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Die Herbststürme fuhren dem alten Hause um den Giebel, aber das stand wetterfest. Dafür wirbelten sie das goldene Laub der Parkbäume um so toller in alle Lüfte, daß es anzusehen war, als ginge ein Goldregen über Dresdorf nieder. Lustig sah das aus und voll Leben.
Innerhalb der hohen Mauern des alten Hauses waren aber keine frohen Menschen. Das hatte eigentlich in seinem ganzen langen Bestehen – die Polten hatten nachweislich schon im Dreißigjährigen Kriege sich auf derselben Scholle durch des Lebens Not gerungen; sie waren erst mit des letzten Papa Poltens »Jungchen« in direkter Linie ausgestrichen worden – also, in seinem ganzen langen Bestehen hatte das alte Haus eigentlich noch nicht solche sorgenvolle Mienen, solch bedrückte Menschen gesehen. Was waren selbst Tante Lenchens ehemalige Kümmernisse um die unbändige Nichte, um den Bruder und seine Erziehungsgrundsätze dagegen gewesen! Wie hätte sie jetzt den Kopf schütteln und ein: »Erbarm dich!« über das andere seufzen müssen!
Gut, daß sie ruhte, wohin keine Sorgen dringen! Gut, daß auch der alte Herr des Hauses nicht sah, in welcher Not Tochter und Enkelin seufzten, – wie »Jungchen«, das jetzt eine Großmutter war, drob in verbissenem Ingrimm mit geteiltem Herzen zwischen Rödershof und der Kinderheimat hin und her pilgern mußte. Und all dies um einer Fremden willen! Sein »Basta« hätte rasch ein Ende gemacht.
Seine Tage waren dahin. Er konnte die nicht mehr schützen und schirmen, die er geliebt hatte mit eines treuen Vaters Liebe. Ihre eigenen Tage waren gekommen, in denen das Leben sie vor Aufgaben stellte, die nicht so leicht zu lösen waren wie die in den Sonnentagen der Jugend – –
»Was hältst du davon, Tante Lisa?« Fee saß matt und blaß in ihrem Fahrstuhl; nur selten konnte sie ihn verlassen.
»Ich weiß nicht, was ich denken soll. Jedenfalls ist das Mädchen in diesen letzten acht Tagen wie ausgewechselt. Die ersten Wochen, als wir hierher übergesiedelt waren, hoffte ich, alles würde noch gut werden; ich war sehr stolz auf meinen ausgezeichneten Gedanken. Gladys schien wirklich unsere Hoffnungen zu erfüllen und eine andere zu werden. Jetzt –«
»Was hältst du von Klein-Muttchens Entdeckung?«
»Daß Gladys heimlich Briefe wechselt? Ja, Kind, wer kann das wissen –«
»Aber sie kennt doch niemand, Tante!«
»Daß ihr der Müller Briefe auf der Landstraße ausgehändigt hat, das steht durch deiner Mutter Wort fest. Daß sie dir nichts davon sagte, ist ebenfalls Tatsache, und daß sie seit ein paar Tagen wie das verkörperte böse Gewissen herumgeht, die scheuen Augen kaum hebt, das sehen wir beide. Folglich –«
»Tante Lisa, was soll ich tun?«
»Abwarten, Kind – beobachten – hoffen!«
»Ach, Tante Lisa, wenn ich nur stark wäre wie andere! Ob ich mit meiner schwachen Kraft solcher Aufgabe gewachsen bin? Ob es nicht frevelnde Überhebung war, dies alles zu übernehmen?«
»Du mußt nicht verzagen, Fee!« »Versündige ich mich nicht an dem Mädchen, daß ich in meiner Schwäche mich unterfangen wollte, eine junge Seele zu leiten?«
»Wer weiß – vielleicht ist deine Schwäche in diesem Fall eben deine Stärke. Ich meine, vielleicht spricht deine Zartheit und Gebrechlichkeit eher zu dem Herzen des Wildlings, als feste Kraft es täte. Sie ruft das in ihr wach, was in jedem Frauenherzen weich ist.«
»Ach, Tante Lisa, ich habe den Faden verloren, der mich mit ihrem Herzen verband. Ich fühle, daß sich ein Fremdes zwischen uns gedrängt hat. Was kann es sein? Ich stehe wie vor einer Wand.«
»Mut, Fee, Mut! Ohne Einsatz kein Gewinn!«
Am Abend desselben Tages stand Gladys vor Fee, ihr Gutenacht zu sagen. Sie tat es finster, wie abwesend.
Voll Schmerz fragte Fee eindringlich: »Was ist's, das sich zwischen mich und dich drängen will? Kannst du es mir nicht sagen, Kind? Wie lieb ich dich habe, weißt du doch! Oder weißt du es nicht mehr?«
Gladys blickte nicht auf, aber ein Zittern ging durch sie hin; sie hielt die Hände krampfhaft verschlungen, als ob sie sie hindern wollte, sich um die Flehende zu legen. Man sah, die schmale Mädchengestalt hielt sich nur mit Mühe aufrecht.
»Gladys, Gladys, mein Kind!« Wieder die Stimme zuinnerst aus dem Herzen.
Nun zitterte das Mädchen so stark, daß es sich am Tisch halten muhte, neben dem es stand. Es hob eine Sekunde lang die Augen; angstvolle Qual stand darin. Tante Fee erschrak davor im Innersten.
»Kind, was ist dir? Vertraue dich mir!«
Jetzt antwortete eine heisere Stimme: »Mich sein gar nix. Mich – mich – – ich nix brauchen Liebe – sein zu große Hergelaufene, wie böse kleine Frau sagen. Du dich nix Mühe geben um mich!«
Sie fiel neben Tante Fees Fahrstuhl auf die Kniee, schlang die Arme um die Sitzende und bohrte den Kopf in deren Schoß. Aber wie Tante Fee sie fest zu sich heranziehen wollte, da schnellte sie empor, stürzte zur Tür und war hinaus, ehe Tante Fee sie halten oder nur rufen konnte. Und wie Tante Fee die vergeblich ausgestreckten Hände in den Schoß sinken ließ, da war der naß von Tränen – – von des Kindes Tränen.
»Wo Tränen sind, da ist Gefühl,« tröstete sich Tante Fee.
Es war ein Trost, der lange vorhalten mußte, denn am anderen Morgen – –
»Gnädiges Fräulein, Fräulein Glahdies ist fort. Ihr Bett ist unbenutzt. Die gnädige Frau hat mich geschickt, Fräulein Glahdies zu rufen, weil sie so lange nicht zum Frühstück kam, und da – und da –«
Atemlos stand das Hausmädchen mit weit aufgerissenen Augen vor Fees Bett, mit der ganzen ungeheuren Wichtigkeit, die manche Menschen empfinden, Träger einer womöglich schlimmen Kunde zu sein.
Fee war eben von kurzem Schlummer nach einer schlaflosen Nacht erwacht. Sie hatte über ihr Verhalten hin und her gesonnen und war zu dem Entschluß gekommen, bei dem zu beharren, was sie bisher für das Rechte gehalten: Liebe zu geben und immer wieder nur Liebe – trotz allem! Sie traute der Werbekraft der Liebe Wunder zu. Und nun diese Kunde!
Es traf sie hart. Die Überbringerin der Botschaft erschrak sehr, als sie die Herrin wortlos und schneeweiß in die Kissen zurücksinken sah. Jammernd lief sie, Tante Lisa zu holen, die denn auch alsbald erschien.
Ihren Bemühungen gelang es schnell, die Bewußtlose zu sich zubringen; ihr Zureden stillte den ersten Schreck und Jammer.
»Weißt du denn, ob nicht Gladys ihr Bett selbst zurecht gemacht hat? Vielleicht ist sie nur zu einem Spaziergang fort, Fee. Laß uns in Geduld warten!«
Sie harrten eine Stunde, zwei. So ruhig, wie sie sich gab, war Tante Lisa keineswegs. Sie schickte auch heimlich nach Rödershof, die Lieben dort von Fees Kummer zu benachrichtigen. Vater Klaus und Muttchen Friedel erschienen sehr schnell, beide voll Teilnahme und hilfsbereit. So wurde es Mittag, und noch keine Spur von Gladys.
Klein-Muttchen umarmte ihre Älteste und sah ihr tief in die Augen.
»Du tust mir leid, Kind, obgleich – na – – aber verlaß dich drauf, wir schaffen sie dir wieder! Ich will die erste sein, die sie hereinführt, nur damit ich deinen Jammer nicht langer ansehen muß.«
»Du bist gut, Klein-Muttchen, so gut. Das törichte Kind! Wenn ihm nur kein Unglück zugestoßen ist!«
»Unsinn, Fee! Ich lasse jetzt die zwei Förster kommen und streife den Wald mit ihnen ab. Klaus, du fährst nach Loberg an die Bahn und forschst dort nach. In ein Mauseloch kann doch das lange Ding nicht geschlüpft sein. Kopf hoch, Fee! Am Abend hast du die Mamsell wieder.«
Doch so zuversichtlich sich Klein-Muttchen gab, ihre Älteste zu ermutigen, man sah ihr eine Unruhe an, die sie freilich nie zugegeben hätte.
»Was auch war, ich Hab' sie wahrhaftig nicht in die Flucht treiben wollen – glaub mir, Lisa – schon Fees wegen. Das arme Ding tut mir letzten Endes ja auch leid. Denkst du, ich striche sonst durch den Wald bei dem nassen Wetter, um zu sehen, ob sich das Mädchen nicht vielleicht den Fuß verstaucht hat und deshalb nicht heimkommt?«
»Friedelchen, du bist gut.«
»Hände weg! Könnte mir passen! Na, dann sag Fee, ich sei auf der Suche nach ihrem rothaarigen Kleinod!«
Als der Abend schon gesunken war, kam Frau Friedel sehr durchnäßt heim. Ihr Abstreifen des Waldes war umsonst gewesen. Keiner der zahlreichen Waldarbeiter hatte auch nur eine Spur von dem Mädchen gesehen. Sie kannten es alle, denn Gladys hatte gern den Wald aufgesucht. Auch Vater Klaus kam ohne den Flüchtling heim. Aber er hatte eine Spur gefunden, wenn auch eine schwache.
