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Luschinskij hatte sich niemals enthalten können, ein klein wenig witzig zu sein, sobald einer von den Kameraden oder den Matrosen plötzlich anfing, durch feuchte Augen, helle Striche von der Nase nach dem Kinn hinab, wie durch andere Anzeichen kundzugeben, daß das Wellengeschaukel ihm nicht günstig war:
»Was in aller Welt, Dreiundzwanziglein,« sagte er zum Beispiel, und tat, als sei er ohne jegliches Verständnis für das, was diese Symptome wohl bedeuteten, »was für ein paar weiße Bänder sind denn das, die dir da über! den Mund herabbaumeln?
Ist etwa heute dein Geburtstag, da du so flaggst?« und dann schielte Luschinskij nach den anderen Matrosen hinüber, in der Absicht, auch sie an seinem Humor teilhaben zu lassen, bis sie alle kicherten und hinter ihren wohlerzogenen Händen husteten. –
An und für sich hätte er freilich auch Grund genug, auf diese Weise geistreich zu sein.
Gleich von der ersten Zeit der Fahrt an – noch während das Geschwader unterwegs durch die kurzen und harten Wellen der Ostsee war – ging nämlich kein Tag zu Ende, ohne daß die Herren Seeoffiziere, die an und für sich wirklich mehr als genug zu tun haben sollten, sich die Wirkungen der nervösen Manieren zu überlegen, die die Flotte schon jetzt verriet, persönliche Aufheiterung suchten, indem sie maßlos spaßhaft waren gegen Praxin, Lwow, oder ihn, die drei Landsoldaten:
»Nun, Luschinskij, der Magen ist wohl noch immer an seinem richtigen Platz? Oder strebt er nach oben, der Struggler?« sagten sie mit zärtlichen Blicken und klopften ihn mit demonstrativer Vorsicht unterhalb der Weste. Oder sie kamen bei Tische mit schelmischen Anspielungen:
»Kaviar!?
Essen Sie den doch nicht!
Sie ahnen nicht, wie häßlich er schmeckt, wenn er den Gaumen zum zweitenmal passiert!« oder: »Chartreuse zum Kaffee, liebster Luschinskij, Sie werden das bitter bereuen!«
Aber allmählich, als die Tage vergingen, und er das Ganze nach außen hin noch in Ordnung hatte, wurde der Ton ja nach und nach ein anderer.
Die Legende, daß Peter Romanowitsch allen Schrecken des Meeres gegenüber immun sei, war schon im Begriff, sich an Bord zu bilden. –
Aber jetzt, ein paar Tage nach der Affäre bei den Doggerbanks – jetzt, wo man die Seekrankheit für eine Bagatelle rechnete, im Vergleich zu den anderen Dingen, die sich schon ereignet hatten – oder von denen man erwarten konnte, daß sie geschehen würden –:
Jetzt, wo das Geschwader südlich an der englischen Küste vorübergegangen war und in das offene Meer kam: die Wellen gingen mit ihren straßenlangen und hohlen Dünungen; die grauen und unendlichen Wasser rollten in weitgestreckten Rutschbahnen zu beiden Seiten des Schiffes und machten unaufhörlich jede Planke, jede Stange erbeben, so daß das ganze Fahrzeug ein sonderbar schütterndes Metallsummen vor sich hin trällerte; der Kasten segelte gleichsam seitlich durch die See; mitten in der Fahrt konnte er hin und wieder anfangen, mit dem Vorende zu stampfen, so daß man eine Empfindung hatte, als würden einem die Eingeweide nach der Halsöffnung hinaufgehoben:
Und unter diesen übelriechenden Umständen, ein paar Tage nach den Doggerbanks also, packte die Seekrankheit Luschinskij dennoch.
Sie blieb bei ihm – mit Nachwehen und Zubehör fast zwei Wochen lang.
Während dieser Zeit lag er still hin, Tage und Nächte.
Mit Muskeln, die entweder infolge einer langsam schwärenden Mattigkeit hüpften, oder plötzlich von Stichen und Stößen durchspritzt wurden.
Dann schnellte er mit einem Satz in die Höhe, focht mit den Armen um sich, mit rollenden und wunden Augen, die Ohren voller Stöhnen. Er versuchte – fast ohne es zu wissen – ein wenig Ruhe zu finden, indem er aufrecht sitzen blieb: zog seine Füße an sich und stützte die Schultern gegen die Knie. Aber dann war es, als wenn sein Rückgrat nach und nach bleiweich und haltlos wurde; es rollte sich spiralförmig unter ihm zusammen und zog ihn zuletzt wieder auf die Kissen zurück.
Das ewige Erbrechen hatte ihn schon längst ausgeleert.
Und jeder neue Versuch, den sein Magen hinfort machte, fühlte sich an wie Spatenstiche, die ganze Bündel seiner Gedärme durch seinen Hals hinaufschaufeln wollten.
Wieder und wieder geschah es, daß er auf diese Weise auf einmal eine Empfindung hatte, als werde seine Kehle durch scharfe Hacke von Bitterkeit versperrt und auseinander gekeilt. Dann beugte er sich mit einem Ruck über den Rand des Bettes: die Stirn eiskalt von jähem Schweiß, mit klaffendem Mund, die Speiseröhre umgekrempelt und die Zunge im Bogen gegen die Unterzähne gepreßt: an seinem Kinn herunter trieb langsam die beißende Galle.
Selbst sein Geruchsinn war krank und stinkend.
Der süßliche und überfette Öldunst, der überall herausgesickert kam, und der schwache, säuerliche Stahlgestank – sie drängten sich bis auf den Grund der Schleimhäute in seiner Nase und seinem Gaumen und machten sie dauernd entzündet und schlimm.
Sein Kopf fühlte sich an, als sei er zwischen ewig dröhnende Steinplatten geklemmt.
Schwer und tief hallte es in den Knochen am Ohr, als säße da noch irgendeine ungeborene Pein und presse darauf los, unter ihrem Anwachsen da drinnen hinter der Trommelhaut – oder als seien naßkalte Nebel und heulende Nebelhörner drinnen in seinem Blut.
Des Tages war es ihm unmöglich zu schlafen, weil alle Geräusche von den Übungen der Mannschaft sich über ihn wälzten, vom Morgen bis zum Abend: sowohl das Niederstoßen der Gewehre, das wie Faustschläge gegen seine Gehirnschale plumpste; als auch die Schüsse aus den Kanonen, die ihn gleichsam mit Füßen in die Schläfen stießen; und die Turnübungen, die das Deck über ihm erklirren machten, so daß er ein Gefühl hatte, als würden ihm die Augen wund und lose im Kopf geschüttelt.
Erst spät in der Dämmerstunde, wenn der aktivste Teil des Dienstes vorüber war, begann für ihn die Möglichkeit, einschlafen zu können.
Aber einmal über das andere wurde er auch des Nachts durch alle die hunderterlei unfaßlichen und ungreifbaren, erzklingenden Töne vom Schiffe her geweckt.
Gerade wenn er endlich, nach stundenlangen Versuchen, sich zum Einschlummern zu zwingen, wirklich das Bewußtsein seines Gehirns gleichsam ganz verbraucht hatte, wenn ihm der Kopf mit einem scharfen Löffel leer geschabt war und seine Sinne nun im Begriff waren, zu schwinden – dann wusch irgendein Wellenschlag, stärker als die gewöhnlichen, an der Schiffseite längs, und schlich mit einem klangvollen Eisengesang durch die Knochen. Da fuhr er verwirrt in die Höhe, sprang aus dem Bett heraus, mit stechendem Herzen und galoppierenden Sinnen: ewig darauf vorbereitet, in einer halben Minute in den Kleidern zu sein und eine Schwimmweste um die Brust zu schnallen, um sich retten zu können, falls das Fahrzeug auf eine dieser Minen gestoßen sei – oder wenn ein Torpedoboot oder ein Unterseeschiff sie mit einem Schuß in den Grund bohrte.
Wenn er dann, vielleicht eine ganze Stunde später, endlich wieder merkte, daß seine Gedanken sich phantastisch verdrehten, und daraus verstand, daß er von neuem im Begriff war, einzuschlafen – dann segelte der scharfe und blanke Stahlschnabel der Wachtpfeifen über seinen beginnenden Schlummer hinüber, wanderte gellend durch sein Gehirn, und riß ihn auf – mit einem Schrei, und mit Empfindungen von Säbelblitzen und Klingenschrillen um sich her.
Oder der dumpfe Puls der Maschine zerhieb nach und nach alle seine Gefühle in krampfhafte kleine Stücke, so daß er langsam erwachte, im Schweiß und Alpdruck: mit klaffendem Mund, Schmerzen im Schlund und mit vagen, erstickenden Erinnerungen an irgendeine hundertfältige Explosion.
Oder das wackelnde Zittern der Schrauben, die sich nie, auch nur zwei Minuten hintereinander, gleich waren, jetzt, wo das Geschwader in das offene Meer und den stärkeren Seegang hinausgelangt war; das Schraubengetöse füllte seine Eingeweide mit einer saugenden Übelkeit, zehrte Stunde auf Stunde an dem Mark seiner Nerven und machte sein Herz zu einer wunden und jammernden Brandblase, als stünde sein Leben auf dem Spiel, als sei er bereits durch Brust und Rücken geschossen.
Oder das schwere Wellendröhnen und das qualvolle Todesbrüllen der Nebelhörner drangen mit ihren Tierlauten durch die Wände bis in seinen Schlaf hinein, jagten seine Sinne in langen Sprüngen durch ihn hindurch und peitschten seine Träume mit tollem und wahnwitzigem Grauen: von Angriffen, bei denen er auf einmal auch nicht eine Hand zur Verteidigung zu erheben vermochte, oder von Kämpfen, während welcher er heulend, rasend und speichelnd, nur dalag und auf den Gnadenstoß wartete, schon überall aus hunderten von Wunden sickernd ...
Und in diesen Wochen – sowohl während Luschinskij wirklich krank war, wie auch später, als er anfing, sich ein wenig zu erholen; es war in den Tagen, als die Flotte unten bei Tanger lag, gleichsam inwendig in einer ungeheuren, berlinerblauen und durchsichtigen Glaslinse, mit einer duftvollen und heißen Luft angefüllt; wie einen gipsweißen Reflex sah man die gekalkte Stadt dadrinnen an Land, dort, wo Himmel und Meer zusammenstießen: in dieser Zeit stellte es sich allen Ernstes heraus, daß er obendrein mit Iwan, seinem Burschen, niederträchtiges Pech gehabt hatte.
Freilich, die meisten von den Leuten waren ja Barbaren; Quatschköpfe waren sie wahrscheinlich auch sämtlich; Heuchler und Augendiener würden sich sicher, buchstäblich gesprochen, als die besten von ihnen allen erweisen – nicht wahr?
Aber Iwan war doch selbst dem Fortgeschrittensten aus dem ganzen Haufen noch eine ganze Schiffslänge voraus!
Er trank und stahl; ja, das tat er: seine Finger schwollen förmlich an vor Schmerz und Kummer, wenn er nicht augenblicklich alles rapsen konnte, was er sah; sein Hals schwand sichtlich hin, ward zu einem Wirbelgerüst, wenn nur eine Flasche dastand, und er seine Fischleimlippen nicht sofort fest um sie kleben konnte!
Mit hunderterlei schlauen Vorwänden wußte er sich jedesmal ein Schläfchen zu erlisten, statt etwas zu tun, wenn ihm Luschinskij einen Rock zum Bürsten oder ein Paar Stiefel zum Putzen übergeben hatte.
Er schlürfte ein paar Mundvoll aus der Terrine unterwegs, wenn er sie aus der Messe herunterbrachte, während der Oberleutnant zu Bett lag: so daß die steif gewordenen Fettaugen wie graue Schuppen auf seiner Nasenspitze saßen; wenn er Fisch servierte, hatte er gelbe Spuren von Sauce um die Lippen herum – und braune Abzeichen, wenn es Braten war: Streifen, die gefrorenem Eiter oder jahrealtem Wundenschorf glichen, und die Luschinskijs kranken Magen anspornten, sich förmlich in seinen Schlund hinaufzustürzen, um so schnell wie möglich auch all das übrige von den Speisen dem Schweinekerl ins Gesicht zu schleudern!
