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Weihnachten stand dicht vor der Tür.
Alle Jungen: Gerhard, Achim und Dieter sollten zu dem Fest kommen, und es herrschte infolgedessen fieberhafte Tätigkeit im alten Doktorhause.
Dazu waren viele Kranke in der Stadt, und der Rat- und Hilfeheischenden wurden es täglich mehr.
Sylvia hatte ihre liebe Not, allem und allen gerecht zu werden, Jörg und Heinz in Zucht und Zaum zu halten, sie und Alf-Bübchen zu überwachen, daß keine Berührung mit den Patienten des Vaters möglich war. Dabei Lene mit ihren tausenderlei Anfragen, die Verpflegung betreffend, die Vorbereitungen zum Empfang der Brüder, Weihnachtseinkäufe. Ja, Sylvia hatte ihre liebe Not.
Oben bei Altchen war der einzige Friedensport.
Die Wintersonne schien auf die blitzblanken Möbel. Der große Kachelofen strömte behagliche Wärme aus.
Altchen war im Stuhl ans Fenster geschoben und strickte. Zuweilen glitt ihr Blick träumend über die kahlen Baumkronen draußen.
Wie manche Weihnachtszeit hatte sie schon erlebt.
Weit, weit zurück kauerte sie als kleines Kind mit großen, runden Wunderaugen an der Schwelle der Tür, hinter der »Christkindchen« geheimnisvoll waltete. Dann kamen aufgeklärtere Zeiten. Die älteste Schwester half Mutter bei den Vorbereitungen für die Geschwister. Dann kam die erste Weihnacht im eigenen Heim, und dann – dann spielte man »Christkind« für ebensolche kleine erschauernde Kinderseelchen, wie man einst selbst eins gewesen war. Und die kleinen Wesen jauchzten dem Lichterbaum entgegen, wie man selbst einst gejauchzt hatte.
Dann wurden aus den kleinen Wesen, die an Mütterchens Rock hingen, selbständige Menschen, von denen wieder andere kleine Wesen abhingen.
Und Jahr um Jahr entzündete sich der Lichterbaum, und Jahr um Jahr unmerklich, allmählich wechselten die, die darunter standen. Die Kinder wuchsen heran, und die Alten – die Alten – die Alten gingen, oder aber, sie mußten bleiben, um Jüngere vor sich hingehen zu sehen.
»Wie Gott will!«
Altchen faltete die fleißigen Hände, die stets eine Strickarbeit für eins ihrer Lieben hielten, im Schoß und lehnte den Kopf gegen die Lehne des Sessels.
Leise öffnete sich die Tür.
Sylvia steckte ihr braunes Gesichtchen durch den Spalt.
Sie schleppte Pakete, soviel sie nur tragen konnte.
»Altchen, darf ich kommen? Ich habe dir so tausenderlei zu zeigen und dich um Rat zu fragen!«
»Ob du kommen darfst, Kind? Das Alter sitzt nur und wartet, ob's und wo's noch was nützen kann.«
»Was fing' ich ohne dich an, Altchen!«
»Schmeichelkätzchen! Doch zeig her.«
»Erst laß mich ein ganz kleines Weilchen bei dir ruhen, Altchen. Es gab wirklich viel zu tun in diesen letzten Tagen und –«
»Armes Kind, und die unnütze Alte kann nicht mehr helfen.«
»Armes Kind, sagst du, Altchen?« lachte Sylvia. »Wer ist reicher als ich mit dir, Altchen, mit Väterchen und mit meinen sechs Jung–«
»Bäh–äh–äh–äh!«
»Puh–uh–uh–uh!«
»Ho–oh–oh–oh!« Ein dreistimmiges Zetergeheul vom Flur unten schnitt Sylvia das Wort vom Munde ab. Dazwischen tönte Lenes keifende Stimme.
Sylvia war die Treppe unten, ehe sie wußte wie.
Ein tragikomischer Anblick bot sich ihr da. Hochaufgerichtet, so sehr es ihr Leibesumfang gestattete, mit Blicken, die Feuer sprühten, mit dem Kochlöffel als Waffe in der erhobenen Faust, stand Lene da wie die leibhaftige Göttin der Rache.
Sie hielt Jörg gepackt, der sich krümmte und wand wie ein Regenwurm und sich vergeblich dem derben Griff zu entziehen suchte.
Dabei brüllte er, als ob er am Spieße stäke.
Vor sich her mit gelegentlichem Knuff und Puff mit dem Löffel trieb die robuste Lene Heinz, der wiederum Alf-Bübchen gepackt hielt.
Beide brüllten mit Bruder Jörg um die Wette.
»Was gibt's, um des Himmels willen, was gibt's?«
Atemlos, schreckensstarr fragte es Sylvia.
Ein solch babylonisches Stimmengewirr antwortete ihr mit Schluchzen und Schreien vermengt, daß sie nicht klug daraus wurde.
Lenes Stimme triumphierte endlich über den Chor.
»Deiwelsplanze, ihr, ihr erbärmlich, lumpig Gewerzel, nit genug da dermit, daß ihr selwer anstellt, was Gott verbotte hat, mißt auch noch des Engelche, des Schäfche, des klein' unschuldig Wermche –«
Da zeterte Alf-Bübchens Stimmchen auf.
»Sylve-Mütterchen, mis sein danz dräßlich –«
Was »danz dräßlich« war, erstickte in einem erneuten, jammernden Aufschluchzen des kleinen Mannes.
Schon war Sylvia vor ihm auf den Knien, und ehe die anderen warnend aufschreien konnten, hatte sie ihn an sich gezogen.
Ein eigentümlich lindes, weiches Gefühl verspürte sie dabei, so etwas Klebriges, Haftendes, auch im Gesicht, als er nun das seine dicht an das ihre drängte.
Lene ließ Jörg fahren und griff nach Alf-Bübchen.
»No, des dät grad noch fehle!«
Alf-Bübchen sträubte sich unter Zetergeheul vergeblich gegen den Griff, Lene blieb Siegerin.
