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Ein ganzes Gotteshaus mit Schiff, Seitenschiffen, Turm und Glocke hatte sich Professor Gottlieb Köster nicht gekauft, aber immerhin ein Weinberghaus, dessen Keller im Mittelalter nachweislich die Krypta einer jetzt verschwundenen Kirche gewesen war. Das Häuschen lag auf der Höhe des Hügels hinter Meersburg und gewährte dem Professor für Kirchengeschichte eine so weite Aussicht, wie sie ihm die Wissenschaft vom Leben der christlichen Kirche nicht durchweg zur Verfügung stellen konnte.
In dieser Dämmerstunde verzichtete Köster auf jede Aussicht, ließ sich in der tiefen Fensternische seines Kellers behaglich auf eine altersschwarze geschnitzte Bank nieder, welche zweifellos das einstige Postament des Heiligen war, den man vor Zeiten hier verehrt hatte und sagte: »Wie angenehm ist es, besitzen zu dürfen, was ein Heiliger bestanden hat.«
Das Abendlicht schien durch das kleine Kryptenfenster, Köster sah den Schein an den mit ungelenker Hand verputzten Gewölbekappen spielen und setzte kopfschüttelnd hinzu: »Meine ganze Besitzung hier oben ist eigentlich 26 angewandte Kirchenhistorik.« Er ahnte nicht, wie wahr er da gesprochen hatte. Köster glaubte zu wissen, wo er saß, aber er wußte es so wenig wie jeder andere Gelehrte, denn sein merkwürdiger Sitz war nicht nur ein Sockel, sondern zugleich ein Behälter. Daß er dies nicht sogleich erwog, mußte man ihm zum Vorwurf machen, und es wurde später viel darüber geschrieben. Die lange Reihe seiner Vorsassen bestand aus tüchtigen, trinkenden und rechnenden Weinbauern, und die brauchten beruflich nicht zu erwägen, ob der Sitz unter ihnen einen Gehalt habe. Aber ein Gelehrter muß wissen, daß die Dinge hohl sind und daß eben in dieser Hohlheit ihr Sinn steckt.
Der Sockel war in der Tat hohl, und auf seinem Grund lag ein Bündel beschriebenes Pergament. Dieses uralte Manuskript aber war die unvorstellbar kostbare zeitgenössische Abschrift einer Abhandlung des Antonius von Koma über die Idee von der unwiderstehlich wirkenden Gnade – eine Schrift, über deren Inhalt die Wissenschaft wohl Vermutungen anstellte, die aber für verloren galt. Diesen Verlust bedauerten die Gelehrten um so tiefer, als in jenem Antonius mit Recht der Vater des Einsiedlerlebens vermutet wurde.
Nun war gerade die Untersuchung des Eremitentums der Inhalt des Kösterschen Forscherdaseins, und die Tatsache, daß der Meister auf dem saß, was er suchte, braucht niemand zu befremden – ist dies doch die Regel, und nur die großartige Organisation der Wissenschaft verhindert, daß die Völker nicht auf dem Wissen sitzen, ohne es zu merken.
27 Köster merkte etwas. Er hob die Nase und strich seinen Bart, er bewegte die Nasenspitze und prüfte die Luft in der Krypta: roch es nicht eben nach Eselshaut? Nein, er hatte sich getäuscht – es schwebte nur beträchtlicher Weinduft in seinem Keller. Beruhigt erhob er sich, klopfte einem Faß auf den Bauch und sagte: »Köster, glaube mir, dieses Gewölbe ist voll von Geist. Aber ich werde ihn, so Gott will, genehmigen.«
Er erhob sich, stieg die Steintreppe hinauf und öffnete die Tür. Meersburger Keller führen nicht auf gewöhnliche Hausflure, sondern ohne weitere Umstände ins Freie. Professor Köster trat aus seiner Krypta heraus und stand geblendet still. Vor ihm strahlte tiefgrün Weinstock neben Weinstock, und der Hügel, der diese Pracht trug, senkte sich zart gewölbt nach der Stadt hinab, von der nur ein paar graue Dachfirste über das Blattwerk ragten. Ganz unten, am Grunde der Hügel und Berge, breitete sich weithin der See aus.