Peter Romanowitsch verbrauchte tagtäglich alles, was der Arzt von seinen Kräften zusammenzuschrappen vermochte, um Iwan auszuschelten.
Aber nichts in der Welt machte Eindruck auf ihn, das lange Gestell, den Sohn, Enkel und Urenkel von Bauern unten am Schwarzen Meer.
Nein, im Gegenteil!
Für jedes neue Schimpfwort, das Luschinskij erfand, entdeckte Iwan irgendein ganz neues Feld, wo er stehlen und betrügen konnte.
Nie aber war er zu fassen.
Immer und ewig verstand er es, so zu rapsen, daß doch ein Körnchen Wahrheit darin sein konnte, wenn er seine zwölf Finger faltete (denn Iwan hatte, weiß Gott, nicht weniger als sechs an jeder Hand, Schwein, das er war, aus einer Eberfamilie geboren; im ganzen also zwölf Greifgerätschaften: eine gemeine und himmelschreiende Tatsache, die Luschinskij erst mehrere Tage später entdeckte, nachdem er Iwan, seines glatten Gesichts halber, zum Burschen gewählt hatte), und mit heulenden Tränen schwur und fluchte, daß er nie und nimmer, seit er in seiner armen Mutter Leibe empfangen wurde, in betrügerischer Absicht auch nur das allergeringste von Seiner Hochwohlgeboren, des Allerhöchstgeborenen Herrn Oberleutnant Peter Romanowitsch Luschinskijs Sachen angerührt habe!
Wenn Luschinskij ihm Fallen stellte – indem er heimliche Zeichen an den Flaschen anbrachte, oder abgezähltes Geld, als sei es vergessen, in das Futter seiner Tasche steckte –, so hatte Iwan einen sonderbaren und instinktiven Verbrechersinn dafür, gerade bei dieser Gelegenheit seine vielen Grapser von der Versuchung unberührt zu halten.
Und hinter den Tränen, mit denen er auf alle Vorwürfe antwortete, konnte man seine tiefe und fast staunende Wesenswonne über die grenzenlose Schlauheit lesen, die sich in ihm entfaltete. –
Gleich damals, als Luschinskij Iwans Reichhaltigkeit an den Händen bemerkt hatte – und noch mehr, als er anfing, Verdacht zu hegen, daß auch die Länge dieser Finger nicht ganz natürlich sei, da dachte er selbstverständlich, daß dieser Bursche es sicherlich nicht so weit bringen sollte, schmutzige Füße in seinem Dienst zu bekommen.
Aber dann legten sich die Doggerbanks dazwischen und bewirkten, daß er Iwan vorläufig vergaß – und gleich darauf kam die Seekrankheit und machte für noch eine Weile allen den Betrachtungen ein Ende.
Und als Peter Romanowitsch jetzt wieder gesund geworden war, fühlte er nach und nach, daß er im Grunde Iwan eigentlich gewiß nicht entbehren wollte!
Nein, nein, keineswegs!
Weit davon entfernt!
Er wollte bis zum Abend der Zeiten diesen überirdisch gemeinen Kerl um sich behalten:
Denn Iwan war ja ganz unbestritten ein Dieb, wie auch ein Trinker! Nicht wahr: er stahl und trank vom Morgengrauen bis um Mitternacht, faktisch: aber folglich war da auch keine Spur von Grund, Luschinskij einen Vorwurf darüber zu machen, daß er täglich seine Säbelscheiden auf den Rückenpartien dieser viel zu sehr befingerten Imbezilität zerbrach! Wer konnte ihm das ebenso menschliche wie moralische Recht verweigern, die tausende von Blutwallungen, die man während einer Fahrt wie diese bekam, abzukühlen, indem man so einem Massenverbrecher auf die Schienbeine trat? Hoh! Nein, kein Mensch – niemand in der ganzen Welt hatte die Berechtigung, hier mit Einsprüchen zu kommen! ...
Und Luschinskij hatte sich nämlich in der letzten Zeit wirklich ein gut Teil Neigung erworben, sowohl hin und wieder sein Blut zu veranlassen, plötzlich wie siedendes Pech in den Kopf hinaufzustürzen – als auch, ebenso plötzlich, dann und wann ein Gefühl zu haben, als wolle er sich die Brust öffnen, als wolle sie explodieren vor Sehnsucht, wie ein Dampfkessel aufzuschreien, wie ein Sicherheitsventil enorm in die Luft hinauszuheulen ... bis man den Druck verminderte da drinnen! –
Noch den allerersten Tag nach Doggerbanks war Luschinskij, auf diese sonderbare, sehr inwendige Weise, komplett schwärend und siedend geworden.
Er wurde an jenem Morgen, wie gewöhnlich, um sechs Uhr geweckt und taumelte aus dem Bett heraus, mit einem wie von Quecksilber statt von Blut pulsierendem Kopf – und mit tiefen und glühenden Augen, als habe er sie in der Nacht wahnsinnig, überanstrengt.
Während er sich umkleidete – denn er hatte ja infolge des am Abend ausgegebenen Befehls in voller Uniform schlafen müssen – während er die Kleider wechselte und sich an den Meßtisch begeben wollte, überkam ihn eine dunkle und unbestimmte und angenehme Erwartung, daß nun – nach dieser Nacht, wo sie alle toll gewesen waren, wie Pferde in einem brennenden Stall – nach dieser Jahresnacht, in der selbst Bogduroff, der Held von Taku und Tientsin mit seinem versiegelten Mund, aufgeschrien hatte, wie ein sterbender Mann – nach dieser Lebensnacht, wo sich ein jeder an Bord gleichsam aufgebraucht hatte, gestorben war vor Ermattung und nun wieder aufwachen sollte, als neues und meergeborenes Wesen – nach dieser Nacht hatte er im Allerinnersten gehofft und erwartet, daß sie jetzt alle miteinander die Heuchelei über Bord werfen würden!
Jetzt würde man in Gemeinschaft und aus vollem Halse rasen und schimpfen, auf die Regierung und auf das Ministerium!
Man würde hohnlachen, alle Zähne im Gesicht aufeinander gebissen!
Man würde schwelgen und schäumen in Haß und Offenheit jeden Abend, den Gott werden ließ – und man würde Tag für Tag die Hände in den Schoß legen; nicht einen Fuß zum Dienst rühren, sich alle miteinander darüber einig werden, daß man seine Lippen, Gott strafe mich, nicht einmal zu einem Kommando öffnen wollte – – und auf die Weise würde man dann, ganz langsam, mit gegenseitiger Unterstützung, nach und nach die Arbeit niederlegen; man würde geradezu streiken – so, wie sie es daheim zur Zeit überall machten!
Man würde die Regierung, oder den Admiral, oder wer, zum Teufel, es nun sein mochte, zwingen, die ganze Fahrt sofort aufzugeben und heimzukehren! Diese wahnsinnige und verdammte Reise, die, wie alle Welt im voraus eingesehen hatte, unmöglich war, und die nun, in Wahrheit, eigenmächtig und gründlich, auch selbst ihre Torheit bewiesen hatte! ...
So also dachte er sich, daß die Kameraden, wie auch die Mannschaft sich benehmen würden: und er selber würde sich natürlich, mit heulender Wonne und mit heißem Herzen, einem Auftreten dieser Art anschließen!
Er würde vergeben und vergessen, was sie ihm alle miteinander Böses angetan hatten, bis auf den heutigen Tag, mit ihren Lügen und ihren Lockspeisen!
Er würde ihnen beide Hände ausstrecken, und er würde ihnen Bruderküsse vom Morgen bis zum Abend schenken!
Ja – wahrlich, das würde er tun!
Er würde alles tun, was in seiner Macht und seinem Vermögen lag – beschloß er schließlich, während er die Mütze auf seinen schlingernden und feuerheißen Kopf setzte und mit steifen Augen in die Messe hineinging, um seinen Morgentee zu trinken.
Aber gerade diese hochgespannten Vorerwartungen waren es also, die verursachten, daß er im Laufe einer einzigen Sekunde zitternd und flammend kalt wurde in jeder Faser seines Fleisches und seiner Gedanken – als er in die Messe hinab kam, und augenblicklich entdeckte, wie sich die Situation in Wirklichkeit gestaltete!
Es entstand blitzschnell ein großes, blasses und saugendes Loch drinnen in seiner Brust – an ebenderselben Stelle, die er ganz vor kurzem in sich leer geräumt hatte, um dort seine Freude anbringen zu können:
Denn rings um die Tafel mit dem weißen Tischtuch saßen alle die Kameraden ganz wie gewöhnlich und tranken ihren Tee.
Wie immer, in drei feste Gruppen geteilt. Laut redend und lachend – ganz wie sonst!
Alles genau und präzise wie jeden anderen Morgen!
Zuerst war da Praxins Clique – zu der auch Luschinskij selbst gehörte – die große Mehrzahl.
Da saßen sie, als ob dies hier eine völlig gewöhnliche Morgenstunde sei: auf den Stühlen wippend, mit von Lachen dunkelroten Köpfen, und ergingen sich schreiend darüber, wie wahnsinnig man sich doch über Nacht benommen habe; wie geisteskrank sowohl Offiziere als Mannschaften gehandelt hätten; wie gemein das Ganze gewesen – auf den anderen Schiffen!
O Gott, redeten sie bunt durcheinander: ja, sind denn aber die Leute, auf allen den anderen Schiffen im ganzen Geschwader, verrückt geworden?!
Auf friedliche Fischerboote zu schießen!
Unschuldige Trawler im Oktobermonat auf den Grund des Meeres expedieren zu wollen, nur weil man selbst übernervös ist!
Zum Teufel!
Hahaha!
Jawohl: sie mußten, offenbar ganz einfach kollerig geworden sein, auf den anderen Schiffen, sowohl die Kommandanten bis hinab von den Deckoffizieren zu Heizern und Matrosen!
Gewiß!
Aber ein Glück war es doch, daß hier, auf unserem eigenen Kasten, da hatte eine brillante Ordnung geherrscht! Ausgezeichnet! Kein Funke von Gezitter oder Beberei! Gott sei gelobt! Ich habe gerade Sie beobachtet, Praxin: Sie sprachen wie in einem Ballsaal! ... Das freut mich, Boruffkin, denn ich habe ganz besonders auf Sie acht gegeben: Sie waren unerschütterlich, wie bei einer Parade! Ich beglückwünsche Sie! ...
Ja. Genau auf diese Weise redeten Luschinskijs Kameraden – die richtigen, seine eigenen guten Freunde, die gleich ihm niemals »außerhalb« gewesen waren!: und zum erstenmal in seinem Leben hatte Peter Romanowitsch eine Empfindung, als sei in ihm irgend etwas, das ebensosehr ihn selbst haßte, wie es Lust hatte, alle diese anderen an die Kehle zu packen und zu erdrosseln!
Wie war es doch nur möglich, daß sie sich so benahmen, statt zu rasen, so wie es ihn verlangte?!
Warum lachten sie so laut, bis sie in den Hälsen hichsten; warum klopften sie fortwährend munter auf den Tisch; warum schrien sie auf und machten sich wie die Besessenen über alle die anderen Schiffe lustig?
Und warum hatte er sie sich selbst so ganz anders gedacht?
War das ein Fehler von ihm, ein schlechter und häßlicher Mangel an wirklichem Verständnis für sie, für ihre Fähigkeiten und ihre Herzen? Oder lag die Schuld doch bei ihnen? Oder war es vielleicht, wenn es darauf ankam, wenigstens teilweise wahr, was sie sagten: daß hier auf diesem Schiff die größte Kaltblütigkeit geherrscht hatte? War er selbst wirklich möglicherweise der einzige an Bord gewesen, der diesen nervenzerrüttenden und tiefen Urschrecken über alle die Hilflosigkeit über Nacht empfunden hatte? Oder war es überhaupt vielleicht nur eine Idee von ihm, daß er bange gewesen war?
Wie?
Lag da die Wahrheit?
