscherikoff an, laut zu lachen oder sich zu räuspern.
Er klatschte sich auf die Kniescheiben, hüpfte auf dem Deck herum, und tat überhaupt alles, was ein verrückter Mann zu tun vermag, um Aufmerksamkeit zu erregen und auf diese Weise Gelegenheit zu haben, sowohl durch Handlung wie durch Aussage seinen formidablen Mut zu proklamieren:
»Bei Gottes Heiligtum!« brüllte er und brach die Scheibe mittendurch, so daß sie nur noch die Größe einer gewöhnlichen Spielkarte hatte; er greinte, so daß er sich krümmen mußte, und offensichtlich lange Stiche gerade in die Milz hinein bekam, Gott sei Dank:
»Hier, mein Freund,« schrie er Bjelostskij zu, nachdem er sich ein wenig erholt hatte – »jetzt nur drauf los!
Unsinn!
Nicht verzagt!
Ein Offizier: das ist dasselbe, wie fünfundsechzig Kilogramm Mut und Dummdreistigkeit!
Oder soll ich etwa noch die Hälfte der Pappe abbrechen, hol' mich der Teufel!
Oder ziehen Sie es zufällig ganz einfach vor, nach dem Nagel meines geliebten kleinen Fingers zu schießen?!
Kähä! hahaha!«
Aber weder Luschinskij noch die anderen Praxins hatten ja also kein schlechtes Gedächtnis – wenn es sich um diese schmutzige Anschlußaffäre handelte.
So waren sie, sogar von vornherein, beinahe überzeugt gewesen, daß eben dieser Anfall von Pulvercourage die nächste Krankheit der Bogduroffs sein würde!
Und sie waren sich alle wie Ein Mann klar darüber, daß sie nur nötig hatten, sich selbst eine Weile der Schießerei fernzuhalten – dann würden die Herren auch bald von dieser neuen Propagandaseuche kuriert sein.
Aber selbstverständlich würde es sündhaft sein, wenn man nicht, außer dieser empfindlichen Enttäuschung, ihnen noch eine ganz kleine Basis für Grimm und Ärger lieferte – in aller Freundschaft natürlich, und nur aus Rücksicht auf die persönliche Gesundheit und Sicherheit dieser angebeteten Kameraden!
Nicht wahr? ...
Dies war der schöne Grund, weshalb Graf Praxin, so gut wie ohnmächtig vor Entzücken über seine Erfindung, hin und wieder, diskret, kichernd, bekümmert mit Andeutungen kam: daß die lieben Bogduroffs möglicherweise Gefahr liefen, daß die Mannschaft die interessanten, aber reichlich weitgehenden Schießübungen der Herren völlig mißverstehe!
Ja, Starck und seine Freunde setzten sich wirklich der Gefahr aus, daß die Matrosen diese scherzenden Duelle ganz einfach als Versuche auslegten, desselben glückseligen Schicksals wie der Trunkenbold, Leutnant Sergius Rosen, teilhaftig zu werden: nämlich sich gegenseitig und untereinander zu Invaliden und Krüppeln zu machen, einzig und allein, um sich von dem Rest der Fahrt zu befreien!
Zum Teufel auch, wer konnte wissen, auf was für Einbildungen die Leute, diese gemeinen Viecher, verfielen!?
Wie oft kam es nicht vor, daß die Schafsköpfe das ganz Entgegengesetzte von der Wahrheit glaubten, nicht wahr, sie konnten ja gar nicht einmal anders – solche Lügenpeter, wie sie selbst waren:
»Oder haben Sie, mein Herzensfreund, verehrter Herr Oberleutnant Starck, mon cher: haben Sie gar niemals gehört, wie die Unterärzte, die mit Sergius Rosen zu schaffen hatten, beinahe offen behaupten, daß er sich ganz einfach mit Willen und Überlegung die Augen aus dem Kopf herausgerangelt hat, damals mit den Glasscherben – der Engel –, nur um heim zu gelangen zu seiner vorzüglichen Frau und den verdammten Gören!
Haben Sie je etwas Ähnliches gehört? Affreux! Oh! kéhé! ké!
Wie beliebt?!
Und gerade deswegen spreche ich so offen mit Ihnen!
Denken Sie doch, wenn so ein widerlicher Verdacht auch Sie zu besudeln drohte – Sie, die Sie sozusagen unser Stolz und unsere Freude hier unter uns an Bord sind!
Oder wie meinen die anderen Herren?«
Selbstverständlich sahen die Bogduroffs nach alledem ein – obwohl ihre Köpfe, sogar dem bloßen Auge sichtbar, gleichsam hautlos waren vor Agonieschweiß und Bakterien –, sie begriffen sehr wohl und blitzschnell, daß sie auch nach dieser Richtung hin gezwungen waren, so schnell wie möglich, körperlich die Waffen niederzulegen.
Jedoch hatten sie sich, trotzdem, noch immer einen ganz kleinen Rest ihrer ehemaligen Kräfte erhalten – offenbar.
Tief im Grunde ihrer Nerven saßen noch einige mikroskopisch kleine Überreste, die nicht ganz und gar verkohlt waren von den Schwefelfäden und Pechfackeln der Hoffnungslosigkeit, die umhersausten und Theaterbrand, Panik und Pestilenz inwendig in ihnen veranstalteten.
Noch konnten auf alle Fälle weder Starck noch Bogduroff oder die anderen sich so recht dazu bequemen, den Schritt ganz zu machen: das Unmögliche aufzugeben – nämlich die Rückeroberung ihres eigenen, privaten Selbstvertrauens – und sich ganz einfach mit dem zu begnügen, was wirklich zu erreichen war: das heißt: ganz offen und natürlich, ohne jedwede moralischen Umschweife, in bescheidenem Schweigen sich lautlos den Praxins anzuschließen! Gemeinsame Sache mit ihnen zu machen, auch das ihre dazu beizutragen, daß das Geschwader umkehrte – und so gerade heraus einzuräumen, was schon längst Tatsache war: daß keiner mehr imstande war, weder die gute Laune, noch Offizierstugenden, oder Kriegersinn aufrechtzuerhalten unter den gemeinen, vorhandenen Umständen.
Ach Gott, ja! wenn diese Tölpel der Sache nur hätten auf den Grund sehen wollen! Wenn diese ausgehungerten Gespenster nur so viel edle Courage gehabt hätten, daß sie sich über alle diese Lügen und dies Gewäsch von Mut und Kühnheit hätten hinwegsetzen können – so daß wir anfangen könnten, ein bißchen Hoffnung zu schöpfen, bald die Nase heimwärts zu wenden!
Ehé!
Was sagt Ihr dazu:
Nicht wahr, denkt nur, wieder daheim zu sein!