Der Mann am Schalter – es war gerade ein neuer an seinem ersten Diensttag gewesen, der sich in der Gegend noch nicht auskannte – dieser Beamte glaubte sich zu erinnern, daß ein großes, schlankes Mädchen mit rotblonden Haaren in Gesellschaft eines recht verlottert aussehenden Mannes Karten nach der nächsten größeren Stadt gelöst habe. Die Sprache des Mädchens sei ihm aufgefallen, und auch das, daß es so wenig zu seinem Gefährten gepaßt habe. Das war alles.
»Das kann doch Gladys nicht gewesen sein! Wie sollte sie zu dem Mann kommen?« sagte Fee, und sie weinte bitterlich. »Gladys – Kind – daß du mir das angetan hast!«
Die Ihren trösteten, so viel sie konnten, und gaben Hoffnung, wo sie selbst keine hatten. Vater Klaus und Muttchen Friedel fuhren sehr sorgenvoll heim.
»– – – denn siehst du, Klaus,« sagte letztere unterwegs, »ich wünschte eben doch, daß manches anders gewesen wäre zwischen dem Mädchen und mir. Und unsere Fee, Klaus, unser Kind! Hast du die müden Augen gesehen, als wir gingen? Ich liefe barfuß bis Reinstadt, wohin die zwei gefahren sein sollen, wenn ich meinem Kind dadurch dies Mädchen zurückbringen könnte. Wer mag der Mann gewesen sein?«
Fee wußte es zu dieser Stunde. Sie saß vor ihrem Merkbuch und schrieb, so todmüde sie war; Schlaf konnte sie doch keinen finden.
»Da habe ich nun Gewißheit! Diesen Zettel fand ich vorhin neben meiner geleerten Kasse. Ich setze die Abschrift hierher. ›Liben Tante Fee!
Father sein gekommen, mich holen und ich sein gegangen. Er sagen, er wollen andre Mensch werden, wenn ich komme, und mother waren jede Nacht da und haben mir gesagt zu gehen mit ihm, weil er wollen dann gute Mensch werden. Er haben zuerst Brief geschrieben, viele Briefe und sein dann selbst im Wald gewesen an einem Tage. Er mich haben geküßt und haben geweint – – ich müssen gehen. Ich danken dir for alles, for alles, Du sein Engel und ich dich haben sehr lieb. Aber – sein auch for dir besser, wenn hergelaufenes Mädchen laufen weg. Du kleine böse Frau lieb haben, sein besser for ihr und dir. Ich nehmen Geld, Tante Fee, aber du nicht glauben, ich stehlen. Father sagen, ich soll singen und dann viel Geld verdienen. Ich dir geben alles wieder dann. Father haben kein Geld mehr, er sagen, wir müssen Geld haben zuerst. Sei nicht böse, Tante Fee, ich nicht wissen, wie sonst Geld bekommen. Und, Tante Fee, eine Goldstück habe ich in meine Rock genäht – ich wollen zu dir zurückkommen mit diese, wenn – – Weine nicht, geliebte Tante Fee, mich sein nicht wert deine Tränen. Gladys.‹
Das unglückliche Kind! Welches wird sein Schicksal sein in den Händen dieses gewissenlosen Menschen!
Fee, es ist des Mädchens Vater! Kann ein Vater das Unglück seines Kindes wollen?
Es war also ein Traum; ich soll keinen Selbstzweck im Leben haben. Ich bescheide mich. Ich habe ja das Verzichten gelernt, geübt.
Vielleicht war meine schwache Kraft dieser Aufgabe auch nicht gewachsen, und sie ist mir darum genommen morden. Menschen bilden dürfen, ist ein hohes Ziel; ich habe die Hände nach Unerreichbarem gehoben. Bescheide dich, Felicitas!
Klingt dieser Name nicht wie ein Hohn auf mein Geschick? Doch, was sage ich? Verzeiht, ihr meine Lieben alle, die ihr mich auf Händen tragt und Geduld habt mit meiner Schwäche! Verzeih mir, Vater im Himmel – ich murre nicht! Herr, dein Wille geschehe – es ist ein guter Wille!
Gladys, mein Kind, wo magst du weilen? Was wird dein Schicksal sein? Ob ich je wieder von dir höre? Ob du für mich verschollen bist?
Wache über sie, Himmelsvater, da ich es nicht tun darf nach deinem Ratschluß! Ich befehle sie in deine Hände.« »Wir tränken's ihr ein, Friedeli!«
»Das tun wir, Friedelu!«
»Aber wie?«
»Braucht sie den etlichen Tran aus Loberg zu bringen, wo wir ihr doch gesagt haben, daß wir ihn nicht mehr mögen?!«
»Ja, und daß nur Klein-Großchens Ängstlichkeit ihn uns weiter aufzwingt!«
Die Verschwörer waren die beiden Friedel, die nach einem schlimmen Winter mit Keuchhusten schon Ende März nach Rödershof geschickt worden waren, sich dort in Klein-Großchens Obhut vollends zu erholen. Sonderbarerweise war das Kleinzeug in beiden Familien verschont geblieben oder doch nur in sehr milder Form von der Plage heimgesucht gewesen. Die beiden Friedel hatte es dafür tüchtig gepackt.
»Weil ihr eben so ungebärdige Geschöpfe seid, seht ihr,« zankte Klein-Großchen.
»Hast du nie Keuchhusten gehabt, Klein-Großchen?« fragten die Schelme mit der allerscheinheiligsten Miene.
»Niemals,« versicherte Klein-Großchen, und tat es wahrheitsgemäß, »wie wäre ich zu derlei gekommen!«
»Wir dachten – –«
»Weil du auch Friedel heißt und – –«
»Zu denken habt ihr gar nicht, verstanden? Basta!«
Ja, also die zwei Friedel waren die Verschwörer, und das Opfer war Mamsell, die auf der gnädigen Frau Befehl wieder eine Flasche Lebertran aus Loberg mitgebracht hatte, den Hustenlindern zu Nutz und Frommen, aber zum gewaltigen Ärger.
Am anderen Morgen schallte ein Zetern durchs Haus, das bis in Frau Friedels Allerheiligstes klang, wo diese mit gefurchter Stirn wieder einmal über den Zahlen sah. Sie erhob sich, nachzusehen.
Gleich danach schallte ihr Ruf: »Friedelu! Friedeli! Antreten, Gesindel!«
Es dauerte eine Weile; erst nachdem der Ruf noch einmal und etwas verschärfter ergangen war, hörte man ein Piepen von irgendwoher: »Klein-Großchen? – was sollen wir, Klein-Großchen?« und es klang wie unterdrücktes Kichern dazwischen.
»Wartet, ich will euch Beine machen!« Auch in dieser Stimme war etwas wie Lachen; zugleich hörte man das Zetern von zuvor: »Ach, mein Zeppche, mein Zeppche! Lieb gnädig Frauche, mein Zeppche hat doch erst finf Mark gekost, for um's nei zu mache. Was Kinner – was Kinner!«
Nun waren die Missetäter zur Stelle.
»Was ist dies?« fragte Klein-Großchen und wies nach einer beträchtlichen Fettlache vor Mamsells Stubentür, in der sich ein unbestimmbares schwärzliches Etwas ringelte. »Was ist dies, he?«
»Eine Sardine in Öl, Klein-Großchen.«
»Ja, eine Sardine in Öl.« Man hörte den Stimmen das verhaltene Kichern an.
»Ich will euch beölsardinen, Gesindel! Was, Mamsell – zu komisch, was für Einfälle das Gesindel hat! Ich muß erst einmal lachen. Nicht gemuckst, ihr zwei! Hände weg, Mamsell – lassen Sie gefälligst das Ding an Ort und Stelle! Wißt ihr nicht, daß es beschämend ist, solche Strei – – also, was ich sagen wollte: hier, fischt das Ding aus der Brühe, säubert es in reinem Wasser und – –«
»Ach, gnädig Frauche, mein Zeppche hätt' ja de Dot dervon, wann die zwei es in die Mach' nähme! Da will ich liewer selwer – –«
»Strafe muß sein, Mamsell! Die beiden haben Ihnen Ihren Haarschmuck heil und gesund wieder abzuliefern, basta! Strafe muß sein.«
»Awer des war' e Straf for mein Zeppche, gnädig Frauche, nit for die – die annere.«
»Sie könnten recht haben, Mamsell; das war mir nicht so klar. Fischen Sie sich also selbst Ihr Eigentum heraus, reinigen Sie es und geben Sie es einem Haarkünstler zur Wiederherstellung. Die Kosten tragen selbstverständlich diese beiden und –« »Klein-Großchen – – aber Klein-Großchen, wir – wir haben ja gar kein Geld!« Einstimmig kam es wie aus der Pistole geschossen.
»Einerlei – Mund halten, sag' ich! Und hier wird eigenhändig sauber gemacht. Rangen, daß ihr's wißt! Vorwärts – heißes Wasser geholt! Ich überwache die Arbeit.«
»Es – es riecht so, Klein-Großchen!«
»Ein andermal gießt ihr eben Kölnischwasser hin statt Tran und – – ich meine, daß ihr euch nie wieder untersteht, sonst – – aber fix, Wasser geholt!«
Es war ein gar lustiges Plantschen mit dem herbeigeschleppten Wasser unter Großchens Leitung und Mithilfe Jeder Uneingeweihte hätte es für ein besonderes Freudenfest genommen, den Jubellauten nach zu schließen, die alsbald das Treppenhaus füllten.
Sie scheuchten auch Vater Klaus aus seiner Höhle.