War er übrigens, jetzt, wo er gründlich nachdachte: war er denn nicht in Wirklichkeit ziemlich ruhig gewesen? Ebenso kühl und beherrscht im Blut, wie alle die anderen? – freilich war er das! – warum auch nicht? – und er hatte ja kommandiert, da unten auf der Batterie; hatte gesagt, jetzt käme er gleich zurück – und dann war er auf die Kommandobrücke hinaufgegangen, er ganz allein, offenbar, um genau Bescheid darüber zu erlangen, was eigentlich los war! Wahrscheinlich, um dem Kugelregen zu trotzen, offen gestanden! Ja, gewiß! hahaha! Also sie waren verrückt gewesen auf den anderen Fahrzeugen!?
Lassen Sie mich ein wenig Genaueres darüber hören! ...
Und im selben Augenblick beeilte er sich, von inwendig an seinen Lippen zu zerren, so daß eine Menge Lächeln über seinen Mund hingingen:
»Hahaha!« sagte er. »Ja! Der reine Wahnsinn – auf allen den anderen Schiffen!«
Er zog einen Stuhl vor und setzte sich auf seinen gewöhnlichen Platz am Tische; da das Schiff gleichzeitig mit dem Achterende wiegend sank, war es ihm einen Moment, als wenn der Boden selbst schwankend unter ihm nachgab – er blinzelte mit den Augen und sah sich verwirrt um.
Graf Praxin saß neben ihm, rauchte eine Zigarette nach der anderen und lachte, so daß seine Hände zitterten; die gelben Pappemundstücke lagen rings um ihn her an der Erde, wie ein Haufen kleiner, leerer Patronenhülsen:
»Incroyable!« sagte er, und streckte Luschinskij die Hand hin. »Guten Morgen, liebster Freund!
Auf friedfertige Netzfänger zu schießen, wie?
Ja – es ist unglaublich!«. Dann hielt er inne mit dem Lachen und sah vor sich hin, eine Sekunde; darauf begann er den Kopf hin und her zu wiegen und sprach langsam und leise:
»Aber ich begreife es auch nicht! Ich verstehe kein Wort von der ganzen Sache!
Nein, das tue ich nicht!« fuhr er fort, und streckte seine offenen Handflächen vor sich aus, einen Moment:
»Es erstaunt und schmerzt mich, meine Herren! Es quält mich, ich gestehe es!: daß russische Offiziere, Söhne unseres gemeinsamen Vaterlands, Männer mit derselben Ausbildung und demselben Wissen wie wir, nicht wahr: daß sie – auf allen den anderen Schiffen und scheinbar ohne triftigen Grund – ein so, gelinde gesprochen, sonderbares Benehmen an den Tag gelegt haben! fast als ob die ganze Armada – einzig und allein mit Ausnahme von uns hier – die Absicht hätte, den Admiral zu zwingen, das Ganze aufzugeben! Wie? hätte ich beinahe gesagt! Hahaha!«
»Ach!« rief Starck plötzlich, von der anderen Seite des Tisches herüber, »verschonen Sie uns jetzt bitte, lieber Praxin! Wir sind doch unter Offizieren hier – soweit ich weiß –, wenn auch der Kommandant in diesem Moment nicht zugegen ist!
Also nicht mehr von der Art, Graf, wenn ich bitten darf!
Man hat sich wahrhaftig auf den übrigen Schiffen in keiner Weise anders benommen, als hier!« Er starrte mit seinen eindringlichen Blicken in dem kieferstarken Gesicht gerade in Praxins Augen hinein, schlug die beiden Hände auf den Rand des Tisches nieder und fuhr, gleichsam mit einer Hammerstimme, fort: »Übrigens ist es nach dem, was man jetzt in Erfahrung gebracht hat, ganz klar, daß da trotz allem feindliche Torpedoboote zwischen den Trawlern versteckt gewesen sein müssen!
Verstehen Sie mich: es waren faktisch Torpedoboote da!
Ich habe sie selbst gesehen!« Er zog die Brauen zu einer Pyramide auf der Stirn zusammen und fuhr fort, den Grafen steif anzuglotzen.
»Und im übrigen, was Ihren letzten Satz betrifft, so versichere ich Sie alle – als älterer Kamerad –« fügte er hinzu, indem er auf einmal schneller als bisher sprach, und weder nach rechts noch nach links sah, »gerade auf den Kampfeifer fußend, der allem, was über Nacht auf sämtlichen Schiffen geschehen ist, zugrunde lag – sage ich Ihnen: einzig und allein auf der Basis garantiere ich, daß mit den Übungen, die wir abzuhalten imstande sind, ehe wir nach Japan kommen, diese Flotte ganz einfach ein Muster sein wird! das Ideal nämlich, zu dem sie alle möglichen Bedingungen besitzt – mit einem Höchstkommandierenden wie Exzellenz Roschdjestvenskij, und einem Offizierkorps wie Sie und alle wir anderen!«
Dr. Nakinskij und Lwow – die hinter Praxin saßen, die Mundwinkel voll Zigaretten und die Hände in den Hosentaschen, auf den Stühlen wippend – fingen an zu lachen:
»Ei, ei!« rief der Arzt. »Also Sie haben den Feind selbst über Nacht gesehen, wie, mein lieber Starck? Katzenmäßig gut von Ihnen gemacht, bei der Dunkelheit!
Aber als Medikus ist es leider meine traurige Pflicht, Ihre Behauptung damit zu beantworten, daß ich Ihnen in aller Stille eine Brille verordne! Gegen Weitsichtigkeit, nicht wahr, oder gegen Vielsichtigkeit?
Hahaha!«
Aber Graf Praxin hatte schon längst angefangen mit den Schultern zu zucken, während seine Haut gleichzeitig einen etwas helleren Schein bekam.
»Ich danke Ihnen mit Freuden, Oberleutnant Starck!« bemerkte er jetzt, und sah währenddes langsam umher, von dem einen Kameraden zu dem anderen, indem er vor sich hinnickte; sie hielten alle mit ihrem Lachen inne, und beugten sich ein ganz klein wenig vornüber auf den Stühlen: kehrte sich Praxin wirklich daran, was Starck sagte, der Outsider, dieser Bursche, der buchstäblich vom Scheitel bis zur Sohle mit Avancementstreberei angefüllt war – so kurz angebunden war er Gleichgestellten gegenüber und nie war irgend etwas aus ihm herauszubringen, einerlei, wie schlau ein Kamerad ihn auch anfassen mochte – – dachte Luschinskij.
»Ich bin Ihnen dankbar für die Unterstützung, die Sie meinen Äußerungen gewähren, lieber Starck!« fuhr der Graf fort, und zündete sich eine neue Zigarette an, »Wort für Wort sagten Sie gerade das, was ich meine! Es freut mich, Sie als Gesinnungsgenossen zu haben!
Ja! Wie gesagt: die ganze Zeit habe ich mich gewehrt! Ich habe unter keiner Bedingung an diese Legende glauben wollen – so wie ich es bereits vorhin erwähnte – von der Torheit auf den anderen Schiffen!
Und selbstredend habe ich recht: es waren japanische Torpedofahrzeuge zwischen den Fischerbooten versteckt!
Die Japaner haben England für diese ganze noble Geschichte gemietet!
Das ist meine Ansicht!
Mein Herz, meine ganze intime und stolze Kenntnis der Offiziere meines Heimatlands beweist mir, daß diese Auslegung die einzig richtige ist!
Es kann nichts nützen, daß Sie mir widersprechen, meine Herren!« – Er nickte abermals nach der Clique hinüber, streckte den linken Arm aus, legte ihn rund um Dr. Nakinskijs Schulter, und sprach mit einer entscheidenden und hastigen Stimme weiter:
»Überrascht – jawohl, parfaitement!
In der ersten Minute vielleicht überrumpelt – ist man auf den anderen Schiffen gewesen!
Gewiß!
Aber mit echt russischer Tapferkeit haben wir Mann für Mann die lumpigen Angriffe des asiatischen Feindes und der verräterischen Engländer zurückgeschlagen!
Ich leere ein Glas auf das fortgesetzte Glück und Gedeihen des Geschwaders!« Er erhob seinen Madeira und trank – mit dem Rande des Glases gegen die Zähne klirrend und seine Augen zuklemmend. Drinnen in seinem Hals war ein Laut, als sei er im Begriff zu husten oder zu lachen – oder als habe er sich bei dem Wein verschluckt.
Luschinskij hatte sich währenddes die Teekanne herangeholt und war in ungewöhnlich hohem Maße davon in Anspruch genommen, sein Glas vollzuschenken.
Mitten in Praxins Rede war ihm nämlich auf einmal eingefallen, daß Bogduroff ja erzählt hatte – da oben auf dem Deck über Nacht, gerade während der Schlacht –, daß selbstverständlich nicht ein einziges Torpedoboot zwischen den Fischern sei, daß er das ganz genau wisse – hatte Bogduroff gesagt; daß er dessen absolut und mathematisch sicher sei!
Sollte Peter Romanowitsch wohl etwas davon erwähnen, hier?
Oder weshalb hatte denn Bogduroff nicht selbst Protest erhoben – jetzt, eben vorhin, als Starck plötzlich das ganz Entgegengesetzte behauptete?
Oder war es am Ende, bei Licht besehen, ganz einfach Unsinn, alles das, was Bogduroff diese Nacht da oben von sich gegeben hatte? Wahrscheinlich – da er es also nicht einmal der Mühe wert erachtete, mit seinen Einwendungen zu kommen!
Ja, weiß Gott!
Natürlich waren da in Wirklichkeit faktisch Torpedoboote gewesen: schon ganz früh gestern abend hatte ja die »Kamschatka« die Meldung gemacht, daß sie plötzlich beschossen worden sei! Ja, freilich! Und schon das Phänomen an sich, daß es gerade Bogduroff war – dieser sonst stets stumme Bursche, der sich einfach damit begnügte, einherzustolzieren und der Held von Taku und Tientsin zu sein, he – daß er es war, der behauptet hatte, da seien keinerlei Feinde: das allein war ja schon Beweis genug, daß es selbstverständlich gerade im Gegenteil von Engländern, wie von Japanern gewimmelt hatte! Hahaha! Ach ja – dachte Peter Romanowitsch weiter; sicher hatte Praxin recht: in der ersten Sekunde vielleicht ein wenig verwirrt und überrumpelt, aber sonst ...
Er blickte umher, gleichsam im Gefolge von des Grafen Blick, um sich vollständig davon zu überzeugen, daß dies hier nun auch wahrhaftig der Kameraden Ernst war: und ganz recht, sie nickten alle langsam und still vor sich hin.
»Ich denke wahrlich genau so wie Sie, Praxin!« sagte Luschinskij deswegen, und sah plötzlich auf, lächelnd und auf einmal so verblüffend leicht über dem Busen. »Selbstredend haben Sie recht! Das ist ja die einzige Erklärung: da waren zweifellos Torpedoboote zwischen den Fischerdampfern!
Ich sah ja persönlich etwas wie dunkle Schatten, ganz in der Ferne, nicht wahr?
Vielleicht kann man sich geradezu denken, daß Togo sein ganzes Geschwader in alle die Fahrwasser verteilt hat, die wir passieren müssen, um völlig sicher zu sein, uns zu treffen, früher oder später!
Könnte das nicht möglich sein!?«
»Wer weiß, mon cher, wer weiß!« antwortete der Graf, und blies den Rauch von sich, so daß er gewissermaßen einen Schleier rings um den Kopf herum hatte. »Es sollte mich natürlich freuen! Ja, es würde mich wirklich in höchstem Maße ergötzen, wenn wir noch einmal, oder wieder und wieder, Gelegenheit haben möchten, diesen Gegnern abermals zu zeigen, wie eine russische Flotte ...
Oder was meinen Sie, meine lieben Herren und Genossen?« – und dann lehnte er sich in den Stuhl zurück und begann von neuem über die Tapferkeit zu reden, die an den Tag gelegt worden war.
Luschinskij ließ währenddes seine Augen über Bogduroff und seine Gruppe hinschweifen: die ältesten Oberleutnants plus ein paar junge Kapitäne.
Sie saßen – heute noch ein wenig dichter untereinander zusammengedrängt, als sonst – drüben auf der anderen Seite des langen Tisches, der durch den ganzen Raum ging.
Es wurde, wie vorauszusehen war, nicht sonderlich viel unter ihnen geredet – vielleicht noch ein winzig kleiner Bruchteil weniger als sonst; und ihre Blicke waren wohl auch mehr als gewöhnlich in Anspruch genommen von ihren Zwiebäcken und ihrer Marmelade.