»Und er ist voll von Felchen«, murmelte Köster, als ob er die Herrlichkeit der Welt zu seinen Füßen abwehren und zu ihrem Inhaber sagen wollte: »Ach nein, danke, ich bin mit allem versehen. Nicht die Welt, nein. Sie ist wundervoll, weiß Gott! Wie das Schiff da eben vor dem Säntis hinzieht. Sie ist gewaltig: ich sehe wohl, wie die alten Berge das Ufer von Bregenz bis Konstanz einhegen. Der See ist über alle Ahnung herrlich – aber mir genügen ein paar Felchen aus ihm.«
Der Kirchenprofessor sah die Welt an, würdigte sie und stellte sie im übrigen seinen Mitmenschen anheim. Er wandte sich und stieg wieder die Treppe hinab in die 28 gesicherten Substruktionen seines Hauses und hielt sorgsam ein Kännchen aus Steingut unter den Hahn des Fasses, von dem ihm sein Verwalter gesagt hatte: »Herr Professor, hier dürfen Sie.«
Menschen, welche die Welt schlecht und den Bodensee nicht kennen, werden nun zu einer ungerechten Beurteilung des Historikers Gottlieb Köster neigen. Sie irren. Die Bedeutung dieses Mannes stand über allen Zweifeln, aber er war in den Abschnitt des menschlichen Daseins eingetreten, in dem Gelehrte und Ungelehrte zur gleichnishaften Anschauung des Vergänglichen durchzudringen beginnen. Köster schwenkte sein Steinkännchen in der Hand, sah in dessen bernsteingelbem Inhalt das Gewölbe seines Kellers sich spiegeln und im bewegten Spiegel das zuverlässig feste Kellerdach wahnwitzige Bewegungen vortäuschen: »So ist die Welt«, nickte der Weise, »es ist kein Verlaß.«
Still für sich trinkend und nachdenkend saß Köster dann zum zweiten Male über dem Kodex des Antonius von Koma – ohne ihn zu besitzen, der Glückliche. Daß jedoch eine Abhandlung über die unwiderstehliche Gnade anderthalbtausend Jahre in einem geschnitzten Kasten steckt, ohne irgendwann einmal kraft ihrer eigenen Unwiderstehlichkeit den Kasten zu sprengen – das wäre dem Wesen der Gnade entgegen. Diese Gnade unter dem Gesäß Kösters mußte auch bereits den Historiker in ihm beunruhigen. Geheime Ausstrahlungen des Pergamentes drangen von unten her in ihn ein und ließen ihn auf seinem mit Theologie geladenen Sitz nicht recht zur Ruhe kommen. Da tappt etwas! Wer scharrt da? Als ob jemand auf den Steinstufen ginge!
29 »Jetzt hat's geklopft!« rief Köster und sprang auf. Im Keller war es dämmerig geworden. Köster starrte angestrengt in das Halbdunkel, denn ihm schien, als ob die Kellertür langsam aufginge. »Dort steht ein Kerl«, dachte er, »ich schmeiße ihm mein Weinkännchen an den Kopf.« Er hob eben den Arm, als der Schatten beredt wurde und fragte: »Meditieren Sie, Kollege? Sie sprachen eben laut und scheinen allein zu sein. Grüß Gott, Köster.«
»Mensch, was schleichen Sie hier im Hause herum? Treten Sie doch ordentlich auf, Schwerenot! Guten Abend übrigens.« Köster zündete eine Kerze an, suchte nach einer zweiten Kanne und setzte hinzu: »Nein, Bründel, reden Sie nicht dagegen. Auftreten ist nicht Ihre Sache.«
»Die Zeitläufte, Verehrter«, antwortete sein Fachgenosse und Feriennachbar Professor Bründel. »Zur Sache selbst muß ich aber bemerken, daß Sie eine elende Treppe haben.«
»Na, nun sind Sie da«, lenkte Köster ein, »und diese Krypta erlebt das bei ihrer Erbauung nicht vorgesehene Schauspiel, daß zwei lebendige Kirchenhistoriker nebeneinander auf einer Bank sitzen und sich vertragen.«
Sie tranken. »Gut, nicht?« fragte Köster.
»Hm, die kleine Schärfe geht noch raus, Köster. Passen Sie auf, in sechs Monaten ist der Wein harmonisch. Übrigens sagten Sie: zwei Historiker – wenn Sie noch den Milchbäk aus Immenstaad herüberholten, könnten Sie drei Leute vom gleichen Fach auf einer Bank sitzend und aus einem Fasse trinkend erleben.«
»Den Milchbäk wollen wir lieber in Immenstaad lassen, Bründel. Ich schätze ihn, aber die alte Bank hier unten 30 paßt nicht recht zu seinem Drang nach oben. Der Kerl tut mir zu viel und denkt zu wenig, und ehe Sie sich's versehen, ist da aus dem Drang das Drängeln geworden.«
In langsamer Folge nahmen die Gelehrten Zug um Zug aus ihren Steinkrügen. Sie saßen friedlich nebeneinander und gemeinsam auf dem Kodex von der unwiderstehlichen Gnade, und das Gewölbe über ihnen, das seit Karl dem Großen dastand, hielt auch diesen Anblick aus und fiel nicht ein.
»Bründel, da kommt wieder jemand.«
Sie horchten. »Nein, Köster, das war nur so.«
Die Gelehrten nahmen einen neuen Schluck. »Wissen Sie, Bründel, das Eremitentum erforschen und die Semesterferien hindurch hier oben selber einer sein, das ist nach Gottes Willen.«
»Köster«, flüsterte Bründel, »Sie haben recht – es raschelt.«
Angestrengt lauschten sie. Wahrhaftig! Es bewegte sich etwas im Keller.
»Verdammt, Köster, unter Ihren Steinplatten liegen Tote.«
»Wo denn nicht auf Erden, Bründel? Reden Sie keinen Unsinn.«
»Da, wieder«, sagte Bründel.
»Himmel, das war direkt unter mir!« schrie Köster, sprang auf und fuhr mit der Hand nach seinem Hosenboden.
»Dort?« fragte Bründel leise.
