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Das Dorf Losachew liegt mitten im Walde und dicht an der russisch-polnischen Grenze, welche hier durch das Flüßchen Lißwartha gebildet wird. Das Flüßchen, eigentlich nur ein Bach, fließt zur Warthe; es hat seine Quellen in den Vorbergen, wird nach einem Gewitterregen oft reißend und überschwemmt dann auch wohl seine Ufer, sonst aber ist es ein harmloses Wässerlein, das man an vielen Stellen durchwaten kann.
Zu seiner Rechten und Linken treten in der Nähe des Dorfes nur stellenweise die Waldungen zurück und machen Wiesen Platz. An einzelnen Punkten aber reichen sie bis dicht an den Fluß, und das Dorf, welches aus ungefähr zwanzig zerstreut liegenden, kleineren und größeren Gehöften besteht, zieht sich bis dicht an den Fluß heran. Die Häuser sind alle einstöckig, aus übereinandergelegten hölzernen Balken erbaut und mit Strohdächern versehen. Meist haben sie Umzäunungen von Holzplanken, welche die Höfe und Gehöfte andeuten.
Die Felder liegen auf Waldblößen und gewähren nur spärliche Ernten. Die größten Komplexe auf den Waldblößen hat das Gut, zu welchem das Dorf früher gehörte, und dessen Eigentümer Herr von Sembitzki ist. Es liegt auf dem Bergrücken und führt wohl wegen der kleinen Berge den Namen Kociegorki (Katzenberg).
Das Vorwerk besteht aus einigen langgestreckten Stallungen mit Schindeldächern, selbstverständlich aus Holz gebaut, aus zwei großen Scheunen von Fachwerk und mit Schindeln und Strohschoben eingedeckt. Abgesondert endlich und sogar durch eine Mauer von diesen Gebäulichkeiten getrennt, steht einsam ein langgestrecktes Gebäude, welches von den Bewohnern der Umgegend mit dem stolzen Namen »Schloß« bezeichnet wird.
Es ist ein weißgetünchtes Haus unter einem einzigen, langen Schindeldach, mit mehreren Haustüren in der Vorder- und Hinterfront, mit einer ganz respektablen Anzahl kleiner Fenster von je vier Scheiben. Dadrinnen aber mag es sich ganz behaglich leben. Nach dem Hofe zu hat das Schloß sogar eine Art Portal, das heißt einen Vorbau, der von acht plumpen, dicken Säulen getragen wird, die aus Ziegelsteinen erbaut und mit weißem Kalk übertüncht sind.
Der Zugang oder die Zufuhr zum Schloß geschieht durch den Wirtschaftshof und durch ein Tor in der Mauer, welche den Wirtschaftshof und die Wohngebäude des Gutsbesitzers voneinander trennen. Hinter dem sogenannten Schlosse befindet sich ein Stück Garten und ein verwilderter Park, der unmittelbar wieder in den Wald übergeht.
Auch am Abhange des Hügels, auf dem das Schloß steht, liegen einige Hütten von kleinen Besitzern versteckt im Walde.
Wenn man durch die Haupttür der Front des Schlosses tritt, so gelangt man in ein mit Steinfliesen ausgelegtes Vestibül mit einer großen Uhr, von dem zur Rechten und Linken ein langer Gang durch das ganze Schloß führt, auf dessen beiden Seiten die verschiedenen Zimmer liegen. Auch schmale Treppen führen nach oben, wohl zum Boden und zu den Vorratsräumen.
Mit seiner eigentümlichen Bauart, seinem einfachen Äußern und seiner Lage mitten im Walde und in der Nähe der Landesgrenze, macht dieses Schloß einen etwas düstern, fremdartigen Eindruck. Im Innern aber ist es recht behaglich eingerichtet. Die Möbel sind alt, aber man sieht ihnen an, daß sie aus guten, edlen Holzarten gefertigt und mit kunstvoll gearbeiteten Messingbeschlägen versehen sind, und für Martha sind diese Möbel sämtlich alte Bekannte, die sie jetzt nach so langer Trennung wiedersieht.
Sie hat in dem äußersten Flügel ein Zimmer angewiesen bekommen, welches gleichzeitig Wohn- und Schlafzimmer ist, und jetzt ist sie mit dem Ankleiden beschäftigt und macht sich wohl Gedanken über ihre Ankunft am Abend vorher.
Eigentlich war ihr Eintritt in das Vaterhaus kein besonders feierlicher gewesen. Man hatte sie fast vollständig ignoriert. Der Wagen fuhr nicht einmal vor das Portal, sondern blieb im Wirtschaftshof halten, und Wojtek erklärte, mit Rücksicht auf die Krankheit des gnädigen Herrn dürfe nach Einbruch der Dunkelheit überhaupt kein Wagen, ja eigentlich niemand, der nicht besonders bekannt sei, den Schloßhof betreten, weil dies den Kranken störe. Sie war dann in das Schloß hineingegangen, und bald darauf war eine alte Magd oder Dienerin herausgekommen, welche Martha gänzlich unbekannt war, hatte sie begrüßt und ihr mitgeteilt, daß ihr Vater am Abend nicht mehr zu sprechen sei, und daß die gnädige Frau wegen seiner Pflege verhindert sei, das Fräulein zu begrüßen.
Dann waren die Sachen Marthas abgeladen worden. Wojtek und die Alte hatten, auf den Fußspitzen schleichend, die Sachen in das Zimmer getragen, das für Martha angewiesen war. Darauf hatte die Alte ihr noch ein allerdings sehr reichliches Abendbrot und etwas leichten Wein gebracht und ihr dann geruhsame Nacht gewünscht.
Das war ein eigentümlicher Einzug! – Heimlich, ja fast wie ein Dieb in der Nacht, kam Martha in das Haus ihres Vaters. Wie hatte sie sich gesehnt, ihren Vater wiederzusehen, und er schien gar keine Sehnsucht zu haben nach ihr! Oder war er wirklich so schwerkrank? Welche Sorge befiel das Herz des armen Kindes, das in den letzten Tagen so viel erfahren!
Sie nahm nur wenig von den Speisen zu sich, aber noch lange saß sie mit im Schoße gefalteten Händen am Tisch und dachte nach. Noch einmal durchlebte sie den Tag, der so viel merkwürdige Ereignisse für sie gebracht hatte.
Sie verschloß die Tür und warf sich dann auf ihre Knie vor dem Bett nieder. Sie betete für ihren kranken Vater, für ihre Lehrerinnen und Freundinnen, für alle Menschen, und insbesondere betete sie für einen Menschen, den sie heute kennen gelernt hatte, und der in so großer Gefahr schwebte, daß er keine Stunde vor dem Tode sicher war, für den Bruder ihrer neuen Freundin Hedwig. Sie betete für ihn lange und inbrünstig, nur aus Mitleid und Mitgefühl, und erst am Schlusse des Gebetes gedachte sie auch ihrer selbst, und sie bat Gott, ihren Eingang in das Haus zu segnen.
Dann ging sie zur Ruhe, gestärkt, demutsvoll, opferbereit, wie es ihr das unschuldsvolle Herz befahl, das in ihrer Brust schlug. Traumlos hatte sie die Nacht verbracht, und jetzt kleidete sie sich an.
Sie war mit ihrer einfachen Toilette eben fertig, als es an ihre Tür klopfte. Die alte Wirtschafterin trat herein, um ihr kurz mitzuteilen, daß man sie beim Frühstückstisch erwarte. Mit klopfendem Herzen folgte ihr Martha.
Die Alte schritt ihr voran über den langen Korridor hin und durch das Vestibül nach dem andern Flügel des Hauses. Hier stieß sie eine Tür auf, durch welche man in eine Art Vorzimmer gelangte. Dann öffnete sie eine zweite Tür und winkte Martha, einzutreten.
Als Martha in dem Rahmen der Tür erschien, bot sich ihr ein Bild, das ihre Augen und ihr Geist blitzartig auffaßten. An dem gedeckten Tisch, auf dem die große russische Teemaschine, der Samowar, sich befand, stand eine Frauengestalt von mehr als gewöhnlicher Größe, eine Frau von außergewöhnlicher und doch nicht unschöner Figur, die Gestalt einer Brunhilde, welche die Augen forschend, aber nicht freundlich auf die Eintretende richtete. Und da, auf einem Rollstuhl, abgemagert wie ein Skelett, mit gelbem Antlitz, in dem der schlaff herunterhängende Schnurrbart noch die Schrecken der Magerkeit erhöhte, mit tief in den Höhlen liegenden Augen, saß ihr Vater, den sie so lange nicht wiedergesehen!
