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3.
Ferienzeit

Es war Sonnabend vor Ostern. Am Nachmittag sollten Gerhard und sein Freund ankommen.

Gerhard, der älteste Sohn des Hauses, war sehr früh zur Universität gegangen und hatte bereits sein Physikum hinter sich.

Sylvia hatte Alf-Bübchen eben wie allmorgendlich zu Altchen hinauf gebracht.

»Derhard tommen heute, Altsen,« sagte der kleine Mann sehr wichtig. »Alf-Bübsen müssen sehr brav sein!«

Er kletterte auf Altchens Schoß und schmiegte sich in deren Arme.

»Schön, Alf-Bübchen. Da soll Altchen wohl eine Geschichte erzählen, was?«

Leuchtenden Blickes nickte der Kleine.

»Altsen müssen von Wolf und sieben dleine Deißlein erzählen,« sagte er schelmisch und sah Sylvia herausfordernd an.

Die drohte mit dem Finger. »Warte, Schlingel!«

Da lachte der kleine Mann hell auf und barg den blonden Krauskopf an Altchens Brust.

Sylvia sah etwas betreten aus.

»Was gibt's, Kind?« Altchen kannte jeden Zug in Sylvias Gesicht.

Sylvia zögerte einen Augenblick.

»Ich begreife nicht, wo Jörg und Heinz stecken,« sagte sie langsam. »Seit dem Frühstück sind sie verschwunden.«

»Sie werden irgendwo mit ihren Kameraden spielen,« tröstete Altchen.

»Ich hatte ihnen aber gesagt, heute morgen müßten sie daheimbleiben und lernen. Sie haben so mancherlei nachzuholen in den Ferien, und wenn erst Gerhard da ist –«

»Laß sein, Kind, sie werden schon wieder auftauchen,« meinte Altchen milde.

»Deschichte erzählen, Altsen, bitte, bitte!« drängte Alf-Bübchen.

»Es war einmal ein Königsöhnlein –« hörte Sylvia eben noch Altchen beginnen, dann schloß sie die Tür.

Der Rundgang durchs Haus war vollendet. Bei Lene in der Küche war Sylvia auch gewesen.

Lene steckte mit beiden Armen bis über die Ellbogen im Backtrog. Osterkuchen!

Da war Lenes Laune niemals sehr rosig, und Sylvia hatte weise das Feld geräumt.

Auf dem Tisch im Erker stand der Flickkorb mit reichlichem Inhalt von gestern her. Dem strebte Sylvia nun zu. Da trat Vater aus seinem Zimmer.

»Wo sind eigentlich Jörg und Heinz, Kind? Es ist so unheimlich still im Hause.«

»Fort seit dem Frühstück, und ich weiß nicht wohin.«

»Fort?«

»Ja, ich erinnere mich jetzt, daß sie merkwürdig viel leise zusammen tuschelten. Ich schickte sie an ihre Arbeit, und mit einem Male waren sie fort.«

»Wo können die Bengel nur –« begann der Vater.

Da hörte man von draußen noch in ziemlicher Entfernung einen großen Tumult, der rasch näher kam.

Wie von einer Ahnung erfaßt, sprang Sylvia nach der Haustür, die sie aufriß.

Zugleich kamen Achim und Dieter von oben aus ihrem Zimmer gestürzt, immer ein paar Treppenstufen auf einmal überspringend.

»Jörg, Heinz!« riefen sie atemlos.

Der Vater war schon hinter Sylvia her zur Tür geeilt.

Dort standen nun alle vier und sahen dem entgegen, was sich da heranwälzte.

Es war ein großer, dichtgedrängter, lärmender, johlender Haufe von lebenden Wesen, zumeist Schuljungen.

Inmitten dieses Haufens ragte ein Mann in Uniform auf – der Gendarm des Städtchens –, der rechts und links, wie es schien, je einen lebenden, wandelnden Busch jungen Waldgrüns gepackt hielt.

Zuweilen schienen diese wandelnden Büsche sich zur Wehr setzen zu wollen, dann packte der Mann in Uniform fester zu, und es ertönte eine Art Wut- und Jammergeschrei aus den Büschen.

Der ganze Haufe bewegte sich über den Platz herüber unverkennbar auf das Doktorhaus zu.

Sylvia machte Miene, entgegenzueilen. Da erfaßte der Vater sie an den Schultern.

»Dableiben, Grasmückchen! Abwarten!«

Sylvia war sehr bleich. Beruhigend strich er ihr über den Scheitel.

Achim und Dieter waren schon mitten im Haufen drin und redeten auf den Mann ein, der stehen bleiben und Auskunft geben wollte.

Ein Jammergeheul begleitete seine Worte. In die wandelnden Büsche war bei Achims und Dieters Anblick krampfhaftes Leben gekommen.

Der Mann hielt fest. Um seinen Mund zuckte es dabei wie verhaltenes Lachen.

»Ich muß die jungen Herren selbst vor Gericht abliefern,« sagte er sehr strenge.

»Achim, Dieter, rette uns!«

»Rette uns!«

Entsetzen sprach aus dem Aufschrei.

Achim und Dieter machten sich sehr energisch von den kleinen sie umklammernden Händen los.

»Sehr recht, Herr Wachtmeister, nur zu, dort steht Vater!«

Es war, als ob den beiden sich sträubenden grünen Büschen plötzlich alle Kraft versage. Willenlos, tonlos ließen sie sich den Rest des Weges weiterschleppen.

Und nun stand man vor der Freitreppe des Hauses.

»Was bringen Sie mir da, Herr Wachtmeister?«

Vaters Stimme tönte den beiden kleinen Sündern in die Ohren wie die Posaune des Gerichts.

Ehe der Mann antworten konnte, schob sich eine kleine weißgekleidete Gestalt mit wallendem, blondem Lockenhaar zwischen Vater und Sylvia durch und flog die Treppe herunter.

Alf-Bübchen!

Und ehe einer begriff, was der Kleine wollte, hatte der den Mann des Gesetzes, so hoch er eben reichen konnte, umklammert und schüttelte ihn mit seiner kleinen Kraft. Dann drosch er mit den beiden Fäustchen gegen seine Beine.

Alf-Bübchens Gesicht war hochrot, und zwischen krampfhaft unterdrücktem Schluchzen schrie er mit seinem Vogelstimmchen den Mann an.

»Du sein böse, böse Mann! Du lassen Heinz und Jörg los! Du hören? Dleis, dleis, oder Alf-Bübsen wollen dir tot hauen! Du hören?«

In der Überraschung hatte der Mann wirklich losgelassen. Jörg und Heinz, denn sie steckten in den lebenden Büschen drin, umklammerten hilfesuchend Sylvia. Wie sie die Treppe hinaufgekommen waren, wußte keiner.

Achim hatte Alf-Bübchen auf seinen Arm gehoben und suchte den nun laut weinenden Kleinen zu beruhigen.

Es war eine sehr lebhafte Szene, umso mehr als der begleitende Haufe der Zuschauer lebhaften Anteil an den Vorgängen nahm.

Der Mann trat zu Vater heran und meldete in stramm militärischer Haltung: »Waldfrevel, Herr Doktor. Ich habe die beiden auf der Tat ertappt, wie sie eben ganze junge Bäumchen abschnitten.«

»Jörg, Heinz, hierher!«

Bebend, schlotternd schleppten sich die Angerufenen herzu.

Sie hatten sich sehr sinnreich die erbeuteten grünen Aste und Bäumchen mit Seilen um den Leib befestigt, und die bleichen, angstverzerrten Gesichter wollten zu dem sie rings umwallenden zarten Frühlingsgrün nur wenig stimmen.

Die beiden Missetäter hielten sich an den Händen gepackt und hatten offenbar Mühe, aufrecht zu bleiben.

Alf-Bübchen weinte bei dem Anblick noch lauter.

Sylvia nahm Achim den Kleinen ab und streichelte und tröstete an ihm herum.

Unterdessen ging das hochnotpeinliche Verhör weiter.

»Was habt ihr euch bei dem Diebstahl gedacht?«

Bei dem gräßlichen Wort, das Vater so mitleidlos gebrauchte, fuhren Jörg und Heinz wie von einem Peitschenhieb getroffen zusammen und brüllten auf.

»Gerhard – hu –!«

»Willkomm – hu – hu –«

»Schmücken wollen – hu, hu, hu, hu –«

Zusammenhängendes war nicht herauszubringen.

Der Vater wechselte einen Blick mit dem Mann des Gesetzes, beide hatten offenbar Mühe, ernst zu bleiben.

Jörg und Heinz wickelten die Seile los. Ast fiel um Ast. Und dann standen die beiden Verbrecher da ohne die mitleidvoll bergende grüne Hülle, beschmiert, zerfetzt, zerschunden, ohne Mütze, mit hängenden Strümpfen, klaffende Risse, wo immer sich solche hatten anbringen lassen. Die beiden Jungen hatten ihren Raub offenbar schwer erringen müssen.

Beim Anblick der Jammergestalten hätte nun der Vater fast laut aufgelacht.

Er besann sich aber eines Besseren.

»Rafft mal alles zusammen und macht zwei Bündel draus!«

Schweigend, eilig gehorchten die Verbrecher.

»So, Seile drum! Fertig! Aufgeladen!«

Wie auf Kommando taten Jörg und Heinz das Befohlene.

»Und nun zum Forstamt! Ich kann gar nichts tun, wir müssen hören, was man dort beschließt!«

Vater und der Wachtmeister wechselten einen Blick des Einverständnisses. Man sah, daß Vater ihm etwas in die Hand drückte.

»Führen Sie die beiden ab, Herr Wachtmeister!«

Ein Jammergeheul von Jörg und Heinz.

Alf-Bübchen sekundierte, ja, Sylvia war nahe daran, einzustimmen.

»Muß das sein, Väterchen?«

Sie war ganz blaß und zitterte.

Er sah ihr liebevoll in das Gesicht, der Schalk in seinen Augen beruhigte sie sofort.

»Strafe muß sein, Grasmückchen! Die treiben danach keinen Waldfrevel mehr.«

Sylvia mußte lächeln.

»Schicke Achim und Dieter mit,« bat sie dann leise.

Vater sann einen Augenblick nach.

Die gebrochenen Jammergestalten der beiden Schelme da unten mochten auch sein Herz zum Mitleid bewegen.

Er winkte Dieter heran.

»Geht mit, ihr beiden, ich muß auf Praxis. Redet mit dem Forstmeister, die Schlingel ängstigen sich sonst über die Gebühr.«

Dieter nickte.