Aber im übrigen tranken sie ihren Tee, wie immer.
Bogduroff sah gar nicht auf, als ob er entweder zu guter Letzt doch endlich angefangen habe, das Gefasel zu bereuen, das er über Nacht in bezug auf das verrückte Geschwader von sich abgewälzt hatte – oder als wolle er ganz und gar nicht einräumen, daß er überhaupt irgend etwas gesagt hatte, nicht wahr!
Starck schlürfte aus seinem Glas, brauchte seinen kahlen Mund zu nichts anderem, als zum Essen und Trinken – als sei er es gar nicht gewesen, der vor einem Augenblicke so aufgeschrien hatte.
Leonid Gorkin, der große Knote, saß mit seinem ganzen Buschgesicht in Kakes und Butter vergraben da und kümmerte sich weder um rechts noch um links; aus ihm konnte man auch nie klug werden, dieser Fisch!
Ja, natürlich – dachte Luschinskij; diese Leute hier waren selbstverständlich ganz unberührt! Sie waren über alles Mögliche erhaben! Was scherte es sie, was die Kameraden dachten und fühlten! Sie waren ja nur auf der Jagd nach Avancement und Großschnauzigkeit: darum sprachen sie geheimnisvoll wie die Orakel, und verbargen ihre wirklichen Aufschlüsse, bis sie sie dort abliefern konnten, wo als Vergeltung für dergleichen Unkollegialitäten Belohnungen einzuheimsen waren ...
Ganz hinten, rechts am Tische, war der Platz der Jungen.
Sie zischelten und tuschelten, sie blähten die Nasenlöcher, und ihre weiten Augen strahlten wie Laternen.
Sie schielten zu Praxins Clique wie zu der Bogduroffs hinüber. Sie waren untereinander in eifrigem, Schwatzen begriffen, phantasierten ins Goldene hinein über Pulverdampf und St. Georgskreuze, wie immer, und konnten kein Feuer in ihren Shagpfeifen halten, die, braun und süßriechend, als seien sie aus Honigkuchen gemacht, in ihren bartlosen Kadettenmündern saßen.
Ganz wie sonst!
Weronoff mit seinen ewigen Büchern vor sich, die Streberseele!
Alles wie gewöhnlich!
Hoho! So also! ...
Und abermals fühlte Luschinskij, noch stärker als zuvor, daß also wirklich, trotz allem, wahrscheinlich er allein es war, der sich über Nacht so aufgeführt hatte! Alle die anderen waren ja, bei Lichte besehen, ganz so wie sonst! Sowohl Praxin, als auch die Schweigsamen und die Jungen!
Jeder einzelne von ihnen war eine genaue Kopie von dem, der er bisher Tag für Tag gewesen war!
Darum aber galt es, in höchstem Maße acht auf sich selber zu geben – sich niemals zu verraten –, ewig zum Lachen und Schreien aufgelegt zu sein, und dafür zu sorgen, daß keine Menschenseele das allergeringste von ihm entdecken konnte!
Er würde ja unmöglich unter ihnen sein, wenn sie nur im geringsten ahnten.
»Ja,« sagte er von neuem zu Praxin – ohne sich so recht über seine eigenen Worte klar zu sein: als sei da nur irgend etwas in ihm, was kommandiert worden war, so zu reden; er drehte seinen Kopf mit einem Ruck herum, so daß er gerade zu Bogduroff hinüberstarrte, »freilich waren da Torpedoboote! Bogduroff hat sie mir selbst gezeigt! Erinnern Sie sich dessen noch, Herr Oberleutnant? Oder ist es etwa ein anderer gewesen? ...
Da waren ganz bestimmt eine Menge Torpedoboote!
Wir trafen ein paar davon!
Glaube ich!« – – –
Diese ganze Sache also war es, die Iwan so völlig unentbehrlich für Luschinskij machte.
Denn wenn der Oberleutnant Stunde auf Stunde alle möglichen Kräfte gebraucht hatte, um mit einem ebenso steiflächelnden Gesicht, wie das ihre, unter den Kameraden herumzugehen – so mußte er, so war er ganz einfach gezwungen, nur einige Minuten zurzeit, hin und wieder in dem Glück auszuruhen, das ihm das Abwerfen des Panzerschildes gewährte: ehrlich und redlich, nur dem Burschen gegenüber, alles das zu zeigen, was, ohne auch nur eine Sekunde auszusetzen, in ihm die Zähne knirschte und zum Himmel hinaufschwälte!
Wenn er nicht geradezu Gefahr laufen sollte, das Leben einzubüßen, mußte er – jawohl, täglich nur eine kleine halbe Stunde alles miteinander – in dieser unermeßlichen und selig schwindelnden Wonne schwelgen: in wirklicher Übereinstimmung mit den Dingen, die inwendig in ihm vorgingen, reden, wie auch handeln zu können:
Davon entbunden sein, lachen zu müssen – wenn einem das Herz wie eine Hackmaschine durch Muskeln und Adern ging!
Frei davon sein, über den Krieg zu diskutieren von einem frohen Gesichtspunkte aus; ununterbrochen, aber lächelnd, auf Kampf und Niederlage zu warten; in seinem Innern ewig auf Tod und Untergang gefaßt zu sein, und doch gemütliche Kalauer reißen zu können – wenn einem der Kopf auf den Schultern schlingerte, vor brennender Sehnsucht, nur Frieden zu haben, nur einmal vierundzwanzig Stunden lang Ruhe und Rast zu finden! Nur eine einzige Nacht einen bewußtlos tiefen Schlaf zu schlafen – oder bloß zehn Minuten ehrliches und gemeinsames Aufschreien vor Angst und vor Haß!
Oh, ja freilich: unvergleichlich unentbehrlich war Iwan unter diesen Umständen!
Eine übermenschliche Belohnung Gottes war es, gerade einen solchen Burschen zu haben!
Eben einen Verbrecher, einen Dieb zu haben!
Einen, den Gott der Herr buchstäblich geschaffen hatte, ausschließlich, damit man ihn mit Lobgesang und Dankbarkeit auf Grund seines eigenen Elends ausschelten – während man dabei doch vollständig auf der richtigen Seite sein konnte!
Und jedesmal, wenn man im Begriff war, sich ein unter der vorhandenen Situation sowohl ungesundes, als selbstmörderisches Mitleid zuzulegen – so war da bei Iwan das speziell Himmlische, daß er stets selbst die Abrechnung zwischen sich und dem Oberleutnant vornahm!
Daß sich Iwan augenblicklich selbst die erforderliche Revanche verschaffte, indem er seine Blicke ganz ruhig, Stück für Stück, die verschiedenen Gegenstände bezeichnen ließ, ehe er sich entschloß, sie zu stehlen, als Genugtuung für jeden Fußtritt oder für jedes Schimpfwort:
Iwans Mutter wurde als giftschwangeres Gratismädchen, blau von Quecksilber, grün von Fäulnis, blutrot vom Trunk, bezeichnet: gut, das waren drei Schnäpse von Herr Leutnant seinem feinen Kunjak!
Seiner Hochwohlgeboren hatten die Güte, ihn ins Gesicht zu spucken, gerade auf die Nasenspitze: sehr wohl, das waren fünfzig Zigaretten, von denen mit die goldenen Buchstaben auf die Mundstücken!
Der Oberleutnant ließ sich herab, ihm einen Knuff zu versetzen, zweiundeinviertel Zoll über dem Backbordknie: hihi, vielen Dank, das waren fünfundzwanzig kleine Kopeken in Kupfergeld! – – –
Genau so standen die Sachen noch zu Anfang November, damals, als sich die Flotte in zwei Abteilungen teilte und Tanger verließ, wo sie ihre Kohlenbunker gefüllt hatte.
Die eine Portion der Armada legte den Weg über Suez; die andere größere aber, mit Peter Romanowitsch Luschinskij an Bord, ging hinaus auf die blauen oder silberweißen Wasser des Atlantischen Ozeans, steuerte über das Meer gen Süden und fuhr mit jedem Tage mehr und mehr dem Äquator und der Wärme entgegen.
Ganz früh am Morgen, wenn man auf die Batterie hinauskam, stand die Sonne schon wie eine Feuersbrunst vor den Luken in den Schiffswänden; sie machte die Wasserflächen zu einem Hohlspiegel aus blanken Flammen, die sich einem kreideweiß in die Augen warfen; und sie machte die Luft erzittern, so daß das Blut im Begriff war, überzukochen und einem die ganze Zeit aus dem Munde zu stürzen.
Stunde auf Stunde hob sich die Sonne höher empor.
Sie durchglühte einem die Mütze, daß sie wie ein Treibhaus aus eisernen Platten wurde; sie machte die Achselstücke sauer stinken von ihrer Vergoldung; sie prasselte wie ein ungeheurer und unverschämter Meteor, flammend, brennend und weißlich-gelb, in der Luft dahin, einem unmittelbar über dem Kopf – und machte alle Räume im Schiff gleichsam zu Feuerkesseln. –
Und dann merkte Luschinskij allmählich, nach und nach, daß es den Kameraden, trotz all seiner Pfiffigkeit, gelungen war, ihn noch einmal zu narren! Noch einmal hatten sie ihn, bestialisch, an alle die tausend Lügen glauben gemacht, die sie sagten und die sie greinten! Noch einmal hatten sie ihm eingebildet, daß er nicht weit davon entfernt sei, eine Memme und ein Feigling zu sein – offen gestanden –, daß sie selbst aber Helden, Heroen und Abgötter waren, die keine Welt von Schrecken zu erschüttern vermochte! Heh! diese Augendiener, diese Schalke, diese Natternbrut, diese ...
Die allererste Saat zum Mißtrauen – oder den Erdboden zu dessen Keim, erwarb sich Luschinskij durch den seltsamen Umstand, der sich ihm langsam offenbarte: daß Iwan absolut kein Unikum war – nach allem, was Peter Romanowitsch' Kameraden in der letzten Zeit zu erzählen begannen!
Iwan sei keineswegs schlimmer als irgendeiner von den anderen Burschen – sagten sowohl Praxin, als auch Nakinskij, Boruffkin und Lwow hin und wieder, wenn die Hitze besonders arg war und einem die Augen kochte, so daß sie weißlich und schleimvoll um die Pupillen herum wurden, die selbst dem Loch eines Nadelstiches glichen.
Iwan sei, sozusagen, nicht weit davon entfernt, ein reinlicher Bursche, ein frisch gesteiftes Manschettenhemd zu sein, im Vergleich mit den unsagbar dreckigen Lappen, an die die anderen Offizierdiener erinnerten – erklärten Luschinskijs Freunde in diesen Autodafétagen während der Feuersbrunst am Äquator; während dieser Tage, wo auch sein eigener Kopf, klaffend infolge des Sonnenstiches, nicht mehr den Mund zu halten vermochte in bezug auf das tiefste Geheimnis seines Herzens.
»Ich begreife Sie wahrhaftig nicht, mon cher!« sagte Praxin; er goß ein großes Glas Wermuth in einem Zug herunter und lachte aus vollem Halse, so daß der herbe Geruch des Getränks ihm dick aus dem Schlund aufstieg, als stänken seine eigenen inwendigen Teile so, nach Hitze und Bitterkeit. »Wie können Sie sich über Iwan beklagen: wenn Sie gleichzeitig sagen, daß Sie ihn ungefähr täglich prügeln müssen!
Und was in aller Welt fangen Sie denn mit dem Rest Ihrer freien Zeit an? Hahaha!
Wie?
Ich verstehe Sie ganz und gar nicht! Hahaha! Nein, nein!
Nein!« Und der Graf fing urplötzlich an, den Kopf hin und her zu wiegen und die Augen halb zuzukommen, als singe er irgendein altes und mütterliches Wiegenlied. »Nein, lieber Freund!
