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Zweites Kapitel: Tante Fee

Es war schon beinahe dunkel im Zimmer. Vom dämmerigen Fensterviereck hob sich eine schlanke, hohe Gestalt ab. Sie stand dort regungslos, hatte den Kopf an die Scheiben gepreßt und starrte in den Nebel, der draußen alles zuhängte.

Kein Laut im Raum; nur zuweilen raschelte es leise von knisterndem Papier. Dort am zweiten Fenster saß eine Frau, beugte sich über eine Schieblade und machte sich mit deren Inhalt zu tun. Es waren Briefe und Papiere, die sie entfaltete, schichtete und ordnete.

Ein tiefer Seufzer weckte die in Sinnen verlorene hohe Gestalt am Fenster. Sie wendete sich.

»Du wirst dir die armen Augen verderben, Tante Lisa. Laß sein; es ist zu dunkel, irgend etwas zu sehen.«

»Ich weiß, Kind, ich weiß. Ich lege ja auch nur die Hände auf die Papiere. Mir ist, als habe ich dann noch ein Stück von ihm. Ich bin so allein, Fee!«

»Arme Tante!« Die Gestalt löste sich vom Fenster, kniete am Boden und legte die Arme um die Frau, die am Schreibtisch saß.

Ein wehes Schluchzen klang durch das Zimmer.

»Zwölf Tage erst, Fee! Wie soll ich die Jahre hinbringen?«

»Sie sagen, die Zeit hilft tragen, Tante.«

»Niemand braucht mich mehr, Kind.«

»Viele haben dich lieb, Tante! Klein-Muttchen, ich – –«

»Wenn ich dich nicht hätte, Fee!«

»Drum eben! Ich bin dein Kind. Braucht ein Kind seine Mutter nicht?«

»Mir scheint, wir hätten die Rollen gewechselt; ich komme mir so hilflos vor.«

»So laß mich dir ein klein wenig vergelten, was du an Liebe und Sorge für meine Kindertage hattest.«

»Meine Fee – mein Kind!«

Eine Weile war wieder nur das wehe Schluchzen laut; dann öffnete sich plötzlich die Tür zum Nebenzimmer und ließ eine fast schmerzende Fülle von Licht herein. Ein Hausmädchen mit dem Häubchen der englischen Dienerinnen wurde sichtbar.

» If you please, Ma'am – tea is ready

»Komm, Tantchen, es wird dir gut tun.«

»Kind, es schmerzt, daß der Alltag so weitergeht.«

»Und ist doch das einzige Heilmittel!«

Sie saßen am Teetisch, die beiden Frauen, in tiefer Trauer. Vor zehn Tagen erst hatte man den Herrn des Hauses dorthin getragen, von wo er nie wiederkehren würde. Ein verwaistes Haus, verwaiste Frauen. Schwer lastete die Stunde auf ihnen.

Mit liebevollem Zureden gelang es Fee, daß die Tante eine Tasse Tee und ein Brötchen nahm. Dann sah diese wieder regungslos und sah vor sich hin, sah immer das Eine, den Einen, der nicht mehr war.

Neben ihrer Tasse lag ein Brief. Sie hatte ihn wohl aus dem Nebenzimmer mit hereingebracht, schien ihn aber vergessen zu haben.

Um sie von ihrem Brüten abzulenken, fragte Fee: »Was ist das für ein Brief, Tante Lisa?«

»Ein Brief? Wo, Kind? Ich weiß von keinem.«

»Du hast ihn aber doch wohl mit hereingebracht. Laß sehen!«

Sie beugte sich rasch zur Tante hin, die Aufschrift des Briefes zu lesen, aber jäh fuhr sie wieder zurück – – war ganz blaß geworden.

»Seine Schrift!« Ungewiß, verängstigt sah sie zur Tante auf. »Der Brief ist an mich gerichtet.«

Die Tante war aufmerksam geworden. Sie hob den Brief und besah ihn jetzt erst näher.

»Von ihm an dich, Fee! Der Brief ist mir in all diesen Tagen ganz entgangen; ich muß ihn doch eben mit hereingebracht haben. Lies ihn, Kind!« Sie schob Fee den Brief zu. Ihre Hände zitterten.

Auch Fee griff unsicher danach. Es dauerte eine Weile, ehe es ihr gelang, den Umschlag zu öffnen und das Papier zu entfalten. Sie sah hinein und konnte vor strömenden Tränen nicht lesen.

»Lies,« drängte die Tante. Das Blut war ihr heiß zu Kopf gestiegen; ihre Augen flackerten.

»Ich kann nicht, Tante. Gib mir nur noch eine Minute Zeit!« Fees Stimme war gepreßt; sie drängte mit Gewalt die Tränen zurück. Endlich war sie so weit, daß sie ihrer Stimme trauen konnte; sie las:

»Geliebtes Kind! – Denn das warst Du mir, Fee, wenn ich auch nicht wirklich Dein Vater sein durfte! Ich liebe Dich mit eines Vaters Liebe, und ich weiß, daß Du mir im Herzen eine Tochter bist, mir und meiner geliebten Lisa. Und ihretwegen zumeist schreibe ich diesen Brief, der zu Dir sprechen soll, wenn ich nicht mehr bin. Ich flehe Dich an, Fee: laß meine Lisa, laß Deine arme, einsame Tante, die Dir mit einer Mutter Liebe zugetan ist, – laß sie nicht allein. Ich baue auf Dein Herz, das sich stets als gut und edel erwiesen hat; es wird den rechten Ausweg finden. Ich weiß, es ist kein Kleines, zwischen zwei Pflichten zu stehen, aber ich baue auf Dich.

Dein Leben war nicht leicht, mein Mädchen! Es hat in jungen Jahren viel Entsagung und Geduld von Dir gefordert. All unsere Liebe hat Dir darüber nicht hinweghelfen können. Sie hat ein wenig erleichtern dürfen; aber groß und stark bist Du den schweren Weg gegangen, uns allen ein Vorbild, unser Stolz, unser Glück. Über das Grab hinaus darf ich Dir diese Worte sagen.«

Fee barg das Gesicht in beiden Händen; ihre Stimme war zuletzt nur ein Hauch gewesen. Dann glitt sie vom Stuhl und lag vor der Tante auf den Knien.

Die faßte den Kopf der Knieenden und legte den ihren darauf. So blieben die beiden Frauen eine lange Zeit.

Fee faßte sich zuerst, besann sich darauf, daß sie die Stärkere sein müsse.

»Ich lese weiter, Tante! Wir wollen hören, was der Treue, Gute noch weiter zu sagen hat.«

Sie blieb vor der Tante knien und hielt sie mit einem Arm umschlungen, während sie weiter las:

»Was ich tun kann, Dir den weiteren Lebensweg zu erleichtern, das ist die Sorge und der Gedanke meiner letzten Jahre gewesen. Du hast Dich zum Heiraten nicht entschließen können, und es war ja vielleicht besser so, meine Fee. Ich mußte Dir in Deinen Gründen recht geben. Du sollst auch ferner frei sein in Deinen Entschließungen, ganz Dein eigener Herr. Deshalb habe ich eine Summe für Dich auf der Bank hinterlegt, über die Du ungehindert verfügen kannst. Mein Rechtsanwalt ist angewiesen, Dir bei deren Erhebung behilflich zu sein, sobald Du es wünschest. Meiner geliebten Lisa entziehe ich damit nichts; sie hat für ihre Bedürfnisse genug, und ich weiß, daß ich in ihrem Sinne handle.«

»Das tat er! Mein Werner! Es gibt nicht leicht einen Mann, wie er war!«

»Keinen, Tante! Er war der Beste, Edelste – –«

Fee brach ab. Vor ihren Geistesaugen tauchte ein Männergesicht auf mit grauem, vollem Bart, der einst blond gewesen war. Zärtliche Augen sahen sie vorwurfsvoll an: »Und ich, dein Vater?« Sie preßte den Kopf fester gegen die Tante, hob ihn dann mit Blicken der Hilflosigkeit: »Entzieht man dem einen etwas, wenn man den andern preist, Tante?«

Ob Tante Lisa ahnte, was in Fee vorging? All ihre mütterlichen Gefühle waren plötzlich wach. Sie legte den Arm um Fees Nacken und zog sie dicht an sich.

»Meine Fee, mein Kind, unser Herz ist so wunderbar liebesstark! Es hat genug für alle. Erlischt eine Flamme, wenn Du eine zweite daran entzündest?«

Sie hielten sich eine Weile umschlungen; dann sagte Tante Lisa: »Lies den Brief zu Ende, Kind.«

So tat Fee: »Als Geschäftsmann, der ich Zeit meines Lebens war, weiß ich, daß ein nicht zu unterschätzender Vorteil darin liegt, hinsichtlich der Geldfrage sichergestellt zu sein. Es ist nicht alles, aber es ist unendlich viel. Dies kann ich zum Glück für Dich tun, meine Tochter, und ich tue es aus väterlichem Herzen. Mein Segen ruht darauf. Dein wirklicher Vater hat viele Kinder, viele Enkel; ihm wird diese Beihilfe für Dich willkommen sein.