»Was treiben meine drei Friedel denn für ein Hallo? Was ist hier gar so vergnüglich?«
»Klaus, dies hier ist doch ein Strafgericht. Bitte, störe uns nicht! Strafe muß sein.«
»So, so, ein Strafgericht? Es hörte sich anders an.«
Schmunzelnd verschwand Vater Klaus wieder in seinem Reich. Klein-Großchen aber hatte die strengste Miene aufgesetzt »Und jetzt wird die Flasche herbeigeholt, Gesindel, und ihr geht höchst eigenhändig nach Loberg und – –«
»Ha ha, Klein-Großchen!«
»Was gibt's da zu lachen, he? Mund auf!«
»Eigenhändig, Klein-Großchen?«
»Meinethalben eigenbeinig, aber jedenfalls wird der neue Tran höchstselbst von euch geholt, und zwar sofort! Hüte auf – Mantel an! Vorwärts marsch!«
»Klein-Großchen, kommst mit?«
»Ach ja, komm mit! Bitte, bitte!«
Wäre den flehenden Schelmengesichtern zu widerstehen gewesen? Und auch die Sonne flehte: »Macht schnell – kommt heraus, ihr Menschlein! Dumm, wer sich heute hinter Mauern verkriecht!«
Friedel die dritte – Frau Friedel – stülpte sich desgleichen den Hut über, schlüpfte eiligst in eine Hülle und, heidi, fort ging's in die Sonne. Als die drei Friedel vor Loberg standen, fanden sie, daß sie alle drei – die Flasche vergessen hatten! So endete dieses Strafgericht!
Es sei aber verraten, daß die anderen Tags durch einen zuverlässigeren Boten beschaffte neue Flasche Lebertran von den beiden ihrer Bedürftigen widerspruchslos geleert wurde. Diese blieb dann die letzte – –
So ging der April hin, in Rödershof mit Lust und Lärm, um so stiller im Dresdorfer Herrenhaus.
Tante Fee war viel krank, und Tante Lisa pflegte sie treu. Muttchen Friedel hatte sich nach Gladys' Flucht ihre Älteste wieder heimholen wollen, aber Fee hatte darauf bestanden, in Dresdorf zu bleiben. Daß bei diesem Entschluß die Stelle im Briefe der Geflohenen zumeist ins Gewicht fiel, wo diese von einer etwaigen Rückkehr und dem hierfür aufgesparten Goldstück sprach, das ahnte man nicht. Niemand wußte ja von dem Briefe und von dem verschwundenen Gelde. Tante Fee bewahrte dies Geheimnis in ihrem gütigen Herzen; sie wollte dem armen Kinde den Rückzug decken. Es hatte ja in der Not gehandelt. Ach, sie hätte ihm die dreifache Summe gegeben, hätte es sie darum angesprochen!
Es war ein trübseliger Winter gewesen. Nur Hoffen und Harren und nie ein Zeichen von der Entschwundenen! Ihr Name wurde niemals genannt; es war, als sei sie nie dagewesen. Wirklich erinnerte nach einiger Zeit nur noch Fees Leidensmiene und ihr Kränkeln die Ihren an das Mädchen, dessen Verschwinden die Ursache davon war. Niemand vermißte die Fremde mit den brennenden Augen und den brennenden Haaren; nur in Tante Fees Herzen war eine Lücke, die sich nicht ausfüllen wollte.
Dann waren die zwei Hustenfriedel nach Rödershof gekommen, mit ihnen Lust und Lärm genug. Jetzt stand schon wieder das Osterfest vor der Tür.
Es kam ein Zettel von Walter: »Klein-Großchen, halt die Daumen! Am Dienstag nehmen sie mich an die Strippe. Der Himmel weiß, wie das enden soll) ich weiß nichts – absolut nichts. Klein-Großchen, wenn ich durchhagle, du hast versprochen, daß du mir die Stange hältst! Ich baue auf dich! Dein Walter.«
Klein-Großchen drahtete zurück: »Ohren steif, Junge! Durch! Klein-Großchen.«
Sie war wie geistesabwesend in diesen Tagen.
»Denn siehst du, Klaus, ich fühle doch die Verantwortung, weil ich den Jungen so gewissermaßen hineingespornt habe in diese unbarmherzige Anstalt von Examen. Die sind doch nur dazu da, die armen jungen Menschen zu plagen, Klaus. Mir kann der ganze Kram gestohlen werden. Man hat nur die halbe Not mit Mädchen.«
»Und Hildegard?«
»Ach was, der alberne neumodische Kram! Gott sei Dank, daß die anderen alle normale Mädel zu sein scheinen. Für die zwei Friedel wenigstens stehe ich ein; meine Irmingard ist das geborene Hausmütterchen, und die Kleinen sind Schäfchen – Gott sei Dank!« »Hildegard sollte dich hören.«
»Sag's ihr nicht wieder, ja? Ich habe zwar ungeheuren Respekt vor ihrer Gelehrsamkeit, aber – Klaus, wo sollte die Welt hinkommen, wenn alle Mädel studieren wollten? Ist eine besonders klug, gut, laßt sie studieren! Besser, als ein dummer Bub tut's, bloß weil es sein Vater vor ihm getan hat. Im übrigen laßt sie was Rechtes im Haushalt lernen und einen guten Mann heiraten, der ihnen den Übermut austreibt, wie meiner es getan hat – basta!«
»Hat er, Friedelchen?«
Er hatte seinen Nasenstüber weg, ehe er wußte wie, und die Tür klappte sehr geräuschvoll zu.
Acht Tage danach im Dämmern – Klein-Großchen saß wieder über den Zahlen – schob sich eine lange Gestalt zur Tür des Allerheiligsten herein und blieb wortlos daneben stehen. Da sich gerade irgendwo ein Fehler ergab, sah die Rechnende nicht auf, stöhnte nur herzbeweglich; dann sagte sie über die Schulter: »Wenn Sie es sind, Johann, besehen Sie sich gefälligst die Tür von der anderen Seite; ich will nicht gestört sein – basta!«
Pause, und tiefe Stille, bis Klein-Großchen, immer noch die Nase im Buch, von neuem anhub: »Mensch, mach er mich nicht ärgerlich! Denkt er, Bücher führen sei so leicht wie Kartoffeln essen?«
»Es dürfte auf den Wärmegrad ankommen, dächte ich,« sagte der an der Tür.
Klein-Großchen hob den Kopf und schnob: »Bist du richtig durchgehagelt, Junge? Scheust du das Licht? Im Allotriatreiben warst du ja immer groß, aber so ein bissel Examen – schäm dich!«
»Bissel Examen! Klein-Großchen, denkst du, es sei so leicht wie Kartoffeln essen?«
»Hanswurst!« Sie stand vor ihm, hob sich auf die Zehenspitzen und faßte ihn bei beiden Ohren. »Walter, Junge, war's schrecklich?« »Schrecklich, Klein-Großchen.«
»Und – was hat der Vater gesagt?«
»Bravo, Klein-Großchen.«
Sie sah ihn scheu an, fuhr ihm über die Stirn und sagte mit ihrer sanftesten Stimme: »Setz dich erst mal Junge, dann wollen wir weiter reden.«
Sie zog ihn neben sich aufs Sofa. Da saß er bocksteif. Sie streichelte an ihm herum.
»Also, was nun, Junge?«
»Vor allem was zu essen, Klein-Großchen; ich bin hungrig, nicht zum beschreiben.«
»Schämst du dich nicht, an derlei zu denken, während dein künftiges Leben auf dem Spiel steht?«
»Gerade darum, Klein-Großchen! Schaffst du mir nicht bald was zu essen, so stehe ich für nichts. Mir ist schon ganz schwach zumute.«
Er legte den Kopf gegen die Sofalehne. Sie sprang erschrocken auf und fuhr ihm mitleidig über die Stirn.
»War's so furchtbar, mein Walter?«
»Unbeschreiblich, Klein-Großchen!«
»Hat er sehr gezankt?«
»Der Vater? Behüte, Klein-Großchen! Gelobt hat er mich, natürlich.«
»Gelobt? Bist du verdreht, Junge? Denkst du, ich lasse mir Fisematenten vormachen? Da soll doch gleich – –! Heraus mit der Sprache? was hat der Vater gesagt?«
»Daß ich beim Militär eintreten soll, sobald ich einen Platz finde.«
»Trotz des Examens?«
»Wegen des Examens, Klein-Großchen!«
Da hatte sie ihn am Schopf und zauste, wie nur sie zausen konnte.
»Also bestanden, Junge?«
»Bestanden, Klein-Großchen!« »Junge, und treibst Schabernack mit deiner Großmutter! Racker, du!«
Sie zauste weiter, bis er um Gnade flehte.
»Du hast mich ja kein einzigmal gefragt, Klein-Großchen – haßt einfach angenommen, ich müsse durchfallen. Ich bin dir sehr verbunden für die gute Meinung.«
»Was hätte ich von solchem Windbeutel anders erwarten sollen? Du hast dich ja gehabt, als solltest du mindestens geköpft werden.«
»War auch nicht viel anders!«
Nun wurde ihr Mitleid rege; zugleich sprudelte ihre Freude über. Sie wußte nicht, was sie ihm alles antun solle, und es war ein großes Freuen in Rödershof. Schließlich dachte sich Klein-Großchen was ganz Besonderes aus.