»Schafskopf, wieso in meiner Hose? Unter dem Sitz da!«
31 Die beiden Gelehrten leuchteten mit der Kerze ihren Sitz und dessen Umgebung ab und horchten. Da tippelte es wieder leise hinter dem Sockelsitz, und Bründel griff mit der Hand nach seiner Stirne und rief lachend: »Kollege, Sie haben Mäuse! Kommen Sie, wir rücken den Sitz ab, dahinter ist das Mauseloch. Das stopfen wir zu und haben Ruhe.«
Die Kirchenhistoriker rückten an dem alten Sockel. Er bewegte sich. Bründel zog mit Gewalt nach vorn, Köster hob mehr nach oben. Plötzlich gab es einen Ruck, die beiden Männer verloren fast das Gleichgewicht, sie hielten den abgehobenen Sitz in der Hand – aber der Weg zu ihrem Mauseloch war nicht gewonnen: der Sitz hatte nämlich wie der Deckel einer Schachtel auf einer Art Kiste gesessen, die nun offen stand. Sie stellten das Schnitzwerk beiseite und leuchteten in die Kiste. Köster blickte erschrocken hinein und brachte kein Wort heraus. Bründel fuhr zurück, hob die Hände mit gespreizten Fingern, auf seine Stirne traten Schweißtropfen, aber er konnte nichts von sich geben als ein glucksendes Lachen: am Boden der Kiste lag zwischen Spinneweben, Tierknöchelchen und Stoffresten der pergamentene Kodex, kreuzweise umbunden mit Lederriemen.
Bründel gluckste wieder, und Köster dachte: kriegt der einen Schlaganfall? Gleich darauf aber hatte er Bründels Gegenwart vergessen, bückte sich und hob die Schrift aus ihrem Behälter. Den Knoten zu lösen, nahm er sich nicht die Zeit, sondern schnitt den Riemen mit unsicherer Hand durch und schlug das Buch auf.
»Majuskeln«, flüsterte Bründel und hielt den 32 Leuchter näher. Nach wenigen Augenblicken hatten die kundigen Männer erfaßt, was für ein majestätisches Kleinod ihrer Wissenschaft in Kösters Hand lag. Der alte Gelehrte ließ eine Handvoll Blätter am Daumen ablaufen, las hier ein Wort und dort eins, schlug den Kodex zu, drückte ihn an seine Brust und setzte sich, immer noch wortlos, auf den abgehobenen Sockelsitz. Bründel aber trippelte mit seinen Spinnebeinen hin und her und rief mit umbrechender Stimme: »Über die Gnade!« Dann, unwissend was er tat, sprang er dicht vor Köster hin, krümmte sich in seinem schwarzen Gehrock zu einem Klex zusammen, schnellte plötzlich wie ein Tintenstrahl aus sich selbst heraus und schrie dem verstummten Köster ins Ohr mit einer Stimme, welche die Toten unter dem Kellerboden erwecken mußte: »Die Unwiderstehliche! Die des Antonius! Des Komaten!! Hahaha!«
Köster streichelte das Pergament und lachte ruhig und eben in sattem Baß vor sich hin: »Hohoho!« Die beiden glücklichen Entdecker wußten von sich nichts mehr. Sie und die gewaltige Handschrift waren ein dreieiniges neues Wesen geworden, das nicht zu hören vermochte, wie unheimlich das Ha und das Ho vom Gewölbe der Krypta zurückklang. Nach einer Pause und wieder nach einer lachten sie wie im Traum ihr Duett, ohne zu bemerken, daß die Haushälterin, welche auf die seltsamen Geräusche hin in den Keller gekommen war, mit gefaltenen Händen an der Tür stand und die zerbrochenen Weinkännchen, den schiefen Leuchter, die zerstörte Sitzbank und die beiden irregewordenen Gelehrten anstarrte. Schließlich schritt sie, die Röcke schürzend, über die 33 Weinlachen und Scherben, bückte sich, sah Köster nahe ins Gesicht und murmelte: »Vielleicht sind sie nur betrunken.« Laut sagte sie: »Kann ich den Herrn Professor untern Arm fassen?« Der aber sah ihr selig ins Auge, immer noch den Kodex an seine Brust pressend, und versetzte ihr unversehens einen mächtigen Kuß.
»Sie sind nur betrunken«, sagte jetzt Brigitte und traf mit sicherer Hand ihre Maßregeln. »Bitte nur voranzugehen, Herr Professor Bründel«, befahl sie und schob den murmelnden Gehrock in die Richtung zur Tür. »Nun der andere Herr Professor.« Auch Köster kam in Gang. Sie hielt das schiefgebrannte Licht hoch und, Bründel voran, der Kodex von der unwiderstehlich wirkenden Gnade auf Kösters Armen in der Mitte und das Weib mit dem Licht am Ende, bewegte sich der Zug die Treppe hinan, ums Haus herum und endlich in Kösters Schreibzimmer hinein.
Die frische Luft hatte Köster zu sich gebracht. Er wischte die Papiere von seinem Schreibtisch, legte den Kodex feierlich auf die leere Platte, sah das Weib an und sprach: »Antonius, Bründel und ich werden diese Nacht durchwachen. Koche Kaffee und rede nicht.«
Schon stand der blasse Viertelmond tief im Nordwesten, und in das Frühgrau klangen die ersten Vogelstimmen, als sich die Tür des Häuschens auftat und in dem Lichtkegel Köster und Bründel sichtbar wurden.