Der Anblick des Kranken ließ Martha alles vergessen. Sie schrie laut auf, und im nächsten Augenblick hatte sie sich neben dem Rollstuhl des Kranken niedergeworfen, und als sie fühlte, daß zwei zitternde Hände sich auf ihr Haupt legten, daß eine bebende Stimme ihren Namen flüsterte, da schlang sie ihre Arme um den Hals des Kranken und schluchzte laut.
Warum war ihr in diesem Augenblick so unendlich weh, so bang und furchtsam zumute? – Warum mußte die Stunde des Wiedersehens mit ihrem Vater durch dieses entsetzliche Gefühl der Angst und des Schreckens ihr verbittert werden?
»Du regst dich auf, Stasch!« Stasch: polnisch, ist die Abkürzung für Stanislaus. sagte plötzlich eine Frauenstimme. »Du wirst kränker werden, als du bist. Du weißt, du sollst dich nicht solchen aufregenden Szenen hingeben!«
Eine Hand legte sich mit festem Griff auf Marthas Schulter.
»Steh auf!« sagte dieselbe Frauenstimme. »Steh auf und rege deinen Vater nicht auf. Er kann den Tod davon haben. Jede Aufregung ist ihm auf das strengste von dem Arzte verboten.«
Martha stand auf und sah die Augen der stolzen Frau finster auf sich gerichtet. Durch den Schleier ihrer Tränen hindurch sah sie auch, wie ihre Stiefmutter ihr die Hand hinhielt, als solle sie dieselbe küssen, und als Martha nicht sofort verstand, was sie wollte, fragte die Dame scharf:
»Hast du für deine Mutter keine Begrüßung?«
»Begrüße deine Mutter!« sagte der Kranke matt. »Sie wird dir eine Freundin und Helferin sein.«
Martha drückte einen Kuß auf die volle Hand und konnte selbst in diesem Augenblicke nicht umhin, diese Hand und den vollen Arm zu bewundern, der bis weit über den Ellenbogen entblößt war, und als sie ihre Augen weiter erhob, sah sie, daß eine Schönheit vor ihr stand, allerdings eigenster Art.
Mit ihrer hohen Gestalt, mit dem dunklen Seidenkleide, welches, tief ausgeschnitten, Brust, Nacken und Arme frei ließ, mit dem hoch aufgenommenen Haar hatte diese Frauengestalt, die wohl dreißig Jahre alt sein mochte, etwas Gebietendes, etwas geradezu Majestätisches. Dieses Weib schien zum Herrschen geboren, aber ihre vollen Lippen waren aufeinandergepreßt, und der Blick ihrer Augen war so kalt, ja Martha schien er fürchterlich, und ihre Augen – sie hatten eine Farbe zwischen blau, grau und grün – sie funkelten und leuchteten in dem Gesichte dieser Frau, und hin und wieder blitzten sie auf in Leidenschaft oder Erregung.
Auf einen Wink ihrer Stiefmutter nahm Martha am Tische Platz, und Femia fragte:
»Ich hoffe, du hast eine gute Fahrt gehabt?«
»Ich danke,« sagte Martha schüchtern.
»Du hattest auch Gesellschaft?« fragte Femia weiter.
»Ja!« entgegnete Martha. »Ich habe eine Dame von Rosenberg bis Lublinitz mitgenommen und auch die Bekanntschaft ihres Bruders gemacht.«
»Du brauchst nichts weiter zu erzählen,« sagte Femia; »Wojtek hat mir bereits alles mitgeteilt. – Sie hat eine Schwester,« setzte Femia erklärend hinzu, indem sie sich an ihren Gatten wendete, »sie hat eine Schwester des Obergrenzkontrolleurs Kontala getroffen.«
»Ah!« sagte Sembitzki, wie es schien, freudig. »Ein sehr netter Mensch, ein sehr tüchtiger Mann! Er kommt öfter hierher, und es macht mir immer große Freude, mit ihm mich zu unterhalten. Er hat viel Kummer mit den Schwärzern, aber das ist sein Beruf.«
Femia schob die Gläser (in Rußland und Polen, und auch an der Grenze wird der Tee niemals aus Tassen, sondern stets aus Gläsern getrunken) an den Samowar heran, goß aus der kleinen Teekanne, die auf dem obersten Schlot stand, etwas Teeextrakt in dieselben und ließ dann heißes Wasser in die Gläser laufen.
Sembitzki warf einen schüchternen Blick auf seine Frau und streckte dann seine zitternde, abgemagerte Hand aus, um sie mit einem zärtlichen Blick auf die gefalteten Hände seiner Tochter zu legen und diese sanft zu streicheln.
Martha sah in die Augen des Vaters, die voll Liebe und unaussprechlicher Rührung auf sie gerichtet waren, und nur mit Mühe hielt sie die Tränen zurück, die sie wiederum beim Anblick des geliebten Kranken überkamen. Sie sollte ihn ja nicht aufregen, und deshalb beherrschte sie sich. Hatte nicht ihre Stiefmutter soeben gesagt, daß jede Aufregung sein Tod sein könne?
Schweigend wurde der Tee getrunken und dazu etwas Butterbrot gegessen, dann gab es nach dem Tee süßen Likör, von dem auch Femia trank, während Martha denselben zurückwies. Bald darauf erklärte die Hausfrau:
»Wir müssen jetzt den Vater allein lassen. Er darf nicht aufgeregt werden, auch nicht durch Unterhaltung. Komm mit mir.«
Sie schritt voran, und Martha folgte ihr, nachdem sie durch einen stummen Blick von dem Vater Abschied genommen hatte, durch den Korridor bis zu ihrem eignen Zimmer.
Hier warf Femia einen kurzen, prüfenden Blick auf die Möbel und sagte dann rauh zu Martha:
»Was hast du gelernt?«
»Ich habe,« sagte Martha schüchtern, »Zeugnisse von den ehrwürdigen Schwestern in Breslau. Ich habe die erste Klasse zwei Jahre besucht und war im letzten Jahre die erste Schülerin.«
Femia machte eine verächtliche Handbewegung und sagte:
»Ich kümmere mich nicht um dein gelehrtes Zeug. Was kannst du von Handarbeiten, und was verstehst du von der Wirtschaft.«
»Ich habe,« entgegnete Martha, »Handarbeiten gelernt. Ich verstehe zu nähen, zu sticken –«
»Das Sticken ist hier Nebensache!« entgegnete Femia. »Du kannst nähen. Kannst du Wäsche nähen?«
»Ja!« flüsterte Martha, welche nicht wußte, worauf dieses Examen hinauswollte.
»Nun,« entgegnete Femia, »dann werde ich dir Arbeit schicken. Du kannst Hemden für die Dienstmädchen nähen. Ich dulde in meinem Hause keine Tagediebe und Faulenzer. Du mußt hier arbeiten wie jeder andre. Die Verhältnisse deines Vaters sind nicht so gut, wie du vielleicht glaubst. Deine Erziehung hat eine Menge Geld gekostet, das ganz unnütz hinausgeworfen ist, und die Krankheit deines Vaters kostet ebenfalls viel Geld. Ich verlange von dir, daß du dich nützlich machst und fleißig bist. Sieh auch zu, daß du bald aus dem Hause kommst. Lege dein zimperliches Wesen ab. Der erste beste, der dich verlangt, kann dich bekommen. Wenn du verheiratet bist, hast du deinen eignen Haushalt und kannst tun und lassen, was du willst. – Um zwölf Uhr wird gegessen, finde dich dann in unserm Zimmer ein. – Das Mädchen, das ich dir schicken werde, ist zu deiner Bedienung da. Sie wird dir eine Arbeit mitbringen. Gib auch auf sie acht, denn sie ist faul und nichtswürdig, und wenn sie nicht alle Tage geschlagen wird, macht sie nur den überflüssigen Fresser.«
Ohne Gruß und ohne ein weiteres Wort schritt Femia hinaus und schloß energisch die Tür.
