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Rosa-Maria ist lange fortgelaufen, sich glücklich schätzend, nicht von der Patrouille ergriffen worden zu sein, die Furcht, welche sie in Gegenwart derselben empfand, hat ihr neue Kräfte verliehen, während einiger Zeit konnte sie noch mehrere Straßen durchlaufen, wobei sie dachte: »Wenn nur der Tag käme ... o! dann würde ich nach dem Weg zum Bahnhof fragen, hingehen, und sobald die Beamten da wären, einen Platz nach Corbeil verlangen.«
Aber der Tag beeilte sich nicht zu kommen und das junge Mädchen fand diese Nacht endlos. Die Nächte kommen moralisch oder physisch Leidenden immer lang vor. Indessen konnte die arme Rosa nicht immer auf den Beinen bleiben. Sie ist bis zu einer Brücke gelangt; sie fühlt die Frische des Wassers; sie besinnt sich, ob sie noch weiter gehen soll, als sie in einer Entfernung von etwa hundert Schritten, ungefähr in der Mitte der Brücke, ein röthliches Licht gewahrt, dessen undeutliche Helle sich nur in einem sehr engen Kreise verbreitet. Von Zeit zu Zeit verschwindet das Licht, wie wenn es durch Jemand, der sich davor stellte, bedeckt würde.
Das junge Mädchen vernimmt bald darauf mehrere Stimmen, sie glaubt sogar Gesänge und Gelächter zu unterscheiden. Es ist nicht zu bezweifeln, daß mehrere Personen um das in der Mitte der Brücke befindliche Licht versammelt sind; was thun sie aber da? Rosa weiß nicht, ob sie weiter vorwärts oder zurück gehen soll, denn Eines fällt ihr so schwer wie das Andere: sie ist vor Müdigkeit gänzlich erschöpft; eine steinerne Bank bietet sich ihren Blicken dar, sie setzt sich darauf und murmelt: »Ich kann nicht weiter, es ist mir rein unmöglich; doch die Leute dort müssen keine Verbrecher sein, da sie Licht haben und ich sie lachen und singen höre. Außerdem wird der Himmel, welcher mich gegen die graue Patrouille beschützt hat, auch ferner über mich wachen, und wenn dann der Tag kommt, dann ... «
Das junge Mädchen hat keine Kraft mehr, weiter zu denken; sie sinkt auf die Steinbank nieder, ihre Augen schließen sich, sie schläft ein.
Rosa-Maria befand sich, ohne es zu wissen, am Eingange der Notre-Dame-Brücke und war nahe bei dem Kaffeehaus zu den nassen Füßen eingeschlafen.
Es ist überflüssig, meine Leser mit diesem Kaffee bekannt zu machen; die Stammgäste der Rotunda, der Provenceaux und des Café de Paris wissen wahrscheinlich nichts von diesem Etablissement. Selbst Personen, welche Kaffeehäuser niedern Ranges und sogar Tabakstuben besuchen, können ganz leicht nie von dem Kaffee zu den nassen Füßen sprechen gehört haben, obwohl dieses schon lange in Paris existirt; denn obgleich man schon viel von den eigenthümlichen, sonderbaren und geheimnißvollen Dingen dieser großen Stadt erzählt hat, hat man doch noch nicht Alles gesagt, es gibt noch Manches, was vergessen blieb und vielleicht nie enthüllt werden wird.
In der Mitte der Notre-Dame-Brücke eröffnet alle Nacht, wenn es auf der Domkirche zwölf Uhr geschlagen hat, ein Weib, welches einen Tisch und zwei oder drei elende Stühle unter dem Arm hat, ihr Etablissement und treibt ihr Gewerbe. Dieses Weib zündet ein Licht an, das mit Papier umwickelt ist, um es vor dem Wind zu schützen, stellt es auf den Tisch, langt aus einem großen Armkorbe mehrere Fayencetassen mit oder ohne Henkel, kurz, mehr oder weniger beschädigt heraus, und setzt sie um das Licht herum auf den Tisch. Dann zündet sie in einem großen irdenen Herde Kohlen an und stellt einen ungeheuren eisernen oder blechernen Kaffeekessel darauf. In diesem befindet sich ein Getränk, das größtentheils aus Wasser, dann aus etwas Milch und aus etwas Kaffee- und Zichoriensatz zusammengesetzt ist, in welchem man einige Stückchen schwarzen Farinzucker hat vergehen lassen. Dieses Gebräu wird von der Verkäuferin mit dem Namen Café à la Créme beehrt; zuweilen gibt es auch für die wahren Liebhaber Kaffee ohne Milch; diese Flüssigkeit nun verkauft sie die Tasse zu einem ober zwei Sous. Hierauf legt sie mit einem gewissen Stolz zwei oder drei Zeitungen auf den Tisch, die sie um geringen Preis Abends als es geschlossen wurde, in irgend einem Winkelkaffeehaus gekauft hat; so erwartet sie ihre Kunden, die auch alsbald kommen und ihren Kaffee, um den Tisch herumstehend, trinken; die Verzehrenden allein haben das Recht, die Journale zu lesen.
Das heißt man auf sehr bezeichnende Weise das Café zu den nassen Füßen, denn die Gäste müssen sich bei jeder Witterung auf dem Pflaster aufhalten, welches auf der Notre-Dame-Brücke sehr selten trocken ist. Es wird um Mitternacht eröffnet oder fängt vielmehr um Mitternacht an, und dauert bis Tagesanbruch. Ihr könnt euch denken, welche Art von Gesellschaft sich gewöhnlich in diesem Café unter freiem Himmel versammelt. Erstens viele von jenen Herren, die kein Nachtlager haben, oder die sich auf der Straße so wohl befinden als zu Hause; dann Landleute, die ihre Erzeugnisse zu Markt bringen oder in ihr Dorf zurückkehren; diese setzen aber, wenn sie ihre Schale Kaffee getrunken haben, ihren Weg wieder fort und halten sich selten zum Plaudern auf. Dann die Kärrner, die Lumpensammler, die Straßenkehrer und andere während der Nacht beschäftigte Leute; außer diesen die Trunkenbolde, die nicht mehr nach Hause können, endlich die Tagediebe, die Vagabunden, kurz all' die Wesen, welche nicht wissen, wo sie die Nacht zubringen sollen und oft der Patrouille entgehen, indem sie sich ins Café zu den nassen Füßen flüchten, wo man die Zeitungen liest und politisirt.