Oh, über Rußlands glückseligen und erdduftenden Boden aufs neue dahinwandern zu können!
Oh, Sankt Petersburgs wunderbarer Frühling, zu dem man gerade heimkehren könnte, wenn man sich ein wenig beeilte, einig darüber zu werden, alle Mann: der Lenz daheim! Wo die Kastanienbäume mit ihren gefingerten Blättern die Straßen so fein beschatten – wo ihr leuchtender Flor aus tausend kleinen Blütenkegeln ihren Räucherwerkduft über die Liebenden sendet, die jeden Abend Arm in Arm vorübergehen! Oh, Maimonat daheim, wo die dunkelbraunen Knospen an Eudoxias weißen Brüsten sehnsüchtig schwellen! ...
Aber das alles hatten sie also noch nicht begriffen, diese Streber und Feiglinge!
Und daher entstand von neuem eine kurzbemessene Pause, für beide Parteien voll krampfhaften Hicksens, ewigen Sprechversehens, voll Schlaflosigkeit und aller möglichen anderen Kränklichkeit – bis den Herren Bogduroffs wieder einmal die Bruchteile von Seelen, die noch unversehrt geblieben, derartig in Verwirrung aufgereizt waren, daß sie sich einbildeten, in gutem Training zu dem fünften Feldzug zu sein.
Diesmal war es ganz klar, daß Starck und seine Kameraden durchaus nicht die Absicht hatten, mit ihren Knochenfüßen glimpflich zu Werke zu schreiten.
Sie waren längst über die Zeiten hinausgekommen, wo sie es für hinreichend erachteten, um den gewünschten Eindruck von Ruhe und Kampfeifer zu machen, daß sie – entweder in Worten oder in Handlungen – ihre Privatprinzipien und Ansichten aufs Spiel setzten.
Und sie waren ebenfalls noch weiter in hohem Grade über den Kinderglauben hinausgekommen: daß es genüge, wenn sie ihre und der Matrosen Gesundheit und Gliedmaßen riskierten.
Jetzt waren sie sich endlich darüber klar, daß vollauf Verwendung dafür vorhanden war, daß sie ihr Leben selbst als Einsatz für die Sache setzten: namentlich nun, wo das Schiff vier Tage hintereinander abwechselnd einen Leutnant oder einen Kadetten begraben hatte, die an der Dysenterie gestorben waren.
Ja, jetzt konnte man, hol' mich der Teufel, überhaupt ganz und gar nicht mit geringerer Münze rechnen, als mit dem Leben selbst, natürlich! ...
Also begannen die Bogduroffs, wenn sie Seebäder nehmen wollten – an den Tagen, wo das Schiff zum Kohlen vor Nosi Bé vor Anker lag, oder wegen irgendeiner gewöhnlichen Havarie, die in Diego ausgebessert werden mußte; und wo die Wellen hinreichend rollten, daß das Schiff einigermaßen stampfte: sie kamen auf den Einfall, in einen der Marsen hinaufzuklettern.
Und da, hoch oben in der Luft, mitten in der Sonne, krochen sie auf den Rand des kreisförmigen Panzergeländers hinaus.
Sie zappelten mit ihren blaugestreiften Schwimmhosen und schwenkten die gelben Wachstuchmützen:
»Halloh! Kéhé!« schrien sie denen zu, die drunten auf Deck standen, »sagen Sie mir doch, waren Sie erpicht darauf, von hier oben aus ins Wasser zu springen?!
Wie?
Haben Sie das gewagt?!
Und denken Sie auch ja an die Haifische da unten auf dem Grunde des salzigen Blaus! Hahaha! Sehen Sie jetzt einmal!« – Und dann schroben sie ihre Verzweiflung und Torheit unsagbar in die Höhe., krabbelten bebend weiter aufwärts auf den henkelförmigen Steigeisen des Mastes, ganz bis zu einer der obersten, sonnenglitzernden Raaen hinauf; legten auf dem Bauch aus bis an das Nock, klemmten die Augen zusammen ... und in dem Nu, wo das Schiff gehörig nach Lee hinüberneigte, lösten sie wirklich, mit einem Schrei, ihre schweißigen Griffe um das runde, heiße Holz und stürzten, mit allen Gliedern rasselnd, aus der ungeheuren Höhe herunter – durch die Luft torkelnd, und eine Sturzwelle um sich aufklatschen machend, wenn sie die Wasserfläche trafen.
Wenn sie dann, mit den Knien klappernd, bei jedem Schritt mit ihren großen Füßen platschend, das Fallreep hinaufkamen, so zeigten sie hinaus, sich totlachend, mit plötzlich kadaverhaften Gesichtern, indem sie den Haifischen – deren Flossen wie Rücken von Unterseebooten, oder wie Rasiermesser in schrägen Rucken den Wasserspiegel schnitten – die Zunge ausstreckten:
»Was sagen Sie, meine Herren?« riefen sie, vornüber einknickend, während ihnen das Wasser unter den Bademänteln heraustrieb. »Haben Sie den ehrwürdigen Patriarchen da drunten gesehen – gleich rechts vom Ausleger der Pirogue dort, haben Sie den bemerkt? Wieviel Platz meinen Sie, würde ich in seinem Magen eingenommen haben? Hahaha, als Frühstück!
Oder sind Sie etwa der erhabenen Ansicht, daß die Haifische in dieser Zeit des Tages schon beim Diner angelangt sind?
Kéhé!
Kä!
Kkksss!
Lächle mir doch zu, Kamerad!«
Aber selbstredend war auch dies an und für sich nichts wirklich Neues.
Ach nein!
Nicht einmal des seligen Leutnant Tschukow mißglückter Versuch bei Tanger oder Libreville – oder wo es gleich war – durfte sich der Originalität rühmen: mit Ausnahme des Teils davon, daß er auf Deck niederfiel, statt ins Wasser, und sich den Kopf derartig aufspaltete, daß er auf den Planken lag und auseinanderfloß wie eine zertretene Blutapfelsine!
O ne!
Simoff war ja in der Tat der allererste gewesen, der diese Luftreisen vorgenommen hatte.
Er führte sein Meisterwerk mehr als ein dutzendmal aus, während die Flotte im Hafen von Vigo lag – nominell vor drei Monaten.
Und jetzt, in diesen Tagen, wo das Geschwader nach noch einer von den kleinen anregenden und törichten Übungsfahrten wieder eingelaufen und in dem pestparfümierten Wasser bei Diego Suarez vor Anker gegangen war – jetzt führte also Bogduroff selber diese Salonform wieder ein, als Beweis von Kriegsmut.
