Egon Erwin Kisch
Kriminalistisches Reisebuch
Egon Erwin Kisch

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Idylle im Haag

Am Sonntagnachmittag (wenn es das Wetter nicht zuläßt, auf dem von valutastarken Millionären und trügerischen Nordseewellen, von fashionablen Karosserien und verwehendem Sand, von internationalen Hochstaplern und glänzenden, aber brüchigen Muscheln, von Pariser Kokotten und holländischen Fischerfrauen bevölkerten Grund und Boden von Scheveningen einen Jahrmarkt von Plundersweilen zu eröffnen),

am Sonntagnachmittag ist der Besuch des Gevangenpoort für die Haager Liebespaare obligatorisch. Aus den Gesandtschaften und Konsulaten, deren im Haag mehr sind als Staaten in der Welt, aus den Ministerien und Ämtern, deren im Haag mehr sind als Menschen in Holland einschließlich der Kolonien, und aus den Kontoren der Handelshäuser kommen Diener und kleine Gehilfen mit Kontoristinnen und Dienstmädchen, um sich im Gevangenpoort den Genuß des Gruselns zu verschaffen.

Gleich gelangt man nicht hinein, der sonntäglichen Liebespaare gibt's im Haag viele, der Ciceroni in dem Hause gibt's wenige; oft hat man eine halbe Stunde lang vor dem Tor des Tores zu warten. Endlich eingelassen, muß man zunächst in die Vorhölle, hier ist es jedoch immerhin angenehmer als draußen, wo man nur den Vijver sieht, einen feierlichen, von Schwänen durchschwebten und von uralten Palästen umkränzten Weiher mit einer boskettierten Insel.

Ja, weit idyllischer ist es, im Innern des Gevangenpoort zu harren (während sich auf der Straße erst die übernächste Gruppe konstituiert), ist man doch in einem Wartesaal besonderer Art: An der Wand hängen Richtschwerter, blutig, scharf und rostig, ein hölzernes ist dabei, mit dem der Büttel dem Malefikanten symbolisch auf den Nacken schlug, wenn im letzten Augenblick die Begnadigung ausgesprochen ward. Gegenstück ist die Kollektion von Henkerbeilen und ein Richtblock, gut geschnitten, auf daß der arme Sünder sein Haupt darauf presse, gutwillig oder gezwungen. Die Leinenmasken des Scharfrichters und seiner Knechte. Eine Eisenstange mit graviertem Ende, das man glühend dem Sträfling in die Haut brannte. Ein Schandpfahl. Ein Block. Riesige Ketten mit riesigen Schlössern und riesigen Kugelgewichten, Hand- und Fußfesseln schmücken, angeordnet wie Girlanden, den Raum.

Das sind Werkzeuge des Strafvollzugs, und auch die des Strafprozesses fehlen nicht, die Daumschrauben, die Zangen, das Rad, die Folterbank. Ein hoher Kamin und einige Spinnräder vermöchten etwas Traulichkeit zu geben, wüßten wir nicht, daß sich an diesem Herd nur die Schergen wärmten, denn hier war das Wachtzimmer, und daß die Raspeln aus dem Spinnhause stammen, in dem die Frauen Zwangsarbeit leisteten.

Geprickelt befühlt Meisje die Schneide vom Henkerbeil oder Henkerschwert, preßt den Finger in die Daumschraube, während ihr Jonge gar eine Hacke vom Pflock nimmt und ein wenig schwingt. Am Pranger ist eine Winde befestigt, mit der man den Delinquenten hob, so daß er sich auf die Fußspitzen stellen mußte, und die Kurbel läßt sich heute noch knarrend drehen. Ist das Repertoire solcher Vorspiele erschöpft, setzt man sich auf das vielfach gegliederte Prokrustesbett in der Mitte des Zimmers oder steht schäkernd umher, da es sich für keinen verlohnt, aus dem Fenster auf den Weiher hinauszusehen, über dessen olivengrünes Wassermoos Schwäne gleiten.

Schließlich kommt der Führer, erklärt die Objekte, mit denen wir gespielt, jetzt erst werden sie wahrhaft sensationell: Mit jener Zange, glühend gemacht, wurden Gliedmaßen abgerissen, mit jenem Nagel blendete man den Hochverräter, so funktionierte der Mechanismus der Folterbank (die uns eben als Sitzgelegenheit diente), daß dem Leugnenden jeder Knochen einzeln gebrochen werden konnte.

Nach diesen liebevollen Erläuterungen verlassen wir den Saal – von den am Ufer des Schwanenteiches wartenden Menschen dürfen zwanzig (das sind: zehn andere sonntägliche Liebespaare aus dem Haag) an unsere Stelle –, und wir wandern durch die blutige Vergangenheit der Niederlande, die sich aus der ziemlich selbstzufriedenen Gegenwart durchaus nicht schließen ließe.

Die Gäste des Gevangenpoort waren politische Verbrecher, wobei man selbstverständlich im Staate handeltreibender Bürger unter den Begriff der Staatsgefährlichkeit die zahlungsunfähigen Schuldner subsummierte. Allerdings sind die Namen der Schuldhäftlinge vergessen, während die Hochverräter auch der Nachwelt bekannt sind, wie zum Exempel die Brüder de Witt oder die Familie der Oldenbarnevelt, die – mag man sagen, was man will – nichts anderes gewesen sind als unverhohlene Republikaner, Gegner des Legitimitätsprinzips. Freilich, ob Cornelius de Witt dem Prinzen Wilhelm III. nach dem Leben getrachtet, ist zweifelhaft, und vor seiner Folterbank im unterirdischen Verlies wird uns erklärt, er habe hier ausgerufen: »Mögt ihr mir auch alle Eingeweide aus dem Körper reißen – nimmer könnt ihr hervorholen, was nicht darinnen ist.« Nach solch negativem Ergebnis der Inquisition konnte man Cornelius nicht verurteilen, und der Prinz berief seinen zweiten Todfeind, den Ratspensionär Johan de Witt, er möge den Bruder aus der Kerkerzelle abholen. Und just als beide Brüder beisammen waren, brach »Erregung einer Volksmenge« gegen sie aus, merkwürdigerweise erfuhr die »aufrührerische« Gruppe, das republikanische Brüderpaar sei im Gevangenpoort, und dieser war zufällig nicht genügend bewacht, und die Menge stürmte geradeswegs ins erste