Die Gäste dieses Etablissements wechseln häufig während der Nacht; aber gleich wie in den wirklichen Kaffeehäusern sieht man auch Stammgäste, die bald, nachdem das Licht angezündet ist, kommen, sich des Stuhls bemächtigen, den die Kaffeewirthin nicht braucht, bis zum Morgen bleiben, alle Journale, die auf dem Tische liegen, lesen und Beschlag darauf legen, sobald sie ankommen.
In diesem Augenblick ist das Café zu den nassen Füßen in seinem vollen Glanze: etwa zehn Männer, die meisten in Blousen oder Halbkitteln, einige in Jacken, die größte Anzahl aber in durchlöcherten, zerfetzten und zerflickten Kleidern, sind darin versammelt; man erblickt auch mehrere Lumpensammler mit ihren Kiepen, vom Volkswitz Cabriolets genannt, auf dem Rücken.
Die Wirthin theilt ihren gezuckerten Kaffee unter den Gästen aus. Einige haben ein riesenmäßiges Stück Brod mitgebracht und fangen an, Schnitten davon in ihre Tasse einzutunken.
Im gegenwärtigen Momente ist übrigens die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft auf einen kleinen, dickköpfigen Mann gerichtet, der eine schlechte olivenfarbige Sammethose und einen blauen Halbkittel, welcher mit einem rothen Gürtel um den Leib befestigt ist, an hat. Dieser Mensch, der die Größe eines Zwergs und ungeheuer plumpe Glieder hat, steht auf dem Tische und liest den ihn umgebenden Herren die Zeitung vor, indem er sich nur zuweilen unterbricht, um mit der Hand unter seine Kappe zu fahren und sich mit einer Art Wuth in seinem rothen krausen Haare zu kratzen.
Der zwergartige Mensch hat eine unangenehme, gellende Stimme, die macht, daß kein Wort von dem, was er seinem Auditorium vorliest, verloren geht, deßhalb beauftragen ihn auch die Uebrigen häufig mit der Vorlesung der Zeitungsblätter, von denen außerdem Mehrere nicht einmal buchstabiren können.
»Eine Tasse zu zwei Sous, Mutter Cichoria!« ruft ein blasser, bleifarbiger Mann, der sich eben der Gesellschaft genähert hat, und dessen gräuliche Blouse von Oben bis Unten mit Koth bespritzt ist.
»Schaut, der Wilde! der Wilde!« schreien mehrere Stimmen auf einmal, dem Neuangekommenen die Hand reichend; »Du kommst heute Nacht sehr spät; hast Du wo gezecht?« – Teufel! hast Du in Deinen Kleidern ein Schlammbad genommen? Du siehst ja aus wie ein Pudel, der seinem Herrn das Sacktuch aus der Seine apportirt hat. – »Nichts von alle dem! Ich habe nur eine etwas lebhafte Unterredung mit meiner Geliebten gehabt und da haben wir uns zum Schluß beiderseitig ein wenig im Koth herumgewälzt! ... Ich will nicht leiden, daß sie Branntwein trinkt, das ist nun einmal meine Ansicht, dagegen Wein so viel sie will; aber das verfluchte Schnappstrinken dulde ich nicht, weil ich sie kenne; sobald sie Spiritus im Leib hat, hat sie auch den Teufel im Leib und wirft sich dem ersten Besten an den Hals ... großen Dank dafür! ... Nehmet nur einmal ein solches Weibsbild mit zum Essen bei guten Freunden, da habt ihr Hörner auf dem Kopfe, noch ehe der Nachtisch kommt. Heute Abend habt Ihr wieder den Zucker gespart, Mutter Cichoria.« – Durchaus nicht! es ist immer das nämliche Quantum Farinzucker, aber Ihr seid gar lecker; Euch sollte man Caramel hinein thun! – »Schweigt jetzt Beide! seht Ihr denn nicht, daß Ratmort die Zeitung vorliest?« – Potz Tausend, es ist wahr! Ratmort ist aber auch so groß, daß man ihn nicht sieht, selbst wenn er auf einem Tische steht.«
Dieser Scherz veranlaßt die Gesellschaft zu einem brüllenden Lachen, mit Ausnahme Dessen, der das Stichblatt desselben ist. Der dicke Zwerg richtet, nachdem er sein borstiges Haar mit den Fingern verarbeitet hat, seine grünen funkelnden Augen auf den jungen Mann, den man den Wilden genannt hat, und schreit: »Höre, Du unverschämter Gelbschnabel, wenn ich auch gleich nicht die Größe eines Grenadiers habe, so habe ich doch seine Kraft und seinen Muth, und wenn Du eine Probe davon haben willst, darfst Du es nur sagen ... ich stehe sogleich zu Dienst! Wer wettet eine Maß mit mir, daß ich ihn ins Wasser werfe?« – Was der Ratmort wüthend ist! ... er kriegt gleich einen Zorn! ... mich ins Wasser werfen! ... Dank schönstens dafür; er kann schwimmen wie ein Karpfe, denn er ist auch einer. – »Aergere mich nicht, Wilder! sonst stampfe ich Dich zu Brei zusammen, erdfahles Fratzengesicht!« – Wollt ihr bald aufhören, meine Herren?« sagte mit wichtigem Tone ein alter Lumpensammler, der sich stolz auf sein Reff stützte. »Wir waren gerade an einem sehr interessanten Artikel des Journals, es handelte sich von den Interessen des Landes ... der politischen Oekonomie, die man bei den verfälschten Weinen anzuwenden gedenkt! ... wer sein Vaterland liebt, muß sich für diesen Artikel interessiren. Ich verlange, daß Ratmort zu lesen fortfährt.« – Ja! ja, fortlesen! fortlesen!« schreien mehrere Stimmen.
»Ich fahre fort,« erwidert der Kleine auf dem Tische; »wenn es sich aber wieder Einer beikommen läßt, mich wegen der paar Linien, die mir mehr oder weniger von der Natur zugemessen worden sind, zu vexiren, so fordere ich ihn zum Kampfe auf Tod und Leben und zwar sogleich, unverzüglich ... und unmittelbar.«
Nach diesen Worten setzt das kleine Geschöpf, mit Namen Ratmort, sein Zeitungsvorlesen fort.