Dann sollten Sie meine Abrechnung kennen – zwischen mir und Yorik, der beinahe nicht mehr zu regieren ist, der Raufbold!« Praxin hob die Ellenbogen nach der Seite in die Höhe, so daß die Rockärmel ganz unbeträchtlich über die Handgelenke hinaufglitten, als wolle er Luschinskij spornstreichs zeigen, wie man die Grobheiten und das Frechsein eines Burschen beantworten müsse. Dann aber wandte er sich, mit seinem gewöhnlichen Zucken in den Schulterblättern, nach Dr. Nakinskij um, der hinter ihm saß:
»Erzählen Sie einmal, Doktor!« flüsterte er, und kicherte plötzlich; »erzählen Sie – aber ohne Ihre gewöhnlichen, scherzhaften Übertreibungen –, wievielmal Ihr Boris jetzt versucht hat, Sie mit Ihrer eigenen Medizin zu vergiften, und wie oft Sie deswegen das obere Ende Ihrer überall mitgeführten Schlittenpeitsche haben erneuern müssen! Nicht wahr? Hahaha!
Man merkt es, verdammt und verflucht, dem lieben Peter Romanowitsch an, daß er noch nie auf den fernen Wogen gefahren ist, wie!«
Ganz auf dieselbe Weise sprach auch Leutnant Lwow – der mit dem Duell im Frühling.
Er hatte doch, natürlich nur, um mit den Atemverhältnissen seiner perforierten Lunge hauszuhalten, die Einrichtung getroffen – statt seinen Burschen Mikael, einen großen, dicken Herrn, dem sozusagen permanent brennende Kanonenlunten inwendig in seinen Blicken glühten, und der schon bei zwei Gelegenheiten versucht hatte, sein offenes Taschenmesser dem Offizier zufällig, oben von einem der Masten, auf den Kopf herabfallen zu lassen –: statt ihn, wie früher, zu prügeln, ihn jetzt an den festgeschrobenen Tisch unten in seiner Kammer zu binden, jeweilig einen Tag lang, wenn er annahm, daß der Kerl einen à-Conto-Betrag nötig hatte! Und damit die kochende Schwüle da unten noch ein wenig mehr ethisch wirken solle, sagte Lwow: pflege er obendrein seinen Privatpetroleumofen hinten in der Ecke anzuzünden – der sonst nur in den kühleren Himmelsstrichen benutzt wurde: so daß Mikael gegen Abend in der Regel am Boden lag und schwamm, ohne ein einziges Wort zu sagen, mit hellblauen Augenlidern und einer kreideweißen und geperlten Fratze, die im übrigen in hervorragendem Maße an einen fettigen Fayenceteller erinnerte, weiß Gott, das Schwein!
Und auch Struïn, der Kongoreisende, dessen Brust von Orden verdeckt war, erzählte nicht glimpflicher von seinem Diener! Im Gegenteil hatte er sich, unten zwischen den Negern, eine peinlich genaue Kenntnis alles dessen angeschafft, was mit der Behandlung von Untergebenen in Zusammenhang stand; und er erteilte eifererfüllt und mit karmoisinroten Augen jedem, der es wünschte, schöne und erprobte Ratschläge:
»Sehen Sie!« sagte er stotternd; der Schweiß quoll ihm aus der großen Stirn unter dem blutfarbenen Haar; er focht mit seinen Riesenhänden in der Luft und strengte sich mit aller Gewalt an, um ausnahmsweise einmal in zusammenhängenden Sätzen reden zu können, der stumme und grimmige Panther: »Schlagen Sie mit steifem Arm, Luschinskij!
Und benutzen Sie stets die Peitsche! Bedenken Sie, daran sind die Schlingel ja gewöhnt, schon von Hause aus!
Quer über den Rücken – aber mit steifem Arm! Verstehen Sie, das verstärkt den Schwung – als verwendeten Sie den ganzen Körper zum Schlagen!
Begreifen Sie: das ahnt, bei Gott, kein Mensch, was so ein Neger aushalten kann!
Aber warum sollten sich denn unsere eigenen Kabylen in weniger finden – wenn sie sich ebenso benehmen?
Nicht wahr?« ...
Im Anfang war Luschinskij ja ganz verwirrt über dies alles geworden.
Sein Gehirn schwindelte und verlor den festen Boden, es wurde sozusagen aufgeblasen und stieg sich blähend in die Höhe wie ein Santos-Dumont, bis Risse hineinsprangen, vor Verblüffung über diese Offenbarungen: wenn man sich vorstellte, daß alle Burschen, vielleicht der größte Teil der Mannschaft, buchstäblich weder mehr noch weniger waren, als Auswurf und Mörder; daß sie möglicherweise so gut wie ausnahmslos alle miteinander Schlingel und Schleichmarder in Reinkultur waren!: Sowohl vom menschlichen, als vom militärischen Standpunkt aus war das ja vollkommen himmelschreiend!
Eine schwimmende Kolonie von Schurken!
Eine treibende Insel von Verbrechern! ...
Und eines Tages machte er daher Praxin und ein paar anderen den Vorschlag, sie müßten doch selbstverständlich alle, wie ein Mann, und ohne sich noch eine Sekunde länger zu besinnen, ihre Diener beim Kommandanten des Schiffes und beim Admiral melden, und sie dann ins Loch schmeißen oder wie die Wölfe niederschießen lassen: diese Banditen, die stahlen und soffen und obendrein noch rebellisch waren!
Aber im selben Augenblick begriff er das Ganze.
Plötzlich und in voller Ausdehnung begriff er, daß die Kameraden auf die eine oder andere Weise logen.
Denn der Graf zog nämlich, bei diesem Vorschlag, augenblicklich alle Hände und Füße an sich. Und, »Gott soll mich bewahren!« sagte er im Chor mit den anderen: Yorik war wahrhaftig ein ganz braver Kerl, an und für sich! Und die Kleinigkeit von Halloh, die mit ihm vermacht war, damit konnte man doch wirklich eigenhändig fertig werden! Ein Offizier sollte im Grunde nie mit seinen Beschwerden zu den Autoritäten rennen! Wie? Das machte so einen Eindruck von Klatschhaftigkeit, finden Sie nicht auch?
»Im übrigen,« fügte Praxin hinzu, und legte seine tanzende Hand auf Luschinskijs Arm, »es ist ja auch schließlich ganz angenehm, gewissermaßen, heh, nicht wahr, seine persönlichen Angelegenheiten, selbst zu ordnen!
Wie?
Finden Sie nicht?
Wenn Sie nun ganz ehrlich sein wollen, wie, mein lieber Peter Romanowitsch!« Der Graf erbebte in den Schultern; er blinzelte mit den Augen, wurde noch röter im Gesicht, seine Nasenlöcher weiteten sich, und er lächelte, alle Eckzähne außerhalb der Lippen, so daß ihm plötzlich ein klein wenig Wasser aus den Mundwinkeln trieb:
»Nicht wahr,« sagte er leise, »ist es denn nicht ... wonnig, seine Abrechnung selber besorgen zu können? Persönlich für das Ganze einzustehen? Oder kennen Sie etwas Besseres – in einer Lage wie die unsere: als hin und wieder einen so recht sengend heißen Nachmittag damit zu verbringen, daß man sich eiskalt auf der Kehrseite eines böswilligen Burschen abkühlt: so tju, tju, tüchtig! Bis jeder Schlag lange, geschwollene Striemen hinterläßt! Tju, sst, tju! Bis es ihm dunkelrot an dem Hinterm herunterschwitzt! Bis man selbst vor Ermattung erblaßt, bis man taubstumm und satt wird, bis sich einem eine Totenstille in die Nerven hineinpufft – und man seufzend niedersinkt! Hahaha – das heißt: pfaffe ich nun, oder rede ich im Ernst?!
Wieviel von meinen Worten soll man als Wahrheit hinnehmen, ki – und wieviel ist Übertreibung, Ulk oder bare Lüge?
Wie beliebt!
Und was ist denn Ihre unaussprechlichste Meinung von dem allen?
Oder was fühlen nun Sie bei diesem meinen patriotischen Vorschlag: nämlich auf besagte Weise die patriarchalischen entschwundenen Tage aufs neue erstehen zu lassen – mindestens hier an Bord!?
Meiner hohen Ahnen gigantische Russen russische Periode: wo uns die Weichlichkeit Europas noch unbekannt und fern, wo jedem Herrn und jedem Leibeigenen das männlich-barsche Wort des Domostroj-Handbuches unverbrüchliches Gesetz war! Wo Knute, Pletj und Batogge uns alle Schlechtigkeit austrieben – unseren Fürsten zu Ehren, dem Lande zum Wohle und Gott zum Gefallen!
Ki, und was würden Sie dazu sagen: wenn wir auf diese Weise Sie, meinen kleinen Peter Romanowitsch, und ihren stillen Kampf gegen einen einzigen, elenden, ungehorsamen Burschen verwandeln könnten – in ein Symbol von Peter dem Großen aus dem Hause Romanow, der über seine zehntausend aufrührerischen Strelitze Gericht hielt, er, dessen Jugendgeliebte Eudoxia hieß, ganz wie die Ihre?
O, welch ein Stolz für Ihr Gemüt!
Hahaha!
Und wollen Sie mir nun endlich einräumen, daß niemand so ausgelassen sein kann, wie ich – oder glauben Sie beständig, daß meine Rede eine mysteriöse Ermunterung verbirgt?!
Wie?«
Peter Romanowitsch stand eine Sekunde da, ohne sich zu rühren. Mit offenem Munde. Er starrte den Grafen an, als habe er nicht gehört, was gesagt wurde.
Aber dann fingen seine Lippen plötzlich an, sich zu krümmen – gleichsam angesteckt von Praxins wonnevollem Greinen – und gleich darauf fühlte er auf einmal ganz deutlich, wie sein Hals dies inwendige Hüpfen und Kichern wiedererkannte: nämlich von jeder einzelnen seiner eigenen bisherigen Abrechnungen mit Iwan!
Und da geschah es, daß ihm alles in einem Nu klar wurde:
Praxin und die anderen befanden sich also, kurz und gut, in ganz demselben Paradies wie er!
Alle ohne Ausnahme lebten sie, sozusagen, direkt oben auf ihren Burschen!
Genau so wie er, hatten sie nur dies eine einzige Mittel – um sich für die Dinge zu rächen, von denen sie untereinander nicht reden durften!
Ja freilich!: aber daraus folgte, wiederum, daß die Kameraden, mit anderen Worten, in Wirklichkeit die ganze Zeit in genau derselben, fressenden Nervenvergiftung umhergingen, mit der er selbst überfüllt war.
Sie hatten ihm also ganz einfach etwas vorgelogen, sowohl jedesmal, wenn sie jubilierten und so taten, als seien sie entzückt von der Fahrt – als auch wenn sie des Abends da unten in der Messe saßen und einander in Anlaß der Waffentat an den Doggerbanks belächelten!
Aha!
So also!
Schau, schau ...
Und Luschinskij glotzte bebend nach allen Seiten hin – mit zitternder Unterlippe.
Er fühlte das Herz tief in seinen Bauch niedersinken, sein Kopf wurde bullernd heiß inwendig: von verhaltenen Tränen und Schrecken – von Haß und Einsamkeit, von vollständiger Hilflosigkeit ... und dann wanderte er, schweigend, zähneknirschend, in seine Kammer hinab, ohne es zu wissen: um möglichst schnell Iwans habhaft zu werden und ihn durchzuprügeln. – –
All dies plötzlich erworbene Verständnis war ja indessen nur Vermutung – wenigstens vorläufig!
Es klang ganz plausibel, jawohl! Es paßte vorzüglich zu allem, was er in den Zeitungen las – wie auch zu dem unvergeßlichen Schweigen, das Bogduroffs einzige Antwort auf Starcks Erklärung in jener Morgenstunde gewesen war, daß sich da trotz allem wirklich Torpedoboote zwischen den Fischern befunden hatten!
Sehr richtig! Ja freilich: aber Luschinskij hatte ja etwas gelernt, seit damals!
Er war keineswegs mehr so leichtgläubig, wie in alten Zeiten!
Er wollte, zum Teufel auch, Beweise haben, er verlangte ganz einfach Gewißheit! – –
Und von diesem Tage an leitete Peter Romanowitsch seine glühenden Detektivuntersuchungen über das Wesen und Treiben seiner Freunde ein!
Er ließ sie, soweit seine eigene Sehkraft es gestattete, auch nicht eine Sekunde aus den Augen. Selbst, wenn er ihnen den Rücken zugewendet saß, hatte er – falls seine übrigen, inwendigen Erlebnisse ihm Kraft genug dazu ließen: hatte er gleichsam hunderte von Fühlern, die sich unaufhörlich an ihnen rieben und sich jedes Steigen, jedes Fallen in den Temperaturen ihres Blutes und ihrer Stimmen notierten. Er suchte, purpurfarben in seinem Willen, sich unumstößlichen Bescheid über alles zu verschaffen, was hinter ihrem balzenden Lachen oder ihren plötzlichen Hustenanfällen lag.