»Wie wär's, Klaus, wenn ich mit den dreien ein bissel dem Süden zurutschte? Die Friedel husten immer noch und – –«
»Wirklich, Friedelchen? Ich höre das gar nicht.«
»Sie husten immer noch! Ich muß das doch wissen als Großmutter, und der Walter kann auch eine Erholung brauchen, der arme Junge.«
»Mir kommt er sehr kräftig vor.«
»Dann kurz und gut, Klaus: ich will dem Jungen das Vergnügen machen, und die Rangen nehm' ich mit, damit du dich nicht zu plagen brauchst.«
»Sehr gütig, Friedelchen! Ich soll also allein daheim bleiben?«
»Klaus, wo du doch immer sagst, daß du im Frühjahr nicht weg kannst von wegen dem Hofe! Und wo man doch nicht wissen kann, wie lange es dauert, bis der Junge eintreten kann! Und wo du doch die Gicht hast, Klaus, und Tante Lisa und Fee! Sind drei Frauenzimmer nicht genug zu deiner Unterhaltung?«
»Es scheint also schon beschlossene Sache zu sein, Friedelchen?«
»Gewiß! Klaus, sag gar nichts!«
»Werd' mich hüten. Ich bin zu gut gezogen.«
»Und ich danke dir für die Erlaubnis, Klaus – –« sie hob die Nase; es war ihr aber ungemütlich heiß – »und du sollst sehen, es tut allen dreien gut! Schau nicht so spöttisch aus! Wo ich doch dem Jungen eine Extrafreude machen möchte!«
»Das sollst du, Friedelchen; ich werde mich mit meinen drei Frauenzimmern schon vertragen.«
»Das kommt alles von dem Examen, Klaus; es ist eine gar böse Einrichtung – ich bleibe dabei.«
Klein-Großchens Plan wurde von den Betreffenden natürlich mit einem Wonnehallo begrüßt. Ein großer Wunsch Walters ging damit in Erfüllung; er hatte ein wenig von des Onkels Lutz Nomadenblut geerbt. Die zwei Friedel kamen sich sehr wichtig vor, obgleich Klein-Großchen es sich angelegen sein ließ, ihnen klar zu machen, daß sie gewissermaßen nur als »Gepäck« mitgingen, weil man sonst nicht recht wisse, wohin mit ihnen. Es focht sie herzlich wenig an.
In drei Tagen waren die Reisenden zum Aufbruch fertig. Aus umfangreiche Vorbereitungen, namentlich hinsichtlich der Kleider, hatte Klein-Großchen nie viel gegeben. Sie war auch mit den reiferen Jahren darin nicht anders geworden.
So zog denn also Klein-Großchen mit den drei Enkelkindern südwärts. Denen daheim war, als habe ein Sturm sie weggefegt, so rasch war alles gegangen. Vater Klaus hauste allein in Rödershof mit Madam Gicht, die sich übrigens sehr bescheiden und zurückhaltend zeigte. Tante Lisa und Fee überzeugten sich alltäglich von seinem Befinden. Im übrigen verstrich ihnen allen die Zeit gar nicht besonders langsam.
Die Briefe der Reisenden trugen auch nicht wenig zur Erheiterung bei. Sie kamen häufig, waren ausführlich und voller Lust und Leben. Frau Friedel schrieb:
»Bellaggio, 12. April 19 ...
Das liegt nämlich am Comer See, wenn Ihr's noch nicht wißt, Ihr daheim. Wer kann das auch verlangen von einem, der's nicht selbst gesehen hat! Mir hätte man weismachen können, es läge im Mond, und ich hätte es auch geglaubt, obgleich – na, ganz so dumm bin ich doch nicht, und das wißt Ihr auch. Also Bellaggio! Alle Achtung! Es ist ein feiner Erdenfleck, den unser Herrgott hier im sonnigen Süden geschaffen hat. Ich muß lachen, wenn die zwei Friedel, die Rangen, die Augen verdrehen und tun, als ob sie den Geist aufgeben müßten vor Staunen und Bewunderung; sie meinen, das gehöre nun einmal dazu. Dabei weiß ich – ich hab's erprobt, Klaus, Lisa, Fee – daß ihnen ein Stück Obsttorte mit Schlagsahne in einer Konditorei über die schönste Bootfahrt auf dem wunderschönen See geht. Mein Walter freilich, der Examenerlöste, der genießt es in vollen Zügen; es ist eine Freude, sein strahlendes Gesicht zu sehen.
Hast Du schon mal was von Villa Serbelloni gehört, Klaus, Du Vielgereister? Dort ist's wirklich, als ob man aus irgend einem Versehen ins Paradies geraten wäre. Aber wie ja auch im Paradies Schlangen waren, so haben sie uns dort – große schwarze Käfer im Tee vorgesetzt. Wir nennen sie Schwabenkäfer. Ihr hättet die zwei Friedel quieken hören sollen, als die Bescherung zutage kam. Der Kellner war ganz blaß, als er diese sonderbare Verwendung der Käfer gewahr wurde. Die hatten wohl ihr Winterquartier in der Kanne aufgeschlagen gehabt und waren von dem heißen Wasser beim Teeaufgießen unliebsam überrascht worden. Sagt mal Mamsell, bitte, wie recht ich habe, wenn ich gelegentlich auf vorherigem Ausschwenken der Kannen bestehe.
Und noch eine sonderbare Begegnung hatten wir in Villa Serebelloni! Wenn Du Fee diese Stelle nicht vorlesen willst, so überspringe sie.
Wie wir uns eben von unserem Käferschreck erholt hatten, da klang mit einem Male ein Ton über den Garten hin, wie er auch ins Paradies paßt. Eine Mädchenstimme, eine volle, reine Mädchenstimme von wunderschöner Klangfarbe, die irgendein Volkslied vortrug. Eine Violine begleitete den Gesang.
Wir konnten die Sängerin nicht sehen, denn sie stand hinter einem Gebüsch. Es mußte aber eine sehr junge Stimme sein, das hörte ich. Natürlich gingen die Friedel alsbald auf Kundschaft aus. Nach zwei Minuten kamen sie wie Verstörte zurück, die Hüte im Genick, die Augen eine halbe Meile vor dem Kopf.
›Sie ist's, Klein-Großchen! – Klein-Großchen, sie ist's! – Das Kuckucksei, Klein-Großchen!‹
Da blieb auch mir der Bissen zusamt jeglicher Ermahnung im Hals stecken.
Und was glaubt Ihr? Da bog schon die bekannte lange Gestalt – Ihr habt sie immer ›schlank‹ genannt – um das nächste Gebüsch, hielt einen Teller in der Hand und sammelte fünf oder sechs Tische von uns entfernt Gaben ein.
Mir stockte wirklich der Atem. Ich hatte eine der Friedel rechts, die andere links gepackt und zog sie neben mich auf die Bank. Sie waren ganz blaß, hatten Schreckensaugen und hielten still wie die Lämmer. Mein alter Walter fuhr halb von seinem Sitz auf und hatte großes Mitleid in den Augen.
Es dauerte ein paar Minuten, da war sie an unserem Tisch. Sie stand wie vom Donner gerührt und war weiß wie ein Leintuch; dann schwankte der Teller in ihrer Hand so, daß die gesammelten Geldstücke auf die Steinplatte der Terrasse klirrten.
Viele Hände halfen auflesen, vor allem die Jugend – auch meine beiden Friedel und Walter. Es war ein großes Gedränge.
Ich war aufgesprungen und zu dem – – dem armen Dinge hingetreten. Sie schaute mich mit solchen Furchtaugen an, Klaus, und sah so verhärmt und unglücklich aus, daß ich – brauchst nicht zu lachen, Klaus – ich vergaß alles Vergangene und sagte leise: ›Komm heim, Kind; dies hier ist nichts für dich.‹
Die Augen, Klaus! Dies Erschrecken, dies ungläubige Staunen! War ich denn wirklich solch ein Barbar, Klaus, daß ein freundliches Wort von mir so überraschte?
Das – das arme Ding, Klaus, hat kein Wort gesagt. Wie hätte es auch gekonnt mit den zuckenden Lippen! Aber es hat meine Hand genommen und – es hat sie geküßt und ich – ich habe ganz still gehalten, Klaus! Alles ist so schnell und überraschend gegangen – Du weißt, wie ich Handküsse und dergleichen hasse. – Dann waren alle Münzen wieder auf dem Teller, und Gladys stand an dem nächsten Tisch. Dort warfen sie ihr Geld zu; sie neigte dankend den Kopf und schritt zum nächsten. Jetzt war sie feuerrot, Klaus, und ihre Haare flammten. Die Friedel saßen stumm und starr; auch mein alter Walter sah mich hilfesuchend an.
›Was tun wir, Klein-Großchen?‹
›Ja, was tun wir, Kinder?‹ Euer Klein-Großchen war diesmal so rat- und hilflos wie sie.
›Es ist ein Mann bei ihr, der bös aussieht.‹
›Ja, er sieht furchtbar bös aus,‹ sagten die Friedel.
›Er spielt die Violine, wenn sie singt,‹ fuhr Friedelu fort.
›Dort gehen sie,‹ rief Walter, der den Weg überschauen konnte. ›Laßt uns schnell hinterher, sonst verlieren wir sie aus den Augen.‹
Das schien ein guter Rat zu sein. Wir also alle vier auf und hinterher wie der Wind; wer am raschesten war, weiß ich nicht. Ich keuchte freilich ein bißchen, aber was machte das! Ich nahm es doch noch mit den zwei Friedel auf.
Aber wir hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht, vielmehr ohne den Kellner. ›Payer, s'il vous plaît!‹ Ja so, das Zahlen hatten wir vergessen. Ich kehrte um.
Da standen mindestens vier Kellner, winkten mit ihren Servietten, schrien und lärmten. Eine Gruppe von Gästen hatte sich um sie gesammelt, und alle starrten hinter uns drein; einige lachten, und einige rümpften die Nasen. Ich winkte dem Menschen heran, der uns bedient hatte, und ich sagte ihm, daß er für seinen Käfertee eigentlich gar nichts verdient habe, daß er froh sein müsse, wenn ich nicht tüchtig Lärm geschlagen habe, daß er – kurz, ich hielt ihm eine Standrede, die sich gewaschen hatte. Ich muß sehr hoheitsvoll dabei ausgesehen haben, Klaus, denn er wurde immer kleiner.
Walter meinte dann freilich, die Worte seien es nicht gewesen, denn der Mensch habe kein Wort Deutsch verstanden. Um so besser, Klaus, dann war's das Wesen. Du siehst, man kann mich mir selbst anvertrauen. Ich bin sehr stolz darauf.
