Kurt Kluge
Der Nonnenstein
Kurt Kluge

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Der Nonnenstein

Der Schnee fiel in schweren, wäßrigen Flocken. Elendes Winterwetter – naß, nicht kalt und nicht warm. Der Porzellanfabrikant Gottlob Schwanemann, so hager er war, atmete mühsam auf dem steilen Hügelpfad, der sich zwischen den beiden jäh in die Tiefe fallenden Kaolingruben hinaufwindet. Er blieb stehen und putzte die schneeverklebten Brillengläser.

»Da ist er ja schon, mein Herr Bruder«, sagte Gottlob verdrießlich, als ihm die blanke Brille wieder auf der Nase saß und ein deutlicheres Bild der flockenverhängten Welt zur Verfügung stellte: die runde Hügelkuppe lag wenige Schritte vor ihm, und zuoberst auf ihr erhob sich, dunkel im wehenden Grauweiß der Winterluft, die mächtige Silhouette eines wohlbeleibten Mannes.

»Da steht er und lacht« – Gottlob nickte zornig mit dem Kopfe – »natürlich: ich bin im Recht und er – lacht.«

Ein derartig gesättigtes, breites Lachen konnte einen verärgerten Fabrikanten von der windigen Statur Gottlobs wirklich kränken: es dröhnte durch die Totenstille dieser Schneewelt.

8 Rasch ging er die letzten Schritte zur Höhe und sagte trocken: »'n Tag, Eduard.« Die Hand hatte er zum Gruß leider nicht frei, weil er gleich seinen Zollstock aufklappen mußte. Eduard sah seinen Bruder aus zusammengekniffenen Augen an und lachte lautlos weiter. Dann zeigte er den Grubenabhang hinunter, an dem sich ein Arbeiter mit einer Meßschnur plagte.

»Sieh ihn dir an, Gottlob – weißt du, was Hackepfiffel eben gesagt hat?«

»Ich denke, wir fangen gleich an –«

»Im Augenblick, Gottlob – er hat gesagt: ich binde 's Maß immer an das Frauenzimmer – und da wundern wir uns, wenn er sich vermißt!«

Hackepfiffel hatte wirklich ein Weib zum Meßpunkt genommen: der Grenzstein auf dem Taubenbacher Hügel heißt der Nonnenstein, weil in seine Vorderseite das Relief einer Nonne eingemeißelt ist. Genau dort, wo sich der Gürtelknoten des steinernen Nönnchens schürzt, saß Hackepfiffels Nullpunkt der Meßschnur. Die Nonne schien das aber so wenig wie Eduard zu stören – lustig lächelte sie unter ihrer gotischen Haube in Schlackerwetter und Bruderstreit hinein. Die Jahreszahl unter dem Bild war ausgebrochen. Auf der Rückseite des Steines sollte noch ein Spruch stehen. Eduard hätte ihn gerne gewußt. Aber grade dort fiel die Kaolingrube so jäh in die Tiefe, daß er die Umgehung des Grenzsteines nie gewagt hatte. Die Dorfbewohner konnten die uralte Schrift nicht entziffern, und für Gottlob war nur wichtig, daß der Nonnenstein die Grenze zwischen der Eduardschen und seiner eigenen Kaolingrube bezeichnete.

9 »Willst du nicht mal versuchen, die Rückseite dieser lächelnden Dame zu entziffern, Gottlob?«

»Ich denke, wir fangen nun wirklich an.«

»Hast recht, Gottlob. Mach schneller, Hackepfiffel! Wir wollen endlich wissen, ob die Firma Gottlob widerrechtlich der Firma Eduard Porzellanerde abgrub – oder umgekehrt. Das muß im alten Jahr noch ins reine kommen. Haha, dann kann heute nacht, Punkt zwölf Uhr, deine Frau die Silvesterfriedensrede halten, alter Justitiarius. Ich erwarte dich mit Eva wie immer um neun Uhr.«