»Wollt's schon selber vorschlagen, Vater. Wußte nur nicht, ob deine pädagogischen Grundsätze –«

Er schmunzelte.

»Eulenspiegel!« schnitt ihm der Vater das Wort ab. »Ich denke, die beiden haben so wie so genug.«

»Ganz gewiß, Vater,« sagte lachend Dieter.

Im Nu hatte er Achim verständigt.

Als Jörg und Heinz merkten, daß die großen Brüder sich zur Begleitung anschickten, ließ alsbald das Jammergeheul nach, und die verheulten, angstverzerrten Gesichter hellten sich etwas auf.

Selbst über den Mann des Gesetzes kam etwas wie Erleichterung. In dieser Rolle als Henker gleichsam war ihm gar nicht wohl gewesen in seiner gutmütigen Haut. »Na denn, vorwärts!« sagte er. »Wollt ihr wohl, Gesindel!«

Damit scheuchte er die umherstehenden Gassenjungen, die denn auch davonstoben und nur noch in scheuer Entfernung dem Transport der Delinquenten zu folgen wagten.

Achims und Dieters Gegenwart hielt sie im Bann.

Mit gesenkten Köpfen und hängenden Ohren stolperten Jörg und Heinz dahin, die Bündel hinter sich her schleifend.

Achim und Dieter schritten hinterher, den Mann des Gesetzes inmitten.

So verschwanden sie um die Ecke.

Vater lachte hell auf.

»Die Lehre merken sie sich, was, Grasmückchen?«

Sylvia lächelte nur ganz wenig.

»Und sie haben's doch so gut gemeint. Wollten Gerhard zum Empfang das Haus schmücken!«

»Einerlei. Hast du gesehen, wie sie gehaust haben? Ganz dicke Stämmchen durchgeschnitten! Wird mich ein schönes Stück Geld kosten.«

»Und die Kleider!«

Bei Sylvia brach der Hausfrauensinn durch.

»Armes Grasmückchen! Daran habe ich noch gar nicht einmal gedacht!«

»Sein dräßlich böse Mann wesen. Alf-Bübsen leid sein, nicht tot dehauen!«

Alf-Bübchen sagte es ganz weinerlich. Er hatte bisher hinter den sich Entfernenden her gestarrt.

Lachend nahm der Vater seinen Jüngsten auf den Arm.

»So blutdürstig, Jungchen? Jörg und Heinz waren sehr böse, Alf-Bübchen, siehst du, und der Mann hatte ganz recht!«

»Sein böse Mann!« beharrte Alf-Bübchen. »Alf-Bübsen nicht liebhaben. Alf-Bübsen bloß Papa liebhaben und Mütterchen Sylvia, und –«

Alf-Bübchen hielt Vaters Hals mit einem Ärmchen umklammert und schlang das zweite um Sylvias Hals, küßte erst den Vater und dann Mütterchen Sylvia und wieder den Vater und wieder Sylvia, und dazu krähte er in Lust und Wonne.

Die vorübergingen, konnten sich nicht satt sehen an dem Bild, und viel freundliche Blicke und Grüße flogen hinauf zu den dreien, die da oben auf der Freitreppe des alten Doktorhauses standen.

Dann fuhr Vaters Wagen vor.

Er küßte Sylvia noch einmal und küßte Alf-Bübchen, und dann fuhr er davon, der Not und dem Elend in jeglicher Form entgegen, wie es sein schwerer Beruf eben mit sich brachte.

 

Auf dem Bahnsteig in der großen Einfahrtshalle des Bahnhofs stand eine sehr ungeduldige Gesellschaft.

Sylvia in ihrem grauen Frühjahrskleid sah sehr nett und frisch aus. Sie hielt Alf-Bübchen an der Hand, und der kleine Mann in seinem weißen Flanellanzug trippelte rastlos von einem Füßchen aufs andere.

»Alf-Bübsen sein danz furstbar undeduldig, alte Bahn tönnen jetzt tommen!«

Achim und Dieter standen sehr gesetzt daneben, doch prickelte es auch ihnen in allen Adern vor Erwartung und Ungeduld.

Jörg und Heinz waren noch zu geknickt vom Morgen her, als daß sie gewagt hätten, ihrer wahren Natur den Zügel schießen zu lassen.

Der Forstmeister hatte sie mit einer tüchtigen Strafpredigt entlassen. Für diesmal wolle er ihnen das Gefängnis noch einmal schenken, hatte er gesagt, da sie nicht in böswilliger Absicht gefrevelt hätten. Wieder vorkommenden Falles würde er sie bei Wasser und Brot krumm schließen lassen.

Was das bedeutete, wußten Jörg und Heinz nicht recht, oder das bloße Wort schon jagte ihnen einen Schauder durch den Leib.

Zu drei Mark Strafe hatte der Forstmeister sie dann noch verurteilt, und zwar aus ihrer eigensten Sparkasse zu zahlen.

Das war bitter, half aber nichts.

»Jetzt haben wir nichts für den Gerhard zum Empfang,« seufzte Heinz.

»Still, ich weiß doch was,« flüsterte Jörg, und nun tuschelten die beiden eifrig, bis ein gellender Pfiff das Nahen des Zuges kündete.

Da bog er um die Ecke, lang und schwarz mit weißer langgestreckter Rauchfahne drüber her.

»Derhard, Derhard tommt!« jubelte Alf-Bübchen, schlug in die Hände, breitete die Ärmchen aus und lief dem heranrollenden Zug entgegen. Sylvia in Hast hinterher.

Und da hielt auch schon der Zug, eine Tür klappte – ein blonder junger Riese hielt Sylvia umschlungen, die ihm just knapp zu den Schultern reichte.

Unten am Boden mühte sich Alf-Bübchen, die Beine des blonden jungen Riesen zu umfassen.

Die anderen vier drängten herzu, einstweilen unbeachtet.

»Gerhard, liebster Gerhard!«

»Mütterchen Sylvia! Sylphe! Luftgeistchen! Spinnwebchen!«

Mit jedem Ausruf wurde die Stimme zärtlicher.

Der blonde junge Riese schob die kleine braune Schwester von sich.

»Laß dich mal beschauen, Sylphchen! Noch grad so winzig und so schmal und so braun. So 'n Schmaltierchen!«

Sylvia sagte nichts. Sie sah den Riesenbruder nur immerzu mit großen glänzenden Augen an.

Da piepte ein Stimmchen von unten her.

»Alf-Bübsen sein auch da!«

Der große Bruder bückte sich und hob den kleinen hoch.

»Herbei mit dem kleinen Mann!«

»Alf-Bübsen nix Arm nehmen, Alf-Bübsen wollen Hand sütteln wie droße Mann. Alf-Bübsen sein auch Mann.«

»Verzeih,« sagte Gerhard sehr ernst, setzte den Kleinen zu Boden und renkte ihm fast das Ärmchen aus, so kräftig schüttelte er die kleine dargebotene Hand.

»Tag, Alf-Bübchen!«

»Tag, Derhard. Du sein aber dräßlich droß. Alf-Bübsen müssen noch viel wachsen.«

Alle lachten. Es lag solche Niedergeschlagenheit in dem hellen Piepstimmchen.

»Achim, Dieter, da seid ihr, he! Jörg, Heinz! Bin froh, euch Jungen alle wiederzusehen.«

Es war ein schöner Anblick, die frischen, kräftigen blonden Gestalten alle, die sich um den großen blonden Bruder drängten.

Das fand auch ein junger Mann, der etwas abseits von der Gruppe zuwartend stand, zwei Reisekoffer in den Händen.

Aus guten, ernsten, dunkeln Augen schaute er auf die Brüder, und dann traf ein prüfender Blick die daneben stehende Sylvia und begegnete ihren auf ihm haftenden Augen.

Er neigte sich grüßend, da er keine Hand frei hatte, nach dem Hut zu greifen.

Sylvia dankte, legte die Hand auf Gerhards Arm und flüsterte ihm ein paar Worte zu.

Der schob mit raschem Griff die ihn Umdrängenden zur Seite und trat zu dem jungen Mann heran.

»Verzeih, Wolf, ich hatte im Augenblick ganz vergessen. Mein Freund Wolf Brandt, meine Schwester Sylvia. Hier Achim und Dieter. Da Jörg und Heinz. Dann noch mein jüngster Bruder Alfred.«

Gravitätisch wies er auf den kleinen Mann. Alle lachten.

Der wollte eben das Händchen heben und dem Fremden entgegenreichen, wie er es die anderen tun sah, da schlug der ungewohnte Name an sein Ohr.

Er stutzte.

»Ich sein Alf-Bübsen,« sagte er dann ganz treuherzig mit verschämtem Lachen. »Nix Bruder Alfred!«

Sylvia war zu des Bruders Freund herangetreten.

»Wir freuen uns sehr, Herr Brandt, Sie kennen zu lernen. Vater hat mir aufgetragen, Sie einstweilen herzlich zu bewillkommen,« sagte sie liebenswürdig.

»Und nun heim!« rief Gerhard. »Ich sehne mich nach dem alten lieben Haus. Jungens, nehmt die Köfferchen, wollt ihr?«

Das galt Jörg und Heinz.

Die lagen sich bereits in den Haaren. Gerhards Ankunft hatte die Ereignisse des Morgens in den Hintergrund gedrängt.

Mit festem Griff hatte Dieter die beiden Streitenden getrennt und jedem ein Köfferchen in die Hand gedrückt. »Vorwärts marsch! Wollt ihr wohl!«

So wurde denn der Heimweg angetreten.

Sylvia hing sich an Gerhards Arm; sie mußte etwas hoch reichen. »Mein größter Junge,« sagte sie zärtlich.

Wolf Brandt lachte.

»Ja, Herr Brandt,« entgegnete sie darauf lachend, »das ist nun mal so. Das sind meine sechs Jungen, und ich bin Mütterchen Sylvia. Wenn Sie wollen, adoptiere ich Sie für die Dauer Ihres Hierseins als siebenten.«

Wolf Brandt lüftete den Hut.

»Wäre mir eine Ehre,« sagte er, und es klang so ernst und so warm, daß es Sylvia fast ein klein wenig verlegen machte.

Gerhard drückte den Arm, der auf dem seinen lag, fest an sich. »Er kennt Mütterchen Sylvia,« sagte er leise.

Und dann war man daheim.

Wie ein Schuljunge stürmte Gerhard ins Haus, riß unten alle Türen auf, begrüßte Lene, begrüßte Anna und stürmte dann die Treppe hinauf, die andern polternd hinterher. So brach die wilde Jagd in Altchens Reich ein.

Doch da legte es sich wie ein Hauch des Friedens über alle und zähmte die Unbändigsten.