Martha blieb noch einen Augenblick wie betäubt stehen, dann schritt sie rasch auf und ab und rang die Hände wie in Verzweiflung. – Das war also die Begrüßung im Elternhause! Das war die Freundschaft der Stiefmutter, von welcher der Vater ihr geschrieben hatte, der arme Vater, welcher ein Sklave in seinem eignen Hause schien ...
Ein Tasten und Kratzen ließ sich an der Tür hören, als ob jemand die Klinke suchte, dann wurde auf dieselbe gedrückt, und herein trat ein Mädchen von ungefähr elf Jahren, in die polnische Tracht der Gegend gekleidet. Sie trug einen hellblauen Rock, der ihr bis an die Knöchel reichte und die bloßen Füße sehen ließ. Dazu trug sie eine rote Schürze aus Kattun und eine kattunene Jacke, welche mit blauen und roten Blumen gemustert war. Um den Kopf geschlungen hatte sie ein gelbes Leinwandtuch, das nach der Sitte der Gegend in zwei Zipfeln hinten im Nacken geknotet war.
Sie machte ganz und gar den Eindruck eines Kindes, und ihr Gesicht bot durchaus nichts Interessantes, aber ihre blauen Augen blickten so listig und verschlagen in die Welt, daß man glauben konnte, in die Lichter eines Fuchses zu sehen. Sie trug ein Paket unter dem Arm, das sie an der Tür niederlegte, um dann mit eigentümlich trippelnden Schritten sich Martha zu nähern, vor dieser niederzuknien und den Saum ihres Rockes zu fassen.
»Ich falle dem gnädigen Fräulein zu Füßen,« sagte das Kind. »Ich bringe von der hochvermögenden Frau Nähterei und für mich eine Arbeit, die ich hier tun soll.«
Sie wies auf das Paket, aus dem sie zugeschnittene Frauenhemden und Nähzeug auspackte, und dann noch einen Beutel mit Federn, welche das Kind reißen oder, wie es im Provinzialdialekt heißt, schleißen sollte.
»Wie heißt du?« fragte Martha.
»Ulka!« Ulka: polnisch, ist die Abkürzung des Namens Ulrike. antwortete das Kind.
»Bist du aus dem Dorfe?«
»Nein! ich gehöre zum Gut.«
»Sind deine Eltern hier?«
»Nein! ich habe keine Eltern. Sie sind an der schwarzen Krankheit gestorben, und ich gehöre zum Gut. Ich gehöre der Herrschaft.«
Die Kleine meinte eine der Choleraepidemien, welche in Oberschlesien stets zahlreiche Opfer gefordert hatten.
Die Kleine schien sich als Inventarium oder als ein Eigentumsstück der Gutsherrschaft zu betrachten. Sie wartete, bis sich Martha am Fenster niedergelassen hatte, dann setzte sie sich neben ihr auf die Erde und begann eifrig Federn aus einem Beutel zu nehmen, dieselben zu zerreißen und die zerrissenen Federn in ein andres Säckchen zu stopfen, während sie die Kiele in ihrer Schürze sammelte.
Irgendeine Beschäftigung war für Martha wirklich eine Notwendigkeit, und deshalb begann sie eifrig zu nähen und vergaß während ihrer Selbstbetrachtungen ganz und gar das kleine Wesen da zu ihren Füßen.
Jetzt stiegen Erinnerungen in ihr auf, Erinnerungen ganz eigentümlicher Art, die so lange geschlummert hatten und jetzt geweckt worden waren. Sie erinnerte sich, in ihrer ersten Jugendzeit von ihrer Mutter gehört zu haben, daß die Nachbarn, die Branitzkis, gewalttätige Leute seien, mit denen man nicht einmal Umgang halten konnte wegen ihrer Rücksichtslosigkeit, und weil sie egoistisch in allen ihren Handlungen waren. Martha erinnerte sich auch ihrer jetzigen Stiefmutter. Sie hatte dieselbe damals als Mädchen einigemal gesehen, und die scharf blickenden Augen der jungen Dame hatten ihr Schrecken eingeflößt.
Jetzt erinnerte sich Martha auch, damals gehört zu haben, die Branitzkis seien vollständig verarmt und hätten abgewirtschaftet, insbesondere seitdem der alte Branitzki, der damals noch lebte, sich gänzlich dem Trunk und Spiel ergeben hatte ... Aber auch Marthas Vater befand sich jetzt in schlechten Verhältnissen, wie die Stiefmutter gesagt hatte. Martha schämte sich, wenn sie an die Worte der Stiefmutter dachte: Deine Erziehung hat unnützerweise sehr viel Geld gekostet! – Sie kam sich wie eine Verbrecherin vor, weil sie auf ihre Erziehung so viel Geld hatte verwenden lassen. Sie wußte ja aber nicht, wie es mit den Vermögensverhältnissen ihres Vaters stand. Wenn sie jemals daran dachte, so glaubte sie, daß es wie früher sei, nämlich daß die Sembitzkis zu den reichsten Grundbesitzern gehörten, die – nebenbei bemerkt – im Gegensatz zu andern, leichtlebigen Grundbesitzern in sehr geordneten Verhältnissen sich befanden. Aber welche Änderungen können nicht innerhalb acht Jahren in den Vermögensverhältnissen einer Familie eintreten?
Und dann die Andeutung der Stiefmutter, daß Martha den ersten besten nehmen müsse, der komme und um ihre Hand anhalte! Ein Schauder überlief Martha bei diesem Gedanken, und – sie wußte nicht, weshalb – sie dachte plötzlich wieder an den Tag vorher und an Otto von Kontala. Mit einem Schlage hatten ihre Gedanken eine andre Richtung.
Sie dachte gar nicht mehr an sich selbst und an ihre eignen Verhältnisse, sondern sie war mit ihren Gedanken bei dem gefährdeten Beamten, der vielleicht jetzt schon wieder sich in Lebensgefahr befand. Ob sie ihn überhaupt noch einmal wiedersehen würde? Und wo er wohl jetzt war? – Sagte er nicht, er käme öfter auf das Gut ihres Vaters? – Welche Freude, wenn sie ihn wiedersehen könnte! Aber würde man denn dulden, daß sie bei einem Besuche zugegen sei? Schien es doch, als sei sie hier in dem äußersten Flügel in ihr Zimmerchen verbannt, aus dem sie nur zu den Mahlzeiten nach dem Familienzimmer kommen durste.
Draußen hörte man das Rollen eines Wagens in dem Kies. Martha blickte hinaus, um eine Britschka mit Korbgeflecht zu entdecken, die von zwei kleinen Pferden gezogen wurde.
Aus der Britschka stieg soeben ein beleibter Herr mit glattem, freundlichem Gesicht. Auch Ulka hatte sich erhoben und durch das Fenster gespäht:
»Es ist der Doktor,« sagte sie (sie meinte den Arzt). »Er kommt immer um diese Zeit zum gnädigen Herrn. Er frühstückt hier,« setzte sie lächelnd hinzu, »und bleibt immer sehr lange Zeit. Es scheint ihm sehr gut zu gefallen.«
Martha schwieg, weil es ihr nicht passend schien, sich mit dem Mädchen in eine Unterhaltung einzulassen, wie sie soeben angefangen war. Sie beschäftigte sich weiter mit ihren Gedanken, die merkwürdigerweise an derselben Stelle wieder anfingen, wo sie aufgehört hatten, nämlich bei Otto von Kontala.
Sie arbeitete fleißig, ebenso wie Ulka, bis man die Uhr vom Vestibül her zwölf schlagen hörte. Dann erhob sich Martha und packte eilfertig ihre Sachen zusammen, ebenso wie Ulka, welche sich hinausbegab. Martha verschloß ihre Tür und ging nach dem Familienzimmer.
Hier fand sie den Arzt, welcher sich so lange aufgehalten und, wie es schien, mehr mit einer Flasche Ungarwein, die geleert auf dem Tische stand, als mit dem Kranken beschäftigt hatte. Er näherte sich Martha und verbeugte sich vor ihr, soweit dies seine Körperkonstitution zuließ, um dann lachend zu sagen:
»Ich freue mich, das gnädige Fräulein kennen zu lernen. Wie blühend sie aussieht! Ja, ja! die ehrwürdigen Schwestern verstehen es, nicht nur den Geist, sondern auch den Körper in Ordnung zu halten. Aber ich bedaure unendlich, mein Fräulein, mich jetzt empfehlen zu müssen. Ich bin indes schon zu lange hier geblieben. Wer aber könnte so leicht sich von diesem Hause trennen, wo es einen so herrlichen Wein gibt, insbesondere, wenn dieser Wein von solchen Händen kredenzt wird!«
Er wendete sich mit einem süßlichen Lächeln an Frau Femia und küßte ihr die Fingerspitzen, während die stolze Frau lächelte, sonst aber nicht weiter von der Schmeichelei erbaut schien.
