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Der Philosoph

An manchem Tage ist es wirklich merkwürdig. Man kann tun und denken, was man will, es wird immer dasselbe. Mit diesem merkwürdigen Gefühl stand Wolf Lothar vor einem Bücherladen in der Schreibergasse. Er las die Titelblätter der bunten Hefte: Heinz Brandt, der Fremdenlegionär, Udo der Schiffsjunge – und auf einem Notenheft »Ich hab ein Mädel in Strießen«. Und dabei wußte er ganz genau: er wußte eigentlich gar nicht, was er las. Wußte bei diesem Lesen, daß er nur daran dachte, was Professor Faßhauer ihm heute gesagt hatte. Was er auch dachte, immer wieder wurden es die Worte: »Sie können nun eine selbständige Arbeit machen, und wenn sie so wird, wie ich denke, dann werde ich dafür sorgen, daß sie aufgeführt wird.« Dabei hatte der Professor ein Gesicht gemacht, als ob er ihm ein Todesurteil verkündigte, und ein paar Augen, und hatte die Hände auf den Rücken gelegt und war aus dem Zimmer gegangen, wie der selige Beethoven.

Im Konservatorium da gab es ein Buch, die Harmonielehre, das war so dick, wie seine Faust – das wußte er, das würde er nie durcharbeiten, und wenn er sieben Jahre studierte. Ihm aber, das fühlte er, quoll die Musik so reich und rein aus seinen Sinnen – das, was in dem Buch stand, das ahnte und fühlte er seit den Knabenjahren – darum war er eines Tages davongelaufen und zu Professor Faßhauer gegangen. Ihm hatte Wolf sein Leid geklagt mit dem dicken Buch. Da hatte der Professor in den Bücherschrank gegriffen, hatte ein dünnes Büchelchen herausgezogen und gesagt: »Na, dann nehmen wir den Rischbieter – der ist nicht so dick. Und nun spielen Sie einmal etwas!« – Wolf hatte gespielt. – »Hm, wir müssen aber noch viel lernen – Kontrapunkt müssen wir tüchtig studieren – und es fehlt uns auch sonst noch so manches.«

Und heute hatte ihm derselbe Mann gesagt: »Sie dürfen nun eine eigne Arbeit machen.«

Nun dachte er immer dasselbe den ganzen Tag.

Oh, er wußte schon, was er schreiben wollte: Ein kleines kraftvolles Orchesterwerk! Ob er ihm einen Titel geben sollte? Nein. Aber sagen wollte er darin: Die Jugend, die Jugend, sie schafft, sie baut auf, sie will ihre Kraft anwenden zum Heile aller, für die ganze Menschheit! Das sollte sein Werk sagen. –

Und noch immer lagen seine Augen auf den bunten Heften. Da war eins drunter, da war ein Mädel mit schwarzen Locken – die sah doch wahrhaftig gerade aus, wie ein Pudel – wie ein Pudel.

Nein zu dumm war das. Hier stehen und über die Musik nachgrübeln, die er schreiben wollte – und zugleich sehen mit wachenden Augen in einem Menschengesicht das Antlitz eines Pudels. Zu dumm! Er ging über den Ring durch die kurze Passage zur Waisenhausstraße und bummelte dann durch die brütende Nachmittagsglut in die Viktoriastraße. Da wohnte er.

Er setzte sich an seine Noten und schrieb. Hier war es kühl. – Da fielen ihm die Augen zu und er träumte von Noten und lockigen Schwarzköpfen und von einem schwarzen Pudel, der einen langen fürchterlichen Schwanz aus seltsam geschwungenen Notenlinien hinter sich her schleppte.

Plötzlich ganz munter und von seltsamer Lebendigkeit erwachte er in der Dämmerung. Als er am Klavier das durchspielte, was er geschrieben, da war es leer und schal, öde und gleichgültig, und überall war der beflügelte Jugendschwung, den seine Seele suchte, nicht darin.

Verzweifelt steckte er seine Notenblätter in die Tasche und ging ins Freie. Draußen schien hell der Vollmond. Die Bürgerwiese ging er entlang und lauschte den Tönen, die in ihm emporklangen. In den Großen Garten bog er ein, dort wo der Weg am Zoologischen hingeht. Dort wußte er eine Bank, da war eine Laterne daneben. Manchmal hatte er schon dort gesessen und manchmal war ihm dort etwas eingefallen. Merkwürdig schnatterten hinter dem hohen Zaun über dem kleinen Wasser, das da ganz leise plätscherte, die fremdländischen Gänse, manchmal murrte auch eins der grollenden Raubtiere, aber in feierlicher Helle lag still im Mondschein die breite Wiese vor ihm.

Lange saß er da und mühte sich das Klingen seines Seelenohres zu bannen. Lauschend schloß er die Augen. –

Als er sie wieder aufschlug, huschte vor ihm ein Pudel über den Weg. Er sprang auf – war er erschrocken? Nein. Aber verwundert. – Nein. Nicht einmal verwundert.