»Ja, Köster – daß gerade Sie, ein Kirchenhistoriker, dieses Haus gekauft haben, ist eine Gnade Gottes für die Wissenschaft.«
34 »Na ja«, sagte Köster, »wenn es nur gnädig für die unwiderstehliche Gnade des Antonius abläuft.«
»Der Antonius«, lächelte Bründel schlau, »ruht in Frieden, aber wir leben. In wenig Stunden bin ich wieder bei Ihnen. Dann arbeiten wir weiter.«
»Nein, Bründel. Heute will ich allein sein mit dem Pergament.«
»Wie Sie denken«, antwortete Bründel, »aber gerade für den Text zwischen pagina 24 und 29 bin ich zuständig. Wollen Sie etwa den Milchbäk heranziehen?«
»Keine Angst«, lachte Köster und klopfte Bründel auf die Schulter, »auch in einem solchen Kodex sind viele Wohnungen, aber den Milchbäk lassen wir beiseite.«
Bründel wanderte beruhigt ab. Er zog die Landstraße nach Überlingen hin, wo sein Ferienhaus stand und rezitierte wie ein Verliebter Textstücke des Antonius. Rechts von ihm stiegen die Weinberge in schlanken Terrassen hinauf bis zum Buchenwald, der die Meersburger Höhen krönt. Links schlug das Seewasser leise an die Ufermauern. Der Bodensee atmete sanft bewegt im Halblicht des erwachenden Tages.
»Dieser Tag hat mich wieder jung gemacht«, sagte Bründel. Er wandte sich um und lugte nach den Höhen: dort oben lag dunkel der schiefe Steinwürfel des Kösterschen Hauses.
»Er schläft schon. Der Mann ist alt. Ihm fehlt der Schwung.« Bründel kam sich angesichts des dunklen Kösterhauses fast jungenhaft vor, er sog die unberührte Luft der frühen Vieruhrstunde ein, hob einen Kiesel auf und wollte ihn behende hinaus ins Wasser werfen. Aber 35 bei dem Ruck des Wurfes knickten ihm die Knie ein, die Schöße seines Gehrockes standen waagerecht ab, und er hockte wie ein schwarzes Teufelchen auf der Straße. Ein Bäckergeselle, der eben auf dem Rade daherkam, sah erstaunt den verbogenen Mann auf der menschenleeren Straße hin und her zucken, lachte gröblich und rief: »Wo kneipts denn, alter Knacker?«
Unruhig sah Bründel dem Bengel nach, der ihm aus der Ferne zuwinkte. »Was weiß solches Pack vom Antonius«, murmelte er, aber ging nun doch ernüchtert durch den Rest Wirklichkeit, der ihn noch von seinem Gelehrtenheim trennte. Sein Ferienfrieden war jedoch dahin. Der Kodex auf der Meersburger Höhe zwang ihn zu einem regelmäßigen Hinundherwandern auf der Überlinger Landstraße.
Im Oktober kam Bründel seltener ins Kösterhaus. Je reifer der Wein wurde, desto seltener kam er. Das lag nicht an der volleren Röte der Beeren auf den Meersburger Hügeln, sondern an einem immer dicker werdendem Stoß Papier, den Bründel auf seinem eigenen Schreibtische zusammenschrieb. In einer der letzten Ferienwochen, als das wissenschaftliche Leben bereits wieder zu plätschern begann, schlug Köster beim Morgenkaffee eine eben eingetroffene Fachzeitschrift auf und gedachte aus sicherer Entfernung ein wenig in ihr zu blättern. Eben stellte Brigitte eine frische Honigwabe auf den Tisch. Köster leckte seinen Bart glatt, löffelte ein gutes Stück Wabe ab und blickte behaglich in die Zeitschrift. Aber plötzlich hielt er inne, sah Brigitte wütend an und rief: »So ein Saukerl!« Der Honig tropfte in langen Tränen auf seine 36 Weste, aber er merkte es nicht, sondern packte Brigitte an der Schürze und rief: »Wie heißt ein Mensch, der stiehlt?«
»O Gott, die Weste«, rief Brigitte.
»Wie der heißt!«
»Ich glaube, ein Dieb!« jammerte Brigitte. »Gleich bringe ich heißes Wasser!«
»Ich glaube auch«, sagte Köster. »Wasser hilft da nicht.«
Die Lust am Frühstücken war ihm vergangen. Er lief mit der Zeitschrift und dem Löffel in der Hand an seinen Schreibtisch und las laut: »Über den vermutlichen Inhalt der vermeintlich unwiderstehlichen Gnade des hypothetischen Antonius. Von Gerhard Bründel.«
Köster ging auf und ab und dirigierte mit dem Löffel, den er immer noch unbewußt in der Hand hielt, unverständliche lange Sätze. Dann aber blieb er stehen, fuhr mit beiden Armen waagerecht durch die Luft und lächelte: »Die Welt? Nein, danke, ich bin mit allem versehen. Was meinst du, Antonius: tun wir uns nicht Schaden an der Seele, wenn wir zugeben, bemaust zu sein?«
Das gleiche Heft lag zur gleichen Stunde neben zwei anderen Kaffeetassen: neben der Bründelschen in Überlingen und neben der Milchbäkschen in Immenstaad. Bründel war beim Lesen seiner Publikation auch nicht recht nach Frühstücken zumute. Er sah im Geist über den ganzen Erdball hin die Köpfe der Fachgenossen über seinen Artikel gebeugt, hörte sie flüstern: »Der Tausend, dieser Bründel!«, und sah, hoch über diesen Gelehrten, seinen Kollegen Köster mächtig durch den Raum schreiten 37 – aber der hatte eine Art Toga an, sein Bauch war weg, ausgedörrt ging er hin und drohte mit der Faust, der Staub der Wüste stiebte unter seinen Sandalen, Kösters Erscheinung verschmolz mit dem Bild des Komaten. »Köster von Koma«, ächzte Bründel, »bist du böse, weil ich dir zuvorkam?« Bründel kratzte sich laut im Bart, las wieder ein paar seiner Sätze, murmelte: »Nicht übel geschrieben«, und zog fröstelnd seinen Gehrock zusammen.