Eines Vaters reichsten Segen auf Deinen ferneren Lebensweg, geliebtes Kind! Du hast meiner Lisa und mir viele Jahre unsres Lebens hell gemacht, bist uns stets ein wahres Kind gewesen. Ich danke Dir! Dein Onkel Werner Horst.«

Nur das Schluchzen der beiden Frauen unterbrach die tiefe Stille im Raum.

»Tante Lisa, du kommst mit nach Deutschland,« begann nach einer Weile Fee wieder. »Klein-Muttchen und ich, wir werden dich auf Händen tragen. Klein-Muttchen sehnt sich nach dir und mir. Ihre Briefe klingen so trübe; sie wäre so gern gekommen. Sag ja, Tante Lisa!«

»Wie kann ich, Kind! Wie dürfte ich sein Grab so allein lassen!« Erschreckt wehrte Frau Lisa ab. »Ich kann nicht, Kind.«

In Fees Gesicht glomm etwas wie ein jäher Schreck auf; sie zwang es aber mit Willenskraft nieder.

»Du brauchst dich ja nicht von heute auf morgen zu entschließen, Tante Lisa,« sagte sie sanft. »Wir können warten, Klein-Muttchen und ich. Wir haben dich unendlich lieb.«

»Gib mir Zeit, Kind.« Gequält sagte es Frau Lisa.

Dann gingen die beiden für die Nacht auseinander. – – –

Fee saß in ihrem Zimmer. Aus der Lieblichen, jugendlich Zarten von einst war eine anmutige Frauenerscheinung herangereift. Immer noch schlank, hoch und fein, zeigte das zarte Gesicht jenen verklärenden Leidenszug, der stets durchgeistigt und adelt. Der Gang war mühsam und behindert; man sah, es gehörte eine Willensanstrengung zu jedem Schritt. Auch diente ein Stock als Stütze, und ein Fahrstuhl in der Ecke des Zimmers bewies, daß es für Fee des öfteren weniger gute Zeiten gab.

Sie saß vor ihrem Schreibtisch. Eben hatte sie ein Buch herausgeholt, das geöffnet vor ihr lag; viel beschriebene Seiten und viel weiße Blätter zeigte es, als sie nun wie träumend hineingriff und die Seiten wandte.

Auf dem Titelblatt ruhte ihr Auge zuerst. »Merkbuch« stand da geschrieben, und sie nickte vor sich hin.

»Ich wollte die Marksteine an meinem Lebensweg hier verzeichnen,« flüsterte sie, vertiefte sich dann und las weiter: »Am Abend von Lus und Lis Hochzeitstag. Da sind sie nun hinaus in die Welt, die beiden, strahlend vor Glück! Es muß schön sein, so ins volle Leben treten zu können – ein ganzer Mensch werden zu dürfen, der anderen etwas bedeutet – von dem anderer Wohl und Wehe abhängt! Lu und Li Western sind andere als Lu und Li Rödern. Verantwortlichkeit liegt auf ihnen, Pflichten. Die machen erst den ganzen Menschen, reifen ihn, läutern ihn, lassen ihn wachsen. Kleine Lu, kleine Li, Segen über euch!«

Fee hob den Kopf und sann lange. Ein leises, fast ein schelmisches Lächeln lag um ihren Mund. Sie dachte wohl der Mütter Lu und Li mit der Schar von Großen und Kleinen, Braunen und Blonden. Dann las sie weiter.

»Ich soll also wirklich in die Klinik nach Heilburg! Vater und Onkel Werner haben es gestern abend noch fest verabredet mit Doktor Straß, dem jungen Assistenzarzt von der dortigen Klinik. Auch mein alter Doktor ist dafür. Ich will alles tun, was sie sagen: ich möchte gern gesund sein. Das Leben ist so schön. Wo Lu und Li jetzt sein mögen?

Doktor Straß meint ja, sein Chefarzt könne Wunder wirken. Ach, wie gerne – wie gerne ließe ich ihn eines an mir vollbringen! Der grausame Balken! Er hat mir viel entzweigeschlagen. Ach, es ahnt ja niemand, wie ich oft mit mir ringen muß, eine helle Miene zu zeigen und ergeben zu sein. Wenn ich den Kopf hängen lasse, sind sie alle traurig, die mich liebhaben. Darf das sein? Und ich habe so viel Grund, froh zu sein, meine Liebsten froh zu machen. Liebe umgibt mich, hebt mich, trägt mich, stützt mich. Ich muß dankbar, so dankbar sein.

Tante Fee hatte ein Buch hervorgeholt.

Wer hat so viele Herzen, die um ihn trauern, mit ihm leiden? Muß ich nicht danken, danken ohne Ende? Wäre ich nicht das unwürdigste Geschöpf, zu zagen und zu klagen?

Ach, daß Doktor Straß recht hätte ...!«

Wieder sah die Leserin sinnend ins Licht, wendete dann träumverloren ein paar Seiten und las weiter.

»Ich bin nun schon sechs Wochen hier in Heilburg. Es geschehen leider keine Wunder mehr. Oder bin ich etwa zu ungeduldig?

Doktor Straß zeigt immer dieselbe Zuversicht. Ich bemerke aber doch, daß allmählich eine Veränderung in seine Miene, seine Worte kommt. Was an Zuversicht und Hoffnung früher aus dem Innersten floß, frisch wie der Bergquell, das löst sich ihm jetzt matt vom Munde, und in seinen Augen liegt Unsicheres, Abwägendes. Und ich sehe auch, daß seine Augen zuweilen mit tiefem Erbarmen mich streifen!

Ach, es geschehen keine Wunder mehr – – –«

Wieder sann Fee. Eine Träne fiel schwer in das offene Buch. Erschrocken tupfte Fee sie auf, senkte den Kopf und las weiter:

»Seit Wochen bin ich nun schon wieder daheim. Drei Monate war ich in der Klinik und Tante Lisa immer bei mir. Klein-Muttchen hat ihre Pflichten daheim. Ich habe ja wohl etwas mehr den Gebrauch meiner Füße zurückgewonnen; ich gehe am Stock im Haus umher, schleiche am Stock die Parkwege entlang. Und doch – – –! Bin ich undankbar? Habe ich allzuviel erhofft?

Sie strahlen und leuchten alle, wenn ich so mühsam einherhumple. Väterchens Augen sind stets voll Zärtlichkeit auf mich gerichtet? Klein-Muttchen ist lebhaft und munter wie immer. Großvaters Blauaugen blitzen und Tante Lenchen hat die Hände gefaltet; ihr laufen die Tränen über das gute Gesicht. Und ich?

Ich leuchte und strahle mit – könnte ich anders? Aber tief innen ist's dunkel – dunkel. Sie wissen, sie ahnen es nicht – –

Doktor Straß hat geschrieben – einen guten warmen Brief! Er sagt, er könne sich nicht vergeben, daß er Hoffnungen in mir geweckt habe, die unerfüllt geblieben seien; er könne meinen trostlos traurigen Blick beim Abschied nicht vergessen. Warum hat er tiefer gesehen als alle meine Lieben rings? Ob ich ihm verzeihen wolle, fragt er.

Ich – – ihm verzeihen? Er hat doch mein Bestes gewollt! Trägt er die Schuld, wenn es eben nicht sein soll? Ach, jener grausame Balken!

Ob er kommen dürfe, fragt er noch, und sich überzeugen, wie ich die Enttäuschung trage. Weshalb fährt die Aussicht, ihn wiederzusehen, wie eine Flamme durch mich hin? Lu – Li, ihr seid glücklich!«

Wieder starrte Fee geraume Weile ins Licht. Ihre Augen glänzten eigen; ein Träumen war darin. Um den Mund lag es weich und doch wie Schmerz. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, seufzte leicht und nickte vor sich hin. »Ach, wie liegt das fern!« Dann wendete sie sich wieder ihrem Buche zu:

»Er war da – Doktor Straß. Es war ein wunderschöner Tag und endete – – Ich will es erzählen. Wenn ich es niederschreibe, bleibt es haften mit allen Einzelheiten. Es wird ja doch der Tag meines Lebens gewesen sein.

Nie hat die liebe Sonne geschienen wie eben heute. Mir war es, als leuchte sie mir zuinnerst ins Herz, wie ich meinen gewöhnlichen Morgengang humpelte, den Wiesengrund hin, den ich so liebe.