Gottlob zog die Stirnfalten noch finsterer zusammen: »Eva hält keine Reden.«

»Mensch! Gottlob! Ich gratuliere! Du bist der erste Adam, der das behaupten kann!«

Gottlob schwieg und schrieb die Meßzahlen, die ihm Hackepfiffel zurief. Er wußte, daß es gar keinen Sinn hatte, sich mit seinem Bruder einzulassen. Die sonnenklarste Richtigkeit wußte dieser lachende dicke Mensch so lange zu mißhandeln, bis er die Lacher auf seiner Seite hatte – und wenn bloß eine steinerne gotische Nonne lachte oder gar Eduards Vorarbeiter, der dickfellige Hackepfiffel. Daß sich dieser Herr Eduard aber besser um sich selbst zu kümmern und einer etwas weniger junggesellenhaften Lebensweise zu befleißigen habe – der Schlaganfall voriges Jahr war gar nicht so leicht gewesen – zu dieser Einsicht schien es bei ihm nicht zu langen . . .

Zornig las Gottlob die Zahlen. Natürlich ergab die Messung, daß die bekannte Taubenbacher Firma Eduard 10 Schwanemann, Luxusporzellan, tatsächlich vier und einen halben Meter in die Kaolinerde der bekannten Taubenbacher Firma Gottlob Schwanemann, Gebrauchsgeschirre aller Art, hineingegraben hatte.

Hackepfiffel kratzte sich hinter den Ohren: »Mr versieht sich zu leicht beim Messen. 's is alles so abschiss'g hier. Unten nur'n bißchen den Zollstock schief – un gleich sins om vier Meter.«

»Vier und ein halber Meter«, berichtigte Gottlob scharf.

»Pfui, Hackepfiffel!« rief Eduard, »willst du aus meinem Bruder einen Kain machen?! Und aus mir einen – hm, ich als Abel – nee, Gottlob, Abel steht mir nicht. Nichts für ungut. Übermorgen hast du die irrtümlich gegrabene Erde auf deinem Hof.«

Gottlob nickte und wandte sich zum Gehen: »Ich habe es eilig. Ultimo, du weißt. Wiedersehen.«

»Also Punkt neun Uhr heut abend. Grüß Eva!« rief ihm Eduard nach und schüttelte den Kopf: »Der Tüchtge«, sagte er vor sich hin. »Der Tüchtge.«

Mit diesem Wort bezeichnete Eduard seinen Bruder immer dann, wenn dieser im Rechte war, und da Gottlob stets recht hatte, hieß er bei Eduard schlechthin der Tüchtge.

Aber Gottlob verdiente dieses Lob auch. Kein porzellanener Gegenstand des täglichen Lebens, den man nicht dutzend-, gros-, waggonweise zu den günstigsten Bedingungen von Gottlob Schwanemann beziehen konnte.

Eduard mangelte solchen Ruhmes. Er stellte keine 11 gebrauchsfähigen Gegenstände her. Immerhin waren die hübschen Figuren mit dem Monogramm ES auf der Leipziger Messe wohlbekannt und gesucht. Eduard hatte Sinn für Kunst und entdeckte darum immer wieder begabte Modelleure und gute Maler. Nur die Ideen zu den Porzellanfiguren holte Eduard aus sich selbst. »Wahrscheinlich nach der zweiten Flasche«, knurrte Gottlob, wenn ihm sein Prokurist erzählte, daß der Umsatz nebenan wieder merkwürdig gut gewesen sei. »Wir dienen mit unserer Arbeit dem Leben, Brotewind. Hinter dem Zeug da drüben« – den Rest sprach er für sich – »steht . . . was denn: der Schlaganfall steht da . . .«