Milchbäk las auch, aber den fror nicht – der geriet in Hitze: »Wie kommt dieser Bründel zu so was! Wo hat der Kerl die Idee her! Was steckt etwa noch dahinter?«
Gleichzeitig wurde dem Überlinger zu kalt und dem Immenstaader zu warm. Sie sprangen beide an ihrem Ort auf, schnappten nach frischer Luft und liefen den Seeweg entlang: Bründel nach Aufgang, Milchbäk nach Untergang. Ungefähr in der Mitte aber zwischen Überlingen und Immenstaad liegt Meersburg, oben auf der Höhe über Meersburg lag der Kodex, und unterhalb des Kodex blieb Milchbäk stehen, sah den Weg entlang, wischte den Schweiß von der Stirne und nickte: »Wahrhaftig, er ist's! Was mir da entgegenkommt, das ist der Bründel!«
»Ha, Kollege!« rief Bründel und griff nach Milchbäks runder, weicher Hand. Antonius, der Erfinder des Einsiedlertums, sah diesen Handschlag nicht. Der erste der Eremiten lag tief in Asiens Ruhe und hat zu seinen Lebzeiten schwerlich voraussehen können, daß zwei Fachgenossen von ihm nach so vielen hundert Jahren an einem wonnigen See oben im Nordreich ungefrühstückt 38 und schweißgebadet seinethalben aufs schwerste aus dem Gleichgewicht der gelehrten Einsiedelei gerieten.
»Wo ist der Kodex, Bründel?«
»Welcher Kodex, Milchbäk?«
»Sie deuten seine Existenz an.«
»Ich? Kollege, ich sagte nur –«
»Daß zweifellos ein unbekannter Satz bestehe –«
»Welcher Satz denn, lieber Milchbäk?«
»Ja eben, teurer Freund, welcher?«
»Ach, mein lieber Milchbäk, wie viel richtige Lösungen erlaubt doch ein so tiefer Autor wie der Antonius!«
»Hm, aber zugrunde kann nur ein richtiger Satz liegen. Sagen Sie, Verehrtester, ist das nicht ein herrlicher Oktobermorgen? Wandern wir doch ein Stück am See entlang. Vielleicht machen Sie mir sogar die Freude, in meinem nahen Garten die wertvolle Unterhaltung mit Ihnen fortzusetzen?«
Bründel blickte hinter sich. Das soll der Mensch nicht tun. Hinter ihm, in Überlingen, lag auf seinem Schreibtisch die verdammte Feder, mit der er seine Publikation geschrieben hatte: Bründel sah über sich: um Gottes willen, da lag der Kodex selbst, Antonius saß darauf, hatte wieder einen Bauch und grinste, als ob er der alte Köster wäre. Und Bründel sagte dumpf: »Zu Ihnen, Kollege.«
Milchbäk war wohlhabend von Natur und sein Anwesen bot einen angenehmen Aufenthalt. Sie gingen stundenlang auf den verschlungenen Wegen des Gartens und des Kodex spazieren. Anfangs kam es vor, daß sie in der Erregung des Gespräches in die Staudenrabatten 39 traten, zuletzt trat Bründel aus Versehen in den Kodex, und Milchbäk blieb stehen und sagte: »Aah!« Nach Tisch wandelten sie ruhiger nebeneinander her, und nach dem Kaffee saß Bründel in der Laube wie ein Mann, dem man einen hohlen Zahn gezogen hat: befreit und vernichtet zugleich. Milchbäk trommelte mit dem Bleistift leise auf einem Blatt Papier und lächelte: »Ein bedeutender Satz. In der Tat, Bründel, ein großer Satz. Zweifellos echt. Ich will keineswegs mit der Frage in Sie dringen, wo Sie ihn herhaben. Genug, daß er da ist. Dieser Antonius! Ein hübscher, ein ungemein bearbeitbarer Satz: Askese ergreift nur so viel Ewigkeit, als sie Materie begriffen hat. Ich bin Ihnen recht verbunden, Hochverehrter und Lieber, daß Sie mir diesen Spruch des Komaten verraten haben.«
Die Semesterferien waren zu Ende, und Brigitte trug den leichten Koffer ihres Herrn auf den Hausflur.