Mit der Frühpost waren gute Briefe von allen Lieben gekommen; vielleicht war's das, was mich so besonders froh machte. Klein-Muttchen hatte mitkommen wollen. Im letzten Augenblick tauchte die Milchmamsell auf und meldete irgend einen Umstand, der Klein-Muttchens Gegenwart dringend notwendig machte.

Im Wiesengrund war es so still und morgenfrisch. Nirgends vergesse ich mein Mißgeschick so leicht, als in der Sonne, im Grünen. Wie die Vögelein singen und jubilieren! Wahrlich, was an Freude und Dank in uns ist, an solchem Morgen müssen wir es vorholen, es mit Liebe besehen und blank putzen für trübere Zeit.

Ich sah am murmelnden Büchlein. Vater hat mir ein Bänkchen dort hinstellen lassen; es träumte sich da so besonders gut. Ich schaute rings umher. Mich dünkte, so schön wie heute hätte ich es noch nie gesehen.

Strahlend blau der Himmel, golden die Sonne, ein mit Blumen gestickter Teppich die Wiese. Kristallklar das hüpfende Wässerlein und darüber her das Geäste von blühenden Apfelbäumen! Bis zum Wasser nieder hingen die Zweige, eine rosigrote Wolke. Ich saß unter dem größten Baum; durch die rosigen Blüten sah ich zum goldenen Sonnenhimmel auf und mein Herz war weit und voll Dank. Ich darf doch alle diese Gotteswunder schauen und genießen! ›Auch du bist unser Kind‹ sagt Mutter Natur mit einer Mutter Stimme. Die Sonne griff linde kosend durch das blühende Geäst nach mir. Licht und weit war es in mir, voll Dank und voll Freuen.

›Hier finde ich Sie, gnädiges Fräulein‹ sagte da eine Stimme.

Ich kannte sie. Mein Herz tat einen mächtigen Schlag; aber ich erschrak nicht. Es war, als ob die Stimme aus meinem wachen Traum heraus redete – dem Traum von Schönheit, Frohsinn – Jugend.

Ich wendete den Kopf. Doktor Straß stand neben mir. Stumm sah ich ihn an, aber meine Augen müssen gesprochen haben.

Er faßte meine Hand; es war ein Unbeherrschtes in seiner Stimme, das ich an dem Ernsten, Stillen gar nicht kannte.

›Ich mußte Sie sehen, Fee ...‹

›Ich freue mich dessen. Willkommen auf Rödershof.‹

›Lassen wir die üblichen Redensarten! Ich wollte wissen –‹ Er stockte.

Ich erstaunte keinen Augenblick, daß er mich bei meinem Vornamen nannte; mir war, als müsse es so sein, und ich fragte: ›Was wollten Sie wissen? Wenn ich es Ihnen sagen kann –‹

Er hob die Hand und ich verstummte. Er faßte meine beiden Hände und sah mir forschend in die Augen.

›Sind Sie sehr enttäuscht – sehr unglücklich?‹ fragte er und seine Stimme zitterte.

›Sehe ich so aus?‹

Ich hob ihm mein Gesicht zu; die Freude über sein unerwartetes Erscheinen mußte noch darin stehen. Aber sein Blick bohrte tiefer. Da sank der meine wieder; ich neigte den Kopf und – ja, ich konnte es nicht hindern – eine Träne rann mir langsam über das Gesicht und fiel in meinen Schoß.

›Ich wußte es,‹ sagte er dumpf.

Und dann – –

Ich mag seine Worte hier nicht niederschreiben. Er hat mich gefragt, ob ich sein Weib werden wolle – ob er mir ersetzen dürfe in Treue, was der grausame Balken mir genommen hat. Er redete lange, überzeugend, hinreißend. Ein warmer Strom ging durch mich hin; es war wie ein neues Leben.

Aber dann – – – dann habe ich ihm gesagt, daß es nicht sein könne, daß ich allein bleiben müsse – niemand ein Hindernis sein dürfe auf seinem Wege, eine Kette, die am Vorwärtskommen hindert.

Erst hat er sich dagegen aufgebäumt. Aber ich bin fest geblieben, und da ist er allmählich ruhiger geworden. Ich konnte ihn lehren mit meinen Augen die Sache anzusehen. Da wurde er schließlich ganz stille – ganz voll Frieden.

Wir saßen noch eine Weile unter den Blütenbäumen, unter der goldenen Sonne im leuchtenden Himmelsblau. Ganz so jauchzend schön war es ringsum nicht mehr. Wir haben noch viel zusammen gesprochen; dann ist er gegangen, ist gegangen, ohne in Rödershof einzukehren.

Als Klein-Muttchen nicht lange danach kam, hat sie ihre Älteste leidlich gefaßt gefunden. So schmeichelte ich mir wenigstens.

Aber einer Mutter Auge sieht scharf, und so erzählte ich ihr alles. Da hat sie herzbrechend geweint und geschluchzt – mein Klein-Muttchen, das sich sonst durchs Leben lacht wie ein sonniges Kind!

Muß ich allen, die mich lieben, Kummer bringen? Eine harte Zugabe meines harten Geschicks!

Hart? Herr, ich versündige mich, daß ich um das eine Versagte klage, wo du so reich und voll deine guten Gaben über mich ausgeschüttet hast! Klein-Muttchen ist denn auch ruhig geworden. Ich mußte es sein, wollte ich sie trösten. Wir sind durch den Wiesengrund heimgegangen.

Ich habe einmal ein Märchen gelesen. Ein Elfenvölklein hauste in einer Gegend. Alles wuchs und gedieh; ein überirdisch strahlender Schein lag über dem Lande. Der Menschen Fürwitz vertrieb die kleinen Leute. Sie flohen mit Klagen aus der lieb gewordenen Heimat, und seitdem war alles düster grau ringsumher.

Auch aus meinem Wiesengrund war das Elfenvölklein heute gewichen. Alles war grau. Und so endete der Tag – – –«

Die Gereifte, die hier die Aufzeichnungen ihrer jungen Tage las, neigte sinnend den Kopf. Sie sah auf die Blätter, sah im Geiste das junge leidgebeugte Wesen von einst, dem die Sonne erloschen schien mit jenem einen Tag, und ein Lächeln ging um ihren Mund – ein Lächeln, das schmerzlich war und voll Laune zugleich.

»War ich das wirklich einst? Bin ich derselbe Mensch?« so flüsterte sie. »Mir ist, als sei es eine ganz andere, die damals litt und rang.«

Sie wandte die Blätter, warf hier einen Blick hinein und dort einen, las jetzt flüchtig, und dann wieder mit neuem Interesse:

»Sind es wirklich erst fünf Jahre her, daß Doktor Straß neben mir unter den Blütenbäumen saß? Heute bittet er mich, Patin seines ersten Kindes zu sein. Es ist ein Mädchen und soll nach mir Felizitas heißen.

Felizitas, das heißt Glück. Möge ihm der Name mehr Glück bedeuten, als – – – Schämst du dich nicht, Fee Rödern?

Wen das Schicksal mit so viel Liebe umhegt hat, darf der von Mangel an Glück reden? Darf der murren? Schäme dich, Fee Rödern.

Klein-Muttchen hat mir Pflichten geben wollen, da sie mein Verlangen danach sah. Meine schwache Kraft reichte nicht zur Hilfe im Haushalt; mein Leben drohte leer zu bleiben, denn nur Pflichten füllen es aus.

Ich habe mir dann etwas ausgedacht und Väterchen half, es wahr zu machen. Er hat mir ein Häuslein bauen lassen, halbwegs nach Dresdorf zu. Bis dahin kann ich mit meiner Kraft gelangen, oder sie schieben mich im Fahrstuhl hin, wenn Wetter oder Gesundheit das Gehen verbieten. Die Kleinen von Dresdorf und aus anderen Dörfern kommen dahin zu mir; ich lehre sie und bewahre sie, bis die älteren Geschwister oder die Mütter Zeit haben und sie holen kommen.

So viele Freude machen mir diese Kleinen! Ich liebe sie und – oh, ich bin ihnen so dankbar! Wie füllen sie mein Leben! Wenn ich dann am Nachmittag heim komme, habe ich so viel zu berichten. Väterchen und Klein-Muttchen sind voller Teilnahme und freuen sich stets auf meinen Bericht. Ihnen entziehe ich nichts durch meine Tätigkeit. Den Morgen haben sie mit der Wirtschaft zu tun; des Nachmittags holen sie mich meist nach ihrem Spaziergang. Und dann berichte ich und der Rest des Tages gehört ihnen. So stiegen die Tage – und es sind gute Tage.