»Also wie gesagt,« fuhr jetzt der Arzt fort, »Ruhe, mein lieber Herr von Sembitzki; Ruhe ist das einzige, was man bei solchen Krankheiten verordnen kann, und den fortgesetzten Gebrauch des Medikaments, das ich Ihnen verschrieben. Sie stehen in Gottes Hand, vor allem aber in der besten Pflege von der Welt, denn es gibt wohl keine bessere und geschicktere Pflegerin als die gnädige Frau Femia, die ein Engel ist, auch am Krankenbett. Der Herr beschütze Sie und nehme Sie in seine Obhut.«
Er verbeugte sich und schritt hinaus, nachdem er sich noch wiederholt auch gegen Frau Femia verbeugt hatte. Bald darauf hörte man ihn auf seinem Wagen wieder abfahren.
Unmittelbar darauf erschien Wojtek, um zu melden, daß der Tisch gedeckt sei. Auf einen Wink der Hausfrau faßte er den Rollstuhl des Herrn und schob ihn mit diesem zusammen nach dem nächsten Zimmer, in welchem Martha den alten Speisesaal wiedererkannte, in dem sie so oft als Kind an den heiteren Festen teilgenommen, die stattfanden, als ihre Mutter noch lebte. Das waren noch die alten gepreßten Ledertapeten an den Wänden, die großen Bilder in den ovalen Rahmen mit den Herren und Damen aus dem Geschlechte der Sembitzkis und aus der Familie ihrer Mutter. Da stand noch der lange Tisch mit den hochlehnigen Stühlen, und nur der Lederüberzug der Möbel sah verblichener und verschossener aus als früher.
Nur eine Ecke des großen Tisches war gedeckt. An die Schmalseite schob Wojtek seinen Herrn. Zu seiner Rechten nahm Frau Femia Platz und winkte Martha, sich zur Linken des Vaters niederzulassen. Wojtek verließ darauf das Zimmer und brachte schnell hintereinander die Gerichte, welche ebenso gut als reichlich waren. An diesem splendiden Tische sah man wenigstens nicht die schlechten Verhältnisse Sembitzkis.
Das Mahl wurde schweigend eingenommen. Sembitzki aß sehr wenig und trank nur einige Gläser Wein. Femia aß rasch und viel, nur Martha zwang sich zum Essen, um nicht den Unwillen der Stiefmutter zu erregen. Sie tauschte hin und wieder einen heimlichen Blick mit ihrem Vater, und gerade das Geheimnisvolle dieser schwächlichen Liebkosungen hatte einen eigentümlichen, wehmütigen Reiz für sie.
Nachdem abgegessen war, erhob sich Femia und forderte Martha kurz auf, das Tischgebet zu sprechen.
Als dies geschehen war, erklärte die Hausfrau wiederum:
»Dein Vater will jetzt schlafen. Begib dich an deine Arbeit!«
Martha begab sich nach ihrem Zimmer zurück, und hier harrte ihrer allerdings, nachdem sie die Tür mit dem Schlüssel geöffnet hatte, eine Überraschung.
Auf dem Sofa lag Ulka und schien sich außerordentlich behaglich und wohl auf demselben zu fühlen. Offenbar war sie durch das offene Fenster hereingeklettert und hatte es sich bequem gemacht.
Als sie die eintretende Martha erblickte, sprang sie auf, stellte sich in gekrümmter Haltung auf und schützte mit den Händen ihren Kopf und ihr Gesicht, als erwarte sie Schläge. Als Martha sie jedoch nicht schlug, schien sie darüber sehr erfreut, aber sie schien ihr doch noch immer zu mißtrauen, denn sie kam ihr nicht so nahe, daß sie sie hätte erreichen können.
»Was machst du denn da?« fragte Martha lächelnd, zum ersten Male an diesem Tage lächelnd. »Ich glaube, du bist durch das Fenster gestiegen?«
»Ja!« entgegnete Ulka mißtrauisch und scheu.
»Was wolltest du denn hier?« fragte Martha.
»Ich wollte einmal,« sagte Ulka, »sehen, wie es sich auf einem solchen Sofa liegt. Ich habe in meinem Leben noch nicht auf einem solchen Sofa gelegen.«
»Nun, wenn es weiter nichts ist!« sagte Martha lachend. »Nun weißt du es gewiß. Aber jetzt geh an deine Arbeit.«
Das Kind, welches offenbar an eine sehr rauhe und rohe Behandlung gewöhnt war, schien ganz erstaunt über die Ruhe und über das Lächeln Marthas, aber sie setzte sich so weit von derselben nieder, daß Martha wohl merkte, sie habe immer noch Furcht vor ihr.
»Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten,« sagte Martha, um das Kind, das sehr verschüchtert schien, zu beruhigen. »Wenn du nur versprichst, stets zu folgen und fleißig zu sein, so will ich dir auch einmal gestatten, eine ganze Nacht da auf dem Sofa zu schlafen, wenn es erst wärmer ist. Würde dir das Freude machen?«
Ulka schüttelte den Kopf und sagte mit pathetischer Handbewegung:
»Ich würde es nicht tun! Und wenn ich den ganzen Schatz der Mutter Gottes von Czenstochau Berühmter Wallfahrtsort in Russisch-Polen. erhielte, in der Nacht möchte ich hier nicht bleiben?«
»Ah!« sagte Martha, »du meinst, weil es verboten ist, daß jemand wegen der Krankheit meines Vaters sich während der Nacht im Schlosse aufhalte!«
»Nein!« sagte Ulka und schüttelte energisch den Kopf. »Nein, aus einem andern Grunde.« Dann blickte sie sich scheu um, näherte sich Martha und sagte: »Es geht um – nachts – im Park – kein Mensch – traut sich nachts – aus der Hintertür heraus – da geht der Geist eines Verfluchten herum!«
»Du bist nicht klug!« sagte Martha. »Wer hat dir diesen Unsinn eingeredet?«
»Es ist kein Unsinn!« sagte die Kleine und sah sich wieder um, als fürchte sie, daß dieser böse Geist schon hinter ihr stünde, um sie für ihre Indiskretion zu bestrafen. »Es haben ihn viele schon gesehen, und wer ihn gesehen hat, der wird krank. Es ist der Herr, dem vor hundert Jahren das Schloß gehört hat. Der hat seine Frau erschossen, abends durch das Fenster, vom Park aus, und deshalb geht er jetzt um.«
Ulka setzte sich wieder zu ihrer Arbeit nieder, allerdings etwas näher an Martha, und horchte dann auf, als Martha sich in der mütterlichen Rolle gefiel, der Kleinen ihren Gespensterglauben zu verweisen. Sie freute sich über sich selbst, mit welcher Geschicklichkeit sie ihr klarzumachen suchte, daß dieser Glaube gegen die Religion und eine Beleidigung Gottes sei, und sie redete sich in solchen Eifer, daß sie hierüber alles andre vergaß.
Ulka schaute sie mit aufmerksamen Augen an, schüttelte aber am Schluß der Rede den Kopf und sagte:
»Und es geht doch um! Ich habe den Geist selber schon gesehen.«
»Wie sieht er denn aus?« fragte Martha.
»Oh, groß und stark!« sagte das Kind. »Und Stiefel hat er und einen Pelzmantel und eine Konfederatka!« Viereckige polnische Mütze.
»Dann wird es ihm,« sagte Martha lächelnd, »wohl jetzt im Mai etwas zu warm werden. Aber ich verbiete dir überhaupt, wieder solchen Unsinn zu sprechen. Die gnädige Frau wird auch böse über dich sein, wenn sie dich solches Zeug erzählen hört.«
»Nein!« entgegnete bestimmt Ulka, »die gnädige Frau glaubt selbst an den Geist. Ich weiß es, sie hat mit den Leuten schon darüber gesprochen.«
Martha gab es auf, den Trotz des Kindes zu brechen. Sie arbeitete schweigend und warf nur hin und wieder einen Blick auf Ulka, welche sehr fleißig schien und ihr vertraulich so nahe rückte, daß sie dicht zu ihren Füßen saß.