Gerade während man auf Deck stand, unter dem Sonnensegel, die Ellenbogen auf das graue, lauwarme Geländer gestützt, und nach dem oberen Teil der Stadt hinaufguckte, oben über dem roten Felshang – wo das zierliche Gitterwerk rings um die kreideweißen Dächer wie winzigkleine horizontale goldene Striche erschien, die einem in den Augen wehtaten; wo Monsieur de Robignys rote Villa und das Gesandtschaftsgebäude mit seinen Kastellmauern über den Häusern aufragten, schwankend in der Hitze, und einem das Herz melodramatisch machten vor Sehnsucht nach Stadtleben; wo die Wellblechdächer auf den langen Baracken der Legionäre schimmerten wie ein gekräuseltes Meer, und wo die Arbeitskolonnen auf den schweren Erdforts unten um die Hafeneinfahrt herum wie Reihen aufrechter, glückseliger Ameisen zu erkennen waren, die Tag für Tag mit festem Boden und Frieden unter den Füßen dahinkrabbelten, die Schlingel –
oder plötzlich während man mit seinem Krimstecher versuchte, die gelbe, spitze Hütte zu entdecken – unten auf dem flachen und weißen Strand selber, am südlichen Rande der unteren Stadt –, in der das glutheiße Bastardweib Mura-o-a wohnte: sie, die die Stundenfrau von zweihundert Offizieren war und alle Gefühle dazu bringen konnte, zu sabbeln, zu schreien und sich selbst aufzufressen vor bisher, gottlob, vergessenen Erinnerungen –
ehem, ja! Oder auf einmal, wenn man seine knorpeligen Knochen oben an der Reeling aufgestapelt hatte, oder auf der Kommandobrücke, und seine Seele hungerkrank und flennend schnüffelte an dem schwellenden Duft nach Süße und Cayenne aus den violetten Wäldern, die die schroffen Ufer nach Norden, wie nach Süden bedeckten:
urplötzlich, während man so stand, die Brauen über die Nasenwurzel herabgezogen, den Kopf durchwühlt von allem Möglichen aus verschwindenden Existenzen – – – da wurde man auf einmal splitternackend aus sich selbst herausgestoßen, indem entweder Herr Bogduroff in höchst eigener Person oder irgendeiner von seiner Meute unversehens und unerwartet von da oben von der Raanock herabgesaust kam wie ein verwester Verbrecherkadaver, heulend und einem gerade an der Seele vorbeiklatschend, die Viecher!
Allerdings bekam man also in der Regel einige anhaltende und federnde Erschütterungen im Magen von dergleichen Überraschungen – und insofern erzielten die Bogduroffs ja eine Art Resultat –, aber im großen und ganzen ärgerte man sich selbstverständlich nur rein standesgemäß!
Natürlich!
Man war, kurz und gut, empört darüber, daß es wirklich noch Offiziere gab, die sich nicht schämten, eine so krinolinenveraltete und dünngeschlissene Mode zu benutzen:
»Nom d'un con!« bemerkte Praxin deswegen schließlich bei der Abendtafel, unten in der Messe, für jeden offenbar in seinem eigenen Kreis herumzwinkernd:
»Bei der heiligen Jungfräulichkeit! Ich erlaube mir keineswegs eine Anspielung auf Sie, teuerster Starck!
Oder, vielmehr, Sie sind es ja, an und für sich, ganz und gar nicht!
Das fehlte ja auch noch!
Aber neulich fiel mir wahrhaftig folgendes ein: Gott mag wissen, ob nicht im Grunde der Held Tschukow geradezu mit Absicht von oben kam damals, als er sein Spiritusgehirn zerquetschte!
Nicht wahr?
Wenigstens scheint es mir, als wenn er in den letzten Tagen, ehe die Geschichte geschah, gleichsam so geheimnisvoll trostlos ausgesehen hätte!
Ob er wohl trotz all seines ehemaligen Heroismus die Luft hier auf unserer idealen Armada nicht so recht hat vertragen können?
Wie, meine Herren?
Kéhé!
Oder war es vielleicht die Aussicht von hier aus – die allzu deutliche und unbestreitbare Aussicht, die ihn peinigte? Ich kann das nicht so auf dem Fleck entscheiden! Kähä! Können Sie es etwa, verehrtester Herr Bogduroff – Sie, zu dem der selige Tschukow aufsah, wie zu einem Abbilde Gottes, des Zaren und St. Georgs! Hahaha!
Gewiß, ja!« und Praxin nickte grübelnd vor sich hin, ein ganz klein wenig zu den Bogduroffs hinüberschielend, um zu sehen, wie seine Worte auf sie wirkten; dann sandte er ein paar winzig kleine Kicherflocken zu Luschinskij hinüber:
»Je mehr ich darüber nachdenke, um so plausibler erscheint es mir!
Er wollte es nur uns anderen verbergen, daß er reinweg freiwillig starb: deshalb veranstaltete er diese wahnwitzigen Hinabsprünge.
Glauben Sie nicht auch, wie, Herr Bjelostskij?
Hahaha!
Pardon!
Wunderbar, daß mir der Gedanke nicht schon früher gekommen ist!
Ja, Herrgott, dieser arme Tschukow! Denken Sie sich nur: selbst seinem Leben und seinem Dasein ein Ende machen zu müssen – mitten in einer Poltronlüge seinen Kameraden gegenüber! Welch dreidoppelte Entsetzlichkeit!
Gott sei ihm gnädig, dem armen lügenhaften Selbstmörder!
Diesem unglücklichen Suizidisten!
Oder wie meinen ...« Aber im selben Augenblick mußte er sich vom Tische erheben, sich die Serviette in den Mund stopfen, und aus der Messe herausgaloppieren, indem er seine Zungenspitze verschluckte, und aus den Nasenlöchern schnob – alles aus unterdrückter Belustigung über zweierlei: erstens über die freundliche Auslegung des Benehmens der Bogduroffs, die er auf diese Weise sozusagen allerwelt in die Köpfe hineingeschwindelt hatte – und zweitens aus Wonne über die gelbe Eiterfratze, die Starck wie besonders auch Bogduroff in den Gesichtern aufgespritzt war, während er gesprochen hatte.
Luschinskij aber blieb sitzen.
Er schob ein großes Stück farcierte Ente mit Trüffeln zwischen die Zähne; und so, trotz allem, den Anstand wahrend, nickte er im Kreise herum und schlug ein Kreuz mit der Gabel:
»Oh, ja freilich,« sagte er und schnüffelte zärtlich, »wie korrekt hat nicht der liebe Graf gerade das ausgedrückt, was wir alle längst hätten sagen müssen: dieser arme, verzweifelte Tschukow!
Selbst die Mannschaft weiß ja sehr wohl, was seiner Handlung zugrunde lag!
Habe ich nicht recht?
Gottes Barmherzigkeit sei mit dir, Nikolaus Andrejewitsch Tschukow! Und der heilige Geist erbarme sich dein! In alle Ewigkeit!