Aber ich bin ganz von meinem Patenkind abgekommen; die Schar meiner anderen Kinder hat es in den Hintergrund gedrängt. Wie ich der Kleinen alles Gute wünsche!

Er hat mir damals bei seiner Verlobung das Bild seiner Braut geschickt. Ein holdseliges Gesicht, und sie hat ihn glücklich gemacht; seine Briefe verraten es mit jeder Zeile.

Vielleicht bringt er mir sie eines Tages zugleich mit seinem Kinde. Ich zeige ihm dann alle meine Kleinen und sage: ›Freund, das Leben hat mich reich gemacht!‹ Ich weiß, es wird ihn freuen – – –«

Wieder sann die Leserin. Jetzt lag ein heller Schein über ihrem Angesicht. Und ihr Auge fiel auf eine andere Seite, die ihr Interesse fesselte:

»Großvater ist gestorben. Klein-Muttchen trauert tief. Niemand stand ihm so nahe wie sie, auch Tante Lisa nicht.

Sie fand ihn in den letzten Zügen. ›Halali, Jungchen – basta!‹ Das waren seine letzten Worte; aber den Blick hat er nicht von ›Jungchens‹ Gesicht genommen, bis die Augen ihm brachen. Seine schönen strahlenden Blauaugen, die so jung waren bis zuletzt!

Heute haben sie sein Testament gelesen. Klein-Muttchen ist Herrin auf Dresdorf. ›Weil das Jungchen doch das meiste Herz dafür hat! Der Klaus soll es mal fein gewähren lassen mit der Verwaltung und ihm nicht dreinreden. Was das Jungchen tut, ist recht getan.‹

Soll Klein-Muttchen nicht trauern? Solche Liebe! Sie weint sich schier die Augen aus.

Nun steht Dresdorf leer. Wie viele Kindererinnerungen sind mit dem Großvater zu Grabe getragen!«

Fees Hände blätterten weiter:

»Lu und Li sind glückliche Frauen und Mütter geworden. Die Schar der Kleinen wächst. Sechs Neffen und Nichten zähle ich nun schon, ich glückliche Tante. Wenn die im Sommer in Rödershof sind, wollen mir meine Kinder – die kleinen Dorfkinder, die zu mir kommen – fast zu viel werden. Weit lieber befaßte ich mich dann mit Neffen und Nichten allein. Aber Pflicht bleibt Pflicht, ob selbst gewählte oder nicht. Ja, solche fordert noch dringender.«

Ein paar Blätter weiter hieß es:

»Meine Schule wächst; die Kleinen strömen mir nur so zu. Solch ein Kindersegen! Ich hätte nie gedacht, daß so viele hier in der Nähe wachsen. Es ist aber auch erstaunlich, von wie weit her sie mir die Kleinen bringen. Ich könnte stolz drauf sein. Wenn nur die Kraft aushält! Zuweilen – – –

Väterchen hat darauf bestanden, mir ein junges Mädchen zur Hilfe beizugeben. Und vielleicht ist es besser so. Manchmal geht es wirklich über meine Kraft, allem gerecht zu werden, was das kleine Gesindel möchte.

Ich bin so glücklich! Ich beweise doch, daß man auch trotz Stock und steifem Daherhumpeln ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft sein kann. Mein Leben liegt hell und froh vor mir. Gar so grausam war der Balken doch nicht, wie es den Anschein hatte. Ich bin ein glückliches Menschenkind. Auch die Liebe der Meinen genieße ich in doppeltem Maße. Die Guten glauben ersetzen zu müssen, was ihrer Meinung nach das Geschick an mir verschuldet hat.«

Fee sah lange vor sich nieder. Dann nickte sie leise. »Ja, es werden Opfer gefordert!« Sie las weiter:

»Ich habe verzichten müssen. Ein Licht ist erloschen auf meinem Wege. Wie ist es dunkel rings!

Eine böse Epidemie ist in meiner kleinen Herde ausgebrochen. Gar manche hat man zu Grabe getragen. Arme Mütter!

Auch nach mir hat der Würgeengel greifen wollen. Klein-Muttchen hat mit ihm gerungen mit all ihrer Liebeskraft.

Ich habe bei den Eltern bleiben dürfen, aber – – meine Kraft ist dahin! Doktor Mühren hat ein Machtwort gesprochen: ich darf nicht mehr ans Aufnehmen meiner selbstgeschaffenen Pflicht denken. Ich bäumte mich dagegen; er hat mich zur Ruhe gebracht. Ich weiß jetzt, daß es meine erste Pflicht ist, mich den Meinen – soweit es mein schwacher Körper gestattet – in Frische zu erhalten. Ich darf mir nicht mehr zumuten, als meine Kraft leisten kann, sonst büßen es andere – Klein-Muttchen voran.

So habe ich mich ergeben – habe meine Schule geschlossen. Zehn Jahre meines Lebens hat sie mir hell und froh gemacht. Sollte ich nicht dafür danken? Ich mache einen Strich unter diesen Lebensabschnitt.

Wird mir in Gnaden irgendwo ein neuer Lebensinhalt gegeben sein? Soll mein Leben keinen Selbstzweck haben als nur den, den Meinen ein Gegenstand der Liebe, des Verzugs, des Verhätschelns zu sein?

Herr im Himmel, ist dies Undank? Dann vergib mir meine Schuld! Nimm du meine Hände und führe mich!« –

Nur einige weitere Blätter waren beschrieben. Die Lesende überflog sie. Dann nahm sie die Feder auf und schrieb dazu »Sollte dies der Zweck meines Lebens sein, meiner vereinsamten Tante in ihrer Not beizustehen?

Sollte ich Vater und Mutter verlassen müssen, weil sie meiner so sehr bedarf – weil es der geliebte Tote also von mir forderte?

Mein Herz ist so bange. Ich stehe vor einer dunklen Wand – – wird eine Tür sich auftun zum Licht?

Hilf du, Herr des Himmels und der Wege aller Menschen!«

Leise stand Fee aus und löschte das Licht. Aber lange noch starrte sie mit brennenden Augen ins Dunkel –

»Laß mich auf den Friedhof gehen, Tante Lisa. Ich möchte unserem Toten Blumen bringen. Ich kann gut allein gehen, Tante. Du sollst nicht mitkommen! Deine Erkältung fordert es; du mußt dich pflegen. Es weht ein rauher Ostwind.«

»Und du, Kind – bist du nicht zarter als ich? Du wirst dich auch erkälten.«

»Ich nehme einen Wagen, Tante, wenn es dich beruhigt. Ich gehe nur bis zum Blumenladen.«

Lange stand Fee trauernd und des heißesten Dankens voll am Grabe des geliebten Toten. Ein scharfer Wind, wie ihn der Oktober schon bringt, fuhr über den Friedhof hin. Er weckte Fee schließlich zur Gegenwart. Sie hüllte sich fröstelnd fester in ihren Mantel, den sie bis oben zuknöpfte.

Der Wind weckte auch Fees Gewissen. Sie durfte sich nicht erkalten – wer sollte für Tante Lisa sorgen? Also heim, so schnell als möglich!

Entschuldigend fast glitt ihr Blick über das Grab. Noch einmal senkte sie den Kopf in stillem Beten; dann ging sie davon mit ihrem leicht schleppenden Schritt.

Es war weit bis zum Tor des Friedhofs. Sie hatte den Teil zu durchqueren, wo Minderbemittelte ihre Gräber in dichten Reihen drängen müssen, weil der Grund, der ihrer ewigen Ruhe dient, allzu teuer ist.

An einem solchen weiten Gräberfeld schritt Fee eben vorüber. Da hörte sie lautes, wehes Schluchzen, das eigenartig klang. Kein Schluchzen des Schmerzes allein! Sie horchte auf und sah sich um.

Weitab, inmitten des Gräberfeldes, sah sie eine Gestalt am Boden kauern – eine junge schmächtige Gestalt, so schien es ihr.

Sie drängte sich zwischen den Gräbern durch. Zuweilen war der Pfad so eng, daß sie über einen Hügel wegtreten mußte. Es war ein beschwerliches Gehen für die Arme, der jeder Schritt Mühe machte. Aber sie fühlte es nicht? sie sah nur die kauernde Gestalt dort und hörte das wilde Schluchzen.

Dies Schluchzen ließ auch die dort über einen Grabhügel hingeworfene Gestalt nichts von der Nahenden merken. Erst als Fee so weit gekommen war, das; sie die Schulter der Liegenden berühren konnte, hob diese den Kopf, und Fee sah in trotzige dunkle Augen unter einer Feuermähne. Die Augen standen in einem schmalen weißen Gesicht und loderten um so zehrender.