»Hm, hm! ... wo war ich denn? ... Der Minister des Innern wird heute nicht empfangen ... er empfängt dagegen am ...«
»Was schert uns das?« schreit ein großer Mann von entsetzlicher Magerkeit, der einen ungeheuren mit Leder gefütterten Hut auf dem Kopf und Stiefeln an hat, die bis zu seinen Schenkeln herauf gehen. »Glaubst Du, wir wollen zu der Soirée des Ministers gehen?« – Still, Blairot! wenn man mich alle Augenblicke unterbricht, so verliere ich den Faden und weiß nicht mehr wo ich halte. – »Wie stehen wir mit den auswärtigen Mächten?« fragt ein Individuum mit geröthetem Gesichte und einer Unmasse Finnen auf der Nase. Dieser Herr trägt einen Frack, an welchem nur noch ein Flügel ist; seine Stiefel sind dergestalt heruntergetreten, daß man immer glaubt, er sei eben im Begriff, sie auszuziehen. Auf seinem Kopfe hat er einen alten schwarzen Strumpf, dessen Untertheil gleich einer Quaste über sein linkes Ohr herabhängt; von fern könnte man ihn für eine Polizeidienersmütze halten.
»Aha, Ladouille fängt an zu politisiren,« versetzt der junge Wilde höhnisch.
»Nun, und warum nicht? ... man muß sich seinem Lande und seiner Verfassung widmen. Mein Vaterland ist mein Gott ... Wer leiht mir ein Maul voll Tabak? ... Schwatzt doch nicht Alle auf einmal! ... Ach, seid ihr Kinder! ... Gibt mir Niemand nur ein armseliges Maul voll Tabak aus Freundschaft?« – Heiliges Kreuzdonnerwetter!« schreit Ratmort, mit seinen Füßen heftig auf den Tisch stampfend, »soll ich oder soll ich euch nicht die Zeitung vorlesen? ihr plappert ja wie die Elstern, und man mag noch sagen, die Weiber seien schwatzhaft ... ich lasse dieses Sprüchwort nicht gelten; die Männer schwatzen mehr als die Weiber; sie hören gar nicht mehr auf. Ich verlasse die Tribüne. – »Nein, nein!« – Dableiben, Ratmort. – »Lies, wir hören zu.« – Wir sind ganz Ohr,« sagte der Lumpensammler, sich mit wichtiger Miene auf sein Reff lehnend.
»Der Marktplatz von Rouen war gestern wieder der Haupt-Executionsort eines Weinschmugglers; man hat hundertundachtundzwanzig Litres verfälschten Weines in Gegenwart des Herrn Polizeicommissärs auslaufen lassen. Der geschmuggelte Wein floß in Strömen.« – Heiliger Gott! wie hätte ich mir's da schmecken lassen, wie hätte ich mir mit diesem Getränk die Gurgel geschwänkt!« rief der Mann mit dem schwarzen Strumpfe auf dem Kopfe, aus.
»Hörst Du denn nicht, daß es gefälschter Wein war, Ladouille, der zerreißt Einem die Kutteln!« – Falsch oder nicht, einerlei! wenn er nur nichts kostet! Und abgesehen davon, kriegen wir denn etwas Anderes bei unsern Kneipwirthen, wo wir gewöhnlich hingehen? Um guten, ächten, reinen Wein zu trinken, muß man bekanntlich außerhalb der Barrièren gehen. – »Ha! der weiß es gut!« sagte der Mann mit den großen Stiefeln, »deßhalb hat man wohl in den letzten Tagen in der Courtille und in Vaugirard den Boden einer Masse von Fässern ausgestoßen und den Wein in die Gossen laufen lassen.« – Still, Bürger!« schrie der alte Lumpensammler, »laßt den Zeitungsleser fortmachen.«
Ratmort kratzte sich auf dem Kopfe, hustete, spuckte aufs Gerathewohl auf sein Auditorium und fuhr fort: »Durch allerhöchste Ordonnanz wurde beim Tribunal erster Instanz zum Anwalt ernannt ...« – Keiner von uns, das wissen wir, also nur weiter. – »Der Zustand der Colonie Algier wird immer befriedigender; es kommen Colonisten in Masse an ...« – Weiter, weiter ... fang weiter unten an! – »Nein, nein!« schrie der alte Lumpensammler; »ich verlange die Fortsetzung dieses Artikels; das interessirt mich ... ich habe einige intime Freunde auf den Galeeren und selbst die Absicht, mich mit meiner Familie und meinen Neffen, die bereits marokkanisch sprechen, dort anzusiedeln.« – Wahrhaftig,« sagte Ladouille, sein Strumpfende anmuthig auf seinem Kopf schüttelnd, »da wäre vielleicht eine gute Spekulation zu machen. Ihr langt dort an, und erhaltet sogleich Land, Lebensmittel, Geld und ganz gezähmte Löwen; ihr laßt euch durch die Beduinen ein Haus bauen, errichtet ein kleines Serail mit fünf oder sechs Beduininnen und eben so viel Araberinnen und habt sonst nichts zu thun als zu rauchen und euch tättowiren zu lassen. Ich gehe mit Dir, altes Reff! – »Du? Ich will Dich aber nicht mitnehmen, Du wärest im Stande, unterwegs das Meer sammt den Fischen auszusaufen.« – Nun, um so besser, dann könnte man trockenen Fußes nach Algier kommen. – »Seid doch still, Ratmort lies!« – Subscription zur belgischen Eisenbahn ... Wer unterschreibt? ... He! hier könnt ihr eure Gelder gut anlegen! – »Ich mache meine Unterhose zu Geld, wer kauft sie?« – Ich habe zehn Sous und gute Luft, sie daran zu wagen. – »Du hast zehn Sous, altes Murmelthier! ... Kerl, wie kommst Du zu so viel Baarschaft? hoffentlich wirst Du sie diesen Morgen mit den Kameraden verjubeln.« – Fällt mir im Schlafe nicht ein. – »Dann führe ich sie Dir ab.« – Wenn Du kannst; ich habe sie an einem Orte versteckt, wo Du sie nicht suchen wirst. – »Ich wette doch!« – Still einmal, potz Sapperment! es ist ekelhaft, wenn man die Zeitung vorlesen hören will, von solchen Plaudertaschen umgeben zu sein. Mach fort, mein kleiner Ratmort! ... lies zu, liebes Thierchen!«
Allein statt zu lesen, fängt der Zwerg an auf dem Tische in den komischsten Stellungen zu tanzen und singt dazu, den Takt auf seine Hinterbacken schlagend, wie besessen:
Ah! Cibuli, Cibuli, Cibula! ...
Trala, Zigla, Trula la la ...
Wo ist's, wo die Kinder von Paris
Stets leben wie in dem Paradies?
Wo ist's, wo sie zum luft'gen Verein
Den Freunden geben das Stelldichein?
S'ist, werdet nicht lang rathen müssen,
Im Café zu den nassen Füßen.