Amen!«
Und als von diesem Moment an auch die übrigen Praxins einmal über das andere – bischöflich ihre bekümmerten Gesichter schüttelnd, in denen die Muskeln vor inwendiger Blasphemie über das Ganze hüpften – fortfuhren, verzeihungsvoll bei Tschukows versoffenem Andenken zu verweilen, und da sie sogar wieder und wieder Kapitän Gregorow selbst anriefen, und auch ihn unermüdlich mit einer Menge Lügengeschichten aus Andrejewitsch' letzten Lebenstagen aufklärten – so währte es selbstredend nur seltsam kurze Zeit, bis Starck und seine Mannen einsahen, daß sie gezwungen waren, augenblicklich den Wünschen des Chefs zu willfahren, und dies kunstvolle Hinausspringen aufzugeben: da es also den verblüffenden Anschein hatte, daß alle Menschen geneigt waren, es als maskierte Versuche zu betrachten, einen anderen, noch weit tieferen Sprung zu machen.
Ja, freilich, zu ihrem größten Bedauern mußten die Herren dies vornehme und haiverspottende Abenteuer aufgeben – und sich so schnell wie möglich in ein offiziell gesetzmäßigeres Privatleben zurückziehen ...
Von neuem schleimte sich eine geraume Periode hin.
Luschinskij berechnete sie – so gut sein Gedächtnis sich auf so schwere Zahlen einlassen wollte – auf zirka acht Tage, ehe sie sich zum sechsten und letzten Male wieder auf die Arena wagten.
Diese, ihre unwiderruflich abschließende Vorstellung – die einzige originale Idee in der ganzen Farce – war die folgende:
Es schien, als ob sie – jetzt, wo alle Attentate auf Freundschaft abgewiesen waren – sich endlich, zu guter Letzt, klar darüber geworden waren, daß ja im Grunde auch nicht das geringste zu erreichen sei durch eben diese halbierte Form des Anschlusses, den sie die ganze Zeit hindurch erstrebt hatten.
Es ließ sich übrigens ganz einfach auch nicht machen, sich so auf einmal zu erniedrigen, indem man den Praxins intime Freundschaft anbot – und gleichzeitig damit doch den bisherigen, über alles auf Erden erhabenen Standpunkt beizubehalten!
Sicher nicht, nein!
Es gab überhaupt nur zwei Möglichkeiten da, das hatten sie endlich begriffen:
Entweder mußten sie in allem fortfahren, sich an ihre alte Großfürstenstufe festzuklammern – aber ganz deutlich fühlten sie selbst, daß sie dazu keine Kräfte mehr hatten.
Oder auch mußten sie ganz und gar alle Überlegenheit aufgeben und sich einfach als gemeine, passive, gewöhnliche Mitglieder der Praxin-Gruppe einverleiben.
Aber um dies letztere zu können, war es erforderlich, daß sie alle Eingebildetheit völlig und resolut abstreiften:
daß sie ganz prunklos zu den anderen sagten, jetzt könnten sie, verdammt und verflucht, nicht mehr! Jetzt legten sie, weiß Gott, ihre papierenen Kronen und ihre rohen Ansprüche auf Avancement auf Kosten anderer ab! Jetzt wären sie endgültig fertig mit allem, was Selbstüberschätzung hieß – und egoistische Rücksichten zwecks Erwerbung privaten Ruhms! Jetzt wären sie in Grund und Boden bereit, mit aller Welt gemeinsame Sache zu machen und zu erkennen, daß es in Zukunft nur das einzige Ziel gab, das wirklich etwas bedeutete:
nämlich mit dem Leben und mit heilen Gliedmaßen von diesem in alle Ewigkeit zum Tode verurteilten und teuflischen Geschwader heimzukehren! ...
Na, ich danke!
Alles äußerst schön – wenn die Herren dann nur in Übereinstimmung damit gehandelt hätten, nicht wahr?
Aber im ebendemselben Augenblick, wo beide Parteien die totale Situation gründlich verstanden, und wo die Praxins schon so leise angefangen hatten, ihre freundschaftlichen Handschuhe nach den anderen auszustrecken – da geschah es also, daß diese Gentlemen plötzlich begannen, ihre Originalität herauszukehren!
Kähä, diese Idioten!
Noch am selben Tage, an dem sich auch die Bogduroffs klar darüber geworden waren, daß das einzige, wozu sie wirklich Kräfte genug hatten, eine völlige Übergabe war auf Ungnade und keine Spur von Gnade:
an demselben Nachmittage traten sie auf einmal, wie auf Verabredung, alle wie ein Mann, in der direkt entgegengesetzten Richtung auf ...
Das Schiff war an diesem Tage, auf einer der gewöhnlichen und verdammten Kabel- und Postfahrten, nach Majunga drunten an der Westküste detachiert worden.
Es hatte draußen auf der Reede in vorschriftsmäßiger Entfernung geankert – und nach dem Diner fuhren sämtliche vom Wachtdienst freie Offiziere mit den Barkassen nach der Stadt, landeten an der großen und immer leeren Mole, und wandelten quer über den einsamen Hafenplatz hinauf zu Herrn Suturu, dem japanischen und smarten Teewirt, dicht neben dem Telegraphengebäude.
Sie ließen alle seine langen Liegestühle auf die Terrasse hinausschaffen, unter das rot-weiß-blaugestreifte Sonnensegel.
Ein paar Dutzend von den kleinen lackierten Tischen wurden zu einem ganzen zusammengestellt, und rings darum herum lagen sie dann alltogether, tranken Tee und Eis-Chartreuse und rauchten ihre Zigaretten.
Der Sand unten an den öden Kais war niederträchtig weiß, die Schatten flimmerten violett oder pensee. Der Himmel stand hell und blendend da draußen über dem Wasser, stahlhart von Sonne. Das Meer glitzerte stechend; jede Welle wanderte einem spitz ins Auge hinein, wie ein kleiner Spiegel. Das Schiff da draußen saß, kohlschwarz, auf seiner blauen, schaukelnden Linie. Die Luft fuhr schwül aus der offenen Tür des Hauses, und zerrte den Tabaksrauch in wagrechte Fetzen.
Gleich zur Rechten hörte man das warme Geheul aus dem kreideweißen, mit Rolläden versehenen Hause der Damenschoßbude; es veranlaßte einen dazu, jeden Augenblick in die Höhe zu hüpfen, die Brauen hoch in die Stirn hinauf. Sehr bedauerlicherweise hatte Gregorow sich jeden Besuch da drinnen verbeten, aus Rücksicht auf die Tageszeit – und weil das Schiff in ein paar Stunden wieder weg sollte.