Aber das arme Ding hatten wir natürlich darüber aus den Augen verloren. Wir rannten durch alle Straßen Bellaggios; wir spähten vor allen Gasthäusern, in allen öffentlichen Gärten. Wo eine Violine quietschte oder eine Stimme sang, waren wir zu finden; halb atemlos rannten und suchten und forschten wir.
Die Leute machten aber schon sonderbare Gesichter, wenn wir wieder einmal mit feuerroten Köpfen und verschobenen Hüten irgendwo auftauchten.
Schließlich – – – dann haben wir das arme Ding auf dem Verdeck eines abfahrenden Schiffes gesehen. Ein Mann stand daneben mit einer Violine unter dem Arm; das war der mit dem bösen Gesicht. Mir war es unerträglich, das arme Ding an der Seite dieses Menschen davonfahren zu sehen; meiner Fee Schmerzensgesicht tauchte vor mir auf.
Da bin ich über die Landungsbrücke gerannt und wollte mit Gewalt noch über den Steg, den sie eben von Bord abschoben. Es hat nichts genutzt. Sie haben mich festgehalten, von zwei Seiten, nicht eben höflich, aber um so eindrucksvoller; kein Wehren half, auch kein Zanken und erst recht keine Vernunft. Sie lachten nur gutmütig über meinen Redeschwall und mein Sträuben, überschütteten mich ihrerseits mit einem Redeschwall, der noch lebendiger war als meiner und – – das Schiff fuhr seinen Weg.
Von der armen Gladys haben wir nichts mehr gesehen. In was für Hände sie geraten sein mag, Klaus? Der Mann sah nicht vertrauenerweckend aus. Aber meine Schuld ist es nicht, wenn sie nicht mit uns heimgekehrt ist, Klaus – sag das Fee! Ich habe sie so freundlich gebeten, als ich konnte. Und, Klaus, sag Fee auch, daß – ja, daß es mir herzlich leid ist, wenn ich mit schuld gewesen sein sollte, das arme Ding von uns fortzutreiben. Ich gäbe viel drum, wenn ich sie meiner Fee hätte zurückbringen können.
Also, da standen wir und hatten das Nachsehen. Die Leute lachten oder sahen uns mißtrauisch an; so schlichen wir geknickt in unser Hotel zurück.
Nun Schluß, Klaus! Ich bin des Gekritzels müde. Jetzt gibt es nur noch Karten, bis wir selber kommen. Ich freue mich auf daheim und auf meinen Alten. Küsse Lisa und Fee – ach, meine Fee! Wenn ich doch – – – aber was nutzt Jammern, wenn die Milch nun einmal verschüttet ist! Lebt also alle wohl. Eure Friedel.«
*
Es waren vielleicht sechs Wochen, nachdem dieser Brief geschrieben worden war. Frau Friedel war längst wieder daheim. Sie hatte zuvor ihre Reisekinder, wie sie sie nannte, in deren Elternhaus abgeliefert; das Leben dort, in Rödershof und im Herrenhaus zu Dresdorf ging längst wieder seinen alten Gang.
Fee machte den Ihren Sorge, aber nur Tante Lisa wußte, wie sehr sie in Wahrheit litt. Von all den schlaflosen Nächten hatten die Eltern keine Ahnung.
Als damals Frau Friedels Brief gekommen war, der von der Begegnung mit Tante Fees Schmerzenskind erzählte, da wollte sich diese kaum halten lassen, selbst dorthin zu reisen, wo die Spur aufgetaucht war, und nachzuforschen. Des Vaters und Tante Lisas Vernunftgründe hätten nicht ausgereicht, die Reise zu vereiteln. Da kam als schlagendster Beweisgrund für die Torheit des Geplanten eine einfache Erkältung und sagte: »Du mußt stillhalten.« Und Fee hielt still.
Derweilen kehrte Frau Friedel zurück, und die Wochen gingen hin. Fee war noch immer nicht wohl; sie hatte schlimme Tage und schlimmere Nächte.
In einer solchen war es nun. Sie lag ganz still, wie sie es gewöhnlich tat, Tante Lisa nicht zu stören.
Über die alten Baumkronen des Dresdorfer Parkes strich der Wind, raunte erst leise und hob sich dann zu einem brausenden Stürmen. Denn es war junger Maienwind, und er war wild wie Jugend überhaupt. Die alten Bäume schüttelten mißbilligend ihre Kronen, aber sie konnten es dem jungen Stürmer nicht wehren, daß er auch ihr festes Gefüge durcheinander rüttelte. Ihr trutzig verknorrtes Geäste knarrte um so lauter; es bog sich nicht wie junge Ruten. Drum war das Brausen und Sausen des Sturmes im Dresdorfer Park toller als sonstwo.
Dem lauschte Fee auch in dieser wachen Nacht, und die Gedanken stürmten mit dem jungen Stürmer draußen um die Wette.
Da – – was war das? Durch all die Orgeltöne des Sturmes klang ein weicher, klagender Laut, eine Menschenstimme. Sie verhallte, stieg und verhallte aufs neue.
Was war das? Ein Mensch, der es im Übermut mit dem Maiensturm aufnehmen wollte? Oder etwa ein Mensch in Not?
Fee saß in ihren Kissen, zitterte und lauschte. Ein Schauern lief ihr über den Rücken; etwas Kaltes griff ihr nach dem Herzen, daß ihr der Atem stocken wollte. Was das war?
Jetzt wieder! Lang nachhallend mischte sich der Menschenlaut in die Stimmen des Sturms. Und nun war es, als ließen sich Worte unterscheiden, ein Name, der wieder und wieder kam.
Mehr tot als lebendig, an allen Gliedern zitternd, ging Fee ans Fenster und öffnete einen Spalt. Der Maiensturm, der grobe Geselle, riß ihr den Flügel aus der Hand, schmetterte ihn beiseite und tobte herein mit seinem Schnauben und Brausen. Er trug in seinem Atem den Duft der Maienblütenfülle rings. Stürmisch war sein Hauch, aber lind und warm.
Wie er sein frohlockendes junges Toben ein wenig milderte, da – klang die Menschenstimme wieder durch. Es war eine Mädchenstimme, weich und flehend.
Ganz deutlich hörte man, was sie gerufen hatte und noch rief. Der grobe Geselle, der junge Maiensturm, besann sich endlich besser; er ließ die Menschenstimme zu Gehör kommen.
»Tante Fee! Tante Fee!«
Die also Gerufene, die für Wochen ihr Lager nicht verlassen konnte, hatte plötzlich einer Mutter Kraft, deren Kind sie in der Not anruft. Mit fliegenden Händen warf sie sich eine wärmere Hülle über und eilte mit den armen, sonst so leicht versagenden Füßen schnell über Zimmer, Flur und Treppe zu der schweren Eichentür, die das Dresdorfer Herrenhaus abschloß und schirmte gegen die übrige Welt. Sie schob die schweren Riegel beiseite, die zu bewegen sonst Männerkraft erforderte, und öffnete den einen Flügel.
Nun stand sie an der Freitreppe oben und ihre Augen durchbohrten das Halbdunkel der Maiennacht. Zu Häupten blinkten die Sterne und warfen ihren leisen Schein über alles rings.
Der Maiensturm selbst hielt den Atem an vor Erwartung, was jetzt folgen würde.
»Tante Fee! Tante Fee!« wimmerte es von der untersten Stufe der Freitreppe, wo etwas Dunkles zusammengekauert sich duckte.
»Gladys, mein Kind, bist du es?«
»Ich bin es, Tante Fee! Oh, Tante Fee, darf ich bei dir bleiben?«
»Komm zu mir, mein Kind!«
Da schleppte es sich die Stufen herauf, Tante Fees verlorenes Schmerzenskind, mühsam, auf Händen und Füßen, denn seine Kraft wollte nicht weiter reichen. Es lag vor Tante Fee am Boden, umschlang ihre Knie, und aller Trotz war gebrochen, aber auch alle junge Kraft.
Tante Fee legte die Arme verzeihend um ein fieberglühendes Geschöpf. Aber wie sie den jungen Körper zu sich heraufziehen wollte, wurde der schwerer und schwerer und zog sie selber mit sich zu Boden.
Da war es ein großes Glück, daß der wilde Maienwind, der Übermütige, nun so recht voll Übermut und Dreistigkeit durch die geöffnete Hallentür über Flur und Treppe sauste. Er weckte Tante Lisa, die erschöpft Im ersten Schlaf lag, nachdem auch sie lange seinem Stürmen gelauscht hatte, abwechselnd mit dem Horchen nach Fees Zimmer hin, von der sie wußte, daß sie sich lautlos verhielt, nur um sie, Tante Lisa, nicht zu wecken. Dann war doch der Schlaf gekommen – Tante Lisa hatte viele gestörte Nächte hinter sich. Aber nun fegte der Maiensturm durch das Haus in seiner ganzen jungen Dreistigkeit, und er weckte sie.
Was war das für ein Hexensabbat? War denn da nicht die Haustür aufgeflogen? Sonst hätte der Sturm doch nicht dermaßen durch das Haus pfeifen können! Man fühlte ihn ja förmlich im Bett. Der Christian hatte sicherlich vergessen, die Tür richtig zu schließen. Wenn nur das Kind, die Fee, nichts von dem Toben hörte! Sie wäre imstande – –
Da war Tante Lisa schon im Gewand, auf dem Flur, die Treppe hinunter.
Sie kam eben dazu, als Fee unter der Last des jungen bewußtlosen Körpers, der in ihren Armen hing, zu Boden glitt.
»Hilf, Tante Lisa! Da ist Gladys wieder.«
Tante Lisa war eine von denen, die nicht viel reden, aber anfassen, wo es nottut. Sehr schnell lag die Heimgekehrte in ihrem alten eigenen Zimmer, in ihrem eigenen Bett.