»Die beiden Pakete behalte ich lieber bei mir«, sagte Köster und begab sich zu einem Abschiedsschluck in seine Krypta. Das große Paket enthielt den Kodex und das kleine die Köstersche Abhandlung über den Fund des Pergamentes und seinen Inhalt. Er wollte die wohlverpackten Schriften eben auf ein Faß legen und nach seinem Steinkännchen greifen, als er Milchbäk oben rufen hörte: »Nur auf ein kurzes Wort, Herr Kollege. Sind Sie im Keller?«
»Wie Gott will«, seufzte Köster, »kommen Sie herunter.« Schnell klappte er die Holzbank hoch und legte den Kodex in die Kiste. »Der tüchtige Milchbäk soll mich nicht 40 nach dem Inhalt dieses auffälligen Paketes fragen. Hat es der Antonius fünfzehnhundert Jahre hier drin ausgehalten, werden ihm die letzten fünf Minuten nicht mehr weh tun.«
»Hier lege ich«, sagte der eintretende Milchbäk, »noch rasch eine Frucht meiner letzten Ferienwochen in Ihre Hand.«
Wenn der Privatdozent gehofft hatte, daß dem alten Schwartenmacher, seinem lieben Ordinarius Köster, diese Frucht den Magen beschweren werde, so hatte er sich nicht verrechnet.
Köster las den Titel, bekam runde Augen, überflog einige Abschnitte, las den Schlußsatz, sah Milchbäk ratlos an und setzte sich schließlich sprachlos auf seine restaurierte Sockelbank.
»Ja, ja«, dachte Milchbäk.
Köster saß nun wieder auf dem Kodex des Antonius – freilich nunmehr als ein wirklich Besitzender. Und zum zweitenmal in diesem alten Weinkeller drückte er, keines Wortes mächtig, ein Schriftstück an seine Brust. Aber diesmal war es kein Antonius, sondern ein Milchbäk.
Milchbäk lächelte.
Köster lächelte auch. Dann lachte Köster. Nicht wie vor Monaten, mit dem Antonius an der Brust, still und selig »hohoho«, sondern mit dem Milchbäk am Busen, schallend und bitter wie ein Schmierentragöde. Milchbäk stutzte: »Worüber lacht denn der Kerl?« Aber Köster schien Milchbäks Gegenwart vergessen zu haben. Er ging schnellen Schrittes im Keller auf und ab, hieb zuweilen mit der zu einer Rolle gedrehten 41 Milchbäkschen Abhandlung auf ein Faß und sagte stoßweise zu sich selbst: »Großartig, Milchbäk. Antonius, das kannst du bei all deinem Eremitentum nicht gewollt haben! Sei ruhig, alter Komate, ich passe schon auf und bringe dich wieder an deinen Ort und in dich.«
Einmal blieb er vor Milchbäk stehen, blinzelte ihn an und kitzelte ihn sogar unterm Kinn, so daß Milchbäk hervorstieß: »Herr!«
»Nein, Milchbäk, die Wissenschaft in Ehren, aber ich und der Antonius haben auch noch Ansprüche zu stellen. Milchbäkchen, tun Sie Ihrem alten Ordinarius die Liebe und schicken Sie heute noch nach unserem teuren Bründel. Ich sah ihn lange nicht. Schicken Sie ihm einen Hahn, einen richtigen Hühnerhahn, Lieber, und lassen Sie sagen, diesen Hahn wären Antonius und ich dem Asklepios schuldig. Halt, Freund, vergessen Sie nicht, den Hahn vorher daraufhin zu prüfen, ob das Aas auch krähen kann. Hören Sie? Er muß nämlich krähen können wie der Hahn des Petrus im Evangelium. Und daß Ihr beide dieses Hähnchen dem Asklepios nicht etwa schlachtet, ehe es dreimal gekräht hat!«
Jetzt wurde dem Milchbäk die Lage ebenso klar wie seinerzeit der Brigitte, und er murmelte: »Besauft sich der alte Halunke da ganz still für sich in seinem Kellerloch hier unten! Ja, so ein alter Ordinarius an der Pensionsgrenze.« Laut sprach er: »Den Hahn zur Feier der Genesung des Antonius besorge ich. Aber auch Ihnen wünsche ich recht gute Besserung, Herr Professor.«
»Danke schön, Milchbäk. Ich kann sie gebrauchen. Aber vor allem müssen wir dem Vater Antonius beispringen.«
42 »Wir sind ja mitten im Sprung! Bründel und ich haben über ihn geschrieben.«
»Das habt ihr. Und so seid ihr. Aber wie ist das denn mit so einem Riesenkerl wie dem Antonius? Der wohnt irgendwo in Kleinasien, die Sonne scheint, er sitzt so da, schneidet sich die Fingernägel – und hat plötzlich eine Idee!! Milchbäk, was tun Sie, wenn Sie eine Idee haben?«
»Ich schreibe sie auf und gebe eine Abhandlung heraus.«
»Sehn Sie, Milchbäk, Sie sind ein ehrlicher Mann. Ich habe Sie immer dafür gehalten. Ganz richtig: Sie schreiben darüber. Was tut aber so einer wie Antonius, he?«