Alsbald brüllte die Gesellschaft im Chor den Refrain dieser Art von Bacchanal, und mehrere dieser Herren hörten mit einer Cancantour auf, deren letzte Figur darin besteht, sich mit dem platten Leibe auf das Pflaster zu legen, und mit Händen und Füßen zu zappeln, als ob man schwimme.
Der alte Lumpensammler hatte allein nicht Theil am Tanze genommen. Er blieb unbeweglich, auf sein Reff gelehnt, stehen und schrie, als der Chor beendigt war, mit lauter Stimme: »Ich verlange die Fortsetzung des Zeitungsartikels über Algier.« – Und ich verlange die zweite Strophe des Rundgesangs. – »Die Zeitung!« – Das Lied! ... der Alte langweilt uns mit seinem Algier!«
Statt aller Antwort klopfte Ratmort wieder auf sein Hintertheil und fing, indem er ein Bein, nach Art der Hunde an einem Eckstein, in die Höhe hob, auf's Neue zu singen an:
Ah! Cibuli, Cibuli, Cibula!
Trala! Zigla, Trula la la!
Wo hat die größte Gesellschaft Raum?
Wo sieht man beim Licht den Nächsten kaum?
Wo trinkt man aus zerbrochnen Tassen
Kaffeesatz in so großen Massen?
Wie! solltet ihr das noch nicht wissen?
Im Café zu den nassen Füßen.
Der Tanz hat wieder angefangen; Herr Ladouille entführt die Kaffeewirthin von ihrem Stuhle und beginnt mit Madame Cichoria einen Walzer, der sowohl Ähnlichkeit mit der Savoyarde als mit der Cachucha hat, während dessen reißt der junge Mann mit dem Beinamen der Wilde dem Tänzer den letzten Flügel seines Frackes vom Leibe und versteckt ihn unter seiner Blouse, wahrscheinlich, um ihn zu einem Hintertheil für seine Hosen zu verwenden.
Der Mann mit der schwarzen Strumpfmütze hat seine Tänzerin schon ein paar Mal fast auf den Boden fallen lassen und der Tanz würde auch wahrscheinlich so geendigt haben, wenn er nicht durch das Hinzutreten einer neuen Person unterbrochen worden wäre. Diese drang durch den um die Tanzenden gebildeten Kreis, fing hellauf an zu lachen, klatschte in die Hände und rief dazu: »Bravo! ... schau', da macht man sich lustig ... Guten Abend bei einander, meine Herren und Damen von der Gesellschaft, könnte man nicht eine Tasse heißen Kaffee mit Milch bekommen? Man hat mir gesagt, hier gebe es welchen.«
Mutter Cichoria läßt ihren Tänzer los, der seine Tour zu den Füßen des Lumpensammlers endigt, und während sie sich beeilt, ihren neuen Kunden zu bedienen, betrachten alle Gäste des Café's den Neuhinzugekommenen, den sie zum erstenmal in ihrer Gesellschaft sehen, mit mißtrauischer, beinahe besorgter Miene. Diese Menschen haben beinahe alle Gründe, das Einschleichen eines Polizeispions zu fürchten.
Aber der neuangekommene Mann kümmert sich nichts um die auf ihn gerichteten Blicke; ganz mit der ihm gereichten Tasse beschäftigt, scheint er mit Entzücken die in derselben dampfende Flüssigkeit zu verschlucken, und ruft nur zuweilen aus: »Schau', das ist gut, das ist wirklich Kaffee! ... Es ist zwar wenig Zucker darin, dafür ist er aber recht heiß, das ist die Hauptsache.«
Wählend dieser Zeit machen die Stammgäste halblaut ihre Bemerkungen: »Ach, was das für ein Kopf ist!« – Das ist ein verkleideter Kosak! – »Sein Gesicht ist artig ausgesotten!« – Seine Hose ist nach zwei Moden gemacht ... und was bedeutet der Kragen auf dem Rock? – »Ist auch ganz originell!« – Ach, und der Hut! ... ich bitte euch, betrachtet doch den faltigen Hut! ... der Mann scheint durchaus neue Moden aufbringen zu wollen. – »Ich muß mir einen solchen für die Promenade von Longchamp anschaffen: dann hält man mich für den ersten Modelöwen.« – Da gefällt mir doch noch Ladouilles Zipfelmütze besser, man weiß doch, an was man sich halten kann!«
An dem Bild, welches die Herren von dem Neuangekommenen entwarfen, wird man bereits den Knopfmacher erkannt haben, der mit Rosa-Maria auf der Eisenbahn gefahren ist; er war es in der That, der sich in dem Café zu den nassen Füßen eingefunden hatte und nun sein Getränk behaglich hinunterschlürfte.
Der kleine Ratmort, welcher sich auf den Tisch gesetzt hatte, von wo aus er den Mann mit dem faltigen Merinohut mit spöttischer Miene betrachtete, sagte nach einiger Zeit zu ihm: »Es scheint, Ihr seid kein Kaffeeverächter?« – Nein, ich liebe ihn; ich liebe überhaupt Alles, was man trinken kann. – »Gut gesagt; Wasser ausgenommen, was sich übrigens von selbst versteht! ... Hört, ich meine, man sehe Euch heute zum erstenmal da?« – Wo kommt Ihr her, Kosak?« fragte der Wilde.