Kein Mensch hatte diesen Raum in ihrer Abwesenheit betreten dürfen; Tante Fee hatte den Schlüssel dazu verwahrt und war nur zuweilen selbst hineingegangen, Rückschau zu halten und von vielleicht Wiederkehrendem zu träumen. Nun war dies alles wiedergekehrt mit der jungen Herrin des Zimmers!
Da lag sie ohne Bewußtsein in den Kissen. Ruhelos drehte sich der junge fieberrote Kopf von einer Seite zur anderen. Tante Fee hatte auf Tante Lisas Geheiß die Haare gelöst; die rotgoldene Flut hing über den Bettrand fast bis zum Boden.
Christian war rasch geweckt und zum Arzt geschickt worden. Tante Lisa wollte nun in ihrer Angst Fee bewegen, zu Bett zu gehen; sie selbst versprach, treue Wacht zu halten.
»Hast du schon von einer Mutter gehört, die an sich denkt, wenn es ihr krankes Kind gilt? Hättest du mich allein gelassen, als ich dein Kind war? Tust du es jetzt?«
So saßen die beiden Frauen am Bett der Heimgekehrten und wachten über ihrem Fieberschlummer.
Gladys war sehr unruhig. Sie wollte einigemal aus dem Bett springen, und ihre Hüterinnen brauchten alle Kraft, sie davon abzuhalten. Sie sprach beständig, aber es war nur unverständliches Murmeln. Bloß zuweilen löste sich der eine weiche, klagende Ruf, der den Maiensturm übertönt hatte: »Tante Fee! Tante Fee!« Dann faßte die Gerufene nach den tastenden Händen der Kranken, legte ihre Wange dagegen, und das Mädchen wurde ganz still.
Der Arzt kam endlich, viel zu spät für Tante Fees Ungeduld. Lange stand er wortlos am Lager, behorchte und untersuchte; er schüttelte den Kopf, sah über die Brille weg in Fees Angesicht, zuckte die Schultern, beklopfte und untersuchte weiter.
Die Kranke hatte sich zuerst gesträubt und wimmernde Klagetöne ausgestoßen. Da hatte Tante Fees weiches Zureden wiederum beruhigenden Einfluß; die Kranke ließ nach einem Aufhorchen geduldig mit sich tun, was der Arzt für nötig hielt.
Der war nun mit der Untersuchung fertig, und Gladys lag sehr erschöpft in ihren Kissen. Ein unruhiger Schlaf setzte ein, aber die Kranke warf sich dabei hin und her, daß es beklemmend anzusehen war.
»Was sagen Sie zu meinem armen Kind, Herr Doktor!«
»Ich müßte mehr sein als ein Mensch, über den Ausgang Bestimmtes sagen zu können, Gnädigste. Daß eine Lungenentzündung da ist und eine Hirnentzündung im Anzug scheint, muß ich leider feststellen.«
»Und – und ist mein Kind verloren?«
»Damit muß ich Sie auf unseren Herrgott verweisen. Aber solange Leben da ist, darf man ja hoffen, und dies hier ist ein junges, kräftiges Leben; das läßt sich so rasch nicht unterkriegen. Hoffen wir also, Gnädigste.«
»Ist das Ihr Ernst? Darf ich hoffen?«
Er wollte noch einmal vorsichtige Einschränkungen machen; da sah er der Fragenden in die Schreckensaugen, und nun neigte er ganz leise den Kopf. Sie nahm es für ein Ja, und Zuversicht ging warm durch sie hin.
»Wir pflegen uns das Kind gesund, Tante Lisa.«
»Das tun wir, Fee!«
»Und dann bleibt alles Schlimme dahinten, und mein Kind ist mein für immer.« »Das gebe Gott!«
Es kamen schwere, angstvolle Wochen. Eine geschulte Pflegerin mußte die Pflege übernehmen. Weder Tante Fees Kraft, noch Tante Lisas Erfahrung wollten ausreichen.
Gladys' junges Leben schwebte tagelang an dem Abgrund hin, der alles Leben verschlingt. Es neigte sich über den Rand des Abgrunds angstvoll tief, es drohte abzustürzen. Aber treueste Liebe ließ es nicht, umschlang es mit ringenden Armen und – riß es zurück. Gladys durfte leben. Tante Fee durfte ihr Kind behalten.
Nun kam die Genesungszeit, in der die Herzen so weich sind und weit offen stehen. Die Pflegerin war schon seit Tagen gegangen und Tante Fee in den vollen Besitz aller ihrer Mutterrechte getreten, deren schönstes es ist, sein Kind betreuen, hätscheln und aufpäppeln zu können.
Tante Fee war so frisch und froh, so kräftig und voll Leben, daß es den Ihren ein Wunder schien, sie zu sehen. Alle freuten sich daher der Heimkehr der Verirrten.
»... denn weißt du, Klaus, ich würde es für eine Sünde halten, dem armen Ding etwas in den Weg zu legen, seit ich gesehen habe, wohin es gelangt, wenn es nicht hier bei uns bleibt. Der Mensch sah unheimlich aus, Klaus.«
So dachte und so sagte Frau Friedel. Und ihre Duldung gegen das frühere »Kuckucksei« wandelte sich sogar mit der Zeit in ein gewisses Wohlwollen. Das kam so.
Es war an einem Juliabend. So lange hatte es gedauert, bis die Genesung bei Gladys in vollem Gange war. Die Sommerdämmerung wollte eben sinken. Die Genesende lag, auf ihr inständiges Bitten, noch in ihrem Langstuhl auf der Parkterrasse. Über dem Gehölzrand des Wiesengrundes, der sich nach Rödershof dehnte, lugte schon mit seinem äußersten Zipfelchen der junge Mond vor. Das Geißblatt blühte am Steingeländer der Terrasse, und die Luft war voll von seinem Duft.
Gladys lag ganz still; sie hielt die Hände verschlungen und sah nach dem Mond. Dann wandte sie sich Tante Fee zu, die neben ihr saß und voll des Friedens war, der die Sommernacht füllte.
»Tante Fee, wirst du mich nie fragen nach –?«
»Mir ist es genug, daß ich dich wieder habe, Kind.«
Gladys' Augen wurden ganz dunkel.
»Er hat mich geschlagen, Tante Fee, weil ich nicht wollte tun, was er verlangte – unehrlich sein, Tante Fee, – nehmen, was nicht war mein. Da bin ich fortgelaufen. Es war in Hamburg; wir sollten gehen nach Amerika. Da wäre das Meer gewesen zwischen dir und mir! Es war wie der Tod. Glaubst du, daß Mutter zürnt, weil ich ihn haben allein gelassen, Tante Fee?«
Der blieb nur Zeit, den Kopf zu schütteln; die Mädchenstimme raunte weiter: »Ich wäre geworden eine schlechte Mensch, Tante Fee, schlecht wie er. Das kann Mutter doch nicht wollen. Und da bin ich fortgelaufen. Oh, es war schrecklich! Er stand schon auf das große Schiff – ich dachte, alles ist verloren – er hatte mich nicht von der Seite gelassen, als ob er hätte gewußt, was ich wollte tun. Da, im letzten Augenblick, drängten sie ihn von mir, die Schiffstreppe hinauf, die von das kleine Schiff zu das große führt. Er trug unser Gepäck und konnte sich nicht wehren; er dachte wohl auch, nun ist alles sicher. Ich kroch schnell in eine Winkel von die kleine Schiff. Ich zitterte mit alle Gliedern; ich hörte seine Stimme rufen nach mir, hörte ihn toben, weil sie ihn wollten nicht zurücklassen. Dann fühlte ich ein Schwanken unter mir; unser Schifflein schwimmte. Wie ich mich aufrichtete und aus meine Winkel kroch, waren wir schon eine große Strecke weit von der Riese abgetrieben. Ich sah ihn an Deck stehen, er mich auch. Er schüttelte seine Fäusten, und er schrie. So viel Zorn war in seiner Stimme. This was the last I saw of him, Tante Fee.«
Die hielt ihr Kind in den Armen und zog es dicht zu sich heran.
»Und weiter, Kind?« »Ich hatten ja das Goldstück von dir – – oh, Tante Fee, nun kann ich dir das genommene Geld nicht geben wieder, nun – –« ein leidenschaftlicher Tränenstrom folgte.
Erschreckt wehrte Tante Fee.
»Wer wird von so etwas reden! Was mein ist, ist dein. Bist du nicht mein Kind? Still, still!«
Gladys wurde ruhig.
»Ich will dich lieb haben wie deine Kind.« Es war wie ein Schwur, die dunklen Augen leuchteten.
Tante Fee legte die Arme noch fester um die junge Gestalt.
»Wie kamst du dann hierher?«
»Der Mann auf das kleine Schiff waren eine gute Mann. Er hat mich gebracht an die Bahn, wo ich mußte fahren, um zu dich zu kommen. Aber ich habe mein Geld dann verloren und – und ich bin gegangen eine weite Weg. Da waren viele gute Menschen, wo haben mir zu essen gegeben, und dann – dann bin ich gewesen bei dir.«
Es war eine lange Pause. Der Mond stieg höher und höher; er war nur wie ein schmales Silberschifflein, das durch das schwarzblaue Gewölbe zog. Dann hob Gladys den Kopf und sah tief in Tante Fees Augen.
»Ich wären aber nicht gekommen, wenn nicht kleine Fr– Mrs. Uödern – – wenn nicht deine Mutter dort am See hätten gesagt: ›Komm heim, Kind,‹ und hat mich angesehen so gut. Ich wären nicht gekommen – wären gestorben in bösen Welt draußen.«
»Ruhig, Kind, ruhig!«
Tante Fee brachte sie eilig zu Bett. Sie fürchtete den kühleren Nachtwind, der sich eben aufmachte, und sie fürchtete weitere Erregung vom Sprechen.