Doch für Sylvia kam ihr Rettungswerk zu spät.
Deren blaues Tuchkleid zeigte der ganzen Vorderseite entlang Spuren von Teig und Mehl, ihre Ärmel, ihr ganzes Gesicht waren mit Teig und Mehl vollgeklebt.
Das Zetergeheul war verstummt, entsetzt starrten die drei Brüder auf die übel zugerichtete Schwester.
Hilflos sah die Lene an. »Was ist das, Lene?«
»No, was werd's sein! Mein Stolledeig. Die Deiwelsplanze sin mer in die Speiskammer enein geritscht. Un weiß der Himmel, wie's zugange is, sie hawe, glaub ich, iwers Eingemachte gewollt, no und des steht owe in de Gefächer. Kein Leiter war nit da, da hawe se de Kleene gehowe, denk ich mir, no und da is en der ausgeritscht und nix als wie nein in mein Teig. Is es so oder nit?«
Scheues Verstummen der Missetäter.
Nur Alf-Bübchen begann aufs neue sein klägliches Wimmern.
»Alf-Bübsen sein danz dräßlich voll undebackene Tuchen, Alf-Bübsen wollen dar nix mehr Tuchen haben, Alf-Bübsen sein so srecklich droße Sweinigel.«
Sylvia hätte beinahe gelacht. Sie hatte Mühe, ernst zu bleiben. »Sprich, Jörg, hat Lene recht?«
Jörg nickte.
»Und ihr schämt euch nicht? So große Jungen, die naschen und den kleinen Bruder mit dazu verleiten. Schämt ihr euch nicht?« Wortlos ließen sie die Köpfe hängen.
»Böse Jungen haben arm tlein Alf-Bübsen leitet, arm tlein Alf-Bübsen tönnen dar nix für.«
Sylvia biß sich auf die Lippen.
»So ist's doch nicht, Alf-Bübchen. Alf-Bübchen ist groß genug, um zu wissen, daß man nicht naschen darf. Wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht, daran muß Alf-Bübchen stets denken.«
»Böse Buben haben Alf-Bübsen aber so srecklich delocken, Sylve-Müttersen, Alf-Bübsen sein –«
Ein jammervolles Weinen endete den Satz.
»So e arm Schäfche, so e Unschuldswermche! Komm her, mein Engelche, ich steck dich in die Waschbitt.«
Lene schmolz in Mitleid. Vorsichtig hob sie den kleinen Teigmann in die Höhe und trug ihn schwebend vor sich her der Küche zu.
Sylvia schickte Jörg und Heinz ins Zimmer und diktierte ihnen eine Strafarbeit.
»Beim Backen heute abend dürft ihr nun nicht helfen wie sonst. Das soll eure Strafe sein.«
Sie heulten auf und wollten Sylvia umfassen.
Die aber blieb fest. Im Augenblick war nichts zu machen, das sahen sie ein.
Dann ging Sylvia und säuberte sich.
Danach trat sie wieder bei Altchen ein, der sie lachend von der Teiggeschichte berichtete.
»Es war ein zu sonderbares Gefühl, Altchen, als ich so ahnungslos den kleinen Kerl an mich drückte und der Teig nur so quatschte und klebte. Und Alf-Bübchen hättest du sehen sollen. Es gibt einen Münchener Bilderbogen, wo böse Buben in die Teigmulde des Bäckers geraten sind. Gerade so sah Alf-Bübchen aus.«
Sylvia lachte ihr helles klingendes Lachen, und Altchen stimmte leise ein.
Dann wurde Sylvia plötzlich ernst.
»Das Dumme an der Sache ist, daß ich Jörg und Heinz die Strafe diktierte. Muß ich fest bleiben heute abend, Altchen?«
»Das mußt du, Kind. Glaube mir, bei dem weitaus größten Teil solch zuerkannter Strafen treffen die Eltern sich selbst zumeist. Festigkeit ist viel schwerer als Nachgeben, Herz. Die Jungen haben Strafe verdient, Sylvia, du mußt fest bleiben.«
Sylvia seufzte.
Das Backen am Abend fiel danach recht trübselig und wenig festlich aus.
Noch lange, nachdem die bestraften Sünder sich oben in ihren Betten in Schlaf geheult hatten, saß Sylvia trübselig und weinerlich unten mit Lene und Anna.
Die sonst unter Lachen und Scherzen und Freuen und Lust verbrachte Arbeit wollte diesmal gar keinen erfreulichen Fortgang nehmen.
Selbst Lene empfand das.
»Ich weiß nit, heut is mir gar nit, als ob mer für Weihnachte backe dete. Ich glaub als, die Bengel fehle eim doch!«
Sylvia nickte.
Heute sollten nun die Jungen alle kommen. Vom frühen Morgen an war fröhliches Getriebe im alten Doktorhause am Graben.
Dazu fiel der erste Schnee.
Das war an sich schon immer ein Fest.
Es bleibt ein unaufgeklärtes Rätsel, weshalb die Menschen, namentlich die jungen, den ersten Schnee so freudig begrüßen, den Schnee, dessen Schmelzen sie im Frühjahr dann kaum erwarten können.
Jedes Ding hat eben seine Zeit, der Schnee und die Rosen, die Jugend und die reifen Jahre.
Heute triumphierten Jugend und Jugendlust.
»Die Jungen!«
»Die Jungen kommen!«
Es war drei Tage vor Heiligabend.
»Ein Glück, daß die Brüder kommen,« meinte Jörg weise. »Wie hätte man wohl sonst die Zeit hinbringen sollen bis übermorgen!«
»Ich hätte, glaub' ich, nichts als Dummheiten gemacht,« sagte Heinz in richtiger Selbsterkenntnis. »So wird's ja wohl ohne das übermorgen werden!«
Einstweilen war's aber noch heute.
Punkt drei Uhr standen Sylvia und die drei kleineren Brüder auf dem Bahnsteig und fieberten der Ankunft des Zuges entgegen.