Herrn Suturus zahme Makies hüpften unten auf dem Platz herum. Bogduroff hatte sie mit Fußtritten da hinunter gejagt, nachdem es ihm gelungen war, sich von einem von ihnen in den Finger beißen zu lassen. Mit ihren bleichen Gesichtern, ihrem Silberpelz und ihren aufrechten Manieren sahen sie im Sonnenschein aus wie livide Gespenster. Ihre kleinen Schreie gällten nachtartig und veranlaßten einen, die Achseln zu zucken und sich umzugucken.
Das große Haus-Chamäleon saß auf der Gitterbalustrade, olivengrün und silbergrau, bei jedem Atemzug unaufhörlich unter der Kehle anschwellend, das Schwein; es war zum Brechen, wenn man nur die naßkalte Geschwulst ansah, die stieg und sank: pfui Deubel, Herr Suturu, hier kommen wir zu Ihnen und beehren Sie mit unserem Verkehr, nicht wahr, obwohl man behauptet, daß Ihr Haus, offen gestanden, eine Agentur für Spionage und Konsulatsspähereien ist, und dann sorgen Sie nicht einmal dafür, Ihre tropischen Widerlichkeiten fernzuhalten, solange wir bei Ihnen sind!
Dann kratzten sich Suturu, wie auch seine beiden gelben Diener, die Füße ab; sie schlürften die Luft zwischen den Vorderzähnen ein vor Verpflichtetheit – so daß man das Bedürfnis empfand, ihnen eine geballte Faust direkt in das Maulwerk hineinzupflanzen, um ihren Atemverhältnissen besseren Zug zu schaffen.
Und mitten während aller dieser gemütlichen Details war es also: daß die Bogduroffs – vielleicht in der wahnwitzigen Vermutung, daß der Ekel über die Umgebung, zusammen mit der Hitze, erweichend auf uns andere gewirkt haben sollte – plötzlich anfingen, die Moralischen zu spielen.
Schon früher am Tage – während Gregorow sich mit Briefschaften und Depeschen drinnen auf der Telegraphenstation befand – hatte ja der eine oder der andere von ihnen schon schwache Tendenzen nach dieser Richtung hin gezeigt: sie hatten mit in die Höhe gezogenen Augenbrauen dagesessen, sobald sich einer der Praxins in ihrer Nähe zeigte; hatten konsequent alle Anreden überhört; hatten sich nicht ein einzigesmal herabgelassen, auch nur unsere Existenz zu bemerken – waren dahingegen einander gegenüber äußerst chevaleresk gewesen.
Daher hatte es also Luschinskij geahnt, daß da wohl irgend etwas im Werke sei.
Diese Ahnung wurde bald darauf zur Gewißheit, nämlich damals, als Starck – kurz nachdem der Chef wieder an Bord gekommen war – ihm und seinen Kameraden vorschlug, ohne die Praxins auch nur mit einem Blick zu streifen: daß die gesamte Messe sich ja eigentlich den Sonnenschein und die wunderbaren Verhältnisse zu Nutzen machen und heute nachmittag zur Stadt fahren müsse, nicht wahr, Herr Kapitän, falls es Ihnen nicht fatal ist, zweimal im Laufe eines Tages dort hinein zu puffen? ...
Und jetzt sollte offenbar die Hauptsache zur Ausführung gelangen – da drinnen auf der Terrasse vor Suturus Teehaus.
Luschinskij lag mit geschlossenen Augen, schwitzig um die Nase, plötzlich weiß geworden im Gesicht, nachdem er ein wenig gegen einen der Kellner gewütet hatte, der kochenden Tee über seine Beinkleider und Knie verschüttet, der Schlingel – und diese Episode war es, die Starck auf einmal benutzte, offenbar ganz unfähig, länger warten zu können mit seinem originellen Annäherungsversuch:
»Hören Sie her!« sagte er auf einmal, nach einer Pause, in der niemand geredet hatte; er tickte mit seinem Zeigefinger auf den Perlmuttertisch und hatte sich halb aus seinem Liegestuhl erhoben. »Ich finde, weiß Gott, ehrlich gestanden, daß Sie sich ein wenig reichlich ereiferten, mein besonders guter Luschinskij: ei, wie Sie über den armen Kellner herfielen, den elenden Wurm!
Und es ist übrigens gar nicht das erstemal, daß ich so was an Ihnen bemerke – da wir doch einmal davon reden!
Sie sind im ganzen und großen etwas nervös geworden in Ihrem Auftreten in letzter Zeit – milde gesprochen, will es mir scheinen!
Sie sehen wahrlich schlapp aus!
Und ich gestehe es ganz freimütig, daß ich es ein klein wenig sonderbar finde, daß Sie – und übrigens auch ein ganzer Teil Ihrer näheren ›Kameraden‹, hä – so oftmalig über Ihre Untergebenen losexplodieren, einzig und allein, weil Ihr Herren selbst so verdammt betrüblich und kläglich ausseht!
Ja! Alles in allem: was, zum Satan, ist denn nur mit Ihnen allen los?« fuhr er fort, nachdem er ein paar ganz kleine, geschwinde, kollegiale Blicke mit Bogduroff und Bjelostskij gewechselt hatte; indem er plötzlich in die Höhe fuhr, der Quecksilberherr, der er war; mit trefflicher Stimme sprechend, sich selbst auf den Busen klatschend und, quer über den schmalen, schwarzen Tisch, Peter Romanowitsch von oben in die Schulter hinuntertippend mit seinen Knochenfingern. Der Likörduft stand ihm aus dem Halse – als sei es, bei meiner Seligkeit, sein persönliches seuchengewürztes und mumifiziertes Gesichtsfleisch, das ihm fortwährend durch den geschwollenen Mund verdunstete:
»Kopf hoch, verflucht, Ihr jungen Oberleutnants! Was in aller Welt! Ihr seid doch wohl nicht im Begriff zu bereuen, héhé, daß unser geliebter Zar Euch die Erlaubnis erteilte, an dieser Meerfahrt hier teilzunehmen: denn Ihr sitzt da ja so und nagt, vom Morgen bis zum Abend, und wälzt Eure privaten Wutanfälle auf alle möglichen anderen ab!
Wie man überhaupt wütend werden kann, wenn man sich auf so einer Lust-Amüsement-Ehrenfahrt befindet, wie es diese hier ist – das begreife ich, zum Teufel, auch nicht!
Nicht wahr?
Hahaha!
Ganz sicher! Die Nase in die Luft, Ihr Herren Leutnants!« – und damit sah Starck abermals zu seinen persönlichen Standesgenossen und Freunden hinüber, mit seinen lodernden Stierblicken. Und alle zusammen hoben sie, ebenso wie er, ihre hornförmigen Schulterknochen in die Höhe, um zu zeigen, wie unfaßlich es ihnen war, daß jemandem der Humor ausgehen konnte:
»Ich weiß überhaupt nicht,« fuhr er gleich darauf fort, immer blutiger im Gesicht und mit immer flackernderen Augen. »Aber es will mir, meiner Treu, scheinen, daß die jungen Offiziere zu unseren Zeiten ganz andere Männer waren, als heutzutage!