Es waren keine guten Augen, Fee schrak fast zurück, als sie hineinschaute. Aber sie faßte sich schnell, und tiefes Erbarmen kam über sie.

»Wer bist du, Kind?« Sie sprach Deutsch – dachte nicht daran, daß sie in England war – und wunderte sich auch nicht, als die Gefragte dennoch antwortete. Kurz nannte sie ihren Namen: »Gladys Morton.«

»Wer liegt da unten?« Fee wies auf den Hügel.

»Mutter.«

»Und dein Vater? Du bist doch nicht ganz verwaist?«

»Mein Vater lebt, aber er ist ein böser Mensch!«

»Kind, schäme dich!«

»– – haben meiner Mutter tot gemacht!«

»Kind – Kind –«

»– haben ihr gequält – – haben ihr verhungert.« Aus den dunklen Augen blitzte es.

Einen Schritt war Fee bei diesem Ausbruch zurückgewichen; nun wollte sie erbarmend den Arm um das Mädchen legen. Aber das schüttelte sich mit wildem Ruck frei.

»Weg – brauchen keiner Mitleid!«

Stolz aufgereckt stand sie einen Augenblick, fast so schlank wie Fee; dann sank sie in sich zusammen, lag wieder auf dem Hügel und krümmte sich in Qual: » Mother! Mother! O Mother

Neben ihr kniete Fee am Boden, hatte nun beide Arme um die Weinende gelegt und zog trotz des wilden Sträubens den Kopf mit der Feuermähne an ihre Brust.

Erst wehrte das Mädchen sich noch heftig; Fee wich nicht. Da wurde die Wilde ruhiger – ganz ruhig. Ja, der Kopf nestelte sich dichter heran; Fee fühlte es deutlich. Sie blieb ganz still, schlang die Arme fester nur um die Unbekannte, und große Tränen des Erbarmens liefen ihr übers Gesicht.

Sie merkte es nicht – merkte auch nicht, daß der Kopf an ihrer Brust sich gewandt hatte, und daß ihr große fragende, verwunderte Augen ins Gesicht starrten.

»Weinen du for mir?« Ungläubig, scheu klang die Stimme.

Sie weckte Fee. Enger umschloß sie das Mädchen; reichlicher flossen ihre Tränen.

»Armes, armes Kind!«

Das Mädchen wendete die Augen nicht von dem erbarmenden Gesicht.

»Du sein gut!«

Mehr sagte es nicht. Eine Weile saßen sie stumm, dicht aneinandergeschmiegt. Dann fuhr das Mädchen auf, wie in Entsetzen.

»Er wird hauen mir tot – wollen essen.«

Sie war auf den Füßen und mit einem Satz schon ein paar Meter weit. Dann stand sie, sah mit schreckensweiten Augen zurück und lag wieder auf dem Hügel. »Mother – kann nicht von dir gehen; ich will bei dir bleiben!«

Herzerschütterndes Schluchzen. Zugleich ein furchtbarer Hustenanfall, der die dünne Gestalt grausam rüttelte.

Erschreckt stand Fee; sie hielt sich kaum selbst auf den schwachen Füßen. »Kind, komm heim mit mir! Laß dich erst einmal durchwärmen; wir sehen dann weiter.«

Es leuchtete auf in den dunkeln Augen, um gleich wieder zu erlöschen.

»Bei Mutter bleiben – sterben!«

»Du kommst jetzt mit,« sagte Fee ruhig, aber entschieden; sie faßte nach des Mädchens Hand und zog es mit sich fort.

Noch wehrte sich die Fremde. Da wankte Fee. Ihr Fuß war gegen einen Stein gestoßen, und sie wäre gefallen, wenn ihre Begleiterin sie nicht festgehalten hätte. Fee war sehr bleich geworden. In den dunkeln Augen der jungen Fremden leuchtete ein Mitleid auf, das niemand darin gesucht hätte. Mit sanfter Zartheit stützte sie die Wankende, und tröstend weich sagte sie: »Ich dir nicht allein lassen, Miß. Ich dir heimbringen.«

»Du kommst jetzt mit,« sagte Fee ruhig aber entschieden.

War das dieselbe Scheue, Wilde, Leidenschaftliche von zuvor?

Fee ließ sich führen, gab sich sogar hilfsbedürftiger, als sie es war. Sie hielt, die Hand fest, die sie stützte, entschlossen, sie nicht wieder freizugeben. Wenn sie das Mädchen erst daheim hatte, würde Tante Lisa schon Rat wissen.

Sie saßen im Wagen. Die junge Fremde, Gladys Morton, wie sie sich genannt hatte, wollte beim Einsteigen zurückweichen; aber Fee hielt so fest, daß sie die Hand nicht lösen konnte. Nun rollte der Wagen schleunig davon.

Es mußte ein ungewohntes Vergnügen für die junge Fremde sein. Röte war ihr ins Gesicht getreten; ihre Augen leuchteten, und beide Hände preßte sie gegen die Brust.

Fee war nun doch so erschöpft, daß sie nicht auf das Mädchen achtete; sie hielt die Augen geschlossen und lehnte den Kopf gegen die Polster zurück.

Nach einer Weile spürte sie eine Hand, die ihr leise, scheu an der Schulter hinstrich, und eine Stimme fragte: »Du fühlen sehr krank?«

Wie Fee die Augen öffnete, sah sie die des Mädchens angstvoll auf sich gerichtet. Sie schüttelte leise den Kopf; reden konnte sie noch nicht. Sie streckte die Hand aus, und daran klammerten sich zwei kalte, zitternde so fest, als sei es ihr letzter Halt.

»Ja, halte dich nur fest an mir,« dachte Fee, und ein warmer, erbarmender Strom ging durch sie hin, ein Freuen, das sie nicht verstand, dem sie nicht Ausdruck hätte geben können; aber sie faßte auch noch mit der zweiten Hand nach der Fremden.

So fuhren sie hin, stumm, bis vor Tante Lisas Haus. Gladys Morton wollte wieder zurückweichen, als Fee sie den Stufen zuleitete, die zur Haustür führten; Fee legte den Arm um ihre Schultern und zog sie mit sich.

Das öffnende Hausmädchen machte große erstaunte Augen, sagte aber nichts. Es half erst der Herrin ablegen und nahm dann dem leise widerstrebenden Mädchen die Jacke ab, mit spitzen Fingern freilich.

Und dann stand Fee mit ihrem jungen Schützling vor Tante Lisa.

»Ich fand sie draußen, Tante Lisa; sie ist sehr unglücklich. Wir müssen gut mit ihr sein!«

Ungewiß, sehr unbehaglich sah die Tante drein. Ein schwerer Hustenanfall des Mädchens, der sich schließlich förmlich zur Erstickungsgefahr steigerte, schloß jede Auseinandersetzung einstweilen aus.

Gladys wurde in einem der Gastzimmer in ein rasch erwärmtes Bett gebracht, bekam eine Tasse heiße Milch zu schlucken, wurde fest zugedeckt und erhielt die Weisung, zu schlafen. Sie hatte kaum ein Wort gestammelt, da jeder Versuch zum Sprechen erneuten Husten hervorrief. Die großen dunkeln Augen hatten aber von den beiden Barmherzigen, Tante Lisa und Fee, nicht abgelassen; in ihnen mischten sich Scheu, unsicheres Staunen, leise Abwehr mit aufatmendem Behagen und leidenschaftlichem Danken. Und dies letzte herrschte zumeist vor, wenn sie Fee streiften.

Zuletzt beugte sich Fee noch zu Gladys nieder und strich ihr mit der Hand leise über den Scheitel.

»Schlafe, Kind – und vertraue der Zukunft!«

Da faßte Gladys die Hand und küßte sie leidenschaftlich.

»Laß sie jetzt allein, Kind; es ist besser,« sagte Tante Lisa und zog Fee mit sich fort.

Sie sah den bösen Blick nicht, der ihr folgte. Die eben noch so sanft blickenden Augen sprühten. »Laß in Ruhe sie!« zischte eine heisere Stimme.

Niemand hörte es und das war gut. Eben schloß sich die Tür hinter Tante Lisa und Fee, und die junge Wilde drinnen schlief alsbald – – –

Es folgten recht bange Wochen. Das Haus, woraus man eben erst den toten Herrn getragen hatte, barg jetzt wieder einen Schwerkranken. Ein schlimmes Erkältungsfieber hatte Fees aufgelesenen Schützling überfallen, das ein paar Tage lang sehr bedrohlich auftrat.

Der alte Hausarzt hatte darauf bestehen wollen, die junge Kranke in ein Spital zu bringen. Fee hatte sich dem mit Leidenschaft widersetzt. So erregt hatte Tante Lisa die Sanfte noch kaum je gesehen; so trat sie auf ihre Seite, und die Kranke blieb im Haus.