Die Wirtschafterin brachte die landesüblich so genannte Vesper, das heißt den Nachmittagstee mit etwas Imbiß, und als Martha Ulka, ihrer kleinen Dienerin, etwas davon abgab, wagte diese zuerst gar nichts davon zu essen. Als aber am Abend, das heißt, gegen sechs Uhr, Martha zum Abendbrot gerufen wurde und Ulka mitteilte, daß sie ihrer Dienste nicht mehr bedürfe, kam die Kleine plötzlich auf Martha zu, faßte deren Hand und drückte sie an ihre Lippen. Martha fühlte etwas auf ihrer Hand wie eine Träne, aber ehe sie noch fragen konnte, war die Ulka, geschmeidig wie eine Katze, zur Tür hinaus.
Das Abendbrot, welches wiederum sehr reichlich war, wurde ebenso wie der Mittagstisch schweigend eingenommen. Mit ihrem Vater konnte Martha nur durch Blicke sprechen. Nicht einmal Hilfeleistungen mit dem Zureichen von Speisen und Getränken konnte sie ihm, so gerne sie auch gewollt hätte, bringen, denn mit außerordentlicher Aufmerksamkeit versorgte die Hausfrau den kranken Gatten mit Speisen und Getränken, soweit er überhaupt solche zu sich nahm.
Diese stillschweigend eingenommenen Mahlzeiten hatten etwas Fürchterliches, Beängstigendes. Wie Blei lag es in den Gliedern Marthas und auch in ihrem Kopfe. Sie konnte kaum denken, und einen Augenblick schien es ihr, als äße sie schon jahrelang in dieser eigentümlichen Gesellschaft mit der stolzen Frau und ihrem unglücklichen Vater zusammen, und als wäre sie nicht den ersten Tag in ihrem Vaterhause.
Nach dem Abendtisch holte aus ihrem Schlafzimmer Frau Femia ein Buch, und ihre Entfernung benützte der Vater, um die Hand der Tochter zu drücken und, wie es schien, mit ganz glückseligem Lächeln an seine Lippen zu ziehen, während sich Martha begnügte, seine Hand zu küssen.
Dann brachte Frau Femia ein dickleibiges Buch, das sie vor Martha niederlegte, und sagte:
»Lies uns etwas vor, denn Unterhaltung regt den Vater zu sehr auf.«
Martha betrachtete das dicke, ganz in schwarzes Saffianleder gebundene Buch und fand in ihm die polnische Geschichte vom Grafen Siegfried und der heiligen Genoveva.
»Ich habe es schon mehrfach vorgelesen,« sagte Frau Femia, »aber man kann diese frommen Bücher nicht oft genug lesen. Sie erwecken immer wieder in uns den Gedanken an Gott und an unsre Sündhaftigkeit.«
Sie sagte dies mit so eigentümlicher Betonung, daß Martha überrascht aufsah und es wagte, einen Augenblick lang in die Augen ihrer Stiefmutter zu sehen. Es traf sie ein Blick, welcher ganz verloren und traumbefangen schien. Frau Femia schien an irgend etwas andres zu denken, während sie ihre Stieftochter ansah.
Martha, welche der polnischen Sprache in Schrift und Wort mächtig war, begann langsam zu lesen und suchte soviel als möglich zu betonen, und wenn sie eine Pause machte und aufblickte, so nickte ihr Vater ihr stets freundlich zu. Er schien großes Vergnügen an ihrem Vorlesen zu empfinden. Ihr gegenüber aber saß Femia, die Hände im Schoß und die Augen halb geschlossen, und schien nicht zu hören, was Martha las.
So vergingen wohl zwei Stunden, während welcher nur eine Pause gemacht wurde, damit sich Martha erhole, und während welcher ihr ein Glas Fruchtsaft gereicht wurde. Dann begann Sembitzki einzuschlafen, und Frau Femia klingelte und befahl dem eintretenden Wojtek, den Herrn nach seinem Schlafzimmer zu bringen und auszukleiden. Sie wendete sich an Martha und erklärte:
»Du wirst dich schon unsrer Hausordnung fügen müssen, welche lediglich von dem Zustande deines Vaters abhängig ist. Ich will dich noch nach deinem Zimmer begleiten und sehen, was du heute gearbeitet hast. Du kannst dich auch bald zur Ruhe legen, denn wir stehen früh auf.«
Sie zündete ein Licht an, übergab es Martha und schritt mit dieser zusammen durch das Vestibül, dessen Uhr auf einige Minuten nach neun wies.
Im Zimmer Marthas angekommen, prüfte Femia zuerst sorgfältig den Verschluß der Fenster, welche von innen durch Laden versichert und mit Schrauben verschlossen waren. Das Zimmer hatte zwei Fenster, eines nach der Vorderfront und eines nach dem Park hinaus.
Femia wendete sich dann zu der Nähterei, und zum ersten Male fand sie sich veranlaßt, zu Martha ein paar freundliche Worte zu sprechen:
»Du scheinst etwas gelernt zu haben,« sagte sie, »und deine Zeit hast du, wenigstens was Handarbeiten anbelangt, nicht umsonst in Breslau verbracht. Ich bin zufrieden mit deiner Arbeit, was die Sauberkeit anbelangt, nur wirst du dich daran gewöhnen müssen, mehr am Tage zu schaffen. Leg dich bald zur Ruhe, du wirst morgen früh um fünf Uhr geweckt. Gute Nacht!«
Die stolze Frau verließ das Zimmer, und Martha blieb allein. Sie atmete wieder auf, als sie sich allein in dem Raum sah, der ihrer eignen Benützung überlassen war und der für wer weiß wie lange Zeit ihre ganze Welt bilden sollte.
Sie blickte sich im Zimmer um und schritt noch eine Zeitlang auf und ab, nachdem sie die Tür, die zum Korridor führte, verschlossen hatte. Das Licht erhellte nur spärlich das Gemach, welches durch dunkle Tapeten noch dunkler aussah.
Plötzlich zuckte Martha zusammen. Sie hatte das Fenster angeblickt, das nach dem Park führte, und plötzlich, ganz unvermittelt, wie dies ja immer der Fall zu sein pflegt, kam ihr jetzt der Gedanke an die abergläubische Geschichte, die ihr Ulka erzählt hatte. Mit einem Male dachte sie an das Gerücht, welches unter den Dienstleuten des Gutes ging, und an welches sogar ihre Stiefmutter glauben sollte, an das törichte Gerücht, daß irgendein unheimliches, geisterhaftes Ding des Nachts sein Wesen im Park treibe.
Sie schalt sich selbst eine Törin, denn sie war durchaus nicht abergläubisch – das hätte schon ihre Frömmigkeit verboten – aber dieser eigentümliche Zug, diese Anlage zum Geheimnisvollen, diese instinktive Furcht vor etwas Übernatürlichem, die in jedem Menschen steckt, beunruhigte sie und ließ sie schaudern, während sie in Gedanken sich selbst alle guten Gegengründe zurechtlegte. Sie dachte plötzlich daran, daß sie allein hier in dem äußersten Flügel des sogenannten Schlosses schlafe, und sie mußte alle ihre moralische Kraft zusammennehmen, um nicht von der Furcht überwältigt zu werden.
Sie faltete die Hände und verrichtete ihr Gebet, und durch dieses Gebet fühlte sie sich kräftig und gestärkt. Sie verlöschte das Licht, kleidete sich aus und begab sich zu Bett. Sie fühlte, wie ihr Herz rascher als sonst schlug, und sie faltete die Hände auf ihrer wogenden Brust um zu beten, bis sie allmählich in Schlummer sank.
Wie lange sie geruht hatte, wußte Martha nicht; sie erwachte und sah sich von dichter Finsternis umgeben. Es war also wohl noch tief in der Nacht.
In dem Augenblick aber, in dem sie völlig zum Bewußtsein kam, überfiel sie wieder die eigentümliche Beängstigung, und da – was war das?
Knirschte da draußen im Park unter ihrem Fenster nicht ein Tritt? – Ging da nicht jemand vorüber?