Selbst Jörg und Heinz traten urplötzlich auf, als gingen sie auf Eiern und dämpften unwillkürlich die Stimmen.

Und Altchen hielt Gerhard umfaßt mit den Armen, die so lind und warm zu umfassen wußten. Er kniete neben ihrem Sessel. »Mein Junge, mein geliebter Junge!«

Gerhard sagte nichts. Sein Blick sprach, der tief, tief in Altchens sanfte dunkle Augen tauchte, und der feste Druck seiner Arme redete, womit er Altchen umfaßte.

Niemand störte die beiden.

»Alf-Bübsen sein auch deliebte Jung!« sagte da plötzlich ein weinerliches Stimmchen. Da mußten alle lachen. Gerhard hob den kleinen eifersüchtigen Schlingel auf Altchens Schoß, wo er sich zufrieden zurechtnestelte.

Dann wurde der Freund vorgestellt und begrüßt, und danach wurden die Neuangekommenen im Triumph hinauf in Gerhards Reich geführt, wo auch Wolf Brandt untergebracht werden sollte.

Jörg und Heinz waren schon vorher fortgehuscht und empfingen die anderen oben vor Gerhards Tür händereibend und mit allen Zeichen zufriedenster und aufgeregtester Erwartung.

Sylvia kam mit herauf, um sich noch einmal zu überzeugen, daß nichts fehle.

Sie öffnete, vorangehend, die Tür zu Gerhards Zimmer, prallte aber entsetzt zurück vor dem bestialischen Geruch, der ihr entgegendrang.

»Himmel, was kann das sein?«

Sie stürzte in die Stube und riß das Fenster auf.

»Gerhard, ich –«

Der war auch schon drin und schnüffelte mit erhobener Nase nach allen Ecken.

Die anderen drängten unter »Puhs« und »Achs« nach.

Wolf Brandt hielt sich das Taschentuch vor die Nase. Jörg und Heinz standen erwartungsvoll lächelnd an der Tür.

Das sollte eine Überraschung werden!

Mit der Spürnase eines Jagdhunds war Gerhard direkt auf den Schreibtisch zugegangen, der an einem der Fenster stand.

Dort lag ein verdächtig aussehendes, beschmutztes blaues Packpapier, das offenbar etwas barg.

Richtig – puh – der Geruch, um kein kräftigeres Wort zu gebrauchen, kam von da. Unverkennbar!

Was mochte es sein?

Gerhard stieß einen Ruf des Staunens aus, der die anderen aufmerksam machte. Alle umdrängten ihn mit zugehaltenen Nasen. Auch Jörg und Heinz. Nur daß die offenbar vergnügt und wohlgefällig die verpestete Luft einatmeten.

»Was haben wir hier!«

Mit spitzen Fingern öffnete Gerhard das Papier, sehr behutsam, sehr vorsichtig.

»Eine Ratte!«

»Eine tote Ratte!«

Der Schreckensruf kam von aller Mund.

Im selben Augenblick hatte Achim auch schon den Gegenstand des Entsetzens gepackt und mit kühnem Schwung durchs offene Fenster in den Hof befördert. Dieter dagegen hatte sich, in richtiger Erkenntnis der Sachlage, in nahe Berührung mit den Ohrläppchen seiner beiden jüngeren Bruder, Jörg und Heinz, gesetzt.

»Schlingel, ihr! Seid ihr denn rein des Kuckucks heute?«

»Au – au –!«

»Laß los, Dieter, laß los!«

»Was soll das heißen? Totes Ungeziefer –«

»Es war ja eine Ratte, Dieter!«

»Eben deshalb!« Erneuter Ruck an den Ohrläppchen.

»Au, Dieter, au – loslassen, au – u – u!«

»Gerhard – hu –«

»Ist doch Doktor – hu, hu –«

»Und die Ratte – hu –«

»War zum sezieren für ihn – hu, hu, hu, hu!«

Da ließ Dieter los, warf sich auf einen Stuhl und lachte – lachte, daß ihm der Atem verging.

Die anderen desgleichen.

Sie lachten in allen Höhen und Tiefen, in allen Tonarten.

Jörg und Heinz rieben sich die mißhandelten Ohrläppchen. Sie boten beide das Bild gekränkter Unschuld.

»Wir haben die Ratte extra für Gerhard gesucht und –«

»Der Heinz ist extra in den überwölbten Mühlbach geklettert.«

»Ja, und der Jörg hat mich am Seil halten müssen, sonst wäre ich am Ende ins Wasser gefallen, und er hat leuchten müssen, weil's so dunkel war.«

»Und das bissel riechen –«

»Wie kann man bloß so albern sein! So 'ne wundervolle Ratte, wie das war!«

Sprachen's und verzogen sich durch die Tür mit den Mienen gekränkter und verkannter Märtyrer.

Sie lachten noch alle, die anderen. Sie konnten nicht aufhören, bis sie alle ganz schwach waren.

Sylvia faßte sich zuerst.

»Arme Kerlchen,« sagte sie bedauernd. »Die haben heute Unglück mit ihren Überraschungen, und meinen's doch so gut.«

Und sie erzählte Gerhard von der verunglückten Grünzeugexpedition am Morgen.

Das erregte einen neuen Lachsturm.

Unten fuhr ein Wagen vor.

»Vater!« rief Gerhard, »da kommt Vater!«

Mit großen Sätzen sprang er die Treppe hinunter. Und wie die anderen langsam nachkamen, hörten sie schon die frohen erregten Stimmen von Vater und Sohn heraufschallen.

 

Die Osterglocken setzten ein mit vollem Klang. Ihre mächtigen Akkorde brausten über die Stadt hin und riefen in alle Herzen, die es hören und verstehen wollten, den hehren Ostergruß: »Christ ist erstanden!«

Christ ist erstanden, aufs neue erstanden für dich, für euch alle. Die Liebe ist wieder erstanden, die allerbarmende, allumfassende Liebe und öffnet dir ihre Arme: komm, komm herein, ich tröste dich, ich heile dich, ich mache dich gesund, ich hebe dich himmelwärts!

Und die Welt ersteht aufs neue in wunderbarer Frühlingspracht. Sie keimt, sie sproßt, sie treibt, sie blüht, öffnet ihr vereistes, erstarrtes Winterherz dem Licht, der Sonne, der Liebe, dem Leben.

Sollte sich das Menschenherz, und sei es noch so verarmt, verschließen gegen all die wieder erstehende Liebe und Pracht? –

Sinnenden Blicks stand Doktor Eriksen oben auf der Freitreppe seines Hauses. Er war zum Kirchgang gerüstet und wartete offenbar auf die, die ihn begleiten wollten.

Über den Bäumen des freien Platzes lag ein zarter, lichtgrüner Schein. Die Blattknospen sprengten eben ihre Hüllen.

»Der dritte Frühling ohne sie,« flüsterte Doktor Eriksen vor sich hin.

Da schob sich eine Hand in seinen Arm, und ein schmales braunes Gesicht lachte ihn an.

»Mein Grasmückchen! Mein Augentrost!« sagte er leise.

Sylvia schmiegte sich an ihn.

»Väterchen, Gerhard –«

»Ist ein Prachtmensch, Grasmückchen. Auf den können wir zwei beide stolz sein!«

Sie nickte, und ihre Augen leuchteten.

Da klang es aus dem Hause in allen Tonarten: »Mütterchen Sylvia!« »Sylve-Mütterchen!« »Sylvia!« »Sylphchen!«

»Da soll doch gleich –! Kann denn das Kind keinen Augenblick Ruhe haben?«

Doktor Eriksen war wirklich ärgerlich.

Sylvia strich ihm liebkosend mit der kleinen braunen Hand über die Brust, höher konnte sie nicht reichen.

»Bst – Väterchen! Wofür wäre ich Mütterchen Sylvia? – Gleich! Gleich!«

Das letztere galt den Rufenden.

Und wieder stand Doktor Eriksen allein und lauschte dem Klang der Osterglocken.

Und dann kamen sie alle, die Seinen.

Erst Gerhard und der Freund, dann Achim und Dieter, zuletzt Jörg und Heinz, an denen Sylvia im Gehen noch allerhand zurecht zupfte.

Liebevoll überflog Doktor Eriksens Blick seine fünf stattlichen blonden Jungen, um mit vertiefter Zärtlichkeit danach auf seinem einen braunen Mädel zu weilen.

»Und nun laßt uns Ostern feiern, Kinder, in erneuter Liebe!« sagte er tiefernst. »Grasmückchen kommt mit dem alten Vater.«

Leuchtenden Blicks trat Sylvia an seine Seite.

Eben wollten sie unter die lichtgrünen Bäume der Promenade einbiegen, da hielt sie ein jammerndes Stimmchen vom Hause her auf.

»Alf-Bübsen wollen auch mit. Alf-Bübsen sein auch Vater sein dleine Jung. Alf-Bübsen wollen nix allein bleiben.«

Sie sahen sich ganz erschreckt um.

Vom Hause her lief ihnen die drollige kleine Gestalt nach.

Alf-Bübchen war offenbar den Händen von Lene oder Anna entwischt, als sie eben dabei waren, seinen Anzug zu vollenden.

Mitten in der Arbeit mußte Alf-Bübchen durchgebrannt sein.

Das Blusenkittelchen hing noch von den Schultern nieder. Die beiden kleinen Fäuste hielten die Röckchen gepackt – die Attribute des Mannes, die Beinkleider, waren Alf-Bübchen noch fremd – die Röckchen waren offenbar noch nicht befestigt. Ein Fuß steckte erst im Schuh, der andere zeigte ein bis zum Knöchel herabgerutschtes Strümpfchen. Die goldenen Locken hingen wirr in das jammervoll verzogene kleine Gesicht.

»Alf-Bübsen wollen auch mit in die Kirche!«

»Alf-Bübchen!!!«

Schreck, Überraschung, Vorwurf, gewaltsam unterdrückte Heiterkeit, Lust am Schabernack, alles klang in dem Ausruf je nach der Person dessen, dem er vom Munde kam.

Sylvia wollte auf Alf-Bübchen zueilen, eine feste Hand hielt sie zurück.

Da war Alf-Bübchen auch schon heran und umklammerte sie.

»Mütterchen Sylvia, Alf-Bübsen mitnehmen.«

»Was soll das heißen, Alf-Bübchen?«

Vaters Stimme klang sehr ernst.

Ungewiß sah ihn der kleine Mann an.

»Alf-Bübsen –« begann er, und dann schluchzte er bitterlich auf.