Als dessen Rauch schon zu sehen war, trat Doktor Eriksen noch zu den Seinen.
»Ich muß doch dabei sein, Grasmückchen, wenn unsere drei flüggen Vögelein nestwärts geflogen kommen.«
Leuchtenden Blickes sah Sylvia zu ihm auf. Für eine Entgegnung blieb keine Zeit mehr, denn da war schon der Zug, und fast noch ehe er recht gehalten hatte, war schon die Gruppe um Doktor Eriksen um drei blonde Enaksgestalten vermehrt.
»Vater!« – »Herzensvater!« – »Sylphe-Mütterchen!« – »Mütterchen Sylvia!« – »Mein Sylphchen!« – »Jungen, grüß euch Gott!« – »Gerhard, Achim, Dieter!«
»Und die Uniform, Achim, Dieter?«
Das war Jörg. Namenlose Enttäuschung lag in dem Ausruf.
»Im Koffer, Jörg, mein Junge!«
»Zieht ihr sie an Weihnachten an?«
Atemlos fragte es Heinz.
»Na, wir selber scheinen Nebensache, Dieter,« sagte Achim.
In einem überquellenden Reueanfall packten Jörg und Heinz die langen Brüder bei den Beinen, als wollten sie ihnen die ausreißen.
Alf-Bübchen wanderte von einem Arm zum anderen, und drei rauhborstige Jünglingsgesichter mit sprossendem Bartwuchs rieben sich so lange an dem zarten Kindergesicht, bis Alf-Bübchen fast weinerlich Widerspruch erhob.
»Sein so dräßlich stachelig wie Alf-Bübsen seine Haarbürste. Alf-Bübsen nix wollen mehr tüssen.«
Unter Lachen wurde der Heimweg angetreten.
Sylvia führte zwei Brüder, und der dritte suchte jeweilig einen der andern zu verdrängen.
»Sylphchen!«
»Sylve-Mütterchen!«
»Laß dich doch mal beschauen!«
»Noch ebenso klein und noch ebenso braun!«
»Und noch ebenso lieb und noch ebenso gut,« sagten Jörg und Heinz voll Überzeugung.
Und das rührte Sylvia sehr in Anbetracht der den beiden vor kurzem zudiktierten Strafe, an der sie immer noch schwer trug.
»Daheim, wieder daheim!« jubelten Achim und Dieter, und in ihrem überschäumenden Glücksgefühle drückten sie die dicke Lene und Anna ans Herz, ehe sie zu Altchen stürmten.
Lene rückte an ihrer Haube und zupfte ihre Schürze zurecht.
»Daß dich« – sagte sie und sah etwas geziert und verlegen lächelnd hinter den beiden drein. »Deß sin awer schmucke Borsch worn.«
Gerhards Heimkunft machte bei weitem weniger Eindruck, die hatte man nun schon öfter erlebt.
Am Abend saß man bei Altchen einmal wieder in alter, vollzähliger Runde.
Vater hatte von den kostbaren »Bestaubten« zum besten gegeben, und golden perlte der edle Wein in den Gläsern.
Alf-Bübchen war längst zur Ruhe in seinem weißen Bettchen. Jörg und Heinz hatten auf inständiges Flehen hin zur Feier des Tages aufbleiben dürfen.
Erst waren sie sehr gesetzt gewesen. Allmählich aber hatte das gestattete Gläslein die ihnen eingeborenen Geister sachte entfesselt.
Eben lagen sie am Boden in enger Umschlingung, die sehr brüderlich hätte aussehen können, wenn nicht ein gelegentliches Winden und Krümmen, Schaufeln und Scharren von deren wahrer Natur hätte Kunde gegeben.
»Jörg! Heinz!«
Sylvia mahnte es leise.
Die beiden fuhren empor.
Und nun hieß es: »Zu Bett, Jungen!«
Lachend wünschte man sich gute Nacht, und Frieden umfing die alten Mauern.
Dann war Heiligabend da, wirklich da – trotz Alf-Bübchens, Jörgs und Heinz' verzweifelnder Ungeduld.
»Christkindlein« hatte jedem einzelnen die Herzenswünsche abgelauscht, Christkindlein war »riesig schlau« gewesen, wie Jörg sich ausdrückte.
Die »großen Jungen« hatten den Lichterbaum geschmückt und angezündet, und die »kleinen Jungen« – Jörg und Heinz wehrten sich mit Wucht gegen diese Bezeichnung – die »kleinen Jungen« hatten drunter getollt und sich drunter gefreut.
Und da war auch Heiligabend schon wieder vorbei. Altchen oben hatte ein neues Christfest als erlebt bei den vielen, vielen vorangegangenen zu verzeichnen.
Wunderschöne, ungetrübte, leider geflügelte Tage folgten.
Es war schon mitten in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr.
Da erschien Trude.
Sie war durch einen Besuch, einen jungen Vetter ihrer Mutter, der sich zu Weihnachten angesagt hatte, sehr in Anspruch genommen gewesen.
Seit die »Jungen« alle da waren, hatten sie sich noch nicht gesehen.
Trude sah sehr nett und vorteilhaft in ihrem fahlblauen Tuchkleide aus.
Die Geschwister saßen alle im großen Familienzimmer unten.
Die Hängelampe verbreitete im Verein mit den knisternden Flammen des Kachelofens einen traulichen Schein.
Sylvia saß wie immer im Erker vor ihrem Flickkorb. Alf-Bübchen kletterte hinter ihr auf der Truhe herum. Gerhard saß ihr gegenüber und las.
Achim und Dieter saßen unten am Eßtisch, jeder mit einer Zigarre im Mund, als Zeichen der Würde mehr denn als Genußmittel.
Jörg und Heinz turnten abwechselnd an den großen Brüdern oder rauften sich am Boden.
Da und dort leuchtete es golden auf, wenn der Lampenschein auf einen der sechs blonden Scheitel fiel.