In der Tat hatten die Eduardschen Statuetten etwas Heiteres, Beschwingtes – mindestens »beschwingt«: »frivol« nannte Gottlob die weniger Geld, »zynisch« die viel Geld einbringenden Figuren. Hackepfiffel würde sie wahrscheinlich einfach als »abschiss'g« bezeichnet haben, wenn die Sujets nicht nur Lagernummern für ihn gewesen wären. Er sah sie eigentlich gar nicht. Obgleich Hackepfiffel meist als Sortierer in der Fabrik tätig war, bedeuteten ihm Statuetten verpackt ungefähr dasselbe wie unverpackt: Hackepfiffel war auf dem Standpunkt des Arbeitens, des Reinproduktiven als solchem stehengeblieben. Ihm fehlte die für einen Porzellansortierer eigentlich unerläßliche kritische Begabung. Dieser Mangel seiner Natur ließ ihn auch nie den tieferen Grund des dauernden Streites zwischen den Häusern Eduard und Gottlob erfassen. Nichts tat er zum Ausgleich. Im Gegenteil: der treue Knecht grub versehentlich Gottlob das Kaolin ab – sofern der anstehende Erdgang besonders 12 weiß und fett war. Er entwurzelte die Gottlobschen Zäune, indem er die Eduardschen Trockenplanken kräftig dagegenlehnte. Er pfiff auf dem Hof, wenn Gottlob drüben addierte – er war ein äußerst brauchbarer, unkritischer Knecht.

Eduard aber – der war viel zu gescheit und hatte viel zu lange in London gelebt – »und wie!« sagte sein Bruder –, um unkritisch zu sein. Aber er war auch zu weise und zu tief von der Kürze des menschlichen Lebens überzeugt, um an der falschen Stelle kritisch zu werden. Wenn zum Beispiel sein Modelleur Fabian zu ihm kam und das neue Modell für eine Porzellanstatuette auf den Tisch stellte, ließ es Eduard nur zu oft an der Spreu und Weizen sondernden Kritik fehlen, die ein Fabrikant von wenig oder gar nicht bekleideten Figuren zu haben hat.

Fabian hatte ihm auf seinen Wunsch das »Nönnchen« modelliert – so, wie es oben auf dem einsamen Grenzstein in die Welt hineinlächelte. Die Statuette Fabians war von derselben bewegt abwehrenden Haltung wie die gotische Nonne, die sich halb erschreckend, halb lachend zurückbiegt, als wenn eine Maus, eine Kröte oder, theologisch ausgedrückt, als wenn der Satan vor ihr auftaucht. Die Finger waren ähnlich gespreizt, die Figur hatte auch eine ähnliche Haube auf dem Kopf. Sonst freilich war keinerlei Kleidung angedeutet. Sie war nackt, und Fabian hatte zu seiner Entschuldigung »Eva« in den Sockel geschrieben.

Eduard besah sich sorgfältig die ausgezeichnete Modellierung, biß in Gedanken die Spitze einer neuen Zigarre 13 ab und sagte dann: »Hebe dich weg von mir, Fabian – nee: bloß du. Die Figur laß mir mal da, mein Sohn.«

Diese »Eva« wurde nun in Porzellan ausgeführt, fand größten Beifall, wurde das glänzendste Geschäft der Firma Eduard Schwanemann – und von ihrem rosigen Schimmer flog der zündende Schein in den seit alters glimmenden Bruderstreit, dessen Kosten an Ärger allerdings ausschließlich wieder Gottlob tragen mußte, weil er im Rechte war.

Gottlob nämlich hatte vorm Jahre einen gewichtigen Schritt mitten in seine lorbeerbekränzte Lebensjahrzahl Fünfzig hineingetan und die Tochter eines wohlhabenden Konkurrenten geehelicht, welcher ebenfalls mit großem Erfolg Gebrauchsgeschirre aller Art herstellte. Ob die Liebe an sein sehniges Herz gerührt, ob die Bilanz des konkurrierenden Tochtervaters zu blendend in die Kontore Gottlobs hineingestrahlt hatte: sie hieß jedenfalls Eva und war ein rundliches, entzückendes, strahlendes Mädchen vom Lande, das in einer jener städtisch kultivierten Villeggiaturen aufgewachsen war, wie sie nur die großen Thüringer Fabrikbesitzer fast italienisch reich und heiter zwischen die waldigen Hügelwellen dieses Landes hinzustellen verstehen, weil ihnen die Gebräuche von London bis Istanbul vertraut sind und angenehm dünken.