Sylvia legte wie schützend die Arme um ihn. Sie wollte ihn eben hoch heben.

»Ich trage ihn –«

»Nichts da!« schnitt ihr der Vater sehr bestimmt das Wort ab. »Alf-Bübchen wird ganz brav allein zurückgehen, wie er allein gekommen ist. Alf-Bübchen ist noch nicht alt genug für die Kirche, aber alt genug, zu wissen, was er darf und nicht darf. Vorwärts, Alf-Bübchen, sei Vaters braver, tapferer Junge!«

Alf-Bübchen schluchzte erst noch einmal auf. Dann warf er das blonde Köpfchen zurück, und wortlos, ohne weiteren Laut, trottete der kleine Mann dem Hause zu.

Lene erschien mit allen Zeichen des Entsetzens in der offenen Tür. Sie eilte die Stufen herab und wollte Alf-Bübchen in die Arme nehmen. Der schlüpfte darunter durch und wies Lene mit fast stolzer Gebärde zurück. Dann faßte er die Röckchen fester, trippelte, immer einen Fuß nachziehend, die Stufen hinauf und – war verschwunden.

Die großen Brüder ergingen sich in Ausrufen begeisterter Bewunderung.

»So 'n tapferer kleiner Kerl!«

»Prachtbengel!«

»Staatsbursch!«

»So 'n Hemdenmatz!«

»Der Krabauter!«

Sylvia sagte nichts. Ihre Augen standen voll Tränen.

Vater beugte sich zu ihr nieder.

»Tränen, Grasmückchen?«

»Du warst hart, Vaterherz.«

»War ich's? Härte am rechten Platz ist die größte Milde, die ein Vater seinem Kind erweist, Grasmückchen; glaub' mir.«

Sie sah ihn an, und mit raschem Griff hob sie seine Hand und schmiegte ihr Gesicht dagegen.

»Vaterherz!«

»Mein Grasmückchen!«

Wolf Brandt hatte nichts gesagt bis jetzt. Er schritt an Sylvias anderer Seite.

Jetzt sah er Doktor Eriksen an und winkte nach dem Hause hin, wo Alf-Bübchen verschwunden war.

»Vorzügliches Material, Herr Doktor. Famoser kleiner Kerl. Werden sicherlich noch Freude an ihm haben.«

»Gott geb's,« sagte Doktor Eriksen, mit dem Kopf nickend.

Sylvia aber lohnte des Bruders Freund mit einem ihrer leuchtenden Blicke. Und danach gingen sie, wohin der immer festlichere Hall der Glocken sie rief, und feierten das Fest der neuerstandenen Liebe.

 

Doktor Eriksen hatte, wie es in alter Zeit und in alten Bürgerfamilien Sitte war, einen großen Garten außerhalb der Stadt.

Er war ihm von seiner Frau noch aus Kamphausenscher Zeit her überkommen und war ihm von Altchen, der Frau Rat, mit allen Rechten abgetreten worden.

Dieser Garten nun war das Kinderparadies der großen und der kleinen Eriksen.

Jede Kinderfreude fast, deren sie sich entsannen, war mit dem alten Garten verknüpft.

Der lag ziemlich außerhalb der Stadt auf einer Anhöhe, von wo man den herrlichsten Rundblick genoß.

Inmitten dieses Gartens befand sich, von alten Kastanien beschattet, ein kleines Häuschen: zwei Zimmer und Küche im Erdgeschoß, eine Mansarde und eine Kammer oben.

Wie oft hatte die Familie für Wochen hier gehaust, wie viele Rekonvaleszenzen nach Kinderkrankheiten waren hier abgemacht worden.

Jeder Winkel im Garten, jeder Busch, jeder Baum hatte seine Geschichte.

Diese Bank war Mütterchens Lieblingsplatz gewesen. Jener Baum trug Vaters Lieblingsäpfel. Unter dem Busch lag Sylvias Kanarienvogel, ihr Herzblatt aus der Backfischzeit, verscharrt. Dort war Gerhards »Wasseranlage«, einst ein stolzer Springbrunnen, jetzt ein übelduftender Tümpel mit leckem Wasserfaß. Die windschiefe Laube mit den schmalen unbequemen Tischen und Bänken hatten Achim und Dieter gezimmert und » Buen Retiro« getauft. Von dem einen Baum war Jörg beim Klettern gefallen, dem andern hatte Heinz beim Besteigen die Krone zur Hälfte geknickt. Wirklich, wohin man sah, jedes Eckchen erzählte eine Geschichte!

Hinter dem Gartenhaus lagen die Gemüsefelder, die Beerenbüsche. Vorn war der Gras- und Obstgarten von schnurgeraden Wegen durchzogen, die mit von Buchs eingefaßten Blumenrabatten zu beiden Seiten besäumt waren. Auf diesen Rabatten nun wucherte und blühte, was die Jahreszeit eben an ausdauernden, altmodischen Blumen mit sich brachte.

Dazwischen standen Riesenrosenbüsche, die alten, guten Zentifolien mit dem echten alten Rosengeruch.

Das Ganze war mehr oder weniger eine Wildnis, aber eine grünende, blühende, duftende, farbenfrohe Wildnis, die Auge und Herz erquickte.

In diesem Paradies nun sollte heute Ostern gefeiert werden, sollte »der Hase legen«, wie Jörg und Heinz mit viel Phantasie und Wortschwall Alf-Bübchen erläuterten.

»– Und da setzest du dich hinter den Busch, Alf-Bübchen, ganz leise. Und wenn dann der Hase kommt, schwups – haust du ihm eins tüchtig auf den Pelz und –«

»Alf-Bübsen nix Pelz hauen, arme Hase,« versicherte Alf-Bübchen ernsthaft. »Alf-Bübsen arm dlein Häschen streicheln und sagen: bitte, bitte und –«

»Probier's!«

»So probier's doch, wenn du's besser weißt, Krabauter!«

Jörg und Heinz taten ganz höhnisch. Seine Autorität hat keiner gern angezweifelt. –

Sylvia war mit Trude vorausgegangen.

Holles waren zur Osterfeier draußen im Garten geladen und wollten mit Freuden alle teilnehmen.

Sylvia und Trude sollten die Eier und was es sonst Buntes und Süßes gab, das dem »Hasen« aufs Konto geschrieben wird, verstecken.

Lene hatte schon Tags zuvor den vollgepackten Korb hergetragen.

Im Häuschen am kleinen Herd der Küche hantierte Lene.

Es sollte hier draußen Kaffee und Osterkuchen geben. Der Tisch stand bereits festlich gedeckt.

Sylvia hatte ihn mit Schneeglöckchen, Primeln, Krokus, Veilchen und allen den Frühlingsblüten ganz überstreut.

Draußen standen sie in Mengen und reckten die kleinen Köpfchen stolz der Sonne entgegen, die sie wachgeküßt hatte.

Sylvia und Trude waren fertig mit ihrer Arbeit, die sie unter Lachen und Scherzen vollbracht hatten. Das letzte Ei war in einem vollblühenden Schneeglöckchenbusch verschwunden.

»Finden tun wir's ja im Leben nicht wieder,« meinte Trude.

»Du kennst Jörg und Heinz nicht,« sagte Sylvia lachend. »Selbst Achim und Dieter sind immer noch feine Spürhunde in der Beziehung. Laß die nur sorgen.«

Trude lachte.

»Und Gerhard?«

Sylvia wurde warm.

»Du, Trude, Gerhard – nun du wirst ja sehen!«

Trude sagte nichts.

Sie warf sich auf den Rasen nieder und barg das Gesicht in einem von Blüten fast blauen Veilchenbusch.

»Kleine blaue Frühlingsaugen,« sagte sie und sog den Duft ein. »Wer sagt das, Sylvia?

»Heine, wenn ich nicht irre.«

»Richtig.«

»Mir kommen die kleinen Frühlingsblumen eher noch wie Dankopfer vor. Jede kleinste Blüte, der sichtlich zu Tag tretende Ausdruck innigster, reinster Dankbarkeit, die die Erde dem Schöpfer all der Pracht und Herrlichkeit entgegenbringt.«

Sylvia sagte es sinnend.

Trude nickte.

»Auch ein hübsches Bild. Solltest's in Verse bringen.«

»Das lass ich Achim, Trude,« war Sylvias lachende Antwort. »Übrigens, da sind sie!«

»Ich kann nichts hören,« meinte Trude.

Aber Sylvia hatte recht. Ihr Ohr war mit den Lauten vertrauter.

Jetzt konnte es auch Trude hören. Vorläufig freilich nur gellende Töne wie von Knabenstimmen in der Fistel.

»Jörg und Heinz!« sagte Sylvia vor sich hin lächelnd.

Und da tauchten sie auch schon auf, im Galopp, eine halbe Meile vor den anderen voraus.

Die beiden Knaben nahmen sich nicht erst die Mühe, das Türchen in der lebenden Hecke zu öffnen. Mit gelenkigem Satz waren sie drüben, überschlugen und überpurzelten sich, rafften sich auf, packten sich gegenseitig, rangen, rissen sich los und stürzten gleichzeitig auf einen Busch zu. »Ich hab's zuerst gesehen!« – »Nein, ich!« Wieder packen, ringen, losreißen, hintereinander herjagen! Wie der Wind waren sie hinter dem Häuschen verschwunden. Trude stand sprachlos und sah ihnen ganz verdutzt nach. Es hatte sich alles so schnell abgespielt, daß sie kaum Atem hatte schöpfen können. Wie hilfesuchend blickte sie Sylvia an.

Die lachte. »Ja, Trude, so sind die Jungen!«

»Dem Himmel sei Dank!« seufzte Trude, und es blieb zweifelhaft, wofür sie ihm dankte. Dafür daß die Jungen so waren, oder dafür, daß sie, Trude, kein Junge war und keine sechs solcher Jungen zu Brüdern hatte.

Die Ankunft der anderen schnitt eine weitere Erläuterung ab.

Sylvia mußte schnell zuerst einmal Altchen umarmen, die von Anna und August in ihrem Fahrstuhl herangerollt wurde.

Es war eine Überraschung für Sylvia, die der Vater und Altchen ganz heimlich geplant hatten.

»Altchen, du hier!« jauchzte Sylvia.

»Nettes Frühlingsblümchen, das sich da an die Sonne wagt, was, Kind?« scherzte Altchen.

»Mein Jelängerjelieber!« sagte Sylvia innig.

»Wie Gott will, Kind!«

Die Greisin strich Sylvia liebevoll über den braunen Scheitel.