Sylvia saß da, ein Bild urgemütlicher Behaglichkeit inmitten »ihrer Jungen«.
Leise hatte Trude die Tür geöffnet und den Kopf durch den Spalt gesteckt.
»Ei ja, wer's auch so gemütlich hätte! Unsereiner rackert sich ab um sein bissel Vergnügen.«
»Trude!«
»Ach, die Trude!«
»Guten Abend, Trude!«
Mit zwei Schritten stand Gerhard vor ihr.
»Wie geht's, Trude? Habe umsonst versucht, dich drüben anzutreffen. Immer war das Fräulein ausgeflogen.«
»Ja, ja, wie ich sage, man muß sich abrackern um sein bissel Vergnügen,« sagte Trude mit komischem Seufzer und etwas selbstbewußtem Augenaufschlag.
»Setz dich zu mir, Trudelchen, und genieße die gepriesene Ruhe.« Sylvia machte der Freundin an ihrer Seite Platz. Schelmisch schob sie ihr den Flickkorb zu. »Gefällig?«
In komischem Entsetzen zog Trude die Augenbrauen hoch und griff mit spitzen Fingern in den Korb.
»Socken! Puh!«
Gerhard lachte.
»Ja, Socken gehören zum Leben, Trude!«
»Aber gestickte, Gerhard.«
»Drum eben!«
Trude warf das Köpfchen zurück.
»Ich weiß mir Besseres zu tun.«
»Tanzen, was, Trude?«
»Schlittschuhlaufen!«
»Schlittenfahren!«
»Besuche machen!«
Achim, Dieter, Jörg und Heinz überstürzten sich im Aufzählen. Kühl senkte Trude das Köpfchen.
»Allenfalls ein gutes Buch lesen, fügt noch bei, Jungen. Flicken mag, wer Beruf dazu in sich fühlt.«
»So 'n Aschenbrödel wie Sylvia zum Beispiel!« Lachend sah Sylvia der Gekränkten ins Gesicht.
»Hast recht, Trudelchen. Aus einer Rose wird seiner Lebtag kein Krautkopf, und der Paradiesvogel legt keine eßbaren Eier. Jedes hat seine Art.«
»Gott sei Dank,« sagte Gerhard.
Alf-Bübchen schlang von hinten die Ärmchen um Trudes Hals.
»Du mis fallen. Du sehen hübsch aus.«
»Sieh mal da, der kleine Mann hat Geschmack,« sagte Gerhard.
Trude errötete, und jede Spur des Ärgers war verflogen.
»Wer gefällt dir besser, Alf-Bübchen, wen magst du lieber, Trude oder Mütterchen Sylvia?«
Jörg und Heinz hatten es einstimmig gerufen.
»Sein doch meine Müttersen Sylvia,« sagte der Kleine schlicht und legte die Arme um Sylvias Hals. Das entschied für ihn die Frage.
»Ich komme im Auftrag meiner Eltern,« sagte nun Trude. »Sie lassen euch alle bitten, doch Silvester mit uns zu verbringen. Auch die beiden jungen Herren hier.«
Trude wies auf Jörg und Heinz.
Die fuhren stramm in die Höhe. Trude stieg plötzlich um hundert Prozent in ihrer Achtung.
»Wir kommen natürlich riesig gerne, Trude,« sagte Sylvia, »was, Jungen? Aber erst müssen wir hören, was Väterchen dazu sagt. Und Altchen – können wir denn Altchen allein lassen?«
»Findet sich alles, Sylphchen,« sagte Gerhard beruhigend.
»Altchen freut sich, wenn wir vergnügt sind,« meinte Jörg weise.
»Der Jörg kann ja dann bei Altchen bleiben und sich mit ihr freuen,« sagte Dieter, und Jörg fuhr als Antwort mit Knuffen und Puffen auf ihn los.
Heinz half zur Gesellschaft mit.
Da übte Dieter sein altes Amt als Polizei, haschte die beiden am Rockkragen und setzte sie hinter dem Ofen nieder.
»So, und nun Ruhe, Bengel, hört ihr? Wenn ihr mit in Gesellschaft gehen wollt, benehmt euch auch so, daß man wagen kann, euch mitzunehmen.«
Das half!
Jörg und Heinz zogen sich Stühle zum Tisch heran und saßen dort, stramm, ein Bild der Ehrbarkeit.
Trude mußte bald aufbrechen.
»Unser Besuch nimmt mich doch eben sehr in Anspruch.«
»Was ist es denn für ein Herr?« fragte Gerhard.
»Ein Vetter von Mutter,« sagte Trude leichthin, »Professor in Göttingen.«
Trude nahm Abschied, und Gerhard begleitete sie. –
Altchen hatte richtig darauf bestanden, daß alle die Einladung zu Holles annähmen.
»Ich gehe doch zu Bett, Kinder,« sagte sie leise. »In meinen Jahren taugt es nicht, solche Erinnerungstage allzu nachdrücklich zu feiern. Da kommen die alten Zeiten herauf und halten Einkehr, und das alte Herz ist dem nicht mehr gewachsen. Ich lege mich schlafen, Kinder, was kann das Alter Besseres tun?«
Die Einladung war also für alle außer für Altchen und Alf-Bübchen angenommen worden.
Jörg und Heinz schienen um etliche Zoll gewachsen vor Stolz und trafen Vorbereitungen aller Art. Sylvia traf sie mehrere Male des Morgens, daß sie Anprobe hielten in ihrem Zimmer und über die Krawattenfrage nicht einig werden konnten.
Belustigt schaute Sylvia zu, sagte aber kein Wort. Sie riet dann auf Befragen zu einer weiß gemusterten dunkeln. Jörg war für knallrot, Heinz für grasgrün.
Den Höhepunkt aber hatte das Vorbereitungsfieber erreicht, als Sylvia eines Morgens leise in die Tür des Knabenzimmers trat. Jörg war allein da. Er stand vor dem Spiegel und hantierte unter seiner Nase herum, die er mit einer Hand gepackt hielt. Sylvia, stumm vor Erstaunen, sah erst nicht recht, was er tat.