Meinen Sie nicht auch, Bogduroff – Sie, der männlichste von fünfhundert Eliteoffizieren, aus aller Welt Nationen zusammengesammelt, da unten unter dem Boxeraufstande?
Ja, nicht wahr? Ich selbst entsinne mich dessen so deutlich: wir jauchzten vor Entzücken zu meiner Zeit, wenn die Dienstgeschäfte so recht auf uns herabhagelten – ist das nicht korrekt, lieber Tscherikoff; oder erinnern Sie sich denn heute nicht mehr mit demselben unsagbaren Stolz wie ehedem unseres gemeinsamen mehrjährigen Chefs, Ihres lieben und berühmten, aber unerbittlich strengen Vaters, des Konteradmirals, vor dem vier Millionen Türken zitterten!
O ja, in unseren jungen Tagen, wie: da lächelten wir, weiß Gott, immer und ewig, wir lächelten beständig von einem Ohr zum anderen: je mehr, je schlimmeren Dienst wir bekamen! Entsinnen Sie sich noch der Eisnächte bei Wladiwostock im vorvorigen Jahr – oder der formidablen Hitze bei Taku, meine lieben Herren Kameraden und Altersgenossen? Erinnern Sie sich, wie unermüdlich Sie und ich lachten, Bjelostskij: damals, als General Ma's Leute uns gefangen hatten und wir am nächsten Tage bei lebendigem Leibe geschunden werden sollten; war's nicht der jetzt selig entschlafene Maximoff, der uns rettete? Ach ja! Gott segne ihn im Himmel!
Ja, sagt mir doch: übertreibe ich auch nur im geringsten, wie, tue ich das wohl – Ihr, die Ihr mit mir gekämpft habt, einmal über das andere?: Rede ich die Wahrheit? oder lüge ich?
Sicher nicht!
Und nun Sie, Luschinskij, mitsamt Ihrer nervösen Kellner- und Burschenfresserei! Und Sie, lieber, süßer Graf, mein fieberhafter und viel zu geschliffener Bonvivant, quasi-Damenfreund: was für griechische Sitten sind das eigentlich, in denen Sie die jungen Kadetten unterwiesen haben, wenn einer nach dem anderen rotäugig, glühend und schielend aus Ihrer abgeschlossenen Kammer herauskommen – zähneknirschend und gemeine Flüche murmelnd, wie beliebt? Oder Herr Simoff, der obendrein dummdreiste Pardauzspringer, der Kirchenliedersinger: neulich beobachtete ich Sie kopfschüttelnd und unangenehm berührt: als Sie bei offener Tür in Ihrer Kajüte saßen, für jeden Matrosen sichtbar, der vorüberging, und flennend einen Brief von Ihrer soi-disant unschuldigen Braut mit Küssen bedeckten! Hahaha! Pfui – sollte ich sagen! Oder der Duellant, Herr Premierleutnant Timon Lwow, der niemals seine einzige, winzig kleine Begegnung mit dem Tode vergißt: Sie waren offenbar riesig eifrig (heute morgen, als unser Kapitän mit seinen Briefen an Land gegangen war), dabei behilflich zu sein, als die Mannschaft in verbrecherischer Tierquälerei dem armen ›Fallières‹, unseren Schiffsaffen, mit dem dicken, weißen Bierschaumbart, glühende Krolleisen in den Schwanz zu klemmen!
Donner und Hölle: so'n Betragen für Offiziere!
Betrachten Sie einander, messieurs:
Noch in diesem Augenblick seid Ihr ja alle zusammen knochenmager und total bestialisiert – vor Bestürzung!
Ne, wie Ihnen die Hände bebern, meine Herren: schämen sollten Sie sich, wie Hunde, bei meiner Seligkeit!
Sorgen Sie doch wenigstens dafür, daß weder Herr Suturu, der Spion, noch die Mannschaft an Bord Anlaß erhält, Sie zu ... durchschauen!: Darum habe ich die Gelegenheit benutzt, Ihnen meine und meiner Kameraden offene Meinung hier zu sagen, fern vom Bord! Und ich wiederhole es noch einmal:
Pfui Satan, wie Ihr alle zusammen den Schnabel hängen laßt: sehen Sie uns an, folgen Sie unserem Beispiel, da Sie selber nicht wissen, wie sich Offiziere und Männer benehmen!
Spiegeln Sie sich in unserer schlichten Unerschütterlichkeit trotz allem!
Lernen Sie von uns, Krieger und Helden zu werden!
Wie?
Nicht wahr?
Ist es Mut – oder Blut, woran es den Herren fehlt?!
Hahaha!
Wie beliebt? Kähä! Kä!« fügte er hinzu, plötzlich offenbar bemerkend, daß er doch, offen gestanden, mit dieser Speech ein gut Stück über die Grenze hinausgekommen war, die Freundschaftlichkeit, Offizierstand und Gesundheit ertragen konnten.
Er und die anderen lehnten sich in ihre Strohstühle zurück, plötzlich ohne Spur von Teint, die Augen zurückgezogen wie Eremiten, mit ihren garstigen Händen in der Luft umherfechtend, bemüht, ein dämpfendes Greinen auf die Beine zu stellen.
Und in ihren Blicken gewahrte Luschinskij auf einmal diese allerletzte, diese einzige, diese unbewußte und krampferfüllte und lautschreiende Hoffnung, die sie zu ihrem tierischen, unoffizierlichen Benehmen getrieben hatte:
Die Hoffnung, nur die unbedeutendste Wirkung ihrer Worte zu entdecken: nur einen winzig kleinen Schimmer von Feuer, nur einen elenden Keim von Munterkeit und Mut: so daß sie sich wirklich selbst einbilden und mit ein klein wenig Berechtigung wirklich inwendig damit prahlen konnten, daß sie einen Kameraden entflammt hatten, daß es ihr Verdienst war, wenn sämtliche Offiziere sich so benahmen, wie sie sollten, daß sie allein die ganze Fahrt hoben und auf ihren Schultern trugen!
Aber als Peter Romanowitsch – indem er sich von seiner Causeuse aufrichtete – drinnen in ihren schmutzigen Augen dies alles beobachtete, da war es, als wenn sein Blut ganz auf einmal plötzlich in ihm in der entgegengesetzten Richtung zirkulieren wolle – derartige Knotentaue bildete es in den Adern in seinen Schläfen, und einen solchen Auflauf quetschte es unten in seinen Handgelenken zusammen.