Dann begrüßte Sylvia Trudes Eltern. – »Hat der Hase mich auch bedacht, Sylphchen?«

Der Herr Professor sagte es. Er stand auf sehr gutem Fuß mit seiner kleinen Nachbarin.

»Wollen sehen, Herr Professor,« erwiderte Sylvia lachend. »Aufgetragen ist's ihm worden, aber er schien mir noch ein echter Springinsfeld. Jugend hat keine Tugend, Vater Holle!«

Sylvias Gesicht lachte ihn schelmisch verschmitzt an.

»Das weiß der Himmel! Merk's an meinen Bengeln.«

Das war ein Stichwort für Doktor Eriksen. Bei »Bengeln« sah er sich um. »Wo sind Jörg und Heinz?«

»Raufen dahinten,« sagte Trude lakonisch.

Eilig verschwand Dieter. Er versah stets den selbstgewählten Posten des Polizeiaufsehers bei Jörg und Heinz.

Gerhard war zu Trude herangetreten und begrüßte sie sehr warm. Sie nannten sich von den Kindertagen her »Du«, sie waren ja zusammen aufgewachsen. Gerhard war immer Trudes spezieller Ritter gewesen. Damals schon und heute noch.

»Trude!«

»Gerhard!«

»Du bist wohl noch hübscher geworden?«

»Unsinn! Aber du noch länger. Der reine Riese!«

»Und, ha, ha, Trude, 'nen Schnurrbart hat er!«

»Das heißt, es will erst einer werden! Ha, ha!«

Gerhard schlug nach Jörg und Heinz, die unter Dieters Obhut wieder herangetrollt waren.

»Gesindel! Wollt ihr wohl!«

Dann wurde der Freund Trude vorgestellt.

»Wolf Brandt, mein bester Freund,« sagte Gerhard. »Fräulein Gertrud Holle, meine Freundin noch von der Kinderzeit her.«

Trude lachte schelmisch.

»Habe also noch den Vorrang vor Ihnen, Herr Brandt!«

Der neigte sich schweigend.

»Nun aber,« rief Sylvia, »suchen wir, was Häslein versteckt hat im Garten, dann geht's zum Kaffee!«

Alle waren einverstanden.

Trude nahm Alf-Bübchen bei der Hand.

»Trude und Alf-Bübchen suchen zusammen?«

Der kleine Mann befreite sich sehr ernsthaft von der ihn fassenden Hand.

»Alf-Bübsen sein lieber allein,« sagte er ganz feierlich.

Alle, die's hörten, lachten.

»Vom Mädchen reißt sich stolz der Knabe,« zitierte Gerhard lachend. »So 'n unhöflicher, kleiner Knirps. Erlaube, Trude, daß der große Bruder gut macht, was der kleine fehlte. Nimm mich als Ersatz.«

»Muß ich mir erst überlegen,« sagte Trudes Mund, aber das Auge blickte anders.

Und dann ging's an ein fröhliches Suchen.

Selbst Vater Holle verschmähte nicht, nach »Häsleins« Spuren auszuschauen.

Ja, Altchen ließ sich auf ihrem Fahrstuhl langsam, langsam den Weg entlang rollen, und ihr liebes, sanftes, braunes Auge forschte achtsam nach allen Seiten.

Jörg und Heinz spürten alles bewundernswert auf. Im dichtesten Busch, im Spalier, auf Baumstämmen, wo irgend sich etwas barg, nichts war vor ihnen sicher.

Und doch war ihr gesammelter Vorrat bis jetzt nur gering.

Da stets einer hinter dem andern her war, entdeckten sie auch meistens alles gleichzeitig, stürzten drauf los, und ehe der Zank ausgefochten war, wer der erste gewesen sei, hatte ein anderer mit kühnem Griff das Streitobjekt entfernt.

Der andere war Dieter.

Schmunzelnd verfolgte er seine einträgliche Taktik, und schmunzelnd lieferte er danach an der Sammelstelle seinen Riesenvorrat ab.

»Dieter, du bist ja großartig im Aufspüren,« sagte Sylvia.

»Bitte,« berichtigte Dieter lakonisch, »ich nahm nur, worum Jörg und Heinz sich balgten.«

»Bravo,« sagte Professor Holle. »Eine weise Lebensregel!«

Man lachte. Jörg und Heinz hingen die Köpfe.

»Merkt's euch,« sagte der Vater gut gelaunt. »Wo zwei sich raufen, ist allemal der dritte im Vorteil! Und nun, Grasmückchen, ausgeteilt!«

Sylvia überflog mit raschem Blick die Zahl ihrer Lieben.

»Wir sind noch nicht alle beisammen. Gerhard und Trude fehlen und – wo ist Alf-Bübchen?«

Eben bogen Gerhard und Trude um die Ecke.

»Habt ihr Alf-Bübchen gesehen?« rief ihnen Sylvia zu.

»Nein. Fehlt er?«

»Alf-Bübchen, Alf-Bübchen!« klang da schon Sylvias Ruf durch den Garten.

Keine Antwort.

Der Vater trat zu Sylvia heran. Er hatte den Schreckensblick in ihren Augen gesehen.

»Ruhe, Kind, nur Ruhe!«

»Alf-Bübchen!« schallte jetzt seine Stimme.

Wieder keine Antwort.

Schon waren alle in Bewegung, hinter dem kleinen Mann her. Wo konnte er stecken?

Da klang Jörgs und Heinz' Triumphgeheul.

Alle stürzten hinzu.

In einem dichten Busch, der eben anfing, sich zu belauben, steckte ein großer, weißer Knäuel.

Alf-Bübchen, das da kniete und den Rock des weißen Flanellkleidchens dicht über den blonden Kopf gezogen hatte. Vom kleinen Mann selbst war nichts zu sehen.

»Alf-Bübchen!«

Sylvia kniete vor dem Busch und suchte den Kleinen herauszuziehen.

Der setzte energischen Widerstand entgegen.

»Alf-Bübsen wollen nix raustommen.«

Das Stimmchen klang ganz weinerlich.

»Aber weshalb denn, Alf-Bübchen? Komm doch nur. Sieh mal, was Häslein alles gelegt hat. Wir wollen austeilen.«

»Alf-Bübsen wollen nix haben.«

»Sei klug, Alf-Bübchen, komm heraus,« bat Sylvia.

»Alf-Bübsen sein vieler zu dräßlich droße Sweinigel.«

Jetzt weinte Alf-Bübchen bitterlich.

Schon hatte der Vater mit festem Griff den Kleinen aus dem Busch gehoben und auf die Füße gestellt.

»So, Alf-Bübchen, und nun laß sehen!«

Der Kleine ließ das Röckchen fallen und bedeckte mit den Fingerknöcheln die Augen.

Eine Lachsalve begrüßte, was man nun sah.

Gesicht, Hände und die ganze Vorderseite des kleinen Mannes waren mit Eigelb beschmiert.

Offenbar hatte er probiert, die Flecken fortzuwischen und hatte sie dadurch nur schlimmer gemacht.

Er weinte laut auf.

»Böse Häslein haben danz smutzige Ei delegt. Alf-Bübsen bloß bissel dran depickt und da sein Smutz raustommen. Alf-Bübsen wollen dar nix haben von Häslein.«

Sylvia lachte.

»Laß gut sein, Alf-Bübchen, Sylve-Mütterchen macht alles wieder sauber.«

»Er muß ein weiches Ei erwischt haben,« sagte Mutter Holle. »Ist wohl aus Versehen eins ungekocht geblieben. Armer kleiner Kerl.«

Alle lachten über Alf-Bübchens Mißgeschick.

Sylvia säuberte den kleinen Mann, so gut es gehen wollte.

Dann endlich wurden die Vorräte verteilt, und Lene rief zum Kaffee.

Der Osterkuchen war vortrefflich geraten und schmeckte allen herrlich, den Vorräten nach zu urteilen, die verschwanden.

Danach saßen die beiden älteren Herren und rauchten ihre Zigarre.

Altchen und »Mutter Holle« plauderten zusammen von alten Zeiten. Die Jungen schwärmten im Garten umher.

Gerhard ging mit Trude, Wolf Brandt mit Sylvia. Achim und Dieter miteinander.

Jörg und Heinz machten samt Alf-Bübchen Jagd auf etwas Vergessenes. Sie rauften, wenn sie etwas fanden, und Alf-Bübchen verzehrte derweil den Fund.

Vaters Mahnung von zuvor, vom Vorteil des dritten, hatte sie noch nicht klug gemacht.

Dann hatte Alf-Bübchen genug; er lief davon, schob sein Händchen in Mütterchen Sylvias Hand und ließ die beiden allein weiter raufen.

Sylvia faßte die kleine Hand fest, kümmerte sich aber weiter nicht um den kleinen Burschen. Wolf Brandt erzählte gar zu Interessantes.

Er sprach von seinen Studien, seinen Plänen.

»Wenn ich das Examen hinter mir habe,« sagte er, »dann denke ich zuerst noch irgendwohin ins Ausland zu gehen, ehe ich mich im Amte vergrabe. Vielleicht bekomme ich einen Posten als Reisebegleiter. Wer wie ich so in der Enge aufgewachsen ist, den zieht es doppelt in die Weite, glaube ich. Sie wissen, daß ich sehr einfacher Leute Kind bin, Fräulein Sylvia?«

»Ich weiß, Herr Brandt, ich weiß,« nickte Sylvia. »Ihre Eltern müssen prächtige Menschen sein.«

»Das sind sie, Fräulein Sylvia, das sind sie. Gott segne sie. Darben sich am Munde ab, um dem Sohn die Erfüllung des Herzenswunsches zu ermöglichen. Mein Mütterchen sollten Sie kennen. So schlicht und so gut. Mein einziges Gebet ist, daß ich den Eltern vergelten kann, was sie an mir getan haben.«

Sylvia sah leuchtenden Blicks zu ihm auf.

»Das werden Sie, davon bin ich überzeugt.«

»Mutter hätte gerne gewollt, daß ich Geistlicher werde. Mich zog's zur Lehrertätigkeit. Jetzt ist sie ganz damit ausgesöhnt. ›Da hilfst du auch, die Menschen besser machen,‹ sagte sie, ›da kann unser Herrgott ja auch seine Freude dran haben.‹ Liebe gute Mutter!«

»Alf-Bübsen sein auch noch da,« ließ sich ein kleines, weinerliches Stimmchen vernehmen, »Alf-Bübsen wollen auch mitsprechen. Alf-Bübsen sein so dräßlich langweilig.«

»Na, dann komm, Alf-Bübchen, dann fang mich mal!«

Wolf Brandt machte große Schritte.

Alf-Bübchen war schnell hinterher und faßte seine langen Beine.