Sie trat einen Schritt vor, und da bemerkte sie, daß er das ganze Gesicht mit Seifenschaum eingerieben hatte und sich mit dem Federmesser zu rasieren versuchte.
Zugleich erblickte er sie im Spiegel. Erschreckt ließ er das Messer fallen. »Sylvia, du!«
Sylvia mußte hellauf lachen.
»Mein Geist, nicht ich. Laß dich nicht stören. Du rasierst dich wohl, was?«
Er ließ den Kopf hängen. Dann faßte er ihre Hände.
»Du wirst mich nicht verraten, Sylve-Mütterchen!«
Er sah ihr so stehend verlegen mit den blitzblauen Augen ins Gesicht.
Da versprach sie's lachend.
Und dann war endlich Silvester da.
Jörg hatte für sich und Heinz um weiße Krawatten gebeten, war aber abgewiesen worden.
Da hatten sie sich doch zu den dunklen weiß gemusterten entschlossen und sahen in ihren dunkelblauen Tuchanzügen sehr stattlich und »erwachsen« aus.
Gerhard im schwarzen Gesellschaftsanzug, Achim und Dieter in ihrer Uniform, Sylvia im schlichten weißen Kleide, niedlich und frisch – sie konnten sich alle sehen lassen.
Doktor Eriksen hatte alle Ursache zu dem unverkennbaren Vaterstolze, der ihm aus seinen strahlenden blauen Augen leuchtete, als er, gefolgt von seinen fünf blonden Söhnen, neben der kleinen braunen Tochter das Besuchzimmer bei Holles betrat.
Das strahlte im hellsten Lichte, und noch mehr strahlten die Gesichter der Wirte, die ihre Gäste empfingen.
Professor Holle und seine Frau sahen stets mit dem größten Vergnügen liebe Freunde bei sich, und unter den Freunden stand Doktor Eriksen mit seiner Familie in erster Linie.
Trude sah in ihrem lichtblauen Kleide sehr hübsch aus. Sie eilte liebenswürdig auf die Eintretenden zu und stellte ihnen alsbald den jungen Herrn an ihrer Seite als den vetterlichen Besuch vor.
Gerhard besah ihn mißtrauisch. Daß er dem alten, graubärtigen Bild nicht entsprach, das er sich von ihm gemacht hatte, wollte ihm gar nicht gefallen.
Sylvia lachte ihr ansteckendes, unbefangenes Lachen, als ihn Trude ihr zuführte.
»Sie hab' ich mir ganz anders gedacht, Herr Professor!«
»Wie denn, wenn ich bitten darf, mein gnädiges Fräulein?«
»Nun, ehrwürdig, bebrillt, gla–grauhaarig.«
Sie hatte glatzköpfig sagen wollen, verbesserte sich aber mit einem Blick auf seinen doch bereits etwas gelichteten Scheitel.
Er lachte belustigt.
»Verzeihen Sie, daß ich dem Bild nicht entspreche.«
»Bitte sehr. Eine angenehme Enttäuschung, was, Gerhard?«
Der stand just neben der Schwester und verbeugte sich.
Achim und Dieter neckten sich inzwischen mit Trude, und Jörg und Heinz standen da wie Butter an der Sonne.
»Du,« flüsterte Jörg und versetzte Heinz einen Rippenstoß, »du, ich hab' mir 'ne Gesellschaft ulkiger gedacht.«
Heinz seufzte.
»Wenn's nicht besser kommt!«
Vorderhand kam nun doch etwas, das entschieden das Interesse der jungen Herren in Anspruch nahm.
Das Abendessen!
»Zu Tisch, zu Tisch!« rief Professor Holle lustig. »Jeder geht auf seine eigene Faust, da die Damen so in der Minderzahl sind.«
Es waren nämlich außer den Gästen aus dem Doktorhause nur noch zwei weitere Herren gebeten, Kollegen von Professor Holle.
Lachend drängte man dem Speisezimmer zu.
Jörg und Heinz saßen nebeneinander und ließen sich's um die Wette schmecken.
Ihre beiden Nachbarn machten sich das Vergnügen ihnen mit Wort und Tat zuzusprechen und dabei zu beobachten, wie unbegrenzt ein Jungenmagen in seiner Leistungsfähigkeit ist.
Sylvia schaute von Zeit zu Zeit besorgt nach dieser Richtung hin. Ihr mahnender Blick blieb aber ohne Wirkung. Jörg und Heinz nickten bloß seelenvergnügt, und dann hoben beide ihr Glas und tranken ihr zu, wie sie's die anderen machen sahen.
»Prosit, Sylve-Mütterchen!«
»Prosit, Mütterchen Sylvia!«
Freundlich nickte Sylvia zurück.
Neben ihr saß der junge Göttinger Gelehrte, Professor Geibelt.
»Weshalb nennen die Jungen Sie Mütterchen Sylvia?« fragte er belustigt und interessiert.
Achim hatte die Frage gehört und beugte sich über den Tisch. »Weil sie wirklich und in der Tat treu wie ein Mütterchen für uns alle sorgt seit unserer Mutter Tod vor drei Jahren. Weil sie –«
Dem guten Achim stieg das Blut in das bewegte Gesicht, er war nicht ganz Herr seiner Stimme.
»Prost, Sylve-Mütterchen,« schloß er drum kurz und hob ihr sein Glas zu. Sie hob das ihre dagegen, es gab einen hellen Klang.
»Alter Achim!« sagte sie innig.
»Prost, Sylve-Mütterchen!«
»Prost, Mütterchen Sylvia!« klang's nun von allen Seiten.
»Grasmückchen, prost!«
Doktor Eriksens Stimme hob sich über die anderen.
»Noch ein Kosename?« fragte Professor Geibelt.