Die äußeren Umstände taten nach Kräften das ihre, um ihm bei diesen Versuchen, sich Sicherheit zu verschaffen, behilflich zu sein.
Mit jedem Tage, nach und nach, als die Sonne näher, bis unmittelbar über den Kopf des Geschwaders, gekommen war, und schließlich wie eine flüssige Eisenmasse direkt in den Haaren auf ihren Schädeln hing –
mit jeder Woche, in der Gregorow ein paar Stunden von dem Dienstplan hatte streichen müssen, weil mitten am Tage keine Übung mehr durchgeführt werden konnte –
ganz langsam war es, als ob die Gehirne der Kameraden, die bisher wenigstens noch teilweise alle die Arbeit zu bewältigen vermochten, die erforderlich war, um ihr Geheimnis zu verbergen – jetzt gar nicht mehr imstande seien, dicht zu halten.
Unter dem doppelten Einfluß der Wärme und all der Freiheit und des Müßigganges, der damit im Gefolge stand, erschlossen sie sich hin und wieder.
Sie platzten gleichsam vor Hitze und Dürre – namentlich wenn man sich intim, unter vier Augen, mit ihnen befand; oder an den langen Abenden, wo man dasaß und eiskalte Getränke in sich hineintüllen mußte, um von der Luftglut nicht in den Eingeweiden zusammengekleistert zu werden.
Sie streiften mindestens einen Teil der Heuchelei ab, um in dieser stiebenden Ofenhitze nicht mit all der dicken Pelzbekleidung behaftet zu sein.
Und endlich waren sie allmählich auch raffiniert geworden: sie wollten wahrhaftig nicht nur ihre kleinen privaten Chambres-séparées-Wonnen mit den Burschen haben: sondern sie wollten, weiß Gott, auch über sie sprechen: sie wollten über sie diskutieren, sie wollten, hol' mich der Teufel, suchen, neue Tricks zu lernen! Das fehlte ja auch nur! ...
Und so zeigten sie Luschinskij, wenigstens in vereinzelten, roten Aufblitzen, etwas von dem, was in ihrem Innern vorgefallen war.
Sie ließen ihn flüchtig sehen, was sich in ihren Gehirnen und Herzen an Revolten und Handgemengen zugetragen hatte – sowohl während der Nacht auf den Doggerbanks, wie auch in den meilenlangen Tagen hinterher: in diesen unendlichen und schwärenden Stunden, wo jeder Mann auf der Flotte (dank den offenbar lügnerischen Behauptungen der Führer, daß sich japanische Torpedoboote unter den Trawlern befunden haben sollten!) von Minute zu Minute unaufhörlich auf einen erneuten, einen ebenso verräterischen und plötzlichen Angriff gewartet hatte, und daher, ohne auch nur eine Sekunde Ruhe, umherwanderte, die Muskeln gespannt, so daß sie wie Knorren auf den Armen und Beinen lagen und gegen die Knochen schurrten: bereit, abzusetzen und ins Wasser zu springen, falls das Schiff von irgendeinem Torpedo getroffen wurde, ehe es Zeit hätte, sie mit sich in die Blasen und den schleimigen Tang hinabzusaugen.
Sie entblößten vor Luschinskij mindestens die Brandstätten und die Sarkophage von allen den Prügeleien und Guerillakämpfen, die da drinnen in ihnen ausgefochten waren, während dieser schindenden Mordtage und Nächte, wo man außer diesem Nervenverbrauch obendrein noch gezwungen war, unablässig Wache zu halten über alle Teile und Partien seines Gesichts und seines Körpers: um das, was da drinnen vor sich ging, zu verbergen und zu übertäuben ...
Jawohl, dies alles gewahrte Luschinskij nach und nach bei seinen geliebten Kameraden – aber seine erste Gewißheit, daß er wahrhaftig diesmal richtig gesehen hatte; die Sicherheit, daß sie alle zusammen wirklich diese schwälenden und wabbeligen Schauspiele, die er selber so gründlich kannte, faktisch erlebt hatten: die erhielt Peter Romanowitsch, als er ein wenig später das erschlaffte und giftige Wesen entdeckte, das bei den Übungen zur Schau zu tragen die anderen angefangen hatten!
Akkurat, ja! Das explosive Verhalten der Kollegen während der Dienstangelegenheiten – das war sein entscheidender Beweis dafür, daß er korrekt geschaut hatte! ...
Es genügte ihnen offenbar nicht mehr, weder ihre Burschen unter vier Augen zu flensen, noch kichernd davon zu erzählen, wenn sie zusammen waren.
Jetzt war es, weiß Gott, nichts Geringeres, als die ganze Mannschaft, die vorhalten mußte!
Allerdings war ja die Wärme eine kleine Entschuldigung für all diese Streitbarkeit – und sie wurde auch wahrhaftig ausgiebig benutzt, hinreichend war sie aber nicht.
Selbstverständlich war man außerdem, auf der anderen Seite, auch gezwungen, gewisse formelle Rücksichten zu nehmen. Und Gregorow, dieser Tierbändiger, wechselte ja auch die Taktik nicht: unaufhaltsam wanderte er, knochenmager wie ein Plakatpfahl, auf dem Schiff herum, war überall zugleich und erbat sich Aufklärungen über jede einzelne Abweichung von dem Dienstplan.
Grenzen – oder einigermaßen gewichtige Vorwände – mußte man also immer bereit halten, sowohl für die Faulenzerei, wie für die Bissigkeit.
Und endlich konnte man sich ja nicht so ganz offen gehen lassen der Mannschaft gegenüber – selbst wenn man sich, an und für sich, klar genug darüber war, daß bei ihnen jegliche Äußerung von Hände in den Schoß legen nur willige Ohren finden würde, nicht wahr?
Auf alle diese Dinge, also, mußte man ein wenig Auge haben.
Man konnte den Dienst nicht ausschließlich als Hängematte für sich selbst – und als Elefantenpeitsche für die anderen benutzen!
Leider nicht!
Aber überall da, wo es angehen konnte, handelte man, so wahr mir Gott helfe, genau so, wie einem ums Herz war! Man faßte die eigene Person mit seidenen Glacéhandschuhen an – und man schwang die Skorpionen über die Mannschaft! –
Unterstützt von den vorhergehenden Beobachtungen, gebrauchte Luschinskij nicht lange, um dies zu entdecken.
So merkte er in erster Linie: daß da jeden Tag eine auffallende Menge Matrosen von den Batterien der anderen Offiziere war, die zu enormen Arreststrafen und Extrastunden verurteilt waren; und er beobachtete ferner, daß jedesmal, wenn er selber von seinen dienstlichen Geschäften kam, Praxin, wie auch Lwow und eine ganze Anzahl anderer von der Clique längst mit ihrer Arbeit fertig waren, obwohl sie genau denselben Dienstplan hatten, wie er!
Zu Anfang hatten sie selbstverständlich versucht, sich gegenseitig zu erzählen, daß es nur gerade heute ein Zufall war, daß sie so früh frei waren, weiß Gott, das war es! Sonst wären sie wahrhaftig überbürdet wie die Kamele, äh!
Aber Peter Romanowitsch war ja jetzt klüger geworden. Nun gut, dachte er – er wurde nicht einmal ergrimmt über diesen neuen Versuch von Seiten der Kollegen, einander gegenseitig Sand in die Augen zu streuen; er hatte schon begriffen, daß die Kameraden nicht ihn allein narren wollten; bei Lichte besehen, waren sie buchstäblich selber diejenigen, denen sie mit falschen Abrechnungen aufzuwarten wünschten; sie selber waren diejenigen, die sie mit allem möglichen Gerede hinhalten wollten; sie selber waren diejenigen, auf deren Düpierung es ihnen ankam!
Und darum wurde Luschinskij also gar nicht mehr böse, wenn er einen neuen Pfiff von ihnen entdeckte.
Ganz im Gegenteil: er konnte förmlich nicht umhin, eine Kleinigkeit zwischen den Wangen und den Zähnen zu kichern, er mußte den Zipfel seines Taschentuches einen Augenblick in den Mund stopfen – so oft er auf ein bisher unversuchtes Feld stieß, wo Praxin balzte, wo Lwow hinterlistige Augen machte, oder wo Boruffkin den Mund voll nahm.
Nun gut – dachte er also, ungeheuer glücklich und befriedigt, als er den Grund zu dieser Flottheit seiner Kameraden, in bezug auf die Vermehrung ihrer eigenen Freiheit und die Beschränkung derjenigen der Mannschaft, ausfindig gemacht hatte: nun gut, durch dies Verfahren ließen sich möglicherweise, außer den persönlichen Annehmlichkeiten, auch andere, noch wichtigere Resultate erzielen!
Selbstverständlich! Keine Menschenseele konnte im voraus wissen, wieviele entscheidende glückliche Zufälligkeiten daraus ersprießen konnten, daß man jeden einzelnen Mann an Bord tötlich unzufrieden mit dieser ganzen Fahrt machte!
Jetzt benahmen sich die Kameraden ja in Wirklichkeit genau so, wie er seit den Doggerbanks im tiefsten Innern gewünscht hatte, daß sie es tun möchten! Nicht wahr: sie wetzten ganz im stillen ihre Zähne, ihr sprudelnd kochender Haß und ihre Wut zischten geheimnisvoll auf, und sie verbrühten dadurch jeden einzelnen Matrosen, bis er genau dasselbe fühlte!
Ja, bei meiner Seelen Seligkeit: Agitation für die große Unzufriedenheit, Vorarbeiten für einen Generalstreik – so benahmen sie sich, alle zusammen!
Und deshalb wollte er ihnen, wahrlich, auch nach besten Kräften behilflich sein!
Es konnte wohl kaum mehr Schwierigkeiten machen, träge zu sein, als etwas zu tun – und wenn man dann obendrein so große Ziele dadurch erreichen konnte. Wie? Hahaha! ...
Also war Peter Romanowitsch sicher nicht langsam, dem Beispiel der Kameraden zu folgen: er faulenzte ganz wie sie, und wie sie kitzelte er sozusagen die Mannschaft ein wenig unter der Fußhöhlung.
Man erteilte zum Beispiel theoretischen Unterricht!
Heh!
Luschinskij ging in der Batterie umher. Oder er saß rittlings oben auf einer der Kanonen – wenn da ein wenig Schatten war, denn sonst war der Sitz auf dem Stahl wie ein Feuerrost. Er hatte seinen Platz so gewählt, daß er seine Blicke bequem durch die Luke schweifen lassen konnte, um gleich à jour zu sein, falls sich da draußen auf dem geschmolzenen und rollenden Bleimeer irgend etwas Verdächtiges zeigen sollte.
Er rauchte seine Zigarette, und ließ seine Augen, die juckten und brannten – als seien sie plötzlich zu groß in ihren Höhlen geworden –, zwischen der Mannschaft umhertorkeln.
Der heiße Luftzug von außen machte sich wie eine rote Strahlung im Rücken bemerkbar – als habe er, sozusagen, auf einmal eine Art splinterneues und besonders energisches Blut in seine Adern bekommen.
Er saß da, den weißen Rock aufgeknöpft. Die schwarzen, krausen Haare auf seiner Brust krabbelten nach und nach aus dem Hemd heraus: buchstäblich, als sei da auf irgendeine Weise ein zottiges Tier in seinen Busen hineingeraten! Wie? Eheh! Na!
Endlich rief er dann den ersten, widerlichsten Kerl aus den Reihen vor und fragte ihn nach Rangabzeichen oder nach Wachtpflichten.
Natürlich konnte der Bursche nicht ein Wort, offen gestanden. Gut: Zur Hölle mit dem Rindvieh! Was, zum Teufel, mühte man sich damit ab, allen den Nonsens in einen Kopf zu pfropfen, der doch in einem halben Jahr abgeschossen werden würde – wie Praxin sagte; oder der von Ozeanwasser aufschwellen würde, bis er zu einem Kürbis ward und mit einem Knall zerbarst, spätestens in ein paar Monaten – wie Leutnant Lwow es zu variieren pflegte!