Wenn Tante Lisa gesehen hatte, was Fee in ihr Merkbuch schrieb am Abend des Tages, da sie ihren Schützling vom Friedhof heimbrachte, sie hätte sich über Fees heftiges Wehren gegen des Arztes Vorschlag nicht zu sehr erstaunt. Da stand zu lesen:

»Sollte sich mir heute die Tür zum Lichte aufgetan haben? Sollte dies mein Lebenszweck sein? Eine junge Seele, die mein eigen wäre, bilden, leiten, führen zu dürfen? Herr der Welt, wäre es also gemeint?«

Es war nur flüchtig gekritzelt; Fee hatte sofort wieder an das Krankenbett eilen müssen, denn die ersten Tage waren bange Tage gewesen.

Tante Lisa hatte darauf bestanden, eine Pflegerin für die Kranke ins Haus zu nehmen, wenn an eine Überführung ins Krankenhaus nicht gedacht werden sollte. Fee hatte sich nicht widersetzt, denn sie fühlte, daß ihre schwache Kraft der Aufgabe nicht gewachsen war.

Zehn Tage waren so hingegangen. Die Kranke befand sich auf dem Wege der Besserung. Tante Lisa und Fee saßen zusammen am Teetisch. Es war eigentlich wieder das erste behagliche Zusammensein der beiden, seitdem Fee ihren Schützling draußen aufgelesen hatte.

»Wie denkst du dir die Sache eigentlich, Kind? Ich habe nicht daran rühren wollen, solange man nicht wußte, wie sich die Krankheit wendete. Wenn sie nun gesund ist – was dann?«

Fee schrak zusammen wie eine Schlafwandelnde, die man anruft. Aber sie faßte sich schnell; ein Klares, Festes lag in ihrem Angesicht.

»Ich möchte das Kind nicht wieder von mir lassen, Tante Lisa.«

»Und der Vater, von dem sie so Schreckliches phantasierte? Weißt du denn, aus welch bedenklicher Umgebung das Mädchen kommt? Ob es nicht selber durch und durch verdorben ist?«

»Ich glaube es nicht, Tante. Ich habe das Gefühl, als ob Liebebedürfnis und Liebefähigkeit in ihr seien. Wo die sind, ist ein weicher Kern.«

»Ganz gut. Aber die Verhältnisse, in denen sie lebte – die Erziehung?«

»Ich meine, die Mutter müsse eine feinere Natur gewesen fein. Die rührende Liebe des Kindes zu der Toten spricht dafür.«

»Das sind doch alles nur Vermutungen. Um solch einen Entschluß zu fassen, wie er dich zu bewegen scheint, muß man Tatsachen wissen.«

»Wie wären die zu erfahren? Es wäre ein Unglück, wenn der Vater auf des Kindes Spur käme.«

»Und doch wird es nicht zu umgehen sein.«

»Tante – Tante Lisa!« Angst, Abwehr, ja – fast eine Drohung lag in dem Anruf.

Tante Lisa erschrak. So tief sah es schon? Da hieß es vorsichtig sein.

»Ich schlage dir vor, wir vertrauen uns Mr. Walton, deines Onkels Rechtsanwalt, an. Er kann nachforschen lassen; er versteht sich auf derlei besser, als wir Frauen. Was meinst du dazu?«

»Du Gute, du Treue! O – hilf, Tante Lisa! Ich meine, das Kind nicht mehr von mir lassen zu können; mir ist, als habe mein guter Stern es mir zugeführt. Ich möchte so gern einen Lebenszweck haben – ich möchte erproben dürfen, wie viel von einer Mutter in mir steckt. Jede Frau sollte erziehen können, irgend ein junges Wesen heranbilden dürfen in ihrem Sinn; dann erst ist sie ganz Frau. Du hattest mich, Tante – Klein-Muttchen hatte die Geschwister – Lu und Li haben ihre Kinder – soll ich – ich allein leer ausgehen? Wenn du mich liebst, hilf mir!«

Hätte Tante Lisa dem widerstehen können? Sie ließ also Mr. Walton kommen und trug ihm den Fall vor. Er versprach, das Seine zu tun, um die Sache rasch zu erledigen, riet aber zugleich mit Entschiedenheit ab, das Mädchen dauernd aufzunehmen.

»Aus derlei ist noch selten Gutes herausgekommen – fast immer Enttäuschung und Arger, wenn nichts Schlimmeres. Überlegen Sie sich die Sache dreimal, ehe Sie einen Entschluß fassen! Jedenfalls tun Sie gar nichts, ehe Sie von mir gehört haben. Ich hoffe, daß dies bald sein kann.«

Fee versprach, gegen Gladys kein Wort von ihrem Plan zu erwähnen, auch sich selbst nicht noch tiefer in ihren Gedanken einzuspinnen. Mr. Walton empfahl sich den Damen und gelobte wiederholt schleunige Erledigung des Auftrages.

Es dauerte danach aber zehn volle Tage, ehe er von sich hören ließ, und dann bat er noch um ein paar Tage Frist, da sich erst noch etwas entscheiden müsse; nachher aber stehe er durchaus zu Diensten und werde jede Auskunft, auch guten Rat geben können.

Fee verging fast vor Ungeduld. Ihre sanfte, ausgeglichene Art schien ganz verändert in diesen Tagen. Tante Lisa kannte sich nicht aus in ihr, deren jede Regung sie doch zu kennen glaubte. Aber es hatte das Gute, daß es sie, Tante Lisa, von ihren eigenen schmerzlichen Empfindungen abzog. Nichts tut dies so mit Erfolg, als wenn die Sorge um geliebte andere wach wird.

Tante Lisa sorgte sich um Fee, um das Kind, das sie erzogen hatte. Wie würde Fee es tragen, wenn die erwartete Auskunft ungünstig ausfiel?

Gladys Morton war schon zum erstenmal aufgestanden. Sehr schmal und durchsichtig war das Gesicht geworden. Es zeigte sich jetzt erst, wie fein die Züge waren, da Zorn und Leidenschaft sie nicht entstellten. Die dunkeln Augen blickten still und weich, waren schön in diesem Blick. Die Haare sprühten Feuergold, wenn ein Lichtstrahl drüberhuschte oder die Sonne hineingriff; wie schön das Mädchen war, sah man jetzt erst. Fee gewahrte es mit immer neuem Staunen.

Mit ihr war Gladys sanft und gut, liebevoll und anschmiegend, soweit es überhaupt in ihrer verschlossenen, herben Natur lag. Sie sprach nicht viel, von der Vergangenheit nie, und Fee vermied jede dahinzielende Frage sorglich, aus Furcht, die noch immerhin Zarte, Schonungsbedürftige zu erregen.

Aber nur Fee gelang es, den weichen Zug in dem Mädchen zu wecken. Allen andern gegenüber war sie geradezu unfreundlich. Die Pflegerin bekam wenig Dank; Tante Lisa sah nie eine freundliche Miene. Finster und verstockt beantwortete Gladys deren Erkundigungen, und wenn die Augen sich der Fragenden zuhoben war ein böser, gehässiger Blick darin. Ahnte die Fremde, daß ihr von da Gefahr drohte?

Endlich kam Mr. Walton. Als er vor den Damen saß, verschlang ihn Fee fast mit den Blicken. Er nickte ihr gutmütig zu.

»Keine üble Auskunft – ich muß es vorausschicken; vielleicht hören Sie mich dann geduldiger an. Ganz kurz kann ich mich nicht fassen. Es gibt da allerhand – hm – aber Sie werden ja hören.«

»Ich werde geduldig sein,« versprach Fee, und ihre Augen leuchteten.

»Das Mädchen ist die Tochter eines Musikers, eines verkommenen Genies, wie es scheint. Er war ursprünglich bei einem guten Orchester angestellt, vertrug sich aber nirgends mit den Vorgesetzten und Kollegen. So hielt er sich auch nirgends lange und kam schließlich immer mehr herunter.«

»Armes Ding!« Fee zitterte. »Und die Mutter?«

»War eine arme Dulderin, wie es scheint – eine ehemalige deutsche Lehrerin. Sie heiratete den Menschen, als er noch die gute Anstellung hatte; sie hat seinen Niedergang mit erlebt, ihn aber nicht aufhalten können. Ihr Leben muß ein Martyrium gewesen sein. Die Tochter, die das gnädige Fräulein auf dem Grabe fand, ist das einzige Kind. Sie ist sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Genau konnte mein Mann das nicht ermitteln – tut ja auch weiter nichts zur Sache.«

»Sie ist siebzehn, sagt sie, man glaubt es kaum, so schmal ist sie und ausgeschossen. Armes Ding, da mag Schmalhans Küchenmeister gewesen sein!«

Fee warf Tante Lisa einen glühend dankbaren Blick zu für diese Worte.