»Mich haben dich fangen!«

»Sapperlot, bist du aber flink!«

Alf-Bübchen lachte wie ein Kobold.

.

»Jetzt, Sylve-Mütterchen, dich fangen!«

»Fang du mich lieber!« Sylvia flog dahin, Alf-Bübchen vor Wonne krähend hinterher.

Das war das Signal zu einem allgemeinen Wettlauf.

Gerhard und Trude, Achim und Dieter, Jörg und Heinz, alle setzten hinter Sylvia und Alf-Bübchen her.

Ein lustiges Hallo.

»Laß uns Hasch-hasch spielen!«

»Nein, Räuber und Gendarm!«

»Nein, wilder Mann!«

»Nein, Verstecken!«

So klang's hin und her.

Man einigte sich auf Hasch-hasch.

Alle paarten sich, Alf-Bübchen blieb übrig.

Schon wollte sich das kleine Gesicht zum Weinen verziehen, da sagte Sylvia: »Alf-Bübchen ist der Haschemann.«

Da kam sich Alf-Bübchen sehr wichtig vor.

Er patschte in die Händchen.

»Haß-haß!«

Gerhard lief mit Trude.

Alf-Bübchen strampelte jauchzend hinter Trude her.

»Wart, Bruderherz, willst du mir meine lange nicht mehr gesehene Freundin weghaschen?«

Mit zwei Schritten war Gerhard zur Stelle und faßte Trude, als eben Alf-Bübchen ihr Kleid greifen wollte.

»Trude sein mein, Derhard!«

»I wo, sein mein!« lachte der. »Trude muß wählen! Er oder ich?«

»Er!« lachte Trude und warf Gerhard einen schalkhaften Blick zu. »Er, natürlich!«

Sie reichte Alf-Bübchen die Hand.

Alf-Bübchen krähte vor Wonne.

Gerhard tat sehr zerknirscht.

»Dann muß ich freilich verzichten!«

Alf-Bübchens weiches Herz schmolz.

»Du nicht zisten, Derhard. Da, du Trude haben.«

»Na nu, ich bin doch keine Puppe, die man nach Belieben verschenkt!« Trude tat sehr beleidigt. »Hierher, Alf-Bübchen, du bist mein Ritter!«

Gerhard war nun Haschemann.

Er haschte Sylvia.

»Ich muß auch eine Dame haben!«

»Wolf, du bist dran!«

So ging das Spiel weiter.

Dann kam »Dritter Mann« an die Reihe, dann Nachlaufen, dann Verstecken.

Und nun ging man zu Mutters Lieblingsplatz, der Bank unter dem etwas erhöht stehenden Apfelbaum. Gerhard hatte den Arm um Sylvia geschlungen und sie neben sich auf die Bank gezogen.

»Mütterchen Sylvia,« sagte er leise und warm, »sie muß ihre Freude an uns haben, wenn sie von oben heruntersieht.«

»Meinst du?« Sylvias Augen standen voll Tränen.

»Mütterchen Sylvia,« sagte er noch einmal leise.

Achim und Dieter traten herzu.

»Weißt du, Sylve-Mütterchen, wir sind ganz eifersüchtig. Wenn Gerhard da ist, hast du keinen Blick für uns.«

Achim setzte sich an Sylvias andere Seite und Dieter umfaßte sie von hinten.

»Wir auch, wir auch!«

Jörg und Heinz stürmten herzu und balgten sich zu Sylvias Füßen. Jeder wollte ihr der Nächste sein.

»Alf-Bübsen auch!« krähte der Kleine. »Alf-Bübsen müssen Sylve-Müttersens Soß tlettern!«

Und über die raufenden Brüder weg kletterte Alf-Bübchen auf Sylvias Schoß.

Jörg und Heinz umfaßten jeder ein Knie der Schwester.

»Schade, daß ich meinen Apparat nicht da habe,« meinte Trude neckend, »es gäbe ein herrliches Bild: Sylvia mit ihren sechs Jungen.«

»Das gäbe es!«

Wolf Brandt war ganz begeistert.

»Wenn du hübsch bittest, Wolf, und dich gut beträgst, dann nimmt dich Sylvia gewiß für die Dauer deines Hierseins als siebenten Jungen an,« lachte Gerhard, »was, Sylvia?«

Sylvia konnte nur nicken, sie hatte so viel zu tun, sich all der ihr zuteil werdenden Liebesbeweise zu erwehren.

Es wurde kühler. Sylvia fürchtete für Altchen und Alf-Bübchen. Sie mahnte daher zum Aufbruch, stieß jedoch bei den anderen auf allgemeinen Widerstand.

Aber da rief auch schon der Vater: »Kinder, es ist Zeit!«

Da gab's keine Gegenrede mehr.

»Sylvia, darf ich mir noch ein paar Blumen mit heim nehmen?«

»Aber soviel du willst, Trude, Gerhard und die andern helfen sicher gern pflücken.«

Da fielen sie über die Blümlein her, und Trude mußte nur wehren, sonst hätten sie alles kahl gerupft.

Und dann kehrten sie heim.

Der Blick von der Höhe, auf der der Garten lag, über die Stadt hin war herrlich. Ein zartgrüner Hauch lag über dem Walde, den die sinkende Sonne mit ihren scheidenden Strahlen vergoldete.

Ehe man sich trennte, verabredete die Jugend einen großen Gang für den folgenden Tag.

»Sylphchen, hast du gehört, wir wollen morgen nach dem Waldschloß. Essen wird mitgenommen und dort Mittag gemacht. Trude ist mit von der Partie. Es ist dir doch recht?«

»Sicherlich, Gerhard. Ich freue mich für euch. Mitgehen kann ich aber nicht. Es gibt zu vielerlei morgen.«

»Ostermontag?«

»Eben. Anna und Lene müssen einmal frei haben. Wer sorgt dann für Altchen und Alf-Bübchen?«

Doktor Eriksen hatte zugehört, obgleich Sylvia bemüht war, die Sache mit Gerhard allein abzumachen.

»Nichts da, Grasmückchen, du gehst auf alle Fälle mit. Wir daheim werden schon fertig. Ich habe ja eben eine sehr stille Zeit und kann selbst zum Rechten sehen.«

»Nur Pflichten und gar keine Erholung taugen auch nichts, Sylphchen,« meinte Professor Holle gutmütig.

»Ich komme am Nachmittag zu meiner lieben Frau Rat, und wir beide mit Alf-Bübchen vermissen dich dann gar nicht, Kind.«

»Danke, liebe Mutter Holle!«

Sylvia war doch sehr glücklich über die Möglichkeit, an der Partie teilnehmen zu können.

In ihrem Hausfrauensinn lag der Plan für das mitzunehmende Mittagessen schon fix und fertig bereit.

Lene hatte ihn nur zu genehmigen. Lene hielt eifersüchtig darauf, daß sie um Rat gefragt würde. Ein Glück, daß Lene zur Hand war. »Was meinst du, Lene, wenn wir den Schinken –?«

»Nix da, Sylphche, den hätte die auf einmal klein. Nein, mir hole Wurscht, und ich koch Eier, und Braten is auch noch da. Mit Schinke kammer so Freßsäck nit satt fittern. Du kannst iwrigens ganz ruhig gehe, ich bleib derheim.«

»Du sollst aber nicht, Lene, du hast dich doch so gefreut mit deinem Bruder –«

»Mein Bruder kann bei mir bleiwe. Mir setze uns in Garte und da kann er sein' Peif rauche, und mir schwätze zusamme. Des is for alte Leit noch besser als so e Erumgeleif.«

»Gute Lene!«

Sylvia war ganz gerührt.

»Ach was, Kindche, du bist doch auch noch jung und sollst mit de Junge vergnigt sein.«

Sehr vergnügt nickte Sylvia ihr zu und flog zu Altchen, die eben nach ihr rief.

Und dann war man daheim.

Holles nahmen Abschied von der übrigen Gesellschaft.

»Um acht Uhr also, Trudchen! Wollen sehen, ob du fertig bist!«

»Na nu, Gerhard, solch ein Murmeltier bin ich denn doch nicht, ich –«

Hier räusperte sich Professor Holle sehr nachdrücklich. Trude wurde rot.

»Um acht Uhr kann ich doch fertig sein, Väterchen.«

»Du kannst – daran zweifle ich nicht, aber –«

»Drum also,« fiel ihm Trude flink und ein bißchen verlegen ins Wort. »Also um acht Uhr! Sammelplatz: an der Kastanie dort. Bedingungen: Mittagbrot und gute Laune mitbringen!«

»Feste Stiebeln,« meinte Dieter lakonisch und sah etwas anzüglich aus Trudes zierliche Lackschuhe.

»Bravo,« sagte Vater Holle. Und sie trennten sich.

Anderen Morgens, Schlag acht Uhr, sah die alte Kastanie auf der Promenade ein munteres Treiben unter ihrem Geäste.

Frohe, junge Gesichter lachten sich an, frohe, junge Stimmen begrüßten sich.

»Die Trude, wahrhaftig die Trude.«

»Guck mal einer, die Trude!«

»Schon seit einer halben Stunde stehe ich hier und warte.« Trude war sehr stolz. Im Riemen mit Handgriff verschnürt trug sie ein kleines Paket. »Mein Mittagbrot!«

»Nehme ich!« Galant griff Gerhard danach. Achim und Dieter, Jörg und Heinz trugen alle vier vielversprechend vollgepackte Rucksäcke aufgeschnallt.

Alle waren zur Stelle, nur Sylvia fehlte noch.

»Daß ich noch vor Sylvia da bin!« jubelte Trude.

»Kunststück!«

»Wenn man nur für sich allein zu sorgen hat!«

»Sylvia war lang vor dir auf!«

»Um sechs Uhr hab' ich sie schon gehört!«

»Nein, um halb sechs!«

»Das machst du ihr nicht nach!«

»Du nicht!«

Jörg und Heinz, ja Achim und Dieter wurden fast unhöflich in der Verteidigung der Schwester.

Wolf Brandt lächelte vor sich hin. Trude zog das Näschen kraus. Gerhard legte sich ins Mittel: »Immer hübsch höflich, Bengels! Dort kommt übrigens das Sylphchen.« Oben an der Freitreppe des elterlichen Hauses sah man Sylvia Abschied vom Vater nehmen. Dann kam sie wirklich wie ein Sylphchen dahergeeilt, so leichtfüßig und so flink.

Das dunkelrote Jackenkleid mit der bauschigen weißen Bluse darunter blähte sich im Frühjahrswind. Die braunen Augen strahlten und leuchteten.