Martha richtete sich lautlos auf den rechten Ellenbogen auf und horchte in die Finsternis des Zimmers hinaus. Ihr Herz schlug so wild, daß sie seine Stöße bis oben an den Hals empfand. Sie hörte in ihren Ohren ein Singen und Klingen, hervorgerufen durch das wilde Kreisen des aufgeregten Blutes.
Die Schritte entfernten sich wieder. Martha sank zurück auf ihr Lager, und ihre Zähne schlugen aufeinander wie im Fieberfrost. Angst und Schreck sind ein eigentümliches Ding. Man kann sich ihrer eine Zeitlang erwehren, aber wenn sie die furchtsame Menschenseele überfallen, dann kommen sie gewappnet und mit aller Macht, und für einen Moment berauben sie selbst den verständigsten Menschen des kühlen und ruhigen Denkens.
Wiederholt horchte Martha auf, aber sie vernahm nichts weiter. Sie begann sich zu schelten wegen ihrer unnützen Furcht. Konnte nicht ebensogut eine Katze oder irgendein andres Tier, das nachts im Park herumstrich, dieses Geräusch verursacht haben? – War sie nicht töricht –
Ein Schuß krachte durch die Nacht! Ein zweiter und ein dritter folgten ihm rasch.
Wie von Wahnsinn getrieben sprang Martha auf und warf sich die Kleider über. Die Schüsse waren in der Nähe des Schlosses, vielleicht gar im Park gefallen.
Ihre zitternden Hände faßten nach dem Stippfeuerzeug, welches auf dem Leuchter liegen mußte. Sie stieß das Hölzchen in die Masse, die sich in der kleinen Flasche befand, und mit blauem Scheine flammte das Hölzchen auf. Sie zündete das Licht an und sah sich entsetzt im Zimmer um. Die Furcht, die sich ihrer bemächtigt hatte, war stärker als alles Überlegen.
Martha stürzte zur Tür hinaus und eilte über den Gang hin. Nur instinktiv schützte sie das Licht mit ihrer rechten Hand gegen den Luftzug. Sie befand sich im Vestibül, bevor sie daran dachte, und jetzt stürzte sie, ihrer Sinne kaum mehr mächtig, auf die Tür los, welche zum Vorzimmer führte, das sie heute schon mehrfach betreten hatte. Die Tür gab ihrem Drucke nach, und Martha sah vor sich jetzt zwei Türen, von denen die eine nach dem Schlafzimmer ihres Vaters, die andre nach dem Wohnzimmer führte.
Plötzlich blieb ihr Fuß wie gebannt. – Aus dem Schlafzimmer des Vaters hörte sie ein dumpfes Stöhnen, ein Gurgeln und Ächzen, wie von einem Schwerkranken oder Sterbenden.
Sie eilte an die Türe des Zimmers und fand dieselbe verschlossen.
»Vater! Vater!« schrie Martha außer sich vor neuem Entsetzen.
»Vater!«
Keine Antwort erfolgte. – Nur das Stöhnen und Röcheln dauerte fort.
Martha wendete sich nach der andern Tür, welche nach dem sogenannten Wohnzimmer führte, von wo aus wiederum Türen nach dem Schlafzimmer der Mutter und nach dem Speisesaal führten. Martha stürzte nach der Tür zum Schlafzimmer Femias, klopfte an und schrie:
»Mutter! Mutter! Der Vater ist krank!«
Lautlose Stille. – Keine Antwort. –
Martha schlug mit voller Kraft gegen die Tür.
»Mutter! Mutter!« rief sie so laut, daß ihr das Echo vom Speisesaal her antwortete.
Nichts bewegte, nichts regte sich im Schlafzimmer.
Martha eilte wieder hinaus aus den Korridor. Sie besann sich noch, in welcher Gegend sich die Tür befand, die nach der Küche und zum Zimmer der alten Wirtschafterin führte. Hier schlug sie an die Tür und bald darauf fragte die Stimme der alten Frau:
»Wer ist da?«
Martha bat sie flehentlichst, aufzustehen, dann eilte sie zur Tür des Schlafzimmers zurück, in dem ihr Vater lag. Sein Stöhnen dauerte fort. Noch einmal eilte Martha nach dem Schlafzimmer der Mutter. Sie schlug mit erneuter Kraft gegen die Tür und jetzt antwortete ihr die aufgeregte Stimme der Mutter:
»Was gibt es? – Wer ist da?«
»Ich bin es, Mutter!« sagte Martha. »Der Vater ist sehr krank. Er stöhnt so fürchterlich!«
Im nächsten Augenblick wurde die Tür geöffnet, und Femia stand vollständig angekleidet vor Martha. Sie ordnete noch an ihrem Oberkleide und schien sich in einer merkwürdigen Aufregung zu befinden. Ihr Gesicht war rot, und ihre Brust wogte in heftigem Atmen, als wäre sie gelaufen, oder habe irgendeine schwere Anstrengung gehabt.
»Bist du des Teufels, das ganze Haus rebellisch zu machen!« sagte sie. »Wie kommst du hierher? – Wie kommst du nach dem Schlafzimmer des Vaters?«
Der Ton, in welchem Femia diese Worte sprach, war nicht einmal streng oder hart. Sie schien selbst unter dem Eindruck irgendeiner Aufregung zu stehen.
»Ich hörte die Schüsse und erschrak so furchtbar. Ich wußte nicht, wo ich hin sollte! Der Vater stirbt!«
»Torheit!« sagte Femia, welche sich jetzt wieder zu beherrschen begann; »er stöhnt immer so im Schlafe. Er hat Krampfanfälle. Warum bist du nicht zu ihm hineingegangen?«
»Die Tür ist verschlossen.«
»Wärest du nicht so unsinnig aufgeregt, so hättest du gemerkt, daß der Schlüssel im Schlosse steckt. Komm, wir wollen sehen, was ihm ist!«
Femia schien wieder ihre Selbstbeherrschung gewonnen zu haben. Sie schritt Martha voran, und diese folgte ihr mit dem Lichte. Sie durchschritten das Vorzimmer, und trotz ihrer Aufregung entdeckte Martha in diesem Augenblicke etwas, was sie noch bestürzter, was sie noch verwunderter machte. Sie sah auf dem gebohnten Fußboden den feuchten Abdruck der Schuhsohle ihrer Stiefmutter. Die Sohle zeichnete sich feucht ab, als wäre Femia soeben erst aus dem Freien gekommen, ohne sich Zeit zu nehmen, die Schuhsohlen draußen abzutrocknen.
Als sie an der Tür des Schlafzimmers waren, wendete sich Femia plötzlich um und sagte:
»Ich war in meinem Schlafzimmer angekleidet eingeschlafen, bevor ich mich zu Bett legte, und ich war etwas schlaftrunken; deshalb hast du wohl etwas lange klopfen müssen.«
Sie drehte jetzt rasch den Schlüssel um und öffnete das Schlafzimmer Sembitzkis. Dieser lag auf seinem einfachen Bett mit offenen Augen und stöhnte noch immerfort; vor seinem Munde stand ein bräunlicher Schaum.
»Es ist nichts,« sagte Femia ganz sanft, wie es schien, gegen ihre Gewohnheit. »Es ist ein Anfall, wie jeder andre. Einige Umschläge von kaltem Wasser werden deinem Vater wohltun. Hier ist das Waschbecken und hier das Handtuch. Feuchte es an und lege es ihm eine Zeitlang auf den Kopf. Ich gehe nach meinem Zimmer und werde dann wieder nach dir sehen.«
Sie verließ rasch das Zimmer, und Marthas Augen folgten wie gebannt den feuchten Fußstapfen, die auch jetzt noch an der Stelle sichtbar waren, wo Femias Fuß nicht auf den Teppich getreten war.
*
Der Morgen graute, und im Wald selbst waren die Bäume und auch der Weg erst undeutlich zu erkennen, als Otto von Kontala in schlankem Trabe auf dem Wege nach Losachew zu ritt. Er war allein und ohne jede Begleitung, aber er schien keine Furcht zu empfinden. Er hatte zwar, nachdem er die Stadt verließ, die geladenen Pistolen in seinem Halfter untersucht und den Schleppsäbel in der Scheide gelockert, aber er hatte das nur getan, weil er sich der flehenden Bitten seiner Schwester erinnerte, sich soviel als möglich vorzusehen. Es gab ja für ihn auch gar keine Möglichkeit, sich in acht zu nehmen oder sich zu schützen, wenn seine Feinde ihn aus dem Hinterhalt her niederschießen wollten. Selbst wenn er sich mit einem zahlreichen Gefolge von Offizianten umgeben hätte, so war doch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß ihn eine Kugel traf und der feige Schütze entfloh, bevor die Offizianten vom Pferde gesprungen waren, um ihn in einem uralten Walde zu verfolgen, wo wahrscheinlich der Mörder jeden Weg und Steg kannte und die Offizianten nur auf die befahrenen Wege angewiesen waren.