Und allerdings bestand ja auf eine gewisse Weise stillschweigend die Verabredung mit der Mannschaft, daß sich keiner der Teile zu überanstrengen brauche – aber Herr war man ja trotzdem, man hatte gottlob die Macht auf seiner Seite! Und darum sollte dieser infame Bauerlümmel nicht dastehen und einem mit seinen wilden Kuhaugen anglotzen, der Schlingel: Arrest, mein Söhnchen! Zwei Tage ins dunkle Loch von heute abend an, geliebter Freund, damit du es lernst, ein andermal etwas besser vorbereitet zu erscheinen: Rin in das Schwitzloch mit dir, bis du zum Knochengerüst wirst, mein Zuckerhuhn!
Auf diese Weise konnte man sehr wohl – wenn man Glück hatte und mit einem, allerhöchstens zwei Besuchen vom Kommandanten davon kam – konnte man eine gute halbe Stunde dazu gebrauchen, einen einzelnen Mann zu verhören, und noch ein paar Viertelstunden, um ihn mit Schimpfworten aufzustacheln, so daß sein Hals nahe daran war, den Ausschnitt seines Drellrockkragens zu zersprengen, und seine Augen sich vor Wut weit aus seinem Gesicht herauslehnten.
Und dann war die Unterrichtsstunde beendet: man hatte wenigstens einen Matrosen mehr dazu gebracht, alle mögliche Schweinerei auf das Geschwader und die ganze Fahrt herabzuwünschen; man hatte selbst Gelegenheit gehabt, mit den Nerven zu rasseln; und obendrein mußte die ganze Lektion zu morgen noch einmal wieder durchgenommen werden!
Offiziere und Mannschaft kamen also noch dazu um die Arbeit hinweg, sich auf etwas Neues vorbereiten zu müssen!
Wie, nicht wahr, die Sache ließ sich schwerlich besser arrangieren: ein Proselyt, große Privatbelustigungen, und Müßiggang auf vierundzwanzig Stunden, alles mit einem Schlage erreicht! So reiche Ausbeute war doch schon das Risiko wert, daß die Leute sie hin und wieder mit ein klein wenig dunkler Hungersnot im Arrest bezahlen mußten! Ahem! ...
Das nächste Feld, wo Luschinskij – entzückt über seine Fortschritte in allen möglichen menschlichen Wissenschaften, und über diese neue Basis für ein intimes Zusammenwirken mit den Kameraden seiner Clique – der nächste Punkt, wo er das Seelenwesen seiner Freunde erspähte und feststellte, der bezog sich auf folgendes:
Daß die einzelnen, bei denen der Zustand noch nicht so recht weit genug gediehen war, um die Tralleridee auszurotten: daß es gut und militärisch sei, trotz allem, etwas zu tun – die wurden, mochten sie nun Offiziere oder Gemeine sein, zum Gegenstand von hunderterlei witzigen Bemerkungen.
Anfänglich nur in aller Gemütlichkeit, bei Gott im Himmel!
Auf Ehre, nur um ein bischen Leben in die Bude zu bringen, fürwahr!
Hahaha!
Oder um in aller Freundschaft und Engelhaftigkeit, diese Büffler zu überreden, mit ihrer Arbeit aufzuhören, sie zu verlocken, gemeinsame Sache zu machen und sich an dem müßigen Leben zu beteiligen.
»Sehen Sie doch einmal!« sagte Praxin jeden Abend, wenn Oberleutnant Gowitz mit seinem Band Geschichte des Seekrieges unten in der Messe angestiegen kam; der Graf nickte ihm zu, legte ihm den Arm um die Schultern – »legen Sie jetzt die Bücher weg, lieber Gowitz! Kommen Sie! Trinken Sie ein Gläschen mit uns andern! Hahaha!
Was in aller Welt, meine Herren: ein Offizier ist doch kein Professor!
Wie?
Aber der Mut – der ist unser Adelsbrief und unsere Distinktion! Habe ich nicht recht?
Mut – das ist die Wissenschaft des russischen Heeres!
Und, bei Gott: ich glaube, mein Vater hatte recht darin, wenn er immer zu den Leuten, die kamen und um Schulen auf unseren Gütern baten, wenn er immer zu ihnen sagte: Messieurs, antwortete er: la lecture, c'est la perte du Courage! –
Oder woher meinen Sie sonst, sind fast alle möglichen gelehrten Herren unmögliche Soldaten? Wie?
Hahaha!
Werfen Sie doch die Bücher in die Brennesseln und lassen Sie sich von mir auf eine Flasche Sekt einladen!«
Und wenn das nicht wirkte, wenn Gowitz fortfuhr, an seinen Folianten und Quarten festzukleben, dann lachte Praxin plötzlich, wandte sich von ihm ab, zuckte ein wenig mit den Achseln und sagte halblaut, als solle der andere es nicht hören:
»Mein Gott, wie typisch das doch für ... gewisse, dunkle Klassen in der Gesellschaft ist, dieser Versuch, sich interessant zu machen, indem man die Gedanken anderer Menschen leiht!
Wie?
Aber, meine Herren, lassen Sie wenigstens uns als Offiziere handeln!
Midshipman Owen, wollen Sie das Frappieren übernehmen?« –
Aber allmählich merkte man, daß diese Art Scherzhaftigkeiten doch nicht ganz das erreichten, was sie sollten – und es gewährte nicht einmal mehr einem selber eine sonderliche Erleichterung, sie zu äußern.
Und nach und nach, als man einander erst hinreichend oft erzählt hatte: diese fleißigen Gentlemen, die wären, so wahr sie der Teufel hole, sowohl Augendiener, als auch Pharisäer; die wären Leute, die im stillen darauf hofften, Goldgeschäfte aus der Überlegenheit ihrer Kameraden zu machen; Menschen, die ihren Vorgesetzten geradezu einbilden wollten, daß sie besser seien, als andere, diese Satans! –:
Ganz langsam lernte man es dann, seine Worte weit sorgfältiger in eine Lake zu legen, ehe man mit ihnen ausholte.
Der kleine Unterleutnant Weronoff, der sich wie ein Pony mit Strategie, Maschinenlehre, Englisch – und mit allem, was er überhaupt in sein Maul hineingepfropft kriegen konnte, abmühte – der wurde Tag für Tag selig angespornt:
»Oho!« sagte Dr. Nakinskij, der Schiffsarzt war; er beugte sein weißes und flaches Gesicht – das, mit seinem diminutiven schwarzen Schnurrbart, einer Porzellanplatte mit einer Tuschezeichnung darauf glich – über Weronoffs Schulter nieder und tat so, als sähe er in die Logarithmentabelle hinein, mit der der Leutnant dasaß: »Hebräisch, weiß Gott!
Hehe!
Hier können die Herren einen jungen Mann sehen, der den Wunsch hat, Flottenchef zu werden! Im Schwarzen Meer! Oder in Palästina!
Oder er will die Sprache studieren, um bei der nächsten Judenverfolgung, die das Pogromministerium arrangiert, die Rolle eines Spions zu übernehmen, bei meiner Seelen Seligkeit!«
Und dann lachten sie alle; nicht allein, weil Nakinskijs Bemerkung so witzig war, sondern am allermeisten, weil Weronoff ja gleich rot und dann wieder knallweiß im Gesicht wurde, und also ganz deutlich verstand, daß die Witzelei eine Andeutung auf seine Mutter sein sollte, die wirklich von jüdischer Familie war, die aus Riga stammte.
Hahaha!
Darum schlugen sie mit den Händen auf den Tisch, tranken die Gläser aus und schielten zu dem Leutnant hinüber, der gleichsam schwulstig um die Augen geworden war:
»Hebräisch! Der heilige Georg steh' uns immerdar bei! Ja, freilich soll Weronoff Spion sein! Die Juden werden ihn sicher für gute Ware nehmen! Elohim! Hebräisch! Jawohl!
Sie werden ihm alle ihre Geheimnisse anvertrauen – nicht wahr?
Und ihre Goldsachen!
Er verdient ein Vermögen dabei!
Er bekommt seine ganze Erbschaft ausbezahlt!
Hebräisch!
Dieser Rothschild!
Hahaha!« – und wieder lachten sie: mit diesem sonderbaren Lachen, das sie sich alle in letzter Zeit zugelegt hatten – und das auch eins der Zeichen war, die Luschinskij eine unabweisbare Aufklärung über das gegeben hatten, was inwendig in ihren allerwohlverborgensten Herzen und Nieren vor sich ging:
ein balzendes Gelächter, das immer jäh abbrach, mitten in irgendeinem langen Geknatter, als werde es inwendig in ihnen mit Füßen zertreten – ein hichsendes und schallendes Lachen, das Peter Romanowitsch an die alten, nicht ungemischten Tage erinnerte, wo man, da unten auf der Kadettenakademie, pflichtschuldigst und subordiniert, aber gleichsam mit Rissen im Halse, über Porphyrijs Witze lachte, die sich wie Knutenhiebe durch Kleider und Fleisch fraßen, keh, krrrähäh, hä, pfui Deubel! – – –
Und als sich Luschinskij auf diese Weise allmählich ganz klar geworden war, über die unbestreitbare Teilhaftigkeit der anderen, an alledem, was er selbst gleich von der Abreise an empfunden hatte – da war es beinahe, als müsse er wohlbehaglich greinen, inwendig.
Es fehlte auch nicht ein Schuhriemen an seinem Glück!
Er hatte, buchstäblich, köstliche Stunden, wenn er da unten in der Messe saß – die unendlichen und siedenden Äquatornachmittage, wo die Luft war wie verbrühendes, verdünntes Wasser, sobald man sie in den Mund bekam; diese lebenslangen Abende, wo die Minuten und Stunden sich dahin klebten, tot wie die Fliegen; diese Glutnächte, in denen man eine betörende und schwindelnde Luft empfand, den Uhren einen Fußtritt zu versetzen, um sie zu wecken, diesen schnarchenden Dreschwerkochsen:
Luschinskij hatte geradezu wonnevolle Zeiten, wenn er da unten saß, dicht zusammen mit Praxin und seinen anderen Cliquenfreunden, dort in der vordersten Ecke des Meßraums, und seine Zigaretten rauchte, und den bitteren Eistee trank, der die Kehle würgte, oder den haarigen Wermuth, der den Magen mit einer herben Süße füllte und einem mädchenartig alle Nerven kitzelte.
Er fühlte sich ganz einfach gerührt wie ein Großinquisitor, während er leise vor sich hin grinsend all dieser geruchstarken Nacktheit bei den Kameraden auflauerte.
Tanzenden Herzens hörte er sie über Dinge reden, von denen sie offenbar gar nicht wußten, daß sie darüber sprachen: von Inwendigkeiten, die man sonst einander gegenüber nimmer erwähnte! Aber keiner von den Zuhörern begriff in Wirklichkeit so recht eigentlich, was gesagt wurde! Nein, weder derjenige, der selbst erzählte, noch irgend jemand von den anderen horchte im Grunde auf das, was gefaselt wurde.
Oder man vergaß es wieder, gleich im selben Augenblick!
Nur dann und wann hatte Luschinskij ein unbestimmtes Gefühl, daß er diese oder jene Geschichte gewiß früher schon einmal gehört habe.
Namentlich wenn Praxin, bebend von Kichern und Absinth, seine ellenlangen Berichte von den diamantgestickten Mädchen erzählte, die er sich in Paris geleistet hatte, meine Herren: von der Kunst ihres alerten Mundwerks, die ihn bisweilen unzählige Male im Laufe einer einzigen Nacht belebt hatte, bei Gott, so daß er noch eine ganze Woche nachher seine Lenden nicht hatte bewegen können, je vous assure: und seit diesem Winter stammte es übrigens, daß er, sozusagen, keinen sonderlichen Gewinn mehr davon hatte, wenn er sich einer Frau näherte: ja, so hatte er seine Amüsements in Paris überanstrengt, auf Ehre!
Bei diesem Punkt war es, daß Luschinskij hin und wieder meinte, Praxin habe dasselbe gestern abend erzählt, oder vorgestern, oder möglicherweise beide Tage!