»Sie entstammt also nicht einer bedenklichen Familie,« sagte sie nur.

»Das nicht; im Gegenteil, die Nachbarn rühmten meinem Gewährsmann, wie sehr die Mutter immer noch Dame gewesen sei. Sie soll Nacht und Tag für ein Geschäft genäht haben, um Nahrung zu beschaffen. Der Mann aber hat sie zum Dank mißhandelt.«

»Gladys deutete dies bereits an; sie scheint die Mutter sehr geliebt zu haben. Jetzt ist mir auch erklärlich, woher ihre Kenntnis der deutschen Sprache kommt. Ich habe sie nicht fragen wollen. Sie erregt sich so, wenn sie an Vergangenes erinnert wird.«

»Und wo ist der Mann jetzt? Wird er die Tochter nicht beanspruchen?« Tante Lisa trat damit dem Kern der Sache näher.

»Nun komme ich auf das Allergünstigste zu reden, was hätte geschehen können. Der Mann scheint nämlich so voller Schulden, daß – – –«

»Das Allergünstigste nennen Sie das?«

»Lassen Sie mich doch vollenden, meine Damen!« Mr. Walton lachte vergnüglich vor sich hin. »Also, der Mensch hat nämlich mehr Schulden als Haare auf dem Kopf und – – –«

»... sitzt im Gefängnis, natürlich! Das arme Kind,« klagte Fee.

»Meine Nichte könnte doch nicht daran denken, die Tochter eines solchen – – –«

Tante Lisa war sehr erregt. Mr. Walton hob beschwichtigend die Hand.

»Aber, meine Damen, Ruhe – nur Ruhe! Der Mann ist nämlich spurlos verschwunden. Entweder ist er irgendwo verunglückt, was kein Schaden wäre, oder es ist ihm gelungen, nach Amerika zu entwischen. Ein gewiegter Bursche, wie er ist, wird es ihm dort schon gelingen, in dem großen Völkerteich unterzutauchen. Hoffen wir es der Tochter wegen! An sie wird er keine Annäherung wagen, solange ihm daran liegen muß, seine Spur zu verwischen. Folglich – – das gnädige Fräulein kann das erbarmende Herz reden lassen, vorausgesetzt, daß diese Gladys es wert ist. Das müssen die Damen entscheiden.«

»Mir wäre es lieb, Mr. Walton, wenn Sie selbst einmal prüften. Teilen Sie dem Mädchen mit, was Sie uns vom Vater gesagt haben. Aus der Art, wie sie es aufnimmt, könnte auf den Charakter geschlossen werden. Ich lege Wert auf Ihr Urteil.«

Dies sagte Tante Lisa sehr ernst. Fee hatte wehren wollen, fügte sich aber nach einiger Überlegung. Sie stand auf.

»Ich hole Gladys! Gleich bin ich wieder da.«

Sehr bald danach kam sie zurück. Das Mädchen folgte ihr auf dem Fuße. Es sah verschüchtert, fast trotzig auf den fremden Herrn, stand linkisch und verlegen, ließ Kopf und Arme hängen.

»Der Herr hat dir etwas zu sagen, Kind. Wir lassen euch allein.«

Tante Lisa zog Fees Arm durch den ihren und brauchte sanfte Gewalt. Fee folgte widerstrebend, besann sich aber schnell. Einen Augenblick sah es aus, als wolle Gladys hinter Fee hereilen – wie flehend hatte sie die Hände ausgestreckt – dann stand sie ganz still, als ob kein Leben in ihr sei, hatte den Kopf im Nacken und Trotz in den Augen.

Die Frauen hatten nicht sehr lange zu warten, bis Mr. Walton wieder eintrat. Beide sahen ihm forschend entgegen. Fee preßte die Hände aufs Herz, das wild schlug; ihre Augen flehten: »Schnell – sprich schnell!«

Lächelnd trat Mr. Walton zu ihr; er verstand die stumme Sprache.

»Ich will zuerst sagen, daß mein Eindruck nicht ungünstig ist. Das Mädchen nahm die Mitteilung mit einer gewissen Ruhe und Würde hin; kein unnützes Jammern, noch weniger ein Triumphieren etwa über die Strafe des Peinigers – nur eine natürliche Erleichterung über sein Verschwinden und Klagen um die Mutter, die so viel von ihm erdulden mußte. In dem armen Herzen ist Liebebedürfnis; ich sah es, als ich Ihrer erwähnte, Fräulein von Rödern. Und das Kind ist dankbar. Wo so viel gutes Material vorhanden ist, lohnt es sich meist auch der Mühe. Dies ist meine Ansicht.«

Fee streckte ihm mit glänzenden Augen beide Hände entgegen.

»Ich danke Ihnen – oh, wie ich Ihnen danke!«

Mr. Walton empfahl sich dann rasch; er war ein vielbeschäftigter Mann.

»Was nun, Fee?« fragte Tante Lisa ernst.

»Laß mir Zeit bis morgen, Tante! Ich muß erst mit mir selbst ganz ins reine kommen. Es will nach allen Seiten hin überlegt sein; ich darf nicht nur an mich dabei denken.«

»Tu das, Kind, und bedenke alles; ich dränge dich nicht.«

Am Abend schrieb Fee in ihr Merkbuch:

»Darf ich diese arme junge Seele verlassen, die am Guten in der Welt zweifeln muß aus Schuld dessen, der der Urquell alles Guten für sie sein müßte, des Vaters? Gibt es ein Höheres, als einer solchen armen ringenden Seele, die nicht aus noch ein weiß, Halt und Stütze zu sein? Sie zu der Erkenntnis zu führen: ›In allen Menschen ist Gutes; wir müssen es nur zu erkennen und zu finden wissen!‹ In jedem lebt der Gottesfunke, das Gute. Wohl uns, wenn uns gegeben wurde, irgendwo solch ein Fünklein zum Flämmchen zu entfachen! Darf ich mir die Gelegenheit zu solchem Tun entgehen lassen, da das Geschick mir eine junge Seele in den Weg schiebt?

»Ich folge dem Ruf, ich kann nicht anders. Ich muß den Weg finden, wie ich alle meine Pflichten eine; die gegen meine Eltern, gegen den geliebten Toten und sein Vermächtnis – Tante Lisa – und gegen die junge Seele, die der Erlösung harrt vom Druck des Bösen in der Welt, der auf ihr lastet und sie zu überwältigen droht.

»Hilf mir, Herr der Welten, der du weise bist und barmherzig!«

Beim Frühstück am anderen Morgen sagte Fee zu Tante Lisa: »Ich weiß nicht aus noch ein, Tante; die ganze Nacht habe ich gerungen und gesucht. Ich weiß nur das eine: sollte ich das Kind von mir stoßen müssen, ich käme nie darüber weg. Ich fühle deutlich: das ist die Aufgabe, die mir das Leben stellt. Aber ihr, meine Liebsten, kommt natürlich in erster Linie. Hilf, Tante, daß ich einen Ausweg finde! Du hast mir noch immer geholfen.«

»Auch ich habe wenig geschlafen, Kind – ich habe über alles nachgedacht. Es wird das beste sein, wenn das Mädchen von hier wegkommt, am besten ganz aus England. Es sind damit alle Fäden abgeschnitten, die zum alten Leben zurückleiten könnten. Auch weiß man ja nie, ob der Vater nicht doch wieder auftaucht. Er wird sich freilich hüten, die Spur seiner Tochter allzu scharf zu verfolgen, wenn er dadurch seine eigene verraten könnte; aber immerhin – – – Es fragt sich nun, da du nicht von dem Mädchen lassen willst, wäre es nicht besser, es bewährten Händen anzuvertrauen, als persönlich –?«

»Tante, jede Frau sollte erproben dürfen, wieviel von einer Mutter in ihr steckt! Ich –«

»Aber deine Eltern? Werden sie einverstanden sein, daß du das fremde Kind mit in die Heimat bringst? Glaubst du das?«

»Ich werde schreiben, Tante – werde nichts ohne ihre Erlaubnis entscheiden; das verspreche ich dir.«

»Tue das, Fee! Dann sehen wir weiter.«

Fee schrieb und legte ihr ganzes Herz in den Brief.

Es dauerte ein paar Tage länger mit der Antwort, als sie berechnet hatte. Aber dann war sie da und lautete günstig.