Diese Eva hätte nun besser in den glänzenden Haushalt des unverheirateten Eduard hineingepaßt, aber Eduard war viel älter als sein Bruder und bereits dort angelangt, wo der Mann öfter mit dem schräg gehaltenen Weinglas zwischen Tisch und Mund stillehält und lächelnd, aus 14 halbgeschlossenen Augen, so ein zwitscherndes Lebewesen betrachtet: »Kann das sein? Fromm, brav, nett – und undurchdringlich wie eine Tropennacht . . . na prost, Gottlob«, fügte er unvermittelt laut hinzu.

Nach längerer Beobachtung hatte Eduard auch herausbekommen, wo das geheimnisvoll Lebendige dieses noch erlebnislosen Frauengesichtes herkam: Evas Mund war bei allem Liebreiz durchaus asymmetrisch. Wiederum unvermittelt hatte Eduard gemurmelt: »Lobe Gott, Gottlob« und dann schweigend den Duft seines Markobrunners eingesogen. Er war in solchen seelisch-plastischen Feststellungen Laie. Oder doch Amateur war er: der Bildhauer Fabian jedoch war Fachmann. Vielleicht hatte Eduard seine Ergründung der Evaschönheit unbewußt ausgestrahlt, vielleicht war dieses Phänomen dem Fabian aus eigner Kraft aufgegangen – Tatsache blieb, daß die Nachbildung des Nönnchens, die »Eva mit der Schlange«, ein so entzückend schiefes Mäulchen besaß, daß dies keinem Beschauer als schief zum Bewußtsein kam, aber jedem Beschauer eine irgendwie vorhandene Ähnlichkeit zwischen der porzellanenen und der lebendigen Eva aufdrängte.

Nun war diese Ähnlichkeit lediglich künstlerisch wirklich, jedoch keineswegs juristisch existent. Gottlob konnte gelb vor Wut werden: sachlich zu begründen vermochte er seine Wut nicht. Er fraß also die ihm völlig dunkle Schönheit in sich hinein. Nur bei Gelegenheiten quoll ihm der Zorn durchs Leder: wenn Hackepfiffel Kaolin stahl. Oder wenn Gottlob im Geiste seinen Bruder sah, wie er sich – schon im schwarzen Rock und etwas eingezwängt vom Kragen 15 – ächzend bückte, um eine Flasche Cliquot von den kühlen Fliesen des Wintergartens hochzuheben: wie er mit ihr liebäugelte und den Neujahrsspruch überlegte, den er Eva – nicht ihm, dem Gottlob, ih wo – den er ihr darbringen wollte. Oh – Gottlob kannte diese verdammten Eduardschen Trinksprüche. Ein wenig altmodisch gingen sie los, beinahe großvaterhaft, und urplötzlich kam eine überraschende geistvolle Wendung, über die dann Gottlob eine halbe Stunde nachdenken mußte, ob nicht doch eine Niedertracht dahintersteckte . . .

»Der Teufel soll ihn und seinen Cliquot samt Spruch und Augenzwinkern holen!«

 

Der Tisch war in Ordnung. Eduard rückte noch ein wenig an den Gläsern, stellte die Zigarren zurecht: »Sind die Herrschaften schon da?« fragte er den eintretenden Diener. Aber Karl hatte nur einen schmalen Brief abzugeben. Evas Hand? Eduard öffnete.