»Ist das ein Wunder, Herr Professor?« sagte Sylvia schelmisch. »Sehen Sie sich doch den Riesenvater und die Riesenbrüder an. Ich kleines braunes Ding muß ja daneben wie ein Grasmückchen aussehen.«
Man war inzwischen aufgestanden, und es bot wirklich einen fast komischen Anblick, die zierliche dunkle Sylvia inmitten der blonden Hünengestalten zu sehen.
Sie zog den Vater am Bart, bis er sich niederbeugte. »Prost, Väterchen!« flüsterte sie dann und bot ihm den Mund zum Kuß.
Man hatte sich »gesegnete Mahlzeit« gewünscht.
»Die Jugend macht wohl Spiele, sollte ich denken?« meinte Mutter Holle fröhlich. »Trude, Kind, sorge du, daß alles in Gang kommt.«
Trude hatte es ein wenig verdrossen gehabt, daß Sylvia und nicht sie zuletzt der Mittelpunkt des allgemeinen Interesses gewesen war.
Jetzt war sie wieder in ihrem Element.
Wie ein Feldherr beschaute sie ihre Schar.
»Was tun wir also?«
»Räuber und Gendarm,« schlug Jörg vor.
»Verstecken,« meinte Heinz.
»Etwas weniger Geräuschvolles schlage ich vor,« riet Gerhard. Man einigte sich auf Pfänderspiele. Die älteren Herrschaften mußten mitspielen, es wurde ein großer Kreis gemacht.
Mutter Holle sammelte die Pfänder.
Als sie genügend beisammen hatte, ging's ans Auslösen.
»Was soll das Pfand in meiner Hand?«
»Polnisch betteln gehen!«
Es war Trudes Armband.
»Trude, du mußt dir erst einen Mann nehmen,« rief Jörg eifrig.
Zugleich hatte sich Trude vor ihrem Nachbar, dem Vetter und Professor verbeugt.
Bei Jörgs Zuruf wurde sie ein bißchen rot, zuckte unmerklich zurück, legte aber doch schnell besonnen den Arm in den ihr gebotenen des Professors.
Jörg fühlte sich derb am Kragen gepackt, er war im Eifer von seinem Stuhl aufgesprungen.
Erschreckt sah er aus und in Gerhards zorniges Gesicht.
»Kleine Jungen schweigen, bis sie gefragt werden,« raunte der ihm zu und schüttelte ihn derb.
»Aber Gerhard, ich –«
Jörg war das Weinen nahe. Er konnte sich des Bruders Zorn nicht erklären.
Inzwischen hatte Trude mit ihrem »Mann« den Rundgang schon fast vollendet.
»Für mich ein Stück Brot, und für meinen Mann einen Kuß.«
Ihr schien es trotz der sättigenden Abendmahlzeit mehr um Brot als um Küsse zu tun.
Heinz fiel das auf.
»Die Trude muß aber noch Hunger haben,« meinte er naiv, »immer will sie Brot und nie 'nen Kuß.«
Man lachte.
Da stand das Bettlerpaar vor ihm.
»Für mich einen Kuß und für meinen Mann ein Stück Brot.«
Schelmisch bot ihm Trude den Mund hin.
Heinz errötete jäh bis unter seine blonden Haarwurzeln. Scheu sah er sich um.
»Ich – ich –«
Da hatte ihn Trude auch schon beim Kopf gepackt und ihm einen tüchtigen Schmatz aufgedrückt.
»Puh,« sagte er mit tiefem, seufzerartigem Atemzug und wischte sich mit dem flachen Handrücken den Mund ab.
Er war sehr rot und sehr heiß.
Das gab ein allgemeines Hallo.
»Wie ungalant, Heinz.«
»Vom Mädchen reißt sich stolz der Knabe!«
»So 'n Bengel!«
Das war Gerhard.
»Ich mag nun mal das alberne Geschmatze nicht,« sagte Heinz und wischte noch immer an seinem heißen Gesicht herum.
»Heinz, mein Sohn, nur immer höflich,« sagte da Doktor Eriksens tiefe, gutmütig lachende Stimme.
»Ja, Vater,« sagte Heinz kleinlaut und hing den roten Kopf.
»Ätsch, puh, hat 'nen Kuß ab! Ätsch, puh!«
Heinz schlug aus.
Ums Haar war die schönste Rauferei im Gange.
Zu rechter Zeit griff Sylvia vermittelnd ein.
Auf einen Wink von ihr hob Mutter Holle ein Pfand in der geschlossenen Hand.
»Was soll dies Pfand tun?«
»Eine Scharade aufführen mit dem nächsten Pfand zusammen!«
Mutter Holle hob ein zweites Pfand. Die beiden Taschenmesser von Jörg und Heinz.
»So, Bengel, nun macht eure Sache gut! Zeigt, was könnt und sogar ein bißchen flink.«
Doktor Eriksen rief's.
Zögernd trollten Jörg und Heinz ab. Dieter ging hinterher. »Muß mal hören, wag sie aushecken, daß die Sache nicht zu langwierig wird.«
»Tu's, mein Junge,« sagte der Vater. Man plauderte inzwischen lebhaft.
Da öffnete sich die Tür. Heinz kroch an, allen vieren und brüllte aus Leibeskräften: »bäh« in allen Tonarten. »Bäh, bäh, bäh, bäh!« Die Bedeutung war unverkennbar. »Schaf! Schaf!« schallte es von allen Seiten Heinz zog sich zurück. Jetzt öffnete sich die Tür zum zweiten Mal.
Nichts wurde sichtbar. Man hörte nur einen zischenden Laut.
»S–s–s!«
»Huhu! Der Genitiv von Schaf,« lachte Professor Holle.
Zwei Köpfe zeigten sich in dem Türspalt.
»Schafsköpfe!« jubelte die Gesellschaft.
Zugleich schob Dieter die beiden Brüder ins Zimmer.
»Hier das Ganze, meine Herrschaften.«
Beim allgemeinen Hallo begriffen Jörg und Heinz erst die Rolle, die der arge Dieter sie hatte spielen lassen.