Wie Gladys dann wohlverwahrt in ihrem weißen Bett lag, da kamen durch den Wiesengrund im blinkenden Schein des Mondensilberschiffleins und der silbernen Sterne Großmutter und Großvater gar einträchtig dahergewandelt. »Wir haben doch mal nach dir und deinem Schäflein sehen wollen, Fee. Was macht denn die Prinzeß?«
So fragte Muttchen Friedel, und es war drollig zu hören, wie sie sich mühte, die allzugroße Kluft zwischen einst und jetzt zu überbrücken, wie ihre Stimme eine gewisse Sorglosigkeit ausdrücken sollte und doch voller Güte und Teilnahme war.
»Klein-Muttchen, dir hab' ich zu danken, daß das Kind wieder heimgefunden hat!«
Fee hatte die Arme um der Mutter Hals geschlungen und legte ihr tränennasses Gesicht an deren Wange.
»Drei Schritt vom Leibe! Denkst du, ich liebe Überschwemmungen?«
»Klein-Muttchen, wie soll ich dir danken?«
»Durch Vernunft – will ich mir ausgebeten haben! Schließ mal die Schleusen, Fee! Solange das – das – na ja, das arme Ding so elend war, habe ich's begreifen können und habe auch Nachsicht gehabt. Jetzt aber – sollen wir uns denn allesamt zu Amphibien ausbilden, bloß weil so ein – ein – –«
»Klein-Muttchen, weil du so gut mit ihr warst am Comer See, hat sie den Mut gefunden – –«
»Papperlapapp! Ich bin doch kein Untier – nie gewesen, Fee! Was, Klaus?«
»Nie, Friedelchen!«
»Da hörst du's, Fee! Was dein Vater sagt, ist wahr. Also brauch' ich die – die Mamsell nicht, es zu bestätigen – basta! Hier bring' ich frische Eier für Gladys, Fee, und da hab' ich ein Fleischgelee kochen lassen. Wir müssen dem armen Wurm doch wieder auf die Beine helfen. Johann bringt morgen von dem alten Madeira und – laß mich los! Du weißt, ich hasse Fisimatenten!«
»Klein-Muttchen, du bist ein Engel, und ohne dein ›komm heim, Kind‹, das du meiner armen Verirrten gesagt hast dort am Comer See, wäre sie nicht wieder heimgekommen. So hab' ich's dir zu danken, daß mein Leben wieder einen Inhalt hat!« »Gehen wir, Klaus! Mit überspannten Menschen ist nicht zu reden. Gute Nacht, Fee! Grüße Tante Lisa; sie soll nur ruhig an ihrem Brief bleiben. Wir kommen wieder, mein Alter und ich, wenn es hier etwas abgekühlt sein wird. Loslassen oder ich zwicke!«
Dort flog sie hin, als seien vierzig Jahre gewesen wie ein Tag.
»Väterchen, es gibt nur ein Klein-Muttchen,« rief Fee leuchtenden Auges.
»Das ist wahr, mein Mädchen, und Gott segne sie. Gute Nacht, Fee!«
»Gute Nacht, Väterchen! Und küsse Klein-Muttchen noch einmal von mir!«
»Werde mich hüten! Daß sie mir die Augen auskratzt.«
Im Wiesengrund, wo das Mondensilberschifflein am hellsten blinkte, stand Frau Friedel und wartete auf ihren »Alten«.
»Klaus, ich bin doch froh, daß wir das arme Ding wieder daheim haben und daß – – na ja, daß das Kriegsbeil zwischen uns begraben ist. Denn, Klaus, mir war gar nicht wohl dabei.«
*
Rödershof quoll wieder über von Kindern und Kindeskindern. Die Sommerferien hatten diesmal auch die beiden Elternpaare der Enkelschar mitgebracht; vierzehn Mann hoch war die Einquartierung eingerückt. Aber Frau Friedel gab keinen einzigen ab nach dem Dresdorfer Herrenhaus, wie ihr dessen Einwohnerinnen vorgeschlagen hatten. Sie war in ihrem Element.
»Denkt ihr, ich lasse mir einen von dem Gesindel verwöhnen, wie es hier Mode ist, he? Daß ich das nächste Mal meine liebe Not hätte? Nichts da! Ich muß sie unter Aufsicht haben, Alt wie Jung, Männlein wie Fräulein; nur so haut mir keiner über die Schnur – basta!«
So herrschte Frau Friedel als Tyrann, und es war ein Leben in Heidi und Hallo auf Rödershof. Vater Klaus führte mit Madam Gicht und den zwei Schwiegersöhnen ein vom Rest der Gesellschaft etwas abgesondertes Leben. Aus diesen, den Schwiegersöhnen nämlich, waren mittlerweile die ehrfurchtgebietenden Landgerichtsräte Paul und Heinz Western geworden, die in brüderlicher Liebe und allem anderen vereint geblieben waren wie die Assessoren Paul und Heinz von dazumal, da Lu und Li Rödern zuerst ihre Wege kreuzten.
Da Madam Gicht in dieser Zeit mehr als sonst darauf bestand, Vater Klaus mit ihrer liebenswürdigen Gesellschaft zu beehren, so war es dem Landgerichtsrat Paul und dem Landgerichtsrat Heinz eine liebe Pflicht, dem verehrten Schwiegervater und Madam Gicht die Zeit vertreiben zu helfen. Man war dadurch auch so beruhigend abseits von der »Horde«, wie die beiden Landgerichtsräte schnöde unter sich die beiderseitigen Familien zu bezeichnen pflegten, Frau Lu und Frau Li nicht ausgenommen, was der Erzählerin schwer fällt, festzustellen. Menschen bleiben eben Menschen, auch wenn sie Landgerichtsräte sind.
Das Vierblatt – Madam Gicht wurde als Dame höflich mitgerechnet – führte also abseits ein etwas stilleres, aber nicht minder ungetrübtes Leben, das heißt, wenn es Madam Gicht gefiel, die wie alle richtigen Frauenzimmer auch ihre Launen hatte; so sagten die drei Herren nämlich.
Frau Friedel war glücklich, ihren »Alten« und seine Begleiterin so wohl versorgt zu wissen; sie thronte mit Genuß als Herrscherin über der Enkelschar, über Frau Lu und Frau Li. Sie durchstreiften gemeinsam den Wald nach allen Richtungen, und keine irgendwie benachbarte Bergspitze war vor ihren Heimsuchungen sicher.
Die Pilzsuche lockte sie dieses Jahr zumeist. Hildegard und Gunter hatten die Leidenschaft geweckt; sie wußten nicht, was sie damit entfesselten. Es war ein übermenschliches Unterfangen, Klein-Großchen samt dem Kleinzeug und den beiden Friedel davon zu überzeugen, daß nicht jeder Schwamm, der lecker aussieht, auch zum Essen bestimmt ist, daß die Natur so heimtückisch sein könne, durch giftige Pilze den löblichen Sucheifer zu beschränken. Sie rafften unbesehen alles zusammen, was pilzartig im Waldmoos aufschoß, und sie waren sehr gekränkt, Klein-Großchen an der Spitze, wenn an ihrer Beute entsetzte Kritik geübt wurde.
»Habt euch nur nicht so, ihr Gelehrten,« zankte Klein-Großchen. »Es wird einen großen Unterschied machen, ob so 'n Ding gelb oder braun oder rot ist! Es gibt Menschen, die sich und anderen alles erschweren müssen. Kinder, werft denen da das Zeug vor die Füße, wenn es ihnen nicht paßt. Wir rennen eins!«
Das taten sie mit großem Hallo. Die anderen aber atmeten auf und suchten emsig weiter. Aber wenn dann am Abend das Pilzgericht gar so gut schmeckte und nicht für alle reichen wollte, versicherten Klein-Großchen und die Ihren, daß sie anderen Tags doch wieder helfen müßten, weil es ohne sie ersichtlich nicht ginge. Am anderen Tag begann dann dasselbe Spiel. Die es verstanden, seufzten und hatten die Last; die es nicht verstanden, lachten und hatten die Lust, wie es ja wohl meist im Leben zu gehen pflegt, nicht nur beim Pilzsammeln.
So waren sie auch wieder einmal von einer Pilzsuche heimgekehrt, diesmal besonders guter Dinge, denn der Zufall hatte gewollt, daß Klein-Großchen und ihre Hilfstruppe nur über solche Pilze stolperten, die eßbar waren. Das hatte ihnen viel ungewohntes Lob eingetragen und ihre Laune glänzend gemacht. Lob geht leichter ein als Tadel.
Die frohe Gesellschaft marschierte quer durch den Wald, nur der Richtung nach, ganz ohne Weg. Sie sang und jubilierte so ausgiebig, daß einer, der des Weges wanderte, hätte denken können, dort käme mindestens eine ganze Schulklasse dahergezogen, die, des Schulzwangs enthoben, sich nun für Wochen schadlos halten und auf Vorrat tollen müsse. Der Wald widerhallte rings.
Dort zog die Landstraße nach Loberg mit ihrem tiefen Einschnitt durch den Wald. Nach der Seite zu, wo die lustig Lärmenden nahten, stieg der Rain hoch und steil auf; gegenüber fiel er sanfter ab. An einer Stelle, wo er sich besonders tief senkte und die Waldbäume fast auf gleicher Höhe mit der Straße wurzelten, stand unter einer breitästigen Eiche eine schlanke Mädchengestalt. Sie hatte die Arme um den Stamm des Baumes geschlungen und lehnte den Kopf dagegen, als ob sie in einer Gefühlswallung irgend etwas ans Herz schließen müßte, und wenn es ein stummer Baum war. Die Sonne warf helle Flecke durch das Geäst und fuhr auf ihrem Weg ins Waldmoos liebkosend über des Mädchens Scheitel; der flammte auf wie eitel Gold.
Es war Gladys, die schon seit einiger Zeit ihre Waldstreifereien wieder aufgenommen hatte. Freilich mußte sie sie noch etwas beschränken, da die wiederkehrende Kraft doch noch nicht allzuweit reichen wollte.