Aber dies Gefühl währte nur eine Sekunde, und hinderte ihn keineswegs, ebensowenig wie alle anderen, sich auf die Schenkel zu schlagen, vor Entzücken zu krähen, ungenierte Anspielungen auf das Zähneknirschen zu machen, das dies hier bei des Grafen Gattin verursachen werde, falls er sich jemals verheiraten sollte! Hahaha!
Jawohl!:
Aber gleichviel, worüber seine Kameraden sprachen, wenn es nur so intime Sachen waren, daß ein Mann eisnackend vor Lügen sein mußte, ehe er imstande war, sie in Gesellschaft zu erwähnen! ...
Oder wenn Wachtoffizier Orloff anfing, davon zu erzählen, wie jener enorm hochstehende Mann auf dem großen Ball in der letzten Saison zu ihm herangekommen war, lächelnd und mit blanken Augen an ihm auf und nieder gestarrt, ihm die Hände merkwürdig zärtlich und lange gedrückt, und gesagt hatte: daß es ihn freue, eine so schöne Gestalt zu sehen, eine so – ja, so bezaubernd schöne Gestalt, vereint mit einem so alten Namen! – bei der Geschichte geschah es auch wohl, ab und zu, daß Luschinskij meinte, er habe sie gewiß schon früher, zwei- oder dreimal gehört.
Aber gleich darauf vergaß er es wieder; er sah die anderen ringsumher an, ihre steifen Blicke begegneten dem seinen, er schwankte ein wenig wild auf dem Stuhl, indem das Schiff langsam auf den Rücken irgendeiner Welle hinaufschlingerte, donnerte aber gleich darauf unverzagt auf den Tisch und – mit schelmischen Anspielungen auf den Geschmack des Fürsten, mit langgedehnten Scherzen über die äußeren und inneren Obliegenheiten eines Hofgünstlings, und mit geistreichen Witzen über die hohlen Heiraten, die Orloffs Geschwister in diesem Falle plötzlich würden erreichen können – trank er auf seine Zukunft als Flügeladjutant! ...
Sehr gut!
So erzählen Sie doch los!
Heraus mit der Sprache, mein Gott!
Reden Sie frisch von der Leber weg, meine Herren – damit wir alle sehen können, daß Ihr mindestens ebenso gallenkrank seid, wie wir anderen! – –
Luschinskij entdeckte auch, in dieser Zeit, daß verschiedene von seiner und Praxins Gruppe – und vorläufig gab er sich überhaupt nicht damit ab, andere zu untersuchen und zu beobachten –, daß mehrere von ihnen die Gewohnheit angenommen hatten, sich bestimmte Redensarten zuzulegen:
Ganz kleine Sätze, die zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens eine Rolle für sie gespielt hatten, und die nun wieder in ihnen auftauchten, weil sie diese intimen Geschichten an einem der Abende da unten in der Messe erzählt hatten:
Kurze Ausrufe, die sie in ihre Antworten auf alle möglichen Fragen hineinflochten.
Da war zum Beispiel der kleine Oberleutnant Wester, der zusammen mit seiner Unterleutnantsklasse vier Monate zu früh ernannt war, aus Rücksicht auf diese Fahrt: er, dessen Mutter sie hatten wegreißen müssen, am letzten Tage vor der Abreise: sie hing sich ihm um den Hals, die Arme hinter seinem Nacken zu Knoten verschlungen, und weinte in Krämpfen, die grauen Haare flatternd; ihre weißen Zähne wurden von ihren Lippen rot gespritzt, und sie schrie, mit rollenden Augen: denn sie hatte im Traum ihren Jungen, beide Beine abgeschossen, oben auf einem Deck liegen sehen, schwimmend mit beiden Armen und den beiden Stummeln der Schenkel, die noch übrig waren, und darum wollte sie ihm nicht erlauben, zu reisen: dieser kleine Oberleutnant hatte sich die Gewohnheit zugelegt, beinahe einerlei, wonach ihn die Kameraden fragten, er wußte stets, ohne es selbst zu ahnen, die Worte anzubringen, die die Mutter ununterbrochen den ganzen Tag wiederholt hatte:
»Jawohl, freilich, es mag sein, daß Sie recht haben!« antwortete er; dann zuckte er plötzlich die Achseln und fing an, aus vollem Halse zu lachen. »Aber im übrigen ist es ja eine viel zu wichtige Sache, um mich danach zu fragen! Ich bin ja noch so jung! Und Ihr habt nicht das Recht, ein Kind zu dergleichen zu gebrauchen! Wie?
Hahaha!«
Und da war auch der große und dicke Messevorstand, Kapitän Trutzkoï – er, der seinen steifen Mund damals vor einigen Jahren bekommen hatte, als ein Haufe seiner eigenen, früheren Matrosen seine Frau unten in der kleinen Stadt am Schwarzen Meer gefangen hatte; und als er und die Polizeisoldaten sie ein paar Tage später wiederfanden, am Rande einer kleinen Lichtung im Stadtgehölz, da saß sie gegen einen Baumstumpf gelehnt, nackend, voll von Insekten, grinsend und sterbend, mit aufgerissenem Unterleib, und mit gemeinen und wahnsinnigen Gebärden balzte sie und schrie nach noch mehr Mannsleuten: wenn er nach irgend etwas gefragt wurde, so beantwortete er das alles sehr ernsthaft und tiefsinnig, er nickte und schließlich lachte er ein klein wenig um die Augen herum:
»Sagen Sie mir doch!« sagte er, und stach einen mit seinen behaarten Fingern; »aber warum, zum Satan, gingen Sie sofort zum Kommandanten mit allen den Sachen, wie, Luschinskij: nur her mit der ganzen Geschichte, ich kriege, weiß Gott, doch nie genug; daß Ihr es wißt!« – –
Jawohl, insofern war das Ganze ja ausgezeichnet!
Sowohl Praxin, Simoff, Trutzkoï, Nakinskij, Lwow, wie alle die anderen, die zusammengehörten, die tanzten buchstäblich mit Glaswänden um ihre Eingeweide umher, ebenso wie Luschinskij selber: da war auch nicht ein Gefühl in ihnen, das man nicht auf dem ganzen Wege durch sie hindurch hätte sehen können: das Kauen, wie auch das Verdauen und die Ergebnisse! Heh!
Das alles konnte selbstverständlich nicht besser sein: das Glück lächelte ihnen förmlich zu: man genierte sich nicht voreinander, man sprach im Chor und kümmerte sich den Teufel auch um den Dienst; man lehrte die Matrosen dasselbe tun und hatte dazu noch die Freude, allerlei Ärger ihnen gegenüber freien Lauf lassen zu können; und dann hatte man es des Abends angenehm: kurz, man arbeitete in reichlicher und guter Gemeinschaft an dem großen, dem nie ausgesprochenen, dem ewigen, dem allertiefsten Ziel: das Geschwader nach Hause beordern zu lassen!
Und alles deutete auch darauf hin, daß sie mit diesen Anstrengungen Erfolg haben sollten.
Denn England rüstete ja, sagte man; und die Franzosen, diese abgerackerten und auf Vorteil erpichten Alliierten, die lächelten ja freilich nach außen hin mit beiden Mundwinkeln – nach innen zu aber schien es, als ob auch sie es am liebsten sähen, wenn die Flotte in die Ostsee zurückgerufen würde!
Jawohl, selbstverständlich: die Regierung würde absolut das Geschwader heimbeordern!
Warum sollte man den Japanern geradezu noch einen Sieg schenken, nicht wahr?
Nein, das Ganze war ja nur eine Demonstration und konnte auch nie etwas anderes werden.
Also schon mit dem nächsten Depeschendampfer, oder in dem ersten Hafen, wohin sie kamen, würde die Order für sie daliegen, spornstreichs den Kurs nach dem alten Rußland zu richten! Hahaha! Ja, ja! Sicher: wieder heimwärts, gar nicht so übel! zu Eudoxia – wie? Und zu Jungfer Andruschka – wie, Simoff? Oder Mademoiselle Pinaud – und wie sie nun alle heißen mochten, diese Witwen der armen Witwer!
Hahaha! ...
Dies alles bewies, mit anderen Worten, ganz indiskutabel, daß man zu guter Letzt zurückgerufen werden würde und mußte.
Und damit war die Hauptsache, das Leben, das Entscheidende, in Ordnung gebracht.
Aber dann war da außerdem noch etwas, was Luschinskij bemerkte – eine erfreuliche Bagatelle, die dann und wann die kleine Sorge, die noch übrig war, wegräumte: nämlich die Möglichkeit, daß es dem Feind gelingen könne, sie zu treffen, sie zwei Meilen tief auf den Grund des Wassers zu senden, sie ohne jeglichen Zweck zu töten, ehe der Befehl heimzukehren, in ihre Hände gelangt war!
Gegen diesen schwarzen Punkt in der Rechnung also – den einzigen –, selbst gegen den hatte Peter Romanowitsch ein Gegenmittel gefunden.
Ein Gegengift, sozusagen, das von der Clique geliefert wurde, die Praxin als Bogduroffs zu benennen pflegte. Von dem Fachverein der Älteren, der Avancementsstreber, von denen, die immer und ewig büffelten. Von den Outsidern!:
Denn, es ließ sich nicht leugnen, daß, selbst wenn auch diese Leute vielleicht inwendig ein wenig nervös waren: sie es doch auf alle Fälle verstanden, es zu verbergen, die Teufel! So gut verbargen sie es sogar, daß man selbst zuweilen versucht sein konnte, zu glauben, daß das Ganze im Grunde nicht so schlimm war! Was, zum Teufel, diese Japaner, die waren ja nicht viel anderes, als Affen! Wie? Ihr Heer, das war, weiß Gott, ein Abklatsch der preußischen Armee – und die Flotte war ganz einfach eine blanke Kopie der englischen, hol' mich der Teufel: was wollten sie also, insofern, gegen die ewige Armada des heiligen, russischen Reiches ausrichten? ...
Der Trost war da also noch obendrein: daß es wenigstens hin und wieder einmal den Bogduroffs gelingen konnte, einen beinahe vollständig sicher ums Herz zu machen, auf eine Stunde oder zwei: denn solange es doch noch eine ganze Gruppe auf dem Geschwader gab, die das alles so ruhig mit ansah, so lange konnte es doch unterwegs nicht so ganz verrückt zugehen, bis die Heimorder anlangte! Wie?
Und wie ein großer Ehrenpokal, ein Geburtstagstelegramm, eine Extraprämie, war da ja Iwan, dieser gemeine Tausendfuß; diese überbefingerte Wanze, die der liebe Gott eigens gesandt, damit man jemand hatte, an dem man den alleräußersten Teil seiner Gerechtigkeit auslassen konnte!
Wenn man diesem Iwan nur einen Fußtritt versetzte, so hatte man ein Gefühl, als werde einem vorsichtig ein nasses und wunderbar eiskühlendes Tuch um die Stirn gelegt, so gut und kühl wurde einem zumute.
Wenn man ihn ins Gesicht spie, war es, als würde man auf einmal alles los, was einem in der Brust brodelte und siedete.
Schalt man ihn aus mit allem, was der Herrgott einem Vorgesetzten an Wörtervorrat gegeben hat zur Ermunterung seiner Untergebenen – so war es einem, als ergieße sich ein stillendes und fettes Öl auf die kurzen Wellen in den Adern!
Ja: da waren die Abende, die freilich leider seltenen Abende, wo es einem hätte gelingen können, fast gleich, wenn man den Kopf auf das Kissen niederlegte, einzuschlafen – wenn nur Iwan so recht in seinem Element gewesen wäre, so daß man ihm kompakte Spuckkleckse als Augenlider hätte anbringen, sein verfluchtes und verschlissenes Hinterteil mit Fußtritten hätte versohlen und ihm blutige Schimpfworte, die gleich einem ekeligen Habit von Abscheu über seinen ganzen Korpus hingingen, hätte an den Kopf werfen können!
Ach ja!
So prächtig und wunderbar war Iwan!
So allweise und schön hatte Gott es eingerichtet, daß außer der Privatfreude, die man durch dies alles hatte – man auch zugleich noch die militärische und rein menschliche Befriedigung gewann, zu wissen: daß man mit allen diesen glücktragenden Mitteln tat, was man vermochte, um den Schlingel auf einen reineren und schöneren Lebenspfad zu führen!
Wenn es doch niemals gelingen wollte, bei meiner Seelen Seligkeit!