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Der Kapitalismus hat in den Randstaaten rascher und besser am Wiederaufbau der Gesellschaft nach dem Krieg gearbeitet, als es der Kommunismus in Rußland vermocht hat.
Man räume der Sowjetunion alle Fortschritte ein, die sie für sich in Anspruch nimmt und zum Teil auch wirklich mit ihren zwei Fünfjahrplänen vollbracht hat, die Wiederaufbauleistung dieser Kleinstaaten, die früher Teile Rußlands waren und sich vom kommunistischen Rußland trennten, um beim Kapitalismus zu bleiben, ist noch bedeutend imposanter.
Die Kommunisten erklären immer wieder, daß alle ihre Bemühungen um den Wiederaufbau der Gesellschaft in Rußland durch Krieg und Bürgerkrieg in einem allen anderen Ländern unbekannten Ausmaße behindert gewesen seien, und daß man darum den Lebensstandard in der Sowjetunion nicht gut mit dem in Ländern vergleichen könne, die in der Zeit von 1914-1920 weniger gelitten hätten.
Rußland litt in der Tat ganz unglaublich, es litt zweifellos mehr als alle anderen Großmächte. Wie aber ist es mit diesen Kleinstaaten? Starb ein Drittel der Bevölkerung Rußlands, oder flohen so viele aus dem Lande? Nein. Wurde Rußlands gesamte industrielle Ausrüstung, jede einzelne Maschine aus jeder einzelnen Fabrik des Landes, in ein anderes Land geschafft und niemals zurückgebracht? Nein.
So aber ging es Lettland. Seine Bevölkerung betrug im Jahre 1914 2 550 000; 1920 waren es 1 600 000. Nahezu eine Million seiner Einwohner fiel im Kampf, starb oder floh. Ganz abgesehen davon, daß das Land praktisch seine ganze industrielle Aufrüstung verlor, die tatsächlich abgebaut und nach Rußland geschafft wurde, als die Deutschen angriffen, wurde ein Viertel aller Bauern- und Gutshäuser in Lettland zerstört, ging etwa ein Fünftel des Viehbestandes zugrunde, und wurde das bebaute Land um ein Drittel bis eine Hälfte verringert.
Noch immer zerbrechen Sägen an den Kugeln in den Bäumen in der Nähe Rigas. Man kann an der Straße von Riga nach Libau noch immer die Gräben sehen. In der Umgebung dieser Stadt wanderten wir eine Stunde lang durch Trümmer in den traurigen Hallen des gewaltigen Palais des Herzogs von Kurland, das, seinerzeit von Avaloff-Bermondt, dem Führer der deutschen Guerillas, niedergebrannt, eben jetzt ein Dach bekommen hat.
Als der Krieg im Westen längst aufgehört hatte, mußten hunderttausend Letten noch gegen russische Rote und deutsche Baltikumer weiterkämpfen, und in den Jahren 1918/20 fielen 3200 Letten in der Schlacht. 12 000 Letten kamen im russischen Bürgerkrieg ums Leben. 70 000 fielen im Weltkrieg. Die Gesamtverluste an Menschenleben betrugen 85 200.
Dies würde verhältnismäßig Rußlands Verlusten entsprechen. Aber man sehe sich Riga an, das heute wieder eine Stadt voll Unternehmungsgeist, Geschäftsleben und Ehrgeiz ist. Es hatte vor dem Krieg 550 000 Einwohner. 1919, nachdem sich die Front fünfmal vorwärts und rückwärts über die Stadt hinwegbewegt hatte, waren noch 100 000 Einwohner da. Hat irgendeine andere große Stadt Europas einen Verlust von 82 Prozent ihrer Bevölkerung erlitten?
Nicht einmal Petrograd.
Heute hat Riga 380 000 Einwohner. Viele davon sind Industriearbeiter, arme Leute. Wie fällt ein Vergleich zwischen ihnen und den Industriearbeitern in Moskau, gleichfalls armen Leuten, aus?
Der Moskauer Kommunismus ist dazu da, alles im Bereich des Möglichen für die armen Leute zu tun. Moskau erklärt, der Kapitalismus sei dazu da, alles für die Reichen und nichts für die Armen zu tun. Was tut Riga für seine Armen? Ein ganz guter Anfang für eine Antwort darauf wäre es, festzustellen, was dieser kapitalistische Staat für seine armen Kinder tut.