Otto von Kontala ritt deshalb ohne jede Begleitung, um seine Posten zu revidieren, und es waren nicht einmal furchtsame oder unangenehme Gedanken, die ihn beschäftigten. Er überlegte vielmehr fortwährend, ob es passend sei, wenn er auf dem Gute Katzenberg bei Losachew einen Besuch machte und mit seinem Dienstritt die Erledigung einer gesellschaftlichen Pflicht verbinde. Mußte er sich doch nicht nur bei Martha, sondern auch bei deren Eltern für die Freundlichkeit bedanken, mit welcher das junge Mädchen seine Schwester zur Reisegefährtin genommen hatte.
Ja, er entschied sich dafür, auf dem Gute vorzusprechen, weil er dazu wirklich eine Veranlassung hatte. Es war ihm sogar ein Bedürfnis, sich Martha gegenüber seiner Dankbarkeit zu entledigen und sich auch bei ihr zu erkundigen, ob der Schreck, der durch seine indirekte Veranlassung ihr unterwegs zugefügt worden war, keine üblen Folgen hinterlassen hatte.
Er sah sie immer noch vor sich mit ihrem bleichen Gesicht und den gefalteten Händen, wie sie ihn mit ihren seelenvollen, unschuldigen Augen betrachtete und mit dem tiefen Seufzer der Erleichterung sagte:
»Gott sei Dank, daß Sie nicht getroffen sind!«
Selten hatte ihm etwas in seinem Leben so wohlgetan, wie diese Teilnahme in diesem Augenblick. Während seine Schwester ganz fassungslos war durch den Schreck, blieb dieses Mädchen, wie es schien, ruhig und gefaßt, und nur ein Gedanke beschäftigte dieses unschuldige Kind: seine Rettung.
Er hatte sich diese Szene, oder vielmehr den nur ganz kurzen Augenblick seit den drei Tagen, die inzwischen verstrichen waren, unzählige Male vergegenwärtigt, und jedesmal überkam ihn ein eigentümliches, wehmütigfreudiges Gefühl. Er empfand es so wohltuend, daß sich diese keusche, unschuldige Mädchenseele in diesem Moment geöffnet hatte, um ihm ihre ganze Teilnahme, ihr aufrichtiges Mitleid zu zeigen. Er konnte die Augen Marthas nicht vergessen, die auf ihm geruht hatten, so klar, so offen und aufrichtig, und er mußte lächeln, wenn er daran dachte, wie lange er ihre Hand festgehalten hatte, weil er selbst in seiner Aufregung nicht daran dachte, daß das wohl etwas unschicklich sei, zumal ja seine Bekanntschaft zu Martha noch so außerordentlich kurz war.
Dann flog wieder ein Schatten über sein Gesicht, und er riß unwillkürlich an den Zügeln, so daß das Pferd erschreckt auffuhr und aus dem Schritt, in den es gefallen war, in eine unruhige Gangart überging. Erinnerte er sich daran, daß es eine Zeit gegeben, wo er mit der ganzen Leidenschaft des jungen Mannes für ein paar andre Augen, für andre Händedrücke geschwärmt hatte? – Erinnerte er sich daran, wie viel Leid und Kummer ihm aus seiner ersten Liebe erwachsen waren, die er vor so viel Jahren gehegt, und die er doch nicht vergessen konnte.
Seine Schwester hatte es ja Martha erzählt. Er war von einem Weibe betrogen worden; aber dieses Betrügen war etwas sehr Einfaches. Er glaubte sich von einem Weibe geliebt, das ihn beiseite stieß, als ein andrer kam, der ihr mehr zu bieten hatte als der einfache unvermögende Offizier ohne Aussicht auf Avancement. Man lebte damals in der Friedensperiode, welche ja für das Land sehr angenehm, für die Avancementsverhältnisse der Offiziere aber fürchterlich war. Es gab Sekondeleutnants hoch in den Vierzigern, und wer mit sechzig Jahren Hauptmann wurde, war sehr zufrieden.
Zu dem Herzeleid, das Otto von Kontala vor nunmehr vier Jahren getroffen, kam noch der plötzliche Tod seines Vaters, der unmittelbar auf den Tod der Mutter folgte, und es stellte sich heraus, daß die Verhältnisse des Vaters, der ein höherer Beamter bei der Regierung gewesen war, keineswegs so geordnete waren, wie man allgemein glaubte.
Otto von Kontala war kurz entschlossen. Er nahm seinen Abschied und trat in den Dienst der Steuerbehörden, wo er Konnexionen hatte. Da man ihn als Sohn eines ehemaligen tüchtigen Beamten gern bevorzugte, so hatte er sich rasch eingearbeitet, war schnell avanciert und hatte sich in dem Leben leicht zurechtgefunden, welches viel anstrengender und auch aufreibender war als der Garnisonsdienst der Soldaten.
Nun lebte er seit länger als einem Jahre hier an der Grenze und unter den schwierigsten Verhältnissen. Aber gerade diese schwierigen Verhältnisse beförderten seinen Eifer, boten ihm Beschäftigung, ließen ihn seine volle Kraft einsetzen. Nur war der Kampf, wie er in der letzten Zeit eingesehen hatte, vergeblich, den er mit der geringen Anzahl seiner Offizianten gegen die Schmuggler führte, und wenn es auch noch nicht so weit gekommen war, wie weiter oben an der Grenze von Ostpreußen, wo in jener Zeit die Schmuggler mit einer solchen Frechheit auftraten, daß sie den preußischen und russischen Grenzbeamten regelrechte Gefechte lieferten, bei denen es stets Tote und Verwundete gab, so war doch zu vermuten, daß diese Zeit auch für Kontalas Grenzdistrikt nicht mehr allzu fern sei.
Er hatte sich mit Eingaben bereits an die Regierung gewendet, aber wie es schien, hatte man dort mit den inneren Angelegenheiten, mit der Politik und mit den Demagogenverfolgungen so viel zu tun, daß man sich um die Kleinigkeit an der Grenze nicht kümmern konnte.
Er war in die Nähe von Losachew gekommen und wollte eben sein Pferd wieder ausgreifen lassen, als er ein Rufen hinter sich vernahm. Er wendete sich um und erblickte einen seiner Offizianten, der, so gut es der Weg erlaubte, in voller Karriere angesprengt kam.
Überzeugt, daß es sich um eine dienstliche Angelegenheit handle, warf Kontala sein Pferd herum und ritt dem Ankommenden entgegen. Zu seinem Erstaunen sah er vor sich bald darauf ein fremdes Gesicht. Der Neuangekommene aber meldete:
»Obergrenzamtsassistent Günther mit fünf Offizianten zur Verstärkung des Postens in Lublinitz von Oppeln kommandiert. Soeben bin ich mit meinen berittenen Offizianten in Lublinitz eingetroffen, erfuhr, daß Sie schon unterwegs seien, und erlaubte mir, Ihnen nachzueilen, um mich bei Ihnen zu melden!«
»Seien Sie mir herzlich willkommen, Herr Kamerad, persönlich und wegen der Hilfe, welche Sie mir bringen, sie tut wahrlich not, und es war die höchste Zeit, daß meine Eingaben bei der Regierung in Oppeln endlich beachtet wurden. Wollen Sie mitreiten, so können Sie sich sofort über die Verhältnisse hier an Ort und Stelle informieren!«
Günther schloß sich seinem Vorgesetzten an, und im Schritt ritten sie jetzt auf Losachew zu, dessen erste Häuser man bald darauf erreichte. »Was für ein Gebäude ist dies da?« fragte Günther.