Sie könnten leider nicht kommen, schrieb seine Schwägerin. Ein wenig Fieber habe sie, nicht schlimm, aber das Zimmer möchte sie doch nicht verlassen. Eduard sah lange auf das Kartenblatt. Dann senkte er den Kopf. Er fischte aus dem Weinkühler ein Stück Eis, drehte das Kristall in Gedanken hin und her. Es schmolz zwischen seinen Fingern. In dem türkischen Teppichrot breitete sich ein dunkler Wasserfleck aus. Karl blickte seinen Herrn an. »Schade«, murmelte Eduard und drehte die dicke Flasche in das Eiswasser. »Er hätte ihr geschmeckt. Ja. Der Tüchtge . . . nimm zwei Gedecke ab, Karl. Die gnädige Frau ist krank. Und nun trag auf.«

16 Nach den ersten Bissen, den ersten Schlucken wurde ihm langsam wieder wohl zu Sinn. Er speiste, wie er es gewohnt war, einsam und sehr geruhsam. Als die Zigarre brannte, erhob er sich, holte die Porzellanstatuette der »Eva« vom Wandtisch, stellte sie zwischen die Blumen: das Nönnchen. Weiß Gott: eine Nonne. Und scheint lebendiger als eine ganze Straße voll Großmäuler. Scheint? Wenn man dahinterkäme, was sie in sich so denken . . . ah was – wahrscheinlich denken solche Evas gar nichts. Sie sind bloß da. Aber halt – wenn sie einen manchmal blitzschnell aus den Augenwinkeln ansehen . . . abgrundtief: natürlich denken sie sich was beim Leben. Ja früher, als die Menschen noch keine Briefe schrieben – Eduard knickte Evas Briefkarte gedankenvoll zu einem kleinen Fächer – früher, da kam man leichter dahinter – früher? Bei einer Eva von einst? Ich habe ja eine! In Stein gemeißelt! Und sogar mit dem unbekannten Spruch hinter sich!

Eduard nahm die Porzellanfigur in die Hand. Aber er sah sie nicht. Eine graue, uralte Figur wuchs über das rosig schimmernde Ding – verwittert geheimnisvoll und dennoch strahlend lächelnd . . . ihr Spruch? Schneeflocken wirbelten, eine Dohle saß über ihr und schrie in die Nacht vor Hunger . . .

Eduard klingelte.

»Karl, schicke mir mal den Hackepfiffel her.«

Der Diener warf einen erstaunten Blick auf die Standuhr: eine halbe Stunde vor zehn.

»Aber gleich. Es eilt mir.«

Einfach war das nicht, in der Silvesternacht einen 17 Hackepfiffel aufzutreiben. Endlich fand ihn Karl im »Bären«, ganz hinten am runden Tisch. Hackepfiffel brauchte Zeit. Er mußte sich erst wundern, dann austrinken, schließlich das Wolltuch um den Hals binden. Jetzt stand er vor Eduard.

»Mein Freund« – Eduard drückte ihm einen so bedeutenden Geldschein in die Hand, daß Hackepfiffel langsam seinen Mund öffnete und während des Folgenden zunächst auch nicht wieder zuklappte – »das gehört dir. Du suchst dir jetzt einen Spaten und drei stämmige Gehilfen. Ihr geht auf den Taubenbacher Hügel – wir haben Vollmond, es schneit kaum noch – und oben auf dem Hügel grabt ihr mir den Stein aus –«

»Hö?«

»Ja, den Nonnenstein. Den bringt ihr mir her. Hier herein. Ich warte so lange.«

»Nähm Ses nich übel, aber –«

»An dem Schein in deiner Hand siehst du, daß ich nur eins übelnehme, Hackepfiffel: wenn ihr mir meinen letzten Wunsch im alten Jahre nicht erfüllt.«

»In der Silvesternacht, 'n alten Schteen« – der Knecht wendete den Geldschein nach allen Seiten – »verdammig, aber viel Geld.« Er ging.