Wir besichtigen einen Schlafsaal im städtischen Kindergarten, Ludzas 66. Einunddreißig Säuglinge lagen in einunddreißig Betten. Sie waren vollgegessen mit Suppe aus Rindfleisch und Spinat, mit Fleischgelee und Milch und schliefen einen gesunden Kinderschlaf. Die kapitalistische Stadt Riga war tagsüber ihre Mutter.
Täglich watscheln dreitausend Rigaer Kinder durch die Türen von dreißig Kindergärten, in denen sie von der Stadt und ihren kapitalistischen Einwohnern genährt, gekleidet und von acht Uhr früh bis sechs Uhr abends glücklich gemacht werden. Im ganzen erhält die Stadt 7200 Kinder im Alter von sieben Monaten bis zu acht Jahren. Es sind die Kinder der Arbeiterklasse, und zum größten Teil haben ihre Eltern nichts dafür zu bezahlen.
Von 160 Kindern in diesem Kindergarten zahlen überhaupt nur 15 etwas; ihre Eltern, denen es besser geht als den übrigen, zahlen täglich den Gegenwert von drei bis neun amerikanischen Cent.
Jedes Kind bekommt drei Mahlzeiten im Tag. Auf dem Boden ihrer Porzellannäpfe ist ein Bild; es gilt nun, alles aufzuessen, damit man das Bild sehen kann, und die Folge ist, daß wirklich jedes Kind so viel ißt, wie es kann. Wir beteiligten uns an ihrer Mittagsmahlzeit, die für den verwöhntesten Gaumen gut genug war.
Wir hatten auch in Moskau eine Kinderbewahranstalt besucht, die der Frezer-Fabrik. Es war eine ausgezeichnete Vergleichsbasis. Die Moskauer Anstalt sorgte von halb acht Uhr früh bis halb sechs Uhr abends für 140 Kinder von drei bis zu sieben Jahren und verabfolgte ihnen drei Mahlzeiten täglich. Es gab nur zwei Unterschiede: die Anstalt in Riga war besser eingerichtet, und in Moskau mußte ausnahmslos für jedes Kind gezahlt werden! Das Moskauer System bestand darin, daß man das Einkommen des Vaters nahm, es durch die Anzahl der Familienmitglieder teilte und die Hälfte eines solchen Teiles als Beitrag an die Kinderbewahranstalt abführte.
Im kommunistischen Moskau zahlt jedes Kind für sich. Im kapitalistischen Riga zahlen 10 Prozent der Arbeiter mit Familie für ihre Kinder in der Anstalt, und für die übrigen 90 Prozent zahlt die Stadt, das heißt die Steuerzahler, und das bedeutet im letzten Grunde die Kapitalisten.
Kommunisten würden antworten: »Aber das zeigt ja nur, daß der Rigaer Arbeiter nicht so viel bezahlt bekommt, daß er seine Kinder selbst erhalten kann, während der Moskauer genug bekommt.« Der Rigaer Durchschnittslohn ist achtzig Lat im Monat, was 26 Dollar entspricht. Der Moskauer Durchschnittslohn beträgt 150 Rubel im Monat, und das entspricht, an der Kaufkraft gemessen, 15 Dollar.
Um sich Lebensmittel für eine Woche zu kaufen, muß der Rigaer ungelernte Arbeiter zehn Stunden arbeiten, der Moskauer Arbeiter aber muß für denselben Zweck sechzehn Stunden arbeiten.
Das kapitalistische Lettland, ein Staat, der durch die bewaffneten Kämpfe von 1914 bis 1920 mindestens ebenso schwer geschädigt wurde wie Rußland, hat ein soziales System aufgebaut, das seinen Arbeitern 40 Prozent mehr zahlt als das kommunistische Rußland und ihm soziale Leistungen – die Kinderbewahranstalten in Riga sind nur ein Beispiel – bietet, die den kommunistischen sozialen Leistungen mindestens gleichkommen und sie in vielen Fällen noch übertreffen.