Diese Worte erweckten ein schallendes Gelächter; man stampfte vor Jubel mit den Füßen. Der, an den sie gerichtet waren, nahm sie ganz heiter auf und antwortete, nachdem er seinen Kaffee mit sammt dem Satz ausgeschleckt hatte, mit freundlicher Miene: »Ich bin in der That zum erstenmal hier, meine Herren, und das ist gar nicht zu verwundern, denn ich bin erst gestern mit der Eisenbahn in Paris angekommen; ich komme von Orleans; mein Gevatter Bichat hat mir geschrieben: »›Komm schnell, ich habe einen guten Platz für Dich.‹« Da bin ich augenblicklich abgereist, denn ich habe dort mit meinem Handwerk als Knopfmacher gar wenig verdient ... meiner Treu', ich habe wohl daran gethan; ich bin froh, daß ich hergekommen bin. Es war nöthig, mich zu beeilen; es waren gar so viele Mitbewerber um diese Stelle da; wenn ich nur einen Tag später angekommen wäre, hätte sie mir ein Anderer weggeschnappt! ... zum Glück kam ich aber noch zu rechter Zeit. Bichat hat mich vorgestellt, ich bin angenommen worden und trete diesen Morgen mein Amt an.« – Was habt Ihr für eine Stelle? – »Gassenkehrensinspektor! nicht mehr, nicht weniger ... und monatlich dreißig Franken Gage. Das ist nicht übel, und der Dienst ist beinahe immer um drei oder vier Uhr Mittags gethan, dann hat man den ganzen Abend für sich; ich kann sogar noch an meinen Knöpfen arbeiten, wenn ich will.« – Alle Teufel!« sagte Herr Ladouille, seinen Frackflügel suchend; »das ist in der That eine hübsche Stelle ... Wer hat mir meinen Flügel wegstipitzt? Ist man denn hier nicht mehr in Sicherheit? Die Kameraden bestehlen sich also selbst einander? – »Man muß allerdings frühe aufstehen und im Winter wie im Sommer Morgens um drei Uhr auf den Beinen sein ... und da ich fürchtete, nicht zeitig genug zu erwachen, habe ich mich heute gar nicht schlafen gelegt. Dann hat Bichat zu mir gesagt: »,Geh in's Café zu den nassen Füßen auf die Notre-Dame-Brücke, und warte dort, bis es Zeit ist, Deine Funktionen anzutreten.« Ich machte mich also auf den Weg; aber ich konnte nicht voraussetzen, daß das Café unter freiem Himmel ist. Der Schelm von Bichat hat mir noch gesagt, es sei die ganze Nacht offen! ... das glaube ich wohl, wie wollte man es denn zumachen?« – Warum nicht, man nimmt den Tisch, die Tassen, das Licht fort und dann ist das Etablissement geschlossen. – »Das ist auch wieder richtig. Man kann also hier nicht zu Mittag essen?« – Doch, mein Söhnchen,« entgegnete der junge Wilde, indem er dem Knopfmacher auf die Schulter klopfte, »an Platz fehlt es nicht, nur muß man sein Essen mitbringen und sich selbst bedienen, da um diese Zeit die Wirthin nicht da ist. Wenn Du übrigens Lust hast, zu Deinem Einstand Deine Freunde frei zu halten, so will ich Dich in eine Restauration führen, die zwar nicht so weitläufig ist wie diese, aber dafür gegen Wind und Wetter geschützt ist. Sie befindet sich am Eingang der Crussolstraße in einem Schuppen und faßt fünf Personen zu gleicher Zeit, kurz die Restauration zum kleinen Véry! Jedermann kennt sie und kann sie Dir zeigen! und wenn Du zehn Sous für den Kopf daran rücken willst, so können wir dort diniren wie Mitglieder vom gesetzgebenden Körper! – »Gut, ich will wohl ... Bichat hat mir drei Tage meines Gehaltes vorgestreckt, und, meiner Treu', ich hätte große Lust, die guten Wirthshäuser in Paris kennen zu lernen.« – Nun, so komm', Du hättest in keine besseren Hände fallen können, denn es gibt kein nur einigermaßen verstecktes Nest, das der Wilde nicht weiß, frag' nur die Kameraden? – »Der Wilde?« – Ja, das ist mein Name, oder vielmehr mein Spitzname, weil ich etwas roh mit den Weibern umgehe ... das ist meine Façon, sie zur Liebe zu zwingen. – »Um so feiner ist er gegen die Männer!« versetzte Ratmort höhnisch.
»Und Du, Gassenkehrensinspektor, wie heißest Du?« – Ich heiße Glureau ... Desiderius Glureau. – »Ach, was ist das für ein Name! ... Ich werde Dich Kosak heißen; das ist hübscher und paßt besser zu Deiner Larve.« – Kosak ... ha! ha! ... mir auch recht, wenn ich nur dabei Glureau bleibe.«
In diesem Augenblick trat der alte Lumpensammler an den Tisch, klopft mehrere Male mit seinem Reff darauf und schrie: »Ich verlange die Fortsetzung des Zeitungsberichts; ich zahle Ratmort oft genug einen Schnapps, daß er mich auf dem Laufenden mit den Staatsangelegenheiten erhält. Die Ankunft des Gassenkehrensinspektors darf die Vorlesung nicht unterbrechen.« – Ach! wie unausstehlich ist der Lumpensammler mit seiner Politik!« rief der Wilde aus, indem er sich auf einem Beine herumdrehte. – »Ich unterstütze den Antrag des alten Vater Reffs,« sagte der Mann mit den hohen Stiefeln. »Ich habe heute noch mehrere Kloake zu leeren, und wünsche während des Geschäfts mich mit meinen Mitarbeitern über unsere gegenwärtige Stellung zu andern Mächten, gleichviel welchen, besprechen zu können.« – Willst Du vielleicht Deine Intervention anbieten? Geh! für einen Diplomaten bist Du zu dreckig und riechst zu übel. – »O! was das betrifft, so haben wir Staatsmänner, die sich noch weit mehr besudelt haben als ich, und deren übler Geruch sich sogar über die Gränze hinaus erstreckt.« – Seid einmal still mit der Politik! wir haben schon Spitzbuben genug unter uns und brauchen nicht noch abgefeimter zu werden. Sind ja nicht einmal die Rockschöße mehr sicher im Schooße unserer respektablen Gesellschaft,« sagte der Mann mit dem englisirten Frack. – »Drum,« meinte der Stiefelmann, »war Dein Frackflügel vielleicht von einer andern Nationalität als der Leib, was bei unsern Garderoben meist der Fall ist, sonst hätte er sich nicht so leicht abtrennen lassen ... Annexire Dir bei Gelegenheit ein größeres Stück Tuch, da kannst Du vielleicht Deine zeitweilige Jacke in einen Überrock verwandeln.