»Da bin ich, verzeiht, Väterchen wollte noch etwas wissen. Dann mußte ich Altchen noch wag sagen und Lene noch was aufs Herz binden. Alf-Bübchen mußte noch geküßt werden, und der August –«

Jörg und Heinz platzten los.

»Mußte der auch geküßt werden? Ha, ha, ha!«

»Naseweise! Tag, Trudelchen, also da bist du ja richtig. Gelt, wie schön die Sonne Morgens scheint? Uff, und nun laßt uns gehen!«

Da schritten sie hin, die jungfrischen Leutchen in die jungfrische Welt hinein.

Die Sonne tat ihr möglichstes, ihrerseits den Tag zu verherrlichen. Sie strahlte so jugendlich warm und golden vom Himmel nieder, als ob sie nicht schon ihre etlichen tausend Jährchen auf dem Buckel habe.

Ja, ja, Frau Sonne, die Ewigjunge, nimmt's noch auf mit den jüngsten Menschlein da unten auf der alten Erde.

Und da waren sie am Walde angelangt.

Auch hier wollte alles jung und neu werden. Der feinste Halm, das zarteste Möslein, der knorrigste Baum, der struppigste Busch.

Überall lugten kleine, wunderfeine grüne Spitzchen vor, überall schwollen die Knospen und sprengten die Hülle.

Alles noch unfertig, aber alles so vielversprechend, gerade wie die jugendlichen Menschenkinder, die, selbst noch Werdendes, durch das Werdende hinschritten.

»Waldmeister! Waldmeister!«

Jörg und Heinz wälzten sich schon am Boden und rauften drum, wer pflücken dürfe.

»Ich hab's zuerst gesehen!«

»Nein, ich!«

»Jungen, ihr drückt uns ja all die buttergestrichenen Brote platt!«

Dieter zog die beiden vom Boden auf.

»Wollt ihr wohl! Heute seid ihr keine Privatleute, sondern steht im Dienst der Allgemeinheit. Hier wird nicht gerauft, sondern an die Rucksäcke gedacht!«

Jörg und Heinz maulten etwas, aber sie trollten doch ihres Weges.

»Waldmeister nehmen wir auf dem Rückweg mit, und dann gibt's heute abend oder morgen eine Bowle,« tröstete Sylvia.

Der Weg zog sich nun bergan immer über neue Kuppen.

Die Ausblicke in die weite, von einem großen Fluß durchquerte Ebene waren herrlich.

Die frische, noch etwas frühjahrlich herbe Luft machte das Gehen leicht.

Trude war heute sehr munter. Trude war immer munter, wenn sie mit Sylvia zusammen war. Daheim war sie oft recht launisch, ein verwöhntes, einziges Kind, das gewohnt war, sich als den Mittelpunkt jeglichen Vorkommnisses zu betrachten.

Der frische, selbstlose Zug, der von Sylvia ausging, hob sie sozusagen über sich selbst.

Gerhard und Trude hatten immer sehr gut zusammen gestanden, schon als Kinder.

Diese Kinderfreundschaft hatte bei Gerhard mit der Zeit einen wärmeren Charakter angenommen. Er war eine tiefer angelegte stille Natur.

Trude dagegen hatte etwas vom leichten Schmetterling an sich, der das Schöne und Angenehme nimmt, wo er's just findet.

»Mütterchen Sylvia« wußte das wohl, und der Gedanke an Gerhard und seine offenbare Vorliebe für Trude hatte sie schon hie und da mit leiser Sorge erfüllt.

Heute aber freute auch sie sich nur des Augenblicks, die Sonne schien so golden; Sylvia war so jung, und das Leben so schön.

»Es tut förmlich wohl, Sie auch einmal unbeschäftigt zu sehen, Fräulein Sylvia,« sagte Wolf Brandt.

Sylvia wurde ein klein wenig rot.

»Weshalb? Wie unpädagogisch für einen angehenden Schulmann.«

»Im Gegenteil. Der beste Pädagoge ist der, der weiß, daß Erholung zur Arbeit gehört, wie das Licht zum Schatten etwa.«

»Sylve-Mütterchen ist am frohesten, wenn wir ihr einen tüchtigen Flickkorb voll liefern,« meinte Heinz neckend.

»Ja, dann singt sie am lautesten!« bestätigte Jörg.

»Solche Bengel!«

Dieter hatte die beiden schon am Ohrläppchen.

»Deshalb tut ihr wohl im Zerreißen so gründlich eure Schuldigkeit, was?«

Auch Achim war ganz empört.

»Na, ihr zwei –«

»Ihr zwei seid auch nicht blöde!«

Jörg und Heinz liefen, was sie die Füße tragen konnten. Achim und Dieter setzten mit Hallo hinterher.

»Nette Gesellschaft!« rief lachend Wolf Brandt.

»Ach, und sie haben so recht, die Kerlchen, ich bin froh, wenn ich was für sie tun kann,« sagte Sylvia ganz weich. »Das Singen beim Flicken freilich, mit dem flunkert man sich gewissermaßen selber was vor,« setzte sie noch zutraulich bei. »Wenn hier ein Dreieck in der Hose klafft und dort ein Riesenloch im Strumpf, ist's mir nicht immer nach Singen.«

»Glaub' ich gerne!« meinte Wolf Brandt.

»Puh!« Trude rümpfte das Näschen. »Ich ginge durch!«

»Wohin?« rief lachend Gerhard.

»Irgend wohin. Wo's keine Strümpfe zu sticken gibt und keine Löcher auszubessern.«

»Auszubessern gibt's überall, Trude,« meinte Gerhard. »Da ist ein Loch im Strumpf noch nicht der schlimmste Schaden!«

»Meinethalben, wenn ich's bloß nicht zu tun habe.«

Jörg und Heinz waren mittlerweile wieder herangetrollt.

Die kleine Auseinandersetzung mit Achim und Dieter war durch einige Knüffe und Püffe beglichen worden.

»Nee, dein Mann möchte ich mal nicht sein,« grinste Heinz.

»Der kann auf zerrissenen Strümpfen marschieren. Gräßlich!« höhnte Jörg.

Trude wurde rot.

»Dumme Jungen!«

»Wollt ihr nicht naseweis sein!« Gerhards Ton klang sehr drohend.

Sie ließen sich nicht abschrecken.

»Sylve-Mütterchens Mann kriegt's besser!«

»Ätsch! Der kriegt die Strümpfe geflickt!«

»Nee du, aber Sylve-Mütterchen heiratet nicht.«

»Nein, Sylve-Mütterchen heiratet nicht, was sollte denn sonst aus uns werden?«

Sylvia war ganz rot und verlegen geworden.

»Jungen, was redet ihr da für Unsinn? Macht, daß ihr weiterkommt.«

Jörg und Heinz umschlangen sie plötzlich.

»Versprich, Sylve-Mütterchen!«

»Versprich!«

»Du hei–«

Da hatte sie Dieter gepackt und stieß ihnen die Köpfe zusammen.

»Wollen mal einen Wettlauf veranstalten, Jungen! Wer zuerst dort an der alten Eiche ist!«

Da flogen sie hin.

Nach ein paar Schritten blieb Dieter lachend zurück. Sein Zweck war erreicht.

Die beiden protestierten zeternd.

»Nein, Dieter, das gilt nicht, das gilt nicht!«

»Du bist falsch!«

»Treulos!«

»Sein Wort muß der Mann halten!«

Sylvia schlug zum Trost einen allgemeinen Wettlauf vor.

Das Ziel wurde vereinbart.

»Eins, zwei, drei – los!«

Alle flogen dahin mit mehr oder minder Anmut oder Kraftaufwand.

Und dann war das Schloß in Sicht.

Eine kleine grüne Wiese lag wie ein Edelstein zwischen dunklen Fichten gebettet. Im Hintergrund erhob sich der massive Turm des Waldschlosses, wölbte sich der mächtige Bogen des Einlaßtors.

Der Burghof war weit und frei. Mächtige uralte Bäume wuchsen da, wo einst die Menschen gehaust hatten. Die Mauern waren verfallen. Durch einzelne stehengebliebene Fensteröffnungen hatte man einen köstlichen Blick über die Wälder hin in die Ebene.

Der Boden des Burghofs war mit einem dicken, grünen Moosteppich belegt.

Da hinein, zu Füßen der alten Baumriesen, lagerten sich nun die Ankömmlinge.

Erst dehnten sie sich alle wohlig und genossen die Ruhe, den Frieden und die Stille ringsum.

Jörg und Heinz entledigten sich ihrer Rucksäcke und waren alsbald in irgend einer klaffenden Kelleröffnung verschwunden.

Sylvia wollte nach. Wolf Brandt aber sagte: »Nichts da, Fräulein Sylvia, die Jungen kommen schon nicht zu Schaden.«

Aber da ertönte auch schon ein Zetergeheul.

Dieter und Achim waren alsbald hinterher und brachten die beiden angeschleppt.

Jörg heulte, weil er abgerutscht und gefallen war, und weil seine Kehrseite einen klaffenden Riß zeigte.

Heinz heulte zur Gesellschaft mit.

»Jörg, still, Jörg,« tröstete Sylvia. »Du hast dir doch nicht ernstlich weh getan?«

»Meine Ho–o–o–ose – meine Ho–o–o–ose,« heulte Jörg.

»Wird geflickt,« tröstete Sylvia.

»Armes Sylve-Mütterchen!«

Den drolligen Kampf zwischen Erleichterung und ratsam erscheinender Zerknirschung in Jörgs Miene zu sehen, war urkomisch.

Sylvia griff in die Tasche und zog einen Nähbehälter heraus. Im Nu hatte sie eingefädelt und den Fingerhut zur Hand.

Jörg mußte sich nun auf den Bauch legen und wurde ausgeflickt, was nicht ohne Quietschen und Schreien abging, weil die Nadel, absichtlich oder ohne daß Sylvia es gewollt hätte, einige Male danebenstach.

»Und jetzt zum Essen!«

Trude und Gerhard hatten während dieser ganzen Heul- und Flickszene unbekümmert um alles im Moos gelegen und der Ruhe gepflogen.

»Faulenzer ihr,« rief nun Heinz sehr wenig respektvoll. »Wenn ihr nicht kommt, kriegt ihr nichts. Wo ist nur Achim?«

»Achim dichtet irgendwo,« grinste Jörg, dessen Lebensgeister im gleichen Verhältnis, wie der klaffende Riß sich schloß, gestiegen waren.

»Bst –« er legte den Finger an den Mund und wies ganz in den Hintergrund.