Mit Knüffen und Püffen ging's auf ihn los. »Dieter Dieter! Scheusal du!«
»Still, Jungen. Mich will bedünken, ihr wart wirklich ein wenig, wozu Dieter euch stempelte. Nehmt's in Demut hin und gebt Frieden,« rief lachend der Vater.
Sylvia sollte nun auch ein Pfand auslösen.
»Rätsel raten!« schlug Professor Holle vor. »Schnell ein Rätsel, Doktor!«
Der besann sich nicht lange.
»Das erste ist grün und das zweite nicht.
Das Ganze fliegt und fliegt auch nicht.«
»Hoho, Väterchen, stellst du mich in eine Kategorie mit Jörg und Heinz? Da mußt du mir schon schwerer kommen.«
»Wieso,« entgegnete Jörg. »Du hast's ja noch gar nicht geraten.«
»Behüte,« sagte Sylvia ernst, »Vaters Grasmückchen ist zu dumm dazu.«
Jörg schlug sich vor den Kopf. »Ja so, natürlich.«
»Kapiert, Jörg?« lachte Dieter.
Jörg hing den Kopf.
»Das war zu leicht! Sylvia muß noch ein Rätsel raten,« rief Trude.
»So gib du eins auf,« sagte ihr Vater.
»Aber ein selbstgemachtes,« fügte Professor Geibelt bei.
Trude sann nach, dann blitzte sie den Vetter schelmisch an.
Den größten Teil nimm vom Profit,
Ein O stopf ein dem größten Esser,
Du findest dann, ich zweifle nit,
Den hochgelahrtesten –«
Fragend sah sie Sylvia an. Die lachte bloß. »Auch du, Brutus? Du schätzt mich ja noch 'ne Nummer geringer ein als Väterchen, Trude.«
Heinz hatte sich zur Schwester herangeschlichen und flüsterte ihr hochrot und sehr wichtig hinter der vorgehaltenen Hand zu: »Professor! Professor, Sylve-Mütterchen. So sag's doch!«
Vor lauter Eifer puffte er die Schwester.
»Danke, Heinz,« sagte Sylvia sehr gelassen. »Ich will mir's erst noch überlegen.«
»Ich muß, wie's scheint, Mütterchen Sylvias Ehre als Rätselraterin retten,« sagte nun Professor Holle gutmütig. »Hör zu, Sylphchen:
»Die größte Tyrannin nenn' mir auf Erden,
Die trotzdem zur teuersten Freundin mag werden.
Sie hält dich mit eisernen Händen gebunden,
Und gleichwohl dankst du ihr göttliche Stunden.
Sie hält dich gefangen und macht dich doch frei,
Nun rate, mein Töchterchen, wer sie wohl sei!«
Sie sannen alle nach.
Da hob Sylvia den leuchtenden Blick.
»Die Pflicht, Vater Holle, doch natürlich die Pflicht!«
»Bravo, Kind, ja, ja. Tyrannin und Freundin zugleich, was anders könnte es sein als die Pflicht. Wohl dem, dem sie nur noch das letztere ist, was, Doktorchen?«
Doktor Eriksen nickte sinnend vor sich hin.
Dann haschte er sich sein Töchterchen und strich zärtlich über den braunen Scheitel.
»Mein Grasmückchen!«
Es war mittlerweile elf Uhr geworden.
Die dampfende Punschterrine wurde gebracht.
Die Gläser kreisten, und das Vergnügen stieg.
Jörg und Heinz hielten sich umschlungen, es war ihnen plötzlich so zärtlich zumute.
Sie küßten sich, oder kratzten und bissen sie sich? Man konnte es nicht recht unterscheiden, und in richtiger Erkenntnis der Sachlage ließ man die Frage lieber unerörtert.
Es war halb zwölf.
»Was tun wir noch?« sagte Trude. »Laßt uns Blei gießen!«
»I wo, das ist so albern,« sagten Achim und Dieter zugleich, mehr aufrichtig als höflich.
Trude schien auf ein Orakelspiel irgendwelcher Art erpicht.
»Dann lassen wir Schiffchen schwimmen.«
Sie befahl, das Nötige zu bringen.
Bald schwammen ebensoviele Nußschalen, als Teilnehmer am Spiel waren, auf einem Wasserbecken.
Lustig flimmerten die drin befindlichen Lichtlein. Unter Scherz und Lachen wurde die Wasserfläche bewegt, um Leben in die kleine Flotille zu bringen.
Gerhards Nußschalenschiffchen hielt sich dicht neben dem Trudes.
Das machte ihn nicht wenig stolz, und er wies mit vielsagendem Blick drauf hin.
Trude lachte und wurde ein bißchen rot.
Jörg und Heinz patschten ins Wasser.
Das gab einen allgemeinen Aufruhr.
»Jungen, wollt ihr wohl!«
»Solche Tolpatsche!«
Gerhard packte Jörg beim Ohr.
»Bengel, mußt du denn immer Unheil stiften?«
Es klang schärfer, als es die Gelegenheit rechtfertigte. Doktor Eriksen und Sylvia sahen beide ganz erstaunt auf. Gerhards Schifflein hatte einen Ruck bekommen und schwamm hinfort einsam auf eigener Bahn.
Trudes Schifflein war dicht an das Professor Geibelts herangetrieben worden.
»Wir fahren zusammen, Cousinchen, sehen Sie doch!« Da erhielt der Tisch einen furchtbaren Stoß.
Die Wellen des Wasserbeckens schlugen wild über den kleinen Lebensschifflein zusammen und löschten die Lichter.
Ein allgemeiner Schiffbruch!
»Verzeihung,« sagte Gerhard, »ich war sehr ungeschickt!«
Da schlug es zwölf, und alles weitere ging in dem allgemeinen Glückwünschen unter.