Jetzt hörte sie den Hall und Schall von jenseits der Straße, und sie wußte Bescheid. Ein liebes, frohes Lächeln stieg in ihrem Gesicht auf, wie es jedes Gesicht ziert und junge so besonders anziehend macht – ein Lächeln, das der Gladys von früher fremd gewesen war. In ihren Augen erschien erwartungsvolles Leuchten. Sie trat ganz an den Waldrand, so daß sie dicht an der Straße stand.
Drüben kam der frohe Lärm immer näher; die, von denen er ausging, mußten bereits in unmittelbarer Nähe sein.
Und da waren sie auch schon sichtbar! Am Rand des hohen Rains tauchten zwei kleine weiße Kindergestalten auf, die sich haschten. Wie Schmetterlinge gaukelten sie, so leicht und zierlich. Zwei Jungen trabten daher mit derberen Füßen; auch sie wollten haschen. Sie taten es täppisch, wie Buben. Die kleinen Mädchen quiekten und gaukelten eifriger, dicht am Rand des steilen grünen Rains.
Der zuschauenden Gladys stockte der Atem. Sie wollte rufen, aber ihr fiel alsbald ein, daß ein Erschrecken schlimmere Folgen haben könne, als das Gewährenlassen. So stand sie wie erstarrt, und nur ihre Augen lebten. Sie hörte und sah nichts anderes rings. So hatte sie auch einen hellen Huppenton und herannahendes Fauchen nicht gehört; so gewahrte sie nicht, daß ein Kraftwagen um die Straßenbiegung sauste und in schnellster Fahrt nahte. Sie sah nur die Kinder dort oben am Rain, hörte nur ihre jauchzenden Stimmlein.
Da – – eins der kleinen Mägdlein geriet ins Wanken; es kollerte den hohen Rain herunter, erst langsam, dann immer rascher.
Gladys schrie hell auf, denn im selben Augenblick entdeckte sie erst den nahenden Kraftwagen und wurde ihr die Gefahr klar, in die das Mägdlein drüben unaufhaltsam hineinrollte.
Es war schon am letzten steilen Absatz des Rains angelangt; die nächste Umdrehung mußte es der Straßenmitte zuschleudern, wo die Gefahr mit Windesschnelle dahersauste. Die Straße war nicht sehr breit und der Hang steil. Die Stürzende wimmerte; die kleinen Gefährten oben schrien jammervoll. Sie waren allein; die anderen mußten noch nicht so weit gelangt sein. Der Führer des Kraftwagens – es war der Besitzer selbst – hatte sich nach hinten gewandt, wo seine Damen saßen, und unterhielt sich mit ihnen. Die Straße war ja ganz leer, davon hatte er sich bei der Biegung überzeugt.
Bei dem Schreien und Weinen wandte er den Kopf. Er sah die Gefahr und bremste sofort, aber er war schon zu dicht heran. Das stürzende Kind mußte jeder Berechnung nach in die Bahn des Wagens geschleudert werden.
Da huschte es im letzten Augenblick über die Straße wie ein Schemen, dicht vor dem Wagen her. Junge feste Arme fingen das stürzende Kind auf, noch eben zur rechten Zeit, denn da sauste schon die Gefahr vorbei.
Am Boden lag die schlanke Mädchengestalt, die das Kind in Armen hielt. Der Anprall des stürzenden Kindes hatte sie hingestreckt. Auch waren ihr die Sinne vergangen, denn es war allzuviel des Schreckens gewesen. Sie hörte noch ein Aufschreien von vielen Stimmen; das war das letzte. Oben am Rain waren
170 nun die anderen alle erschienen, Klein-Großchen mit Frau Lu und Frau Li, samt der ganzen Enkelschar. Der Kinder Geschrei hatte sie zuletzt im Sturmschritt herbeigebracht. Sie übersahen alsbald, was sich hier zugetragen hatte. Sie kamen den steilen Rain herunter und wußten selber nicht wie.
Der Kraftwagen hatte einen Augenblick gewartet. Als aber die Hilfe so zahlreich den Rain herunter nahte, da hielten es die Fremden nicht länger für nötig, ihre Fahrt zu unterbrechen. Daß kein ernstliches Unglück geschehen war, hatten sie ja gesehen.
Klein-Großchen und die Ihren umstanden die bleiche Gladys. Frau Li hatte ihre Kinder an sich genommen; sie tröstete an Lisi herum, die keinen ernstlichen Schaden davongetragen hatte, und an Leni, die zur Gesellschaft mitheulte. Hildegard kniete am Boden und hatte Gladys' Kopf im Schoß. Die blonde Irmingard strich der Bewußtlosen sanft das Haar aus der Stirn. Gunter und Walter liefen nach Wasser; ein Bächlein murmelte in der Nähe. Konz und Dieter starrten mit den beiden Friedel um die Wette.
Dann kam das frische Quellwasser, und Gladys schluckte erst unbewußt, dann mit Wohlbehagen. Sie hob den Kopf; in ihren Augen war wieder Leben. Sie gingen in die Runde, erst noch verständnislos; wie sie aber auf Lisi in Frau Lis Armen stießen, da leuchteten sie.
»Du nicht bist tot – wie gut!«
Da schob Klein-Großchen alle die anderen beiseite, recht ungestüm und unwiderstehlich, wie es so von alters her ihre Art war, die niemand übelnahm.
»Nun geht ihr mal alle weg! Ich führe das Kind heim – hört ihr? Ihr macht, daß ihr eurerseits heimkommt und zwar durch den Wald, nicht über Dresdorf; das möchte ich mir ausbitten. Fee könnte den Tod davon haben, wenn ihr allesamt über sie herfallen wolltet mit eurer Erzählerei. Steck Lisi ins Bett, Li; die Knöchelchen sind ja heil, dank dem tapferen Mädchen hier.«
Dabei nickte Klein-Großchen Gladys zu, und es stand in ihren Augen etwas, daß die noch nie gesehen hatte und auch nie vergaß.
Klein-Großchen trat zu Klein-Lisi und hatte Tränen in den Augen, als sie das Kind küßte. Die hätte aber beileibe niemand sehen dürfen; nur Klein-Lisi gewahrte sie und reichte das Mäulchen noch einmal: »Nicht weinen, Klein-Großchen.«
»Dummbart, wo werd' ich!«
Klein-Großchen war sehr rot und fuhr zurück, als ob sie sich verbrannt habe; es lachte aber niemand, auch die Friedel nicht. Dann bogen sie alle durch den Wald ab, um Dresdorf herum, wie Klein-Großchen gebot. Jeder hatte noch Gladys die Hand geschüttelt und Frau Li hatte das Mädchen geküßt, wie eine Mutter den küßt, der ihr ein liebes Kind gerettet hat.
Klein-Großchen aber ging mit Gladys am Arm heim, und sie ging so vorsichtig und langsam, als müsse sie jeden Schritt des Mädchens hüten. Was sie zusammen sprachen, hat niemand gehört. Aber als Klein-Großchen dann Abschied nahm von Fee, sagte sie: »Hast mal wieder tiefer gesehen, als dein Rauschebeutel von Mutter, Fee! Ist ja nun mal so, und ich kann es nicht mehr ändern – müßt mich schon so verbrauchen. Aber hüte das Kind gut; es ist's wert!«
An diesem Abend schrieb Fee in ihr Merkbuch:
»Ich danke dir, mein Herr und Gott, daß ich diesen Tag erleben durfte. Klein-Muttchens Urteil über mein Kind hat eine Änderung erfahren. Ich freue mich dessen, bin glücklich darüber. Nun erst werde ich meines Kindes wirklich froh werden.
Und ich fühle mich stark genug, die mir anvertraute junge Seele den Weg zu ihrem Heile zu leiten. War nicht mein Gefühl, dem armen Wildling Liebe, nur Liebe zu geben, richtig? Hat nicht die Liebe allein ihn zu mir zurückgezogen, da er mir in die Ferne entrückt war durch ein widriges Geschick? Aber vergessen darf ich nicht: auch Klein-Muttchens Liebe! Ihre erbarmende Nächstenliebe, die der ärmsten Versprengten dort in der Ferne zurief: ›Komm heim, Kind!‹? Klein-Muttchens Erbarmen, Klein-Muttchen goldenes Herze haben mir mein verlorenes Kind wieder zugeführt. Gott segne mein Klein-Muttchen!
Aber jetzt, Felicitas Rödern, gilt es, zu beweisen, daß du dessen wert bist, wessen der Herr dich würdigte in seiner großen Güte – daß du das dir Anvertraute nicht in eigensüchtiger Weise dir zuvörderst zu Nutz und Freude heranbildest, sondern allzeit eingedenk bist, wie jeder Mensch das Recht hat, nach seiner Eigenart ins Leben gestellt zu werden, nicht allein als Glied eines engeren Kreises – als Sohn oder Tochter, Bruder oder Schwester – sondern als selbständiges Glied des Großen, Ganzen – der Menschheit. Daran denke, Felicitas Rödern!
Dein Gott gab dir in seiner Güte dies Kind, nicht damit du ein Kind habest, dein Leben und dein Herz zu füllen, sondern damit du einen festen und starken, einen guten Menschen daraus heranbildest, der seinen eigenen Weg aufrecht und in Ehren zu gehen vermag. Dazu helfe dir dein guter Gott, Felicitas Rödern!
Gnädig und voll Güte hast du mich meinen Weg geleitet, Vater im Himmel, der ein Weg war abseits von den glatten Bahnen der anderen. In mancher Stunde wollte ich schwach werden, wollte murren – heute beuge ich mich deiner lenkenden Hand in Demut. Herr, leite mich ferner!
Viel hast du mir genommen, aber du hast mir viel gegeben – – ich danke dir, Mein Herr und Gott! Erleuchte mich auch weiterhin mit deinem Lichte, wenn ich im Finstern stehe und nach dem rechten Wege suche, denn ich bin gering und schwach.«