« –Ja! wenn man uns kleinen Annexisten nicht so auf die Finger sähe. – »Ich stelle nochmals den Antrag auf Vorlesen,« rief der diplomatische Abtrittsputzer. – »Warum liesest Du die Zeitung nicht selbst, wenn Du Dich durchaus für die diplomatische Carrière vorbereiten willst.« –Einfältige Frage! weil ich so wenig lesen kann wie Du. –»Kann nicht lesen und will über Regierungsangelegenheiten disputiren.« – Das hindert nicht im Mindesten, mein Kleiner, im Gegentheil, man steht viel klarer, wenn Einem der Kopf nicht durch das viele dumme Zeug, das man zu lesen kriegt, verwirrt ist ... zum Beweis will ich sogar selbst eine neue Zeitung gründen; ich will der Direktor eines Blattes werden, welches den Bedürfnissen des Volkes abhelfen soll; ich werde es die Zeitung der Lumpensammler heißen.« »Warum nicht der Abtrittsputzer?« – Warum nicht der Pflasterer? – »Warum nicht der Kärrner?« – Warum nicht der Höfer? – »Ruhig, meine Herren, im Ganzen genommen, sollte jede Profession ihre Zeitung haben. Allein man kann sich ja mit Beilagen für die einzelnen Fächer helfen.« – Streitet euch nicht, Kinder!« rief Mutter Cichoria; »sondern nennet euer Journal die Zeitung für Spitzbuben; wenn Alle, die es sind, sich abonniren, so stehe ich euch dafür, macht ihr gute Geschäfte! – »Ha, ha! bravo, Mutter Cichoria! Dein Witz ist besser als Dein Kaffee.« – Nun vorwärts, Ratmort! ... die Zeitung zur Hand!«
Der Zwerg stellte sich wieder auf den Tisch und las: » Binnen kurzer Zeit werden ohne Zweifel alle Gaslaternen in Paris verschwinden. Die Verwaltung will die Stadt mit elektrischem Lichte beleuchten ... zum Henker! da wird es ja taghell.« – Der Teufel hole sie mit ihrem Oelleckrischen Licht,« sagte ein kleiner, in Lumpen gekleideter Mann, dessen zusammengedrücktes Gesicht etwas von einem Affen und einer Katze hatte, »macht mir das Gas schon genug zu schaffen! – »Gelt, Du kannst die Helle nicht leiden, Flairon,« sagte der Wilde lächelnd; »Du arbeitest lieber in der Dunkelheit?« – Ganz gewiß! auch ist das die einzige Tageszeit, wo man sich belustigen, seinen Spaß machen und ein bischen lachen kann. Ich schlage ihnen auch ihre ganze Anstalt zusammen ... meine Augen sind gar nicht an helles Licht gewöhnt. – »Findet keine Kammersitzung statt?« fragte der alte Lumpensammler, sich auf seine Kiepe stützend, »das ist mir das Wichtigste.« – Nein, es gibt jetzt keine Kammer, Alter ... Wie, das weißt Du nicht, großer Politiker, und willst ein Journal gründen? ... Hier kommt der Prozeß von sechsunddreißig Dieben, einer ganzen Bande, die man auf einmal gepackt hat; soll ich euch diesen vorlesen? – »Nein, nein, das ist überflüssig.« – Wir kennen die Geschichte so genau, als die Richter selbst. – »Vielleicht noch besser,« fügte Flairon bei, indem er eine Hand voll Kautabak aus seinem Sack herauslangte und diesen vorher lange in den Händen zerrieb, ehe er ihn in den Mund schob.
»Soll ich euch die Anzeigen vorlesen?« – Ja, ja, es ist bisweilen gut, wenn man sie weiß ... und kann Einem einen Fingerzeig geben. – »Und dann erfährt man auch, was für Häuser dem Verkaufe ausgesetzt sind,« sagte der Lumpensammler, »und darf sie einsehen.« – Um Dir eins zu kaufen, altes Reff? – »Nein, um Lumpen darin aufzulesen.« – Allgemeine Lebensversicherungs-Gesellschaft ... – »Ha, das ist nicht dumm, Kameraden; ich mache den Vorschlag, uns wechselseitig zu versichern!« schrie Ladouille; »was haltet ihr davon?« – Ja,« erwiderte der Wilde, »unter der Bedingung, daß man erst nach seinem Tode bezahlt. – »Nein; wir legen ein Jeder das Nämliche ein und bilden eine Masse.« – Natürlich, ich, der ich jung und kräftig bin, werde eben so viel bezahlen, wie Vater Reff, mit dem es bergunter geht. – »O! ich spiele noch mit Deinen Knochen,« entgegnete der alte Lumpensammler mit rauher Stimme; »Du bist ein schmucker Bursche ... ich begrabe zehn von Deiner Art!« – Ehrenmedaille, ertheilt dem Erfinder von Kaffeemaschinen mit Wasserwagen, Minutenzählern und beweglichen Seihern ... Ach, Mutter Cichoria! das geht Euch an. Ihr könntet Euch wohl so eine Kaffeemaschine zum Präsent machen lassen; dann gäbe es etwas Exquisites zum Schlürfen! – »Ja freilich! für euern Sou wird man euch ächten Mokka mit geschlagenem Rahm auf chinesischem Porzellan serviren.« – Zu verkaufen: eine Gerberei unter den billigsten Zahlungsbedingungen ... Das wäre Etwas für Dich, Vater Reff, Du kannst sie kaufen und alle Wochen fünfzehn Sous daran bezahlen. – »Pfui! eine Gerberei! ... das stinkt zu arg ... wenn ich mir ein Etablissement anschaffe, so muß es etwas Flotteres sein.« – Man sucht Mäkler und Correspondenten in der Provinz zu einem wunderschönen vortheilhaften Geschäfte; es wird den Unterhändlern ein bedeutender Rabatt zugesichert ... – »Ei! das ist etwas für mich!« schrie Ladouille, »das Mäkeln ist mein Element. Wenn ich meine Frackflügel nicht verloren hätte, so würde ich mich morgen vorgestellt haben ... Doch das ist gleich; sag' mir die Adresse, Ratmort, ich gehe doch hin und gebe mich für einen Commissionär aus.« – Zu erfragen in der Schlechtenwortstraße, Nr. 13, bei Herrn P. T. – »Ach! ein lumpiger Anonymus! ... da gehe ich nicht hin.« – Hygienisches aromatisches Toilettenwasser. Dieses ausgezeichnete Wasser ist von zauberhafter Wirkung, es vertreibt in einem Augenblick alle Sommersprossen, Finnen, Hautauswüchse und Ausschläge, und verleiht der Haut ihre Frische und Weiche. – »Ah! das steht mir an! was kostet die Flasche?« frug der Mann mit den großen Stiefeln, seine Nase an seinem Ärmel abputzend.