»Vermutlich hat er darüber in der Gemeinde geredet.«
»Natürlich! Der Teufel soll euch holen! Wissen Sie, Mensch, was der Antonius tat, als ihm die Idee des Einsiedelns kam? Der ließ sein Haus stehn und seinen Esel, seinen Geldbeutel und sein Weib und ging im Hemde in die Wüste und lebte seine Idee. Verstehn Sie mich, Milchbäk? Der lebte die Idee erst einmal durch von Anfang bis zu Ende, lebte sie mit seinem Leibe. Und dann, am bitteren Ende, wußte er erst, ob seine Idee Leib und Leben wert und Gottes ist. Ihr aber schreibt, schmiert, redet und wartet, bis einer kommt, der eure Schreiberei lebt.«
»O, die Welt ist eine andere geworden«, lächelte Milchbäk. »Uns stehen keine geographischen Wüsten mehr zur Verfügung. Wir haben leider nur noch geistige. In unserem Gehirn leben wir unsere Ideen durch. Und wahrhaftig! Der Gedanke kann eine verzehrende Gewalt 43 haben. Er macht uns vielleicht nicht weniger leiden als das bloß wirkliche Wüstenelend die alten Kirchenväter.«
»Ach«, sagte Köster, »ich müßte mich doch sehr täuschen, wenn sich die Ideen, die ihr in Bewegung setzt, nicht in einem pensionsberechtigten Dasein bewegten. Die Welt ist eine andere – ein schönes Wort, Milchbäk. In der Tat: die Welt hat verstanden, für die Bewegung der Idee ein gefahrloses Dasein herzustellen. Da aber Leben ohne Gefahr nicht Leben ist, lebt ihr eigentlich gar nicht. Diese Welt hält nicht mehr lange. Sie hat keinen Saft mehr. Seht doch hin, was ihr zustande gebracht habt: Eure Wissenschaft sperrt sich in eine Fachwelt, eure Kunst in einen Fachkreis –«
»Die Tiefe des Erreichten ist der Masse nicht mehr erreichbar«, antwortete Milchbäk.
»Gute Nacht, Milchbäk. Wenn Sie ganz unten in der tiefsten Tiefe angekommen sind, dann finden Sie das Volk. Seien Sie ruhig, Sie werden es nicht finden. Ihr schwimmt immer oben. Mit den wirklichen Menschen, den Förstern, Barbieren, Soldaten, Bauern und Eisendrehern habt ihr nicht mehr viel zu tun.«
Milchbäk ging mit kurzem Gruße und dachte: »Wie rasch doch der Mensch altert. Vor drei Jahren noch hielt dieser alte Köster die feinst durchdachten Vorlesungen über das vierte Jahrhundert, und jetzt will er die Wissenschaft wie eine Jahrmarktbude im Leben aufschlagen.«
Die Tür schlug hinter ihm ins Schloß. Köster schreckte auf und sah, daß er allein war. Er erhob sich ein wenig vom Sitz und setzte sich mit einem Ruck wieder hin, wie ein Reiter, der vor einem scharfen Ritt Sattel und 44 Bügel probiert: »Nein, Köster, das tust du deinem Antonius nicht an. Die Bank hält. Ein, zwei Generationen muß er noch liegen. Wenn die Fachmänner ausgestorben sind und die Welt erst wieder von Menschen bewohnt ist, darf er ans Licht. Gute Nacht, Antonius. Schlafe noch eine Weile.«
Köster hatte nicht Weib noch Kind, aber er verstand dennoch, die Seinen wohl zu betten und auch den Mann zu finden, der eine zuverlässige Ruhstatt schaffen konnte. Dieser Mann hieß Schottel und war Maurer. Köster zog ihn am Ärmel in die Nische: »Meister, Sie wissen, was ein Abendtrunk in Ruhe bedeuten will.« Schottel schmunzelte. »Also«, fuhr Köster fort, »hier sitz' ich am Abend. Setzen Sie sich mal hin.«
Schottel setzte sich und sah den Professor erwartungsvoll an.
»Merken Sie was?« fragte Köster.
Schottel rutschte hin und her und probierte den Sitz: »Hm, es geht. Ein bißchen steif wird man im Kreuz, wenn's lange dauert.«
»Wohl gesprochen, Meister. Ein steifes Kreuz kriegt man. Wissen Sie, Schottel, Steifigkeit ist der Anfang von Totenstarre. Die kommt von unten. Aus dem Kasten da zieht sie hoch. 's liegt einer drin.«
Schottel sah den Professor von unten heraus an.
»Ein Toter«, sagte Köster.
Schottel stand auf und guckte nun den Sockel an: »Richtig tot?«
»Mm – nun, sagen wir«, antwortete Köster, »einer, der vor der Zeit aufstehn will.«
45 Der Maurer nahm eine Prise: »Ne, Ordnung muß sein. Tot ist gut. Lebendig ist gut. Aber mal so und mal so, das taugt nicht. Herr Professor, die alten Häuser daherum sind nicht geheuer. Und nun schon Ihres! Hier liegt mancher alte Bursche drunter.«
»Das sage ich ja! Maure's zu!« rief Köster.