»Das ist der Kretscham (das Gasthaus des Ortes), und Sie werden schon an dem Äußern desselben erkennen, daß etwas hier in der Gegend nicht in Ordnung ist. Sie sehen, dieser Kretscham ist abweichend von der Bauart der ganzen Umgegend ein massives, neues Haus. Es ist für einen großen Verkehr eingerichtet und hat auch viel Verkehr, lediglich deshalb, weil die Schmuggler viel Geld zu verzehren haben, und dasselbe nach Möglichkeit in der Schenke wieder anlegen. Auffallend ist auch noch, daß der Kretschmer, der Inhaber der Schenke, hier kein Jude ist, während sonst ausnahmslos und – wie Sie wissen werden – im ganzen Regierungsbezirk sich die Gastwirtschaften in den Händen von Juden befinden. Der frühere Wirt soll von den Schmugglern tatsächlich aus dem Orte hinausgezwungen worden sein. Sie wollten einen der Ihrigen als Wirt in ihrem Hauptquartiere haben.«
»Und hat man,« fragte Günther, »nichts Verdächtiges bei diesem Kretschmer entdeckt?«
»Niemals!« entgegnete Otto von Kontala. »Dazu sind die Leute zu klug, und insbesondere der Kretschmer, der noch dazu mehr Deutscher als Pole ist und Mikaz heißt. Er spielt sogar eine eigentümliche Rolle, und leistet uns hin und wieder Vorschub. Aber ich traue ihm nicht über den Weg und glaube, daß die Nachrichten, die er uns zuträgt, zumeist absichtlich von den Schmugglern uns durch ihn zuteil werden, um uns zu täuschen. Ich glaube aber ebenso fest versichern zu können, daß es nichts helfen würde, wenn man bei dem Manne plötzlich eine Haussuchung vornähme, wozu ja außerdem die richterliche Erlaubnis notwendig ist. Ich habe die feste Überzeugung, man würde auch nicht das geringste Verdächtige bei dem Manne vorfinden, der überdies noch vollständig unbestraft ist und sich in der ganzen Gegend wegen seiner Betriebsamkeit und wohl auch deshalb, weil er sich einiges Vermögen erworben hat, in gutem Ansehen steht.«
Die Reiter kamen jetzt an dem Gasthaus vorüber, das in der Tat einen auffallend sauberen und mit seinem massiven Bau gegen die andern, zerstreut liegenden Hütten einen geradezu vornehmen Eindruck machte.
Vor der Tür hielten einige Wagen mit langen Leitern, zwischen denen lange, aus Weidenruten geflochtene, halbe Körbe lagen, welche die Ladung, bestehend aus Heu und Stroh, trugen. Die kleinen polnischen Pferde fraßen aus den Krippen vor der Tür, in dieser selbst aber stand ein mittelgroßer Mann mit einem langen blonden Bart, der seine Mütze abnahm und sehr höflich grüßte, als die Steuerbeamten vorüberritten.
»Das ist der Kretschmer!« sagte Otto von Kontala. »Aber nun gestatten Sie, Herr Kamerad, daß ich Ihre Führung andern Händen übergebe. Dort drüben kommt gerade eine Patrouille von zwei meiner reitenden Offizianten, welche die hiesigen Verhältnisse genau kennen, und die Ihnen auch die Grenze, sowie alle Terrainschwierigkeiten an derselben zeigen werden. Ich muß hinauf nach dem Gutshof, Schloß Katzenberg genannt, um dort privatim und dienstlich vorzusprechen. Auf Wiedersehen!«
Otto von Kontala übergab Günther den beiden Offizianten zur Führung, wandte dann sein Pferd und ritt nach dem Gutshofe hinüber. –
Nachdem der Obergrenzkontrolleur mit Günther vorübergeritten war, kehrte der Kretschmer Mikaz von der Haustüre zur Schenkstube zurück, in welcher nur die Fuhrleute, Schnaps trinkend, saßen, deren Wagen draußen standen.
Diese Schenkstube war ein großes Lokal, welches gleichzeitig als Tanzboden benützt werden konnte, und hatte nur an der einen schmalen Seite einen Mauerbogen, unter welchem sich eine Art Büfett befand. Das Mobiliar war sehr einfach und bestand aus mehreren langen Tischen mit Kreuzbeinen und Bänken; auch einige Schemel aus einfachem Kiefernholz standen hier und da herum.
Die Fuhrleute verlangten noch einen Schnaps, der ihnen in kleinen, viereckigen, langhalsigen Flaschen von bestimmtem Maße und zu jeder Flasche ein Gläschen, aus dem sie trinken konnten, gereicht wurde. Dann tranken sie ziemlich rasch den Kornschnaps herunter, und verließen mit einem Gruß das Zimmer, um auf ihren Fuhrwerken weiter zu fahren.
Nur einer der Fuhrleute war zurückgeblieben, der es nicht so eilig zu haben schien. Er war nur mit einem Einspänner, der vor einer Britschke sich befand, angekommen, hatte mit den Fuhrleuten geplaudert, aber ihre Aufforderung, mitzufahren, abgelehnt.
Er trat an den Schenktisch heran, hinter dem sich Mikaz befand, und forderte noch eine Schnapsmischung, die Mikaz zurechtmachte. An einer Ecke des Schenkzimmers lag ein schmutziges Spiel Karten, welches der Fremde ergriff und mischte, um dann die einzelnen Karten durch seine Finger gleiten zu lassen. Dann warf er dieses Kartenspiel wieder auf den Schenktisch, jedoch so, daß als die oberste Karte das Herz-Aß zu sehen war.
Mikaz reichte ihm den gewünschten Schnaps und machte sich dann wieder mit seinen Flaschen zu tun. Der Fremde, ein Mann in polnischer Bauerntracht, nahm die Karten zum zweiten Male auf, und legte jetzt das Pique-Aß nach oben.
Mikaz drehte sich darauf von seinem Flaschenregal um und sagte:
»Ihr scheint die Karten zu lieben!«
»O gewiß!« entgegnete der Fremde.
»Und welches ist Eure liebste Farbe?«
»Herzen!« erwiderte der Fremde.
»Und weshalb?«
»Weil Herz-Unter mein guter Freund ist.«
»Ei, merkwürdig!« entgegnete Mikaz. »Ich möchte wohl wissen, wer Herz-Unter ist?«
Der Fremde beugte sich über den Schenktisch und flüsterte Mikaz einen Namen zu. Dieser nickte befriedigt und sagte: »Kennt Ihr noch mehr Karten?«
»O ja!« entgegnete der Fremde, »ich kenne auch Pique-König.«
»Was Ihr sagt!« sagte Mikaz lächelnd. »Seit wann denn?«
»Seitdem ich,« entgegnete der Fremde, »hier bin und mit Euch spreche.«
Mikaz sah sich noch einmal um und fragte dann leise:
»Welchen Auftrag habt Ihr? Ihr kommt zum erstenmal?«
»Ja!« entgegnete der Fremde in polnischer Sprache, in welcher auch die ganze Unterhaltung geführt worden war. »Ich komme zum erstenmal, und zwar um Euch sagen, es ist dringend nötig, daß sechshundert Kisten Tee und zweihundert Pud Kaviar fortgeschafft werden. Das Lager ist so angewachsen, daß irgend etwas fortgeschafft werden muß, oder es müßte sonst vernichtet werden.«
»Gut, gut!« sagte Mikaz, »und wohin wollt Ihr von hier aus?«
»Ich bin beauftragt, mir von Euch weitere Aufträge zu holen,« sagte der Fremde.
»Dann verweilt hier noch,« sagte Mikaz, »eine Stunde. Ich werde Euch dann Aufträge geben. Kennt Ihr den Weg nach Guttentag?«
»O gewiß!« entgegnete der Fremde.
»Nun,« bemerkte Mikaz, »dann macht es Euch bequem. In einer Stunde könnt Ihr fahren. Euer Paß ist doch in Ordnung? Wie Ihr gesehen haben werdet, streichen ›die Grünen‹ hier herum, und der neue Beamte, der vorhin mit dem Obergrenzkontrolleur vorübergeritten kam, ist sicher nicht umsonst hier.«
»Es ist alles in Ordnung,« sagte der Fremde, »und falls jemand kommen sollte, kenne ich Euch nicht. Doch damit Ihr wißt, wie Ihr mich anzureden habt: ich bin Herz-Acht und heiße Kanowski.«
Mikaz rief ein Dienstmädchen, welchem er die Aufsicht über das Büfett und den Schenktisch übertrug, und verließ bald darauf das Haus, indem er die Richtung nach dem Gutshofe einschlug.
* * *