»Ah! der Abtrittsfeger will aromatisches Wasser zu seiner Toilette!« – Nicht für mich; aber mein Weib hat seit drei Monaten zwei große Linsen auf der Nase, die immer zunehmen und gar nicht schön aussehen; da dieses Wasser Alles vertreibt, so will ich ihr ein Präsent damit machen. – » Die Flasche kostet fünf Franken.« – Schönen Dank; dann kaufe ich es nicht und wenn ich mein Weib selbst damit vertreiben könnte ... ich habe geglaubt sechs Sous ... Nein, da behalte ich mein Geld und mein Weib ihre Linsen. – » Bandoline zum Waschen und Verschönern der Haare ...« – O! Bandoline, was ist denn das für ein Gewürz?« schrie der junge Wilde. – »Wie! Du weißt nicht einmal, was Bandoline ist?« – Nein, Esel! sonst würde ich nicht fragen. – »Nun, ich weiß es auch nicht, aber es steht gedruckt, daß die Haare davon wachsen, und da muß es wahr sein.« – Wahrhaftig, wenn ich Geld hätte, würde ich mir eine Masse von dem ... von dem Bandelier anschaffen. – » Cold ... cold ... cre ... cream ... Der Teufel! ich glaube, das ist lateinisch!« – Nein,« wendet Flairon ein, »das ist englisch und heißt kalte Creme. – »O! liebe Kinder, das muß gut schmecken!« schrie Ladouille, sich mit der Zunge die Lippen ableckend; »wenn ich bei Kasse wäre, würde ich euch einen Hafen davon kaufen, den wir gemeinschaftlich verzehren würden; das muß auf Butterbrod gestrichen vortrefflich munden. Diese verfluchten Engländer sind Feinschmecker ... ich wette, das ist eine Leckerei, die sie zum Thee erfunden haben.« – Aber über den verteufelten Flairon muß ich mich wundern!« schrie der Wilde, »ich habe bis jetzt geglaubt, er spreche nur das reine Pariser Kauderwälsch, nun hat er sogar eine Spur vom Englischen ... Beim Blitz! das gäbe einen andern Diplomaten, als unser Abtrittsputzer! – »Ei! höre Du Dings da droben!« rief ein großer dürrer, von Ruß geschwärzter Mann, der bisher noch nicht gesprochen hatte; »ist kein Feuilleton bei Deinem Journal? ... Lies uns doch das Feuilleton vor, das ist unterhaltender als die Ankündigungen.« – Es ist kein Feuilleton dabei, Rußiger! – »Eine saubere Zeitung das ohne Feuilleton! ... von der will ich nichts mehr. Mutter Cichoria, Ihr müßt eine andere anschaffen.« Herr Ratmort will mit der Vorlesung der Annoncen fortfahren, als der junge Wilde, der sich einen Augenblick von der Gesellschaft entfernt hatte, hastig herbeistürzt und mit leiser Stimme sagt: »He, holla! Kameraden, weg mit der Zeitung, ich habe eine Entdeckung gemacht! ... wir haben hier in der Nähe etwas Interessanteres als das Lumpenzeug, das man uns vorliest.« – Was denn? – »Was gibts?« – Ich habe dort auf jener steinernen Bank ein schlafendes Frauenzimmer liegen sehen. – »Ah! potz Kuckuk, das wird etwas Rechtes sein!« sagt der Lumpensammler; »eine Nachtläuferin, vielleicht eine Diebin, die dort schläft, weil sie sonst nirgends hin weiß!« – Nein, nein, so viel ich sehen konnte, ist es etwas weit Besseres. – »Gehen wir einmal hin.« – Kommt! – »Mutter Cichoria leihet uns einen Augenblick Eure Ampel, damit wir wissen, mit wem wir es zu thun haben.« – Ja, denn er hat wahrscheinlich einen Lastträger oder einen Bauer für ein Weibsbild angesehen.«
Herr Ladouille hat das Licht vom Tische genommen und schreitet, von allen Gästen des Café's zu den nassen Füßen gefolgt, neben dem Wilden einher. Die ganze Gesellschaft begibt sich zu der steinernen Bank, auf welcher Rosa-Maria eingeschlafen ist. Sie stehen bald vor der Jungfrau. Ladouille nähert sich mit dem Licht ihrem Gesichte und die Männer stoßen alle beim Anblick des reizenden Antlitzes, welches sie vor sich sehen, einen Ausruf des Staunens aus.
»Nun,« sagt der Wilde, »was habe ich gesagt, ist das nicht ein Fund? ... Ist das nicht etwas Feines?« – Ei! der Kuckuk, das ist nichts Gewöhnliches! – »Eine wahre Rosenknospe!« ruft Ladouille, noch einmal das Licht näher haltend, aus. – »Und hübsch gekleidet ... schaut doch die artigen Fahnen an.« – Und proper von Oben bis Unten. – »Ihr Anzug ist durchaus nicht frech!« – Das ist kein Pariser Mädchen. – »Die kommt im äußersten Fall aus dem Weichbild. Nimm Dich in Acht, Ladouille, Du hältst ihr die Lampe zu nah unter die Nase, Du weckst sie auf.« – Wie fest sie schläft! sie muß gewaltig müde sein, um so auf dieser Steinbank zu schlafen, und doch sieht sie gar nicht aus, als ob sie daran gewöhnt sei, auf der Straße über Nacht zu bleiben.«
»Meine Herren,« beginnt der junge Wilde, »es mag ein Mädel oder ein Weib sein, ich behalte sie für mich und heirathe sie.« – Halbpart Wilder!« schreit der kleine Lumpige, auf die steinerne Bank zugehend.
Aber Herr Desiderius Glureau, der Knopfmacher, welcher bisher die schlafende Jungfrau schweigend betrachtet hat, spricht jetzt: »Halt, meine Herren, einen Augenblick! ich erkenne das junge Mädchen ... ja ... o! ich täusche mich nicht, sie war mit mir auf der Eisenbahn! ... sie ist auf der Station Corbeil eingestiegen, sie kam allein nach Paris und wird sich verirrt haben; sie hat wahrscheinlich die Wohnung der Leute nicht gefunden, zu denen sie sich begeben wollte.« – Nun! Freund Obergassenkehrer, was geht das uns an, ob Du mit diesem kleinen Schatz auf der Eisenbahn gefahren bist oder nicht? Was willst Du damit sagen? – »Ich will damit sagen, daß diese junge Person ein rechtschaffenes Frauenzimmer ist, das habe ich gleich im Wagen gesehen, sie war zu schüchtern, die Augen aufzuschlagen und ein Wort zu sprechen ... Ich habe ihr meinen Platz angeboten, aber sie nahm ihn nicht an, weil sie befürchtete, mich zu stören.« – Nun, um so besser, wenn es ein rechtschaffenes Mädchen ist ... liederliche Dirnen haben wir genug hier, und ich darf auch einmal einen Bissen frisch Fleisch genießen. – »Und ich sage Euch, hier wird nichts gereicht, diese Jungfer darf nicht mit Euch gehen.« – Das wirst Du gleich sehen, Lump! Vater Reff, Du leihst mir Deine Kiepe, ich thue meinen Fund hinein und trage ihn mir nichts dir nichts davon.«
Der alte Lumpensammler schien durchaus nicht geneigt, seinen Tragkorb herzugeben, und Desiderius Glureau betrachtete den jungen Wilden nur, um zu sehen, was dieser wagen würde, als Rosa-Maria von dem um sie her verursachten Lärm erweckt, die Augen aufschlägt und sie plötzlich mit einem Schrei des Entsetzens wieder schließt.