Schottel mauerte, und er mauerte gut. Der geschnitzte Sockelsitz verschwand hinter dem Gemäuer. Bald sah der untere Teil der Nische aus wie ein massiver Steinblock. Eine Stufe vor diesem Sockelblock glich die Erhöhung aus, eichene Bohlen gaben eine einwandfreie Sitzfläche, und eine Rückenlehne erlaubte ein unbedrückteres Ruhen und Trinken als der alte geschnitzte Sockel je hatte bieten können. Köster war sehr glücklich und winkte Brigitte heran, die eben in den Keller kam und sagte: »Werde alt, Brigitte, und du wirst alles. Sieh mich an. Ich wache als Hinterbliebener über der unwiderstehlichen Gnade. Ja, Brigitte, ich bleibe bis zur Auferstehung hier sitzen.«
»Recht, bleiben Sie nur ruhig sitzen, Herr Professor«, sagte Brigitte, »ich schicke ihn herunter. Aus der Abreise wird heute doch nichts. Herr Professor Bründel ist nämlich gekommen.«
»Da müssen Sie einen langen Atem haben«, sprach Bründel, der eben eintrat – ein wenig verlegen, aber doch froh, nach all der Zeit und ihren Ereignissen eine unvermutet leichte Anknüpfung gefunden zu haben . . .»Wenn Sie nämlich bis zur Auferstehung warten wollen, meine ich . . .«
»Was sollen Tote Besseres tun, Bründel?«
46 »Nun, wir leben«, antwortete Bründel, aber er sagte es etwas zaghaft. Ihm war nicht recht geheuer.
»Sie sagten das schon einmal. Beweisen Sie es«, sprach Köster.
»Aber, Kollege, sind Sie denn noch immer böse auf mich?«
»Böse?«
»Wegen des Antonius, Köster.«
»Wegen was für einem Antonius?«
»Na, wegen unseres Kodex doch, lieber Köster.«
»Wovon reden Sie denn, lieber Bründel?«
»Donnerschock, von der unwiderstehlichen Gnade, die wir hier gefunden haben. Ich fand sie doch mit. Lieber alter Köster, ich war's doch, der auf die Idee mit dem Mauseloch kam. Das Mauseloch war ja die eigentliche Ursache. Und da dachte ich: warum soll ich nicht auch darüber schreiben?«
»Mensch, Sie haben über ein Mauseloch geschrieben?«
»Über die verdammte Gnade, Köster! Lassen Sie die Späße.«
»Na, Bründel, an einer verdammten Gnade ist nichts spaßhaft.«
»Nein, Köster. Gar nichts. Aber ich fand den Kodex doch nun einmal mit.«
»Sie haben einen Kodex gefunden?«
»Der Teufel soll Sie holen, Kollege. Hier in Ihrer geschnitzten Bank fanden wir ihn« – Bründel schwieg plötzlich still, saß in Kniebeuge vor dem Mauersitz und starrte den Steinklotz an. Köster ging auch in Kniebeuge und guckte mit.
47 »Köster?« sagte Bründel leise.
»Ja, Bründel?«
»Hier war doch ein gotischer Sockelsitz, dahinter ein Mauseloch, und in dem Sockel war die Gnade.«
»Hören Sie mal«, sprach Köster, »Sie reden seltsame Sachen: Gotik, Mauseloch und Gnade – nein, Bründel, bei aller Freundschaft . . .«
»Aber Gott im Himmel!« schrie Bründel, »bin ich denn wahnsinnig?«
Köster erhob sich und richtete auch Bründel auf, klopfte ihm begütigend auf die Schulter und sagte: »Freund, ich bin schuld, ich hätte Ihnen den Frischgegorenen nicht vorsetzen sollen. Der ist nichts für einen Historiker Ihrer Art. Leute wie Sie müssen einen ruhigen, ernsten Wein zu sich nehmen.«
Bründel stand steif in der Mitte der Krypta, sah Köster groß an und sagte: »Professor Köster, habe ich hier die unwiderstehliche Gnade des Antonius in der Hand gehabt, oder habe ich sie nicht in der Hand gehabt?«
Köster sah den anderen ebenso ruhig an und sagte ernst: »Glauben Sie einem alten Menschenkenner wie ich bin, Bründel – unwiderstehlich kann die Gnade nicht gewesen sein, die Sie hier gefunden haben wollen. Sie haben geträumt, Mann.«
Jahre sind seit diesem Gespräch vergangen. Milchbäk ist längst ein berühmter Gelehrter geworden – die äußerste Spitze seiner Fachpyramide. Jede aufgehende Sonne grüßt ihn zuerst, und die untergehende sieht er am längsten hinabsinken. Nur das Verschwinden 48 Bründels aus der gelehrten Welt zu beobachten war ihm nicht vergönnt: Bründel erlosch unerklärlich plötzlich. Köster saß noch oft auf seinem soliden Steinsitz, schwenkte sein Weinkännchen, sah das feste Gewölbe über ihm im bewegten Spiegel schwankend stürzen und sagte: »Nicht die Welt. Nein, danke. Ich bin mit allem versehen.«
Aber Antonius, der doch so fern vom Bodensee in Asiens Ruhe lag, mußte ihn verstanden haben: er stand nicht wieder auf, sondern blieb friedlich im ewigen Sande der Wüste liegen und hat wohl seinem Kollegen Köster verziehen, daß der eine Satz – gerade der, in welchem Antonius das durch Askese erreichbare Maß von Ewigkeit den Menschen verraten hat – durch Kösters Unvorsichtigkeit in die Wanderdünen der Fachwelt geriet und dort zermahlen und verblasen wurde. 49