Aber gleich darauf war da irgend etwas, das das Ganze wieder in Ordnung brachte; er atmete tief auf, und im selben Augenblick hatte er eine Empfindung, als sitze er plötzlich höher als bisher, als weite sich alles in ihm aus und strahle darauf in seinen Kopf hinauf.
Seine Arme hoben sich ein Stück – als wollten sie eigenmächtig, augenblicklich, nach dem Adamsapfel dieser Schlingel greifen! Diese Börsenbarone, die während der ganzen Zeit ihn und seine Kameraden gereizt hatten, indem sie ihnen besonderen Respekt und Achtung abverlangten, die aber jetzt – jetzt, wo am allermeisten Verwendung für sie war –, ohne sich zu genieren, gerade durch das viel zu Blödsinnige dieser Versuche, wieder die Großen zu spielen, sozusagen selbst eingestanden, daß man sie nicht einmal mehr dazu gebrauchen konnte, sich seine Fingerspitzen an ihnen zu wärmen!
Diese lichtlosen Leuchttürme!
Diese kujonierten Helden!
Diese splitternackten Kerle, die einem plötzlich ihre stinkende Leichenhaut ins Gesicht steckten und verlangten, daß man sie einen Panzerschild nennen sollte – damit sie sich selbst dahinter in Sicherheit fühlen konnten:
»Hören Sie einmal! Hören Sie hier! Sehr wohl!« antwortete Luschinskij deshalb in rasender Eile, genau in demselben Moment, in dem Starck seine unsterbliche Ermunterungsrede beendet hatte. Er richtete sich ganz auf – warf ein Dutzend Tassen und Gläser um, stützte alle acht Knöchel auf den Tisch, wo ihm Tee und Likör zwischen den Fingern schwammen, schleuderte seinen Blick geradeswegs in des anderen schwälende, schwachglimmende Kohlen von Augen, und hatte ein Gefühl, als sei er selbst nur irgend ein glühendes Rohr, durch das einige spitze und treffsichere Gegenstände hinaussausten:
»Beachten Sie nun wohl, was ich sage!« fuhr er fort. »Es mag ja am Ende wahr sein, daß Sie bisher nur bemerkt haben, daß einer von uns beiden sich nicht ganz wohl fühlt!
Und es klingt auch ganz plausibel, daß Sie vollständig vergessen haben – während Sie gleichzeitig übersahen, wem von uns beiden so elend zumute ist –: daß man unter Offizieren im allgemeinen nicht auf die Weise redet, wie Sie es eben getan haben!
Unter Offizieren pflegt man, verstehen Sie: einander nicht mit Grobheiten zu kommen, wenn nicht einmal milde Worte die Torheiten entschuldigen können.
Aber sehr wohl! Seit Sie nun einmal angefangen haben, auf diese Weise zu reden – so muß es vielleicht auch mir gestattet sein, einen ganz kleinen Umstand hervorzuheben!
Nicht wahr?
Nämlich die Bagatelle: daß jede geringste Kleinigkeit von all dem Hokuspokus, den Sie und die anderen Herren von Ihren persönlichen Freunden in der letzten Zeit angestiftet haben – hören Sie, jede geringste Kleinigkeit von all den tollen Sachen, die haben Praxin und ich selber und alle unsere Kameraden längst durchgepflügt und versucht! Begreifen Sie!
Wir kennen also, genau so gut wie sonst irgend jemand, was der Zweck aller dieser Bocksprünge ist! Zum Teufel auch! Bilden Sie sich etwa ein, daß wir allein Idioten sind?
Und sagen Sie mir doch: Wer, glauben Sie denn, ist am meisten mitgenommen von den Verhältnissen?! Oder wer, denken Sie, ist am weitesten heruntergekommen: Wir, die wir Ihre Geistreichigkeiten die ganze Zeit erkannt und durchschaut haben – sowohl die Fingerschießereien, wie das Herabspringen, und was es sonst alles war! Oder Sie und Ihre wehmütigen Freunde, die nicht einmal imstande gewesen sind, sich zu entsinnen, daß das Ganze von uns anderen schon früher ausprobiert war!
Oder sollten Sie, infolge all Ihres obenerwähnten, moralischen Ärgernisses, wirklich so komplett selbstverblendet geworden sein, daß Sie nicht mehr einsehen können, was es für ein Motiv von verborgenem und verschwiegenem Schrecken ist, das Sie acht Tage lang veranlaßte – geizig, wie Sie sonst zu sein pflegen –, da drinnen in Diego-Suarez mehr als siebentausend Rubel im Lansquenet zu verspielen, so daß es jetzt auch uns anderen verboten ist, dort eine Hasardkarte anzurühren! Oder vermögen Sie, trotz all Ihrer von Ihnen selbst beteuerten Unerschütterlichkeit, denn ganz und gar nicht, Herrn Struins, gelinde gesagt, zeitvergeudende Vorschläge, vor einer Woche zu durchschauen, nämlich sämtliche heilige Ikonen des Schiffes zu besudeln – einzig und allein, um zu beweisen, daß er keinen Aberglauben kenne, ké! Freilich, ja: und warum haben Sie es beständig unterlassen, Bjelostskij zu fragen, ob es ihm in seiner fieberkranken Sehnsucht nach Rußland sonderlich zum Tröste gereichte: als er neulich abends sieben zappelnd-lebendige Seesterne mit Teer einschmierte, sie an Schnüren unter der Decke seiner Kammer in Form des Sternbildes Wagen aufhängte, und sie anzündete – um sich die beruhigende Illusion vorspiegeln zu können, daß er schon wieder in der Heimat angelangt sei und seinen Whisky-Soda unter einem nordischen Nachthimmel trinke! Na, ja, nicht wahr? Oho! Sieh mal einer! Kä! Oder versuchen Sie, einen Blick nach Mister Tscherikoff hier hinüber zu werfen, dann bekommen Sie, weiß Gott, gleich reinen Bescheid darüber, wer der Anstifter des unfaßlich rohen Witzes war, der gestern wohl fast über das ganze Schiff lief: er fing ein paar Dutzend der gewaltigsten, gierigsten Ratten unten im Mannschaftsraum, schnitt ihnen die Hinterbeine ab, teils um sie ein klein wenig zu reizen, teils um sie am Entfliehen zu verhindern und teils um ihr Aussehen noch ein klein wenig mystifizierender zu machen – und dann ließ er sie in dem kleinen Arrestraum los, wo Bootsmann Schur lag und seinen Brand vom Tag vorher ausschlief, so daß diesem armen Teufel beinahe Finger, Zehen und Nase abgebissen waren, während er gleichzeitig einen Anfall von Wahnsinn bekam – vor Entsetzen, daß ihn das große Trallirium erfaßt habe ... eh, he, und dann wagen Sie trotzdem noch, spitze Anspielungen über die Art und Weise unseres unschuldigen Pläsiervergnügens zu machen!