»Aha, die kleine Maus ist aufgewacht!« sagt Flairon.
»Ihre Stimme klingt so hell wie ein Dudelsack.« – Warum schließt sie ihre hübschen Lädchen wieder zu? ... machen wir ihr Furcht?«
Die Gesichter, welche Rosa-Maria erblickt hatte, waren wohl geeignet, ihr Schrecken einzujagen, und sie begreift, als sie an ihre Lage denkt, was man von ihr halten kann, da man sie mitten in der Nacht in Paris auf einer Steinbank schlafend gefunden hat.
»O, meine Herren!« stammelt sie mit vor Angst bebender Stimme, »ich bitte Sie, thun Sie mir nichts zu Leide ... ich bin ein armes Mädchen, das erst gestern in Paris angekommen ist ... ich habe mich in der Stadt verirrt und mich von Müdigkeit erschöpft auf diese Bank niedergesetzt, wo ich, indem ich den Himmel um Schutz anflehte, eingeschlafen bin.« – Potz Henker! Sie müssen viel Vertrauen zu ihm haben, daß sie mit einem solchen Lärvchen ohne Weiteres auf der Straße übernachten!« ruft Ladouille aus.
»Fürchten Sie sich nicht, schöner Engel!« sagt der Wilde, »öffnen Sie die Augen, Sie sind von lauter liebenswürdigen Leuten umgeben. Ich meines Theils biete Ihnen mein Logis an, ein »prächtiges Cabinet in einem möblirten Hause ... und obendrein mein Herz und meine Person.«
Rosa-Maria weicht rasch zurück, als sie den Sprechenden auf sich zukommen sieht, wie wenn er ihre Hand ergreifen wollte. Aber beinahe zu gleicher Zeit tritt der Knopfmacher, welcher den Wilden mit einer Kraft zurückstößt, die man von ihm nicht erwartet hätte, vor die Jungfrau und sagt: »Haben Sie keine Furcht, Mamselle, Sie sind unter Bekannten ... ich bin mit Ihnen auf der Eisenbahn gefahren: ich war's, der in der Ecke saß und Ihnen seinen Platz anbot ... O, ich bin ein rechtschaffener Mann, Sie dürfen sich mir anvertrauen. Obgleich der junge Mann, der neben mir im Wagen saß, sich lustig über mich machen wollte, weil ich gesagt habe, ich trage kein Sacktuch bei mir, so bin ich vielleicht doch besser als er.«
Rosa sieht den Kosakenkopf an, erkennt den Sprechenden wieder und stammelt: »Ach ja, in der That, ich erinnere mich ... ich war mit Ihnen auf der Eisenbahn!« – Nun, Sie sehen, daß wir einander kennen! Glauben Sie, Mamselle, ich interessire mich für Sie; wenn Sie gleich in einer Ecke auf einem Stein geschlafen haben, bin ich doch überzeugt, daß Sie unschuldig daran und ein tugendhaftes Frauenzimmer sind. Aber die Hauptsache ist, Sie nicht länger hier zu lassen. Sie zittern ... es friert Sie ... es ist sehr schädlich, über Nacht auf der Straße zu bleiben. Kommen Sie mit mir, ich will Sie sogleich zu meinem Gevatter Bichat in der Huchettestraße führen; das ist ein verheiratheter ansäßiger Mann, der hier in der Nahe wohnt; seine Frau wird sich Ihrer annehmen, und wenn es Tag ist, wird man schon sehen was zu machen ist.«
Die Jungfrau kannte den Mann bloß dadurch, daß sie mit ihm auf der Eisenbahn gefahren war; aber alle um sie herum gruppirten Menschen haben einen so unheilvollen, Zutrauen ertödtenden Ausdruck in ihren Gesichtern, daß sie nicht einen Augenblick zögert, sich dem Knopfmacher anzuvertrauen, der trotz seiner Häßlichkeit weder bösartig noch treulos aussieht. Sie steht daher auf, nimmt Desiderius Glureau beim Arm, den er ihr anbietet und antwortet: »Es sei, mein Herr, ich nehme Ihr Anerbieten an ... ich gehe mit Ihnen zu Ihren Bekannten.«
»Schau' schau', was der Gassenkehrensinspektor Glück bei den Damen macht!« ruft der kleine Lumpige aus; »er hat richtig die Schöne erobert!« – Höre Du, Freund!« schreit der Wilde mit einer Miene, als ob er den Knopfmacher am Fortgehen verhindern wolle: »weißt Du, daß Du gar zu ungenirt zu Werke gehst? Der abscheuliche Kosak ist eben nicht links! Mit welchem Recht führst Du mir diese Kleine vor der Nase weg, da doch ich sie gefunden habe? ... Mit mir muß sie gehen und nicht mit Dir, ich leide es nicht!«
Aber ohne dem Anscheine nach auf die Worte des jungen Mannes in der Blouse zu hören, schreitet der Knopfmacher mit dem jungen Mädchen am Arme vorwärts und sagt: »Laß mich doch zufrieden, glaubst Du denn, diese Mamselle sei für Dich gemacht?« – Warum denn nicht? – »Ah, Wilder! er führt sie fort, er schnappt sie Dir mir nichts Dir nichts weg!« schreit Ladouille, der Wirthin ihre Lampe zurückbringend.
Der junge Mann in der Blouse versucht es, den Neuangestellten mit dem faltigen Hute, am Arme zurückzuhalten; aber der Knopfmacher gibt dem Wilden mit dem Ellen einen Stoß auf den Magen, der ihn aufs Pflaster streckt, und setzt dann ruhig seinen Weg mit Rosa-Maria fort.
Alle die übrigen Männer, welche Zeugen dieser Scene waren, sahen mit Aerger, daß ihnen das junge Mädchen entging, und sie würden sich bereits über Glureau hergestürzt haben, um ihn an seinem Vorhaben zu hindern, wenn nicht in diesem Augenblick der Tag zu grauen angefangen hätte.
Aber schon waren die Straßen nicht mehr so verlassen, Landleute gingen vorbei, Spezereihändler und Bäcker machten ihre Läden auf, und alle diese bei Nacht so unternehmenden, kecken und lärmenden Bursche wurden scheu und behutsam bei Anbruch des Tages.
Einige Augenblicke darauf hatte das Café zu den nassen Füßen aufgehört zu existiren.