Vater Klaus schrieb selbst:

»Mein geliebtes Kind! Du bist ein fertiger Mensch. Wie hätten wir, Deine Mutter und ich, das Recht, einer Entscheidung, die Du nach reiflichem Erwägen treffen willst, hindernd in den Weg zu treten? Die Güte Deines verstorbenen Onkels hat auch den Punkt geregelt, auf den ich als gewissenhafter Hausvater hätte hinweisen müssen, den Geldpunkt. So tue, wozu Dein Herz Dich treibt. Muttchen Friedel hat freilich ihre Bedenken, aber ich vermute, aus ihr spricht zumeist die mütterliche Eifersucht, die nicht oder nur ungern teilen möchte. Aber das goldene Herz Klein-Muttchens kennst Du ja; so wird schon alles recht werden. Und was beschließt Tante Lisa? Daß unser Haus ihr Haus ist, das muß ich wohl nicht noch besonders betonen? Sag dies der Guten, der Ärmsten, mit meinen besten Grüßen. Dein Vater.«

Wortlos schob Fee der Tante den Brief hin, ein sonniger Glanz lag in ihren Augen.

»Gibt es einen zweiten wie ihn, Tante?« Dann besann sie sich. »Es gab einen zweiten, ich weiß – ich weiß. Tante, ach Tante!«

Sie weinten zusammen, die beiden Frauen, aber es waren lindernde Tränen. Dann flehte Fee: »Du kommst mit, Tante Lisa – du läßt mich nicht allein?«

»Ich komme mit, Fee! Es ist eine schwere Aufgabe, die du dir stellst – viel, viel schwerer, als du ahnst! Ich weiß, daß du mich brauchen wirst, und ich weiß auch, daß ich damit zumeist im Sinn meines geliebten Toten handle, wenn ich dir und den Lieben, die mir geblieben sind – dir vor allen – Liebes tue. Und du wirst mich sicher brauchen!«

Es wollte Fee ein Ahnen überkommen, daß sie mit ihrem Entschluß keiner leichten Zeit entgegengehe.

Eben trat Gladys ins Zimmer, mit der verschlossenen, finsteren Miene, die so unjugendlich und so traurig anzusehen war. Da ging ein weiches Erbarmen durch Fee hin. Fest preßte sie der Tante Hand.

»Ich danke dir – oh, wie ich dir danke!« Dann rief sie Gladys strahlend zu: »Wir reisen, Gladys – – wir gehen nach Deutschland!«

Das Mädchen sah sie an; seine Augen erweiterten sich schreckhaft, es wurde totenblaß.

»Und ich – –? Oh, nicht mir hinauswerfen in Straße – in Elend. Ich – – ich – –«

Ein leidenschaftlicher Ausbruch folgte. Das Mädchen weinte und schluchzte wild, warf sich zu Boden und schlang die Arme um Fees Füße.

Wenn diese noch den leisesten Zweifel gehabt hätte, was sie tun solle, dies hätte den Ausschlag gegeben. Sie zog Gladys an ihr Herz und tröstete sie.

»Wir bleiben zusammen, Kind – ich lasse dich nicht! Du reisest mit uns nach Deutschland. Sollst sehen, in dem anderen Lande wirst du ein anderer Mensch werden!«

»Teutschland – mother's country! Sein meine Mutter Land! Sein gute Land – gute Menschen. Mutter war ein Engel – auch du, Miß, bist gut. Mich können gute Mensch da uerden auch. Vielleicht – – oh, vielleicht, Miß –« Ein Sehnen lag in dem dunkeln Blick, der ins Weite schaute.

Selbst Tante Lisa war ergriffen; sie nickte Fee zu. Deren Vorhaben erschien auch ihr nicht mehr ganz so unverständlich – – –

*

»Sie gefällt mir nicht, Klaus. Sag gar nichts! Ich kenne die Menschen.«

Er lachte ein bißchen in sich hinein, war aber ganz still.

»So sag doch ein Wort, Klaus! Bist du unter die Traktisten gegangen?«

»Trappisten, Friedelchen. Von dem Kloster La Trappe, dessen Brüder Stummheit –«

»Klaus, du weißt, das ist mir ganz schnuppe. Aber das Kind, die Fee, daß die uns so was ins Haus setzen kann – so 'ne rothaarige Vogelscheuche –«

»Mir scheint es ein schönes Mädchen zu sein – oder wenigstens zu werden.«

»Natürlich! Hast du die Augen gesehen?«

»Schöne dunkle Augen, groß – –«

»Daß ich nicht lache! Böse Augen sind's!«

Er lachte nur. Da wurde Frau Friedel aber ernstlich böse.

»Denkst du, ich bin ein Kind? Ich habe den Blick gesehen, der über mich hinflammte, wie ich auf dem Bahnhof die Arme um Fee legte. Als ob er mich versengen wolle! Ich mag die Augen nicht, und ich mag das Mädchen nicht, Klaus und ich wollte, Fee hätte uns diesen Kelch nicht aufgebürdet und –«

»Immer die Bilder hübsch ausführen, wenn du deine Rede damit schmücken mußt! Man trinkt einen Kelch aus und bürdet eine Last – –«

»Du bist abscheulich, Klaus! Siehst du denn nicht, wie ernst es mir ist? Ich hatte mich so auf meine Lisa und Fee gefreut, und nun kommt diese Fremde –«

»Das ist nichts weiter als Eifersucht, Friedelchen?«

»Jawohl! Ich habe kein Wasser in den Adern. Hatte denn Fee einen anderen Gedanken, als daß der Fremdling gut untergebracht wird? Hat sie nur ein Auge gehabt für ihre Mutter, die sie nun ein halbes Jahr lang nicht gesehen hat? Unerträglich ist's, Klaus, und ich – –«

Jetzt hub Frau Friedel gar zu weinen an. Vater Klaus mußte einsehen, daß die Sache ernst war und nicht mit Scherzworten wegzubringen. Da nahm er Frau Friedel in den Arm und tröstete sie.

»Laß gut sein, Friedelchen! Willst du dich von dieser ersten Stunde und ihrem Durcheinander verwirren lassen? Kennst du nicht unser Kind und sein goldenes Herz?«

Aber Frau Friedel weinte weiter, recht ungebärdig wie eine ganz Junge, und wollte sich nicht trösten lassen.

Da sprach Vater Klaus ein ernstes Wort.

»Bedenke, willst du deinem Kinde, das auf so viel verzichten mußte – willst du ihm das erschweren, was es nun zu seinem Glück nötig zu haben meint?«

»Aber so 'n rothaariges Ding, Klaus! Hat sie nicht uns? Alle die Nichten und Neffen? Und solch wunderschöne, brave Kinder – meine Enkel! Und nun diese rothaarige – –«

»Die stolze Großmutter! Aber über den Geschmack ist bekanntlich nicht zu streiten. Wenn nun Fee, unsere arme, teure Fee, deine Erstgeborene, dein Stolz, Friedelchen – – «

»Laß sein, Klaus, du machst mich weich, und ich will nicht weich werden!«

»– – wenn sie nun meint, in der Erziehung dieses Mädchens eine Aufgabe gefunden zu haben, die ihr das Leben füllt – – «

»Sie hat dich und mich, hat die Tante, hat zwei Schwestern und zwei Brüder, hat zehn Nichten und Neffen und – – «

»Was für welche – ich weiß, Friedelchen! Aber, wenn sie nun dennoch meint, etwas für sich ganz allein haben zu müssen, eine Pflicht, eine Aufgabe, einen Wirkungskreis – willst du ihr das verdenken und verkümmern?«

»Ich verstehe das nicht, Klaus.«

»Wir verstehen manches in unseren Kindern nicht, wenn sie erst fertige Menschen sind. Dürfen wir sie aber darum in die Form zurückpressen wollen, in der sie uns verständlich waren? Jeder entwickelt sich auf seine Weise, und die um ihn sind, die ihn lieb haben, müssen versuchen, sich in seine Weise hineinzudenken. Willst du das versuchen, Friedelchen?«

»Du bist eben viel besser als ich, Klaus!« Frau Friedel umging die bindende Antwort.

»Was hindert mein Friedelchen, ebenso gut zu sein?«

»Ihre Natur! Sie hat von jeher gern gebockt; das weißt du doch, Klaus.«

Jetzt sah der Schalk durch die Tränen vor, und Vater Klaus wußte, daß die Schlacht gewonnen war, wenigstens soweit es den guten Willen betraf.

»Weil's eben du bist, Klaus! Und weil du immer« – sie hustete stark – »will sagen, zuweilen recht hast. Meinethalben soll also das rote – – «

»Friedelchen!«

»– na also, Fees Ziehkind – rote Haare hat sie aber doch, Klaus, und ein Kuckucksei ist sie auch – mit zur Familie gehören! Ich will versuchen, ob ich sie du! – na ja, lieb haben kann.«

»Bravo, Friedelchen – ich wußte es ja!« Vater Klaus schlief aber doch mit Sorgen ein.


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