Nie im Leben hab' ich so was Verrücktes gehört!
Wie beliebt, Verehrtester?
Aber vielleicht werden Sie jetzt so freundlich sein, mir auf diese meine Fragen zu antworten, falls Sie es nämlich für nötig halten sollten!
Oder ziehen Sie es möglicherweise einfach vor, meinen Taschenspiegel zu leihen, bitte schön, und darin ihre persönliche und höchst mitgenommene, bleichsüchtige Spirilfratze zu untersuchen: das wird Sie sicher nicht schmeicheln, aber Ihnen doch augenblicklich die von mir verlangte Beantwortung geben!
Kähä!
Ké!
Und was weiter?
Der Teufel frikassiere mich!
Nie hab' ich Ähnliches erlebt!
Sie: Frauenjäger, Frechmops, Phrasendrescher, Prahlbohne und Quecksilberbarometer!
Kkkk!!« und damit sank Peter Romanowitsch in seinen Stuhl zurück, riß noch ein paar Teetassen mit der Außenseite seines rechten Armes um, während ihm der Unterkiefer plötzlich auf den Uniformkragen herabbaumelte, und ließ seinen Geleeblick langsam und ruckweise die Runde unter den Kameraden machen.
Natürlich fehlte nicht viel daran, daß allerlei aus dieser Geschichte entstanden wäre.
Kommandant Gregorow war längst von seinem Platz aufgaloppiert; er glotzte von Starck zu Luschinskij hinüber, und schrie auf, ohne daß jemand sich die Mühe gab, ihn anzuhören: »Meine Herren! Nicht wahr? Meine Herren! Ich verlange, daß Ihr Ton ...« rief er einmal über das andere.
Graf Praxin lag, die Füße gekreuzt, den Schädel auf einem hellgrünen, seidenen Kissen wiegend, und blies in sein Likörglas hinein, das ganze Gesicht von Grinsen aufgedunsen. Bjelostskij fegte seine Ecke vom Tisch mit einer einzigen Bewegung seines Unterarms frei, trampelte mit beiden Fäusten auf die Lackierung und brüllte, daß er selbstredend mit Vergnügen Sekundant sein würde. »Hau ihn nieder, Starck, nicht wahr?«
Starck selbst stand da, sein Gesicht voll weißer Grütze, und schnappte nach Luft.
Tscherikoff torkelte zu Gregorow heran, lehnte sich über ihn, schob ihm eine Hand in die Brusttasche, um sich festzuhalten, und fing an, ihm in den Mund zu schreien: »Haben Sie es gehört, Herr Kapitän? Haben Sie die Bemerkung gehört: »Spirilfratze?! Kränkung des Privatlebens! Haben Sie es gehört?«
Bogduroff selbst sperrte den Mund weit auf, glotzte bebend vor sich hin, und dann klatschte er auf einmal die Hände vor sein Gesicht, in den Schultern zitternd, mit einem höchst wunderbaren Ton aus dem Halse heraus.
Und alle die anderen armen Ritter von seiner süßen Clique saßen da – im Chor schreiend, ohne aber irgend etwas zu sagen – und machten große Anstalten, um sich den Schein zu geben, als seien sie sich ganz klar darüber, daß sie sich wahrscheinlich verhört haben müßten! Es konnte unmöglich wirklich geschehen sein, daß Starck geradezu beschuldigt war, »am weitesten heruntergekommen zu sein«. Kähä!:
Bei meiner Seelen Seligkeit!
Schnick-Schnack!
Unter Offizieren!
Wie? Haben Sie je so etwas gehört?! Aber natürlich muß es absolut ein schlechter Witz gewesen sein und nichts weiter! Ja, selbstverständlich, gewiß! Ganz einfach ein Scherz! Ein nicht übermäßig gutgewählter Kalauer – ganz wie das Wort Spiril und wie beider Herren total erdichtete, gegenseitige Beschuldigungen der Tierquälerei et cetera! Hahaha! Nicht fein – aber ganz witzig, wie? Sehr gut! Eine an und für sich nicht üble Salve gemütlicher Geistreichkeiten! Was sagen Sie dazu, Herr Kommandant Gregorow? Haben Sie auch die Finale gehört? Nicht zu verachten, wie: daß Herr Starck ›weiter heruntergekommen ist‹ – das heißt, weiter herunter zu Luschinskijs Tischende heute? Kéhé! Ké! Kkkkss! Ein meisterliches Bonmot, Herr Luschinskij!
Danke gehorsamst!
Ich küsse Ihre Patentante!
Suturu, verdammter Kerl, Spionschnauze: bitte schön, wollen Sie uns spornstreichs fünfzehn Cliquot demi sec servieren, aber etwas plötzlich! Und nun kommen Sie her, Peter Romanowitsch, nehmen Sie Ihr Glas – und Starck, ergreifen Sie das Ihre, und unsere beiden Scherzgurken stoßen miteinander an!
Bravo!
Prost!
Hahaha! ...
Unleugbar!
Es war, als wenn Luschinskijs unverblümte Äußerung – die so deutlich wie ein Gewehrschuß beiden Parteien gezeigt hatte, daß man sich gegenseitig durchschaue – es war, als wenn sie von den Bogduroffs geradezu beabsichtigt gewesen sei! Als ob Starck und seine Freunde Peter Romanowitsch just dazu hatten zwingen und verlocken wollen, Worte solcher Beschaffenheit zu sagen, daß sie dazu führen mußten, als Scherz betrachtet zu werden, als intime Freundschaftlichkeit von beiden Seiten!
Und daher war diese oratorische Schönheit die allerletzte, die in Anlaß des großen Zusammenschlusses gewechselt wurde.
Eine Viertelstunde, nachdem sie in die Höhe geschossen war, drückten Starck und Luschinskij einander voll Zärtlichkeit die Hand, sie verschlangen ihre zitternden Arme zu einem Bund, tranken Brüderschaft aus Suturus Champagnerkelchen, die gleich darauf feierlich zertrümmert wurden; sie rückten ihre Liegestühle dicht zusammen, dufteten einander ins Gesicht – und auf einmal war es offenbar, daß die Bogduroff-Clique ganz einfach aufgehört hatte zu existieren:
Außer ein paar von den ganz Jungen gab es an Bord nichts mehr, was man besondere Gruppen hätte nennen können!
Alle waren nur eine einzige, mächtige, kompakte Masse!
Und das Ganze schritt ohne weitere Schwierigkeiten auf dem Wege vorwärts, auf dem es sich befand – ganz, als ob überhaupt niemals ein Mann gelebt hätte, der Fedor Werowitsch Bogduroff hieß.
Mméhé!
Scheren Sie sich zum Teufel! ...
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