»Ein neues Jahr, was wird es bringen?«
Doktor Eriksen sagte es sinnend. Und über den braunen Scheitel Sylvias weg, die er umfaßt hielt, flog sein Blick zu seinem Ältesten, der mit gefurchter Stirn abseits stand und an der Lippe nagte.
»Was hat der Gerhard, Grasmückchen?«
»Laß, Vaterherz, das zieht sich alles zurecht. Ein glückliches neues Jahr, Gerhard!«
Damit trat Sylvia zu dem Bruder heran.
Er lachte erst schneidend auf.
»Glücklich! Ich –« Da besann er sich, legte den Arm um die kleine Schwester und flüsterte innig: »Das wünsche ich dir, Sylphchen. Und, Sylphchen, Dank für alles!«
»Dank, Gerhard? Wofür?« Sie lachte ihm warm und sonnig in die Augen.
Jörg und Heinz, die beim Glückwünschen noch redlich das ihre in Lärm und Tollen getan hatten, waren plötzlich sehr stille geworden.
Es fiel ihnen offenbar schwer, die Augen aufzuhalten.
»So 'ne Gesellschaft ist doch was Riesiges, Heinz.«
Jörg versuchte noch einmal aufzuflammen.
Heinz murmelte nur was Unverständliches. Plötzlich begann er, ganz unvermittelt laut zu schnarchen. Jörg rüttelte ihn derb.
Das hatte nur zur Folge, daß Heinz um sich schlug und sich noch bequemer in dem Sessel, in den er wohl aus Versehen geraten war, zurecht legte.
Achim und Dieter kamen lachend zu Hilfe.
Sylvia mahnte zum Aufbruch, und der Vater stimmte bei.
Man verabschiedete sich unter vielen Dankesworten.
Heinz stand zwischen Dieter und Achim, die ihn aufrecht hielten.
Aus Versehen bot er wie in seiner Kinderzeit Mutter Holle den Mund zum Kuß.
Jörg prustete los. Aber Heinz hatte nicht einmal mehr die Kraft auszuschlagen.
»Vielen, vielen Dank für alles, liebe Freunde. Lassen Sie uns im neuen Jahr dieselben bleiben!«
Damit hatte Doktor Eriksen den Freunden und Nachbarn die Hand gedrückt und war mit den Seinen gegangen.
Und nun standen sie drüben vor dem alten Doktorhause.
Lene und Anna schienen gewartet zu haben.
Geräuschlos tat sich die Tür auf.
»Prost Neijohr! Prost Neijohr, Herr Doktor. Prost Neijohr, ihr Kinner. No, do wern mer jo wider emol um e Johr älter. Gelle Se, Herr Doktor, mer kimmt zu de Johrn, wie die Kuh zum Tritt.«
Mit dieser eleganten Wendung reichte Lene die fette Hand, die jeder reihum schüttelte.
Möglichst geräuschlos, um Altchen nicht zu stören, gingen dann alle nach ihren Zimmern.
Gerhard stand in dem seinen am Fenster.
Da legte sich eine kleine braune Hand auf seine geballte.
Sylvia war ungehört eingetreten.
»Gerhard, Bruder, ich wollte dir noch einmal gute Nacht sagen.«
Er antwortete nicht.
»Gerhard, wollen wir uns fremd werden im neuen Jahre?«
Es lag ein rührender Schmerz in der Frage.
Gerhard zog die Schwester an sich, ohne sie anzusehen.
So standen die Geschwister ein paar Minuten.
»Sylphchen, ich habe heute abend viel begraben.«
Die Stimme, die das sagte, klang etwas rauh, gar nicht wie Gerhards Stimme.
»Ich weiß, Gerhard. Du hast im stillen daran gedacht, daß Trude einst deine Frau werden könnte.« Es kam wie ein Hauch über Sylvias Lippen. »Aber, wenn du diesen Gedanken heute auch begraben hast, es bleibt dir viel, Gerhard.«
Er lachte höhnisch.
»Dir bleiben deine Freunde, Gerhard, dir bleibt das Leben, deine Studien, deine Pflicht und – Gerhard, wir bleiben dir.«
Die weiche Stimme war immer weicher und leiser geworden.
Ein paar Minuten blieb alles still.
Dann fühlte sich Sylvia plötzlich umarmt. Eine ungeschickte, zitternde Hand strich ihr über den Scheitel.
»Gute Nacht, mein Sylphchen, Sorg dich nicht um mich, Sylphchen, ich beiß' es durch.«
Und Sylvia stand draußen, sie wußte nicht wie.
Drin im Zimmer pfiff es leise, ganz leise. Es war keine Melodie zu erkennen, und die Töne schwankten erst gewaltig. Allmählich wurden sie fester und fester.
Sylvia lauschte noch eine Weile, dann ging sie getröstet nach unten.
Alf-Bübchen lag in seinem Bettchen, das Blondköpfchen zurückgeworfen, die Ärmchen drüber her verschränkt.
Der kleine Mann hatte alle seine Decken fortgestrampelt.
Sylvia zog sie herauf und hüllte ihn sorgsam ein.
Da sah sie zwei große blaue Augen weit aufgeschlagen auf sich geheftet. Zwei kleine Arme umfingen sie und zogen sie nieder. Schlaftrunken murmelten die Lippen
»Engelein tomm,
Mach mich fromm,
Daß ich zu dir
In Himmel tomm!«
»In Himmel tomm,« murmelten die Lippen noch einmal, und dann fielen die kleinen Ärmchen um Sylvias Hals kraftlos zurück.
Alf-Bübchen war wieder fest entschlummert.
Warum legte es sich plötzlich wie eine eisige Hand auf Sylvias Herz?
Fast leidenschaftlich küßte sie den kleinen Schläfer.
Der wehrte mechanisch mit der Hand ab.
»Alf-Bübsen sein so müde, Alf-Bübsen wollen schlafen.«
Da entkleidete Sylvia sich leise und löschte das Licht.
So war das neue Jahr über dem alten Doktorhause am Graben heraufgezogen. Ein neues Jahr zu Glück und Leid.