Wieder huschte der Pudel vorüber. Streifte ihn am Fuße. Saß ein wenig abseits. Sah ihn an. Kam wieder vorbei. Lief ein Stück den Weg entlang. Sollte er ihm nachgehen? Er ging schon. Flüchtig sprang das Tier vor ihm her. Um die Große Wirtschaft herum. Weiter ins Dunkel sprang der Hund. In das duftende Bereich des Palais hinein. Wolf ging wie schlafwandelnd hinter ihm drein.

Zu einem der Pavillons führte ihn das seltsam ihn nach sich ziehende Tier. Das kleine, schwere Haus war über und über hell. Jedes Fenster war voll Licht. Und der schwarze Hund saß auf der Schwelle, sah zu ihm auf und wedelte. Wolf öffnete die Tür.

Der Pudel sprang hinein und, wie von ihm gezogen, überschritt er den Schwellstein.

Nur ein Raum war das ganze Haus, ein einziger, in strahlender Helle blendender Raum. Niemand war darin.

Als er mitten im hellen Saale stand, sah er sich um. Da hingen an den Pfeilern zwischen Tür und Fenstern Geigen, – viele Geigen. Daneben hingen Bratschen, zur Linken die Celli und Bässe. Als er sich umwandte, sah er vor der Mitte der Rückwand eine Harfe stehen, da hingen die Holzblasinstrumente, das gleißende Blech. In den Ecken standen die Pauken, die Trommeln, da stand das Zimbal und das hölzerne Gelächter, und auf einem kleinen Stufentritt erhob sich feierlich die Coeleste.

Und in der Mitte war ein Pult mit leeren Notenblättern; ein einfaches graugelbes Taktstöckchen lag dabei. Seltsam zog es ihn an dieses Pult.

Er nahm den Stab und hob die Arme.

Wie ein Knistern ging es durch all die Instrumente umher.

»Die Geigen«, sagte er, zu ihnen hinüberblickend und senkte den Taktstock und hob ihn – langsames Singen erhob sich aus den Geigen.

»Nun die Bratschen!« Schmeichelnd, wie warme Menschenstimmen sprach es dazu.

»Die Celli!« Wie schwellende Tenöre strömte es dazwischen.

»Und nun die Bässe!« Aufwärtsschreitender, männlicher Rhythmus gab dem weichen Klingen Takt und Bewegung.

Und sieh, – die leeren Blätter vor ihm bedeckten sich mit Schrift. Alles was um ihm klang, füllte die Seite mit den vielen Reihen.

Er wendete das erste Blatt um.

»Jetzt die Holzbläser!« Auf schnarchenden Fagotttönen, taktmäßig gegliedert von einem brummenden Grunzen des Kontrafagotts, schritten warme Melodien des englischen Horns und der Oboe empor, schmetterte eine kleine Weile die geschwätzige Klarinette, sang einen Augenblick die gefühlvolle Flöte und ließ sich dann von der flitternden Pikkolo mitnehmen zu einem tollen Gekicher. –

»Halt – nicht so übermütig!« Wolf klopfte ab. »Noch einmal die Stelle!« Die Noten, die da aus dem Blatt gequollen waren, wandelten sich und zierlicher, anmutiger, herzlicher formte sich die Lustigkeit freudigen Behagens. –

»Jetzt endlich – das Blech!« Breit und fließend, wie starke, gute Gedanken, ruhend auf strotzender Kraft, schritten die Gänge oft sich ändernder Harmonien gesteigert zu edlem Schwung, manchmal unterbrochen von zartem Harfenklingen, begleitet von leisem Tremolo der Geigen und Bratschen, stürmisch einmal zerrissen vom brechenden Einfall des Schlagzeuges. – –

»Tutti« – schnell füllten sich die Blätter; in feuriger Ekstase riß der schlagende Stock die Spieler fort; da gab er einen Einsatz, da dämpfte die Linke ein Forte ab zu schwindendem Piano und schließlich strömte alles in edlem Fluß, noch der zweifelnden Frage nach dem Gelingen voll, und ruhte auf einer seltsamen Fermate in G-Moll über einem lange schon im Ohre klingenden breiten F der Bässe. –

»Nun die befreiende Koda!« Und wirbelnd und leicht, flüssig und rasch schritt das Ganze allen Zwiespalt einend zur Vollendung. –

Da kam ihm auf einmal das Wunder, das er erlebte, zum Bewußtsein.

Schreckenserschüttert griff er die Noten, die vor ihm lagen, zusammen und stürzte hinaus in die Nacht. Lief durch die Wege, sprang über die Beete, streifte an hängende Zweige, stieß an Bäume, bis er im Dunkel war. Erschöpft brach er wieder auf der Bank nieder, auf der er gesessen.

Da war es auf einmal, als weiche ein Zauber von seiner Stirne. Er sah sich um. Ja – wirklich – er saß noch auf der Bank – kühl schlug ihm der Nebel um die Glieder, die glühend heiß waren, wie seine Stirn. Und in den Händen hielt er seine Blätter, über und über voll geschrieben von seiner eignen Hand.

Er fand, was er suchte.


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