Richtig, dort saß Achim, den Rücken an einem Baumstamm, starrte in die Wipfel und hielt offenbar Papier und Bleistift in Händen.

Ehe Sylvia Heinz halten konnte, war er leise hinzugeschlichen; jetzt tauchte er hinter Achim auf, und jetzt – jetzt hielt er mit kühnem Griff den Zettel in Händen, worauf Achim gekritzelt hatte.

Mit indianischem Kriegsgeheul setzte er davon, Achim zuerst hinterher, ließ ihn aber dann laufen.

»Bengel!« drohte er.

Das Mahl, das die anderen inzwischen ins grüne Moos auf reinem, weißem Tuch ausgelegt hatten, lockte zu sehr.

Sie saßen schon alle rings im Kreise. Achim fand noch Platz neben Sylvia.

»Alter Achim!« Sie strich ihm über die drohend gefaltete Stirn.

»Bengel,« murrte der, »soll mir nur nahekommen!«

Und er machte eine Faust gegen Heinz, der in immer engeren Kreisen die lockende Stätte umschlich, wo die anderen ihren Hunger stillten.

Ganz heran wagte er sich nicht.

»Laßt ihn,« wollte eben Sylvia bitten, die der arme Sünder dauerte; da war der mit raschem Entschluß hinter Achim gesprungen und hatte den Zettel vor ihn hingeworfen. Dann neben Jörg aufs Moos fallen und gierig zu schlingen anfangen, war das Werk eines Augenblicks.

Alle lachten.

Gerhard hatte den Zettel erhascht.

»Lesen, bitte, lesen,« scholl's im Chor.

Fragenden Blicks wandte sich Gerhard an Achim.

Der war sehr rot, sagte aber nichts.

Und Gerhard las:

»Ein weiter Hof,
Verfallne Mauern drum,
Verödet, still,
Nur Schweigen um und um.

Ernst rauscht der Wald:
Wo sind sie alle hin,
Die einst gehaust
In diesen Mauern drin?

Wohin? Wohin?
Wie ernster Geisterchor
Tönt dies Wohin
Erschauernd an mein Ohr.

Verwelkt, verweht
Wie dürres Gras und Laub
Dahin und tot,
Der Zeiten grauser Raub.

Tot? Alles tot?
Wir leben nur dem Tod?
Wenn das so ist,
Weshalb des Lebens Not?

Da, über mir
Raunt Trost der Blütendorn:
Aus jener Zeit
Bin ich ein Samenkorn!«

»Hübsch,« sagte Wolf Brandt, »ein hübscher Gedanke und gut in der Form. Sie haben offenbar Talent.«

Achim war sehr rot geworden.

Gerhard klopfte ihm auf die Schulter, Sylvia streichelte ihn.

»Wird Hofpoet,« höhnte Dieter.

Jörg und Heinz grinsten, hatten aber den Mund so voll, daß sie nicht reden konnten.

Zur Mittagsruhe verteilte man sich unter den Bäumen im Moos.

Sylvia packte erst wieder alles zusammen, wobei Jörg und Heinz helfen mußten, was sie unter großem Protest mit Hinweis auf die allgemeine »Faultierhaftigkeit« taten.

Als sie danach auch Faultiere hätten sein können, zogen sie vor, einige Bäume und danach den Turm zu besteigen.

Sylvia lag im Moos, hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und starrte ins grüne Geäst und darüber ins Himmelsblau.

»Woran denken Sie?« fragte Wolf Brandt, der unfern davon an einen alten Buchenstamm gelehnt saß.

Sylvia lachte schelmisch. »Raten Sie?«

»An irgend was Großes, Gutes, Schönes!«

Sylvia mußte lachen.

»Ich fürchte, Sie überschätzen mich. Ich dachte an den Riß, den Jörg sich vorhin gerissen. Der ist nun freilich groß, aber weder gut noch schön, oder?

»Aber Ihr Sorgen und Mühen drum ist groß und gut, und schön und –«

»Ich tue doch nur meine Pflicht,« sagte Sylvia einfach, und ihre klaren, leuchtenden Augen sahen ihn ganz verwundert an.

»Wohl, aber –«

Da stürzten Jörg und Heinz hervor.

Diesmal heulte Heinz.

»Ich kann wirklich nicht dafür, Sylve-Mütterchen. Der schändliche Ast hat mich am Ärmel gepackt und du –«

Ein klaffendes Loch im Ellbogen illustrierte und verkürzte die Erzählung.

Da fuhr Wolf Brandt auf.

»Bengel, glaubt ihr denn, eure Schwester sei nur für euch da? Donnerwetter noch mal, ich –«

Im Eifer hatte er den einen der beiden Missetäter rechts, den anderen links gepackt. Die heulten los, als ob sie am Spieß stäken.

Sylvia legte sich ins Mittel.

»Lassen Sie doch, Herr Brandt, den Riß wollen wir bald haben.«

Sie sah so strahlend froh und so gut und geduldig dabei aus, daß es Heinz, den Missetäter, bis ins innerste Herz traf.

Er stürzte auf sie los und umfaßte ihre Knie.

»Sylve-Mütterchen, du bist ein Engel!«

Unbewußt ahmte er Achims, des Dichters, überschwengliche Art nach.

Sylvia lachte, Wolf Brandt auch, aber am liebsten hätte er dasselbe gesagt wie Heinz. Die beiden Bengel waren wieder davongestürmt.

Sylvia hatte es sich abermals bequem gemacht, und sah zum blauen Himmel auf.

»Wo haben Sie die Geduld her, Fräulein Sylvia?« fragte Wolf Brandt sinnend.

»Ich weiß nicht, sie war da!«

»Immer?«

»Zuerst nicht, aber nach und nach! Übrigens, wissen Sie, Dummheiten mache ich auch die Menge.«

Er sah ungläubig aus.

»Glauben Sie's nur, erst vorgestern. Väterchen hat mir so streng verboten, viel mit seinen Patienten zu verkehren, oder sie gar in unsere Wohnräume zu bringen. Da war eine Frau mit einem kranken Kind, sie hatte drei Tage nichts gegessen, wie sie sagte. Ganz entsetzt nahm ich sie mit in unser Eßzimmer, und wie ich sie gründlich gestärkt hatte, kommt heraus, daß das Kind Scharlach hat. Meinen Schreck können Sie sich denken. Alf-Bübchen war zum Glück oben, diesmal hatte mein Leichtsinn keine Folgen. Wer weiß aber –«

Sinnend starrte sie vor sich hin. Dann schlug sie das Auge groß und voll zu Wolf Brandt auf, es standen Tränen drin.

»Für Alf-Bübchen zittere ich überhaupt manchmal,« sagte sie ganz leise. »Ach weiß nicht weshalb, aber mir ist, als ob er nicht fest Fuß gehabt habe bei uns, als ob Mutter –«

Sie vollendete nicht. Große, helle Tränen liefen ihr leise über die Wangen.

Ehe Wolf Brandt antworten konnte, traten Achim und Dieter herzu.

Achim beugte sich über die Schwester.

»Tränen? Du weinst? Warum, Sylve-Mütterchen?«

»Alter Achim, wieso?«

Sylvia lachte schon wieder und wischte energisch jede feuchte Spur von dem braunen Gesicht.

Dieter sah Wolf Brandt ganz herausfordernd an.

Der lachte hell auf.

»Bitte, ich bin unschuldig!«

»Dummer Dieter!«

Sylvia zupfte ihn am Ohrläppchen.

Da lachten alle.

Und dann kam der Aufbruch.

Die Rucksäcke waren nun bedeutend leichter, und Achim und Dieter nahmen stillschweigend den Teil von Jörg und Heinz auf sich.

Der Heimweg war köstlich. Die Sonne stand noch hoch, aber da der Weg weit war und man zwischendurch rasten wollte, so war es doch höchste Zeit.

Der stille Wald nahm die frohe Gesellschaft in seine grünen Arme.

»Singen wir doch etwas gemeinsam,« schlug Trude vor.

Der Gedanke fand Beifall, und bald widerhallten die grünen Gänge von jungfrischen, jubilierenden Stimmen, so daß die Vöglein ganz verwundert verstummten.

Diesem ersten Gang folgten noch viele weitere. Väterchen trug Sorge, daß Sylvia stets teilnehmen konnte, und Altchen, Lene und Anna unterstützten ihn darin aufs treulichste. Es freute alle, Sylvia auch einmal ihre Jugend mit den Jungen genießen zu sehen. Alf-Bübchen freilich fühlte sich etwas in seinen Rechten gekränkt. Wo's anging, durfte der kleine Schelm mitgehen, sonst nahm sich Altchen seiner an.

Auch Trude war immer mit von der Partie, Gerhard stets ihr getreuer Ritter.

Es war ein frohes schönes Leben im alten Doktorhause. Die Tage flogen nur so hin.

Und nun kam der letzte Tag der Ferien heran, ehe man sich's versah.

Wieder stand die kleine Gesellschaft wartend auf dem Bahnsteig. Wieder fuhr der Zug keuchend und schnaubend heran, entführte aber diesmal zwei aus dem kleinen Kreis, wie er sie vorher gebracht hatte.

Die Trennung von Bruder Gerhard wurde allen sehr schwer, aber auch Wolf Brandt war ihnen fast wie ein Bruder geworden.

Die Jungen alle hingen sehr an ihm, von Achim und Dieter bis zu Alf-Bübchen.

Und Sylvia war's, als ob wirklich ein liebes, teures Familienmitglied mit ihm Abschied nähme.

»Mein siebenter Junge«, hatte sie ihn oft im Scherz genannt. Heute fühlte sie, als ob das in der Tat so wäre.

Aber der Zug war da, und es mußte geschieden sein.

Die Schaffner rissen die Türen auf.

»Einsteigen!«

Ein letztes Wort, ein letzter Händedruck reihum.

»Lebt wohl! Lebt wohl!«

Ein Ruck, ein gellender Pfiff, ein Rollen – fort war der Zug.

Alle winkten mit den Tüchern. Alf-Bübchen warf Handküßchen – eine Kurve, der Zug war verschwunden.

»Schade,« sagte Trude, die auch mit zur Bahn gekommen war.

Sylvia seufzte, dann aber lachte sie ganz vergnügt.

»Ja, jetzt geht's wieder an den Werkeltag. Hat auch sein Schönes, was, Jungens? Immer Kuchen verdirbt den Magen; Brot kann man stets essen.«

»Mis willen Tuchen,« sagte Alf-Bübchen weinerlich.

»Schön, Alf-Bübchen, dann komm jetzt erst mal heim.«

Und den Kleinen führend, gingen sie zusammen nach Hause.


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