Eduard schenkte sich lächelnd ein: »Wir kommen doch vielleicht noch hinter dich, mein liebes Nönnchen.«

 

Die Abendzeitung in Gottlobs Hand zitterte. Seine liebenswürdige junge Frau hatte ihm soeben erklärt, er möchte in Zukunft die Lügenbriefe selber schreiben, wenn er sich mit seinem Bruder verzankt hätte. Er habe 18 vielleicht Fieber. Sie nicht! Er finde vielleicht Genuß am Zeitunglesen. Aber sie nicht! Ihr lagen die Eduardschen Abende im Sinn: die Heiterkeit – ohne daß Eduard eigentlich lustig war oder spaßhafte Geschichtchen erzählte. Sie wußte selbst nicht, woran es lag, aber dort drüben wehte ein Luftzug aus großer, weiter Welt um sie, ein duftender, fremder Wind. Sie blähte die zierlichen Nasenflügel, um ihn einzuatmen. Eduard konnte mit einer Handbewegung, mit einem Summen beim Einschenken, mit zehn Worten machen, daß ihr plötzlich die palmenbeschattete Terrasse am Perapalast gehörte, Wellen schimmerten . . .

Einen Punsch möchte sie ansetzen, sagte Gottlob.

»Ich?!«

»Ich etwa?!«

Aus dieser beiderseitigen Frage entsprang nun endlich der eheliche Krach, der seit dem Nachmittag in der dicken Schneeluft lag. Gottlob geriet sehr bald in die Minderheit. Mit Zahlen war hier nicht durchzukommen. Und Gottlob faltete plötzlich die zerknitterte Zeitung zusammen, erhob sich und sagte: »Gute Nacht.«

»Du – –?«

»Wie? Ja. Die paar Stunden Schlaf brauche ich. Der Nachtzug nach München« – Eva sah ihren Gatten groß an, hier war nun wieder mit Sprachgewandtheit nicht durchzukommen – »ah, hatte ich vergessen, dir zu sagen –? Ja? Übermorgen ist die Porzellansitzung in München. Oder soll ich etwa eine wichtige Sache versäumen, bloß weil morgen Neujahr ist?«

Eva nahm eine Handarbeit. Sie war den Tränen 19 nahe. Was sie alles noch zu sagen gehabt hätte! Daß Geschäft angeblich »Geschäft« sei, wußte sie aus ihrem Vaterhaus. Aber dieses rücksichtslose Verreisen, wenn's ihm paßt . . .

Ach, es paßte Gottlob gar nicht. Aufregungen jedoch legten sich ihm auf die Leber, beeinflußten seine Nierentätigkeit: lieber verreisen. Man kommt in drei, vier Tagen wieder. Man ist frisch. Man hat dies und jenes Geschäftliche erledigt. »Ich muß mich meiner Firma erhalten«, sprach Gottlob, nahm ein wenig Brom zu sich und schlief ein.

Während Gottlob schlummerte, Eduard trank und Eva an ihrer Handarbeit stichelte, gruben oben auf dem Taubenbacher Hügel vier Männer den Nonnenstein aus. Mühselig genug: mit Hacken mußten sie das hartgefrorene Erdreich aufbrechen. Es war kalt geworden. Vom Mühlberg her wehte ein scharfer Nord. »Aber nobel is'r. Wenn mer das Aas raus ham, setz mern Grog an, un was for een'n.« Endlich lag der schwere Steinblock auf dem Weg, ächzend luden sie ihn auf eine Tragbahre, die sie mitgebracht hatten, und traten den Heimweg an. Ein seltsamer Zug – als ob vor dem großen Zwölfuhrgeläut noch eilig ein Toter über die Höhe getragen werden müßte. Aber auf der Bahre lag eine steinerne Eva, lächelte und ließ vier Männer unter ihrer Last stöhnen und fluchen. An der Sandgrube ging es noch einmal steil aufwärts. Kaum waren sie schweißgebadet mit ihrer Bürde auf der freien Hochebene, packte sie der eisige Nordwind. »Grauslich«, knurrte sogar Hackepfiffel. Die Männer keuchten. Schmerzend drückten sich ihnen die Holzgriffe der 20 Bahre in die Schultern. »Jetzt kann ich nicht mehr. Wart't mal.«

»Halt doche!« – plötzlich begann hohl wie aus dem Erdinnern und doch scheinbar dicht unter ihnen die Neujahrsglocke durch das Schneetreiben zu hämmern. Die Männer zuckten zusammen. »Weiter!« wollte Hackepfiffel schreien, wandte sich um – da kam die Bahre schief zu liegen, dumpf krachte der Nonnenstein in den Schnee, überschlug sich und rollte in die weißverwehte Sandgrube hinunter.

»'s soll nich sin. Laßt'n liegen. Kommt schnell.«

 

»Schnell«, sagte auch Gottlob zum Kutscher, als er in den Schlitten stieg. Der Ort lag im Schlaf. Aber als sie um die Ecke der Waldstraße klingelten, scheuten die Pferde: aus den Fenstern des Eduardschen Hauses fiel strahlend gelbes Licht auf den Schnee. Gottlob schüttelte den Kopf: »Unverwüstlich ist er.«

»Wirklich unverwüstlich«, sagte Gottlob eine halbe Stunde später noch einmal, als der Zug über den Viadukt fuhr. Von dort oben hat man einen Blick aus die Taubenbacher Dächer; Eduards Fenster strahlten noch immer in die Nacht. Hätte der Zug aber Verspätung gehabt, so würde sich dem Reisenden ein doppelt bedenklicher Anblick geboten haben. Gottlobs eigene Fenster wurden nämlich auch hell. Ein breiter Lichtkegel fiel aus der weitoffenen Haustür auf die Straße und Eva, Gottlobs Eva eilte, flüchtig einen Pelz um die Schultern gehängt, dem Eduardschen Hause zu, neben ihr mit einer Laterne, jammernd, weinend, die alte Haushälterin: »Schnell! 21 Diesmal is es schlimm. Der Doktor sagt's auch. Reden kann'r nich mehr. Aber den Nam von gnä Frau habch verstehn könn'.«

Kranksein und Sterben hatte sich bis zu dieser Nacht in weiter Ferne von Eva vollzogen. Das Vergehen war für sie die Sache der anderen gewesen. Noch unterwegs wehrte sie sich gegen die dunklen Fledermausflügel, die unheimlich streichelnd um sie huschten. Als aber die Tür vor ihr aufging, als sie den Wehrlosen daliegen sah, schlug sich die Ewigkeit vor ihr auf – entsetzlich unbeteiligt, gelassen. Eduard bewegte sich nicht. Aber er mußte wohl die weibliche Wärme empfinden, als sie bei ihm war. Er tastete mit der Hand, fand Evas Hals, fand ihr Gesicht –

»Kann ich dir helfen, Eduard?«

Er machte eine Bewegung mit den Mundwinkeln. Eva beugte sich über ihn, nahm mütterlich sein mächtiges, weißhaariges Haupt in ihre Hände.

»Der Stein – – der Spruch –« und das Haupt wurde mit einemmal schwerer als alles Gewicht, das Eva je in ihren Händen gefühlt hatte. Durch den wehenden Schneesturm hallten abgerissen einzelne Glockenschläge vom Neujahrsgeläut.

Sie läuteten heute lange. Eine ganze Nacht? Oder ein ganzes Jahr? dachte Eva. Eine Minute holt manchmal aus uns heraus, woran das ordentlich trottelnde Leben zehn Jahre lang vergebens zerren kann, und kriegt es doch nicht frei. Solche Minuten dehnen sich freilich maßlos aus – vielleicht ist aber nur unsere mechanische Zeitmessung ein Spott auf den Menschen. Als Eva die Treppe 22 hinunterging, schlug irgendwo im Hause Eduards eine Uhr die erste Morgenstunde des neuen Jahres: »Unsere Uhren gehen falsch«, sagte sie, »wo bin ich hin in der einen Stunde?« Nach allen Seiten sproßte jetzt ein Gerüst des Todes in ihrer eben noch so kleinen und weichen Seele. Sie erschrak nicht einmal, als sie im zugigen Torweg eine Erscheinung hatte. Nur die Hand legte sie aufs Herz: wirklich, sie irrte nicht – da traten aus dem Schneegestöber in Eduards Tor vier Vermummte, die eine Totenbahre trugen, kamen auf sie zu, blieben stehen –

»Nanu«, hörte sie eine bekannte Stimme sagen.

»Hackepfiffel – Ihr, in der Nacht –«

»Mr ham'n verlorn.«

Jetzt wollte Eva doch aufschreien. Der Knecht sah ihre entsetzten Augen: »Den Schteen doch bloß.«

»Mein Gott – Stein hat Eduard gesagt.«

»Richtg. Den Nonnenschteen.«

Der Wind blies Schneewolken in den Torweg. Ein Träger ließ den Bahrengriff los und schloß das Tor. Es war plötzlich eine Kirchenstille in dem gewölbten Gang – tief genug für solche Nachrichten, wie sie die Gattin Gottlob Schwanemanns und der Knecht Eduards zu tauschen hatten.

 

Die Depeschen waren bei Gottlob verspätet eingetroffen. Bei wichtigen Geschäftsreisen kann man seinen Aufenthalt nicht immer genau vorherbestimmen. Für Gottlobs Gesundheit war die Ortsveränderung recht zuträglich gewesen. Und wie der Herr der vereinigten Häuser 23 Schwanemann jetzt alle seine Kräfte brauchte! Er strich sich langsam über das Kinn. Ja, je tüchtiger einer ist, desto mehr wird im Leben von ihm verlangt. Es gab ungeheuer zu rechnen, zu überlegen: Gottlob schaukelte auf einem Meer von Zahlen. Eva sah ihn an.

»Hm« – er fühlte den Blick – »nimm deinen Mantel, Eva. Wir wollen erst mal auf den Friedhof gehen.«

Sie könne leider nicht mitkommen, antwortete Eva. Ein wenig Fieber hätte sie. Nicht schlimm. Aber das Zimmer möchte sie doch nicht verlassen.

Gottlob ging allein. Als er der Grabstätte der Schwanemanns näher kam, stutzte er, blieb stehen . . .

»Schon der Grabstein gesetzt? Ohne mich zu fragen?«

Er trat heran, sah scharf hin und glaubte doch nicht recht zu sehen: hinter dem Hügel stand der Nonnenstein – ohne Zweifel, das mußte der Grenzstein sein, der lebenslang zwischen ihm und seinem Bruder gestanden hatte. Nur stand er jetzt verkehrt, die Schrift nach dem Grabhügel zu gewendet. Das Nönnchen lächelte nach den fernen, schneebedeckten Hügelwellen hin.

Der Name des Toten war frisch in den Granit hineingemeißelt. Unter dem Namen aber stand ein Spruch – uralt, unleserlich. Gottlob entzifferte lange an den krausen Buchstaben. Jetzt mußte er es haben. Langsam strich er mit Daumen und Zeigefinger an der Nase herunter, sah seitwärts – ja, jetzt fuhren Gottlobs Blicke ebenso unruhig forschend im Leeren herum wie früher in Eduards Speisezimmer, wenn sein Bruder das Glas am geschliffenen Stengel gefaßt hatte, um und um drehte, damit 24 der Markobrunner golden im Kerzenschein aufleuchtete und dann den Mund öffnete zu einem seiner undeutlichen Sprüche.

Dieses stand auf dem Nonnenstein zu lesen: »Denen aber, die draußen sind, widerferet es alles durch Gleichnisse. Marcus Vier, im elften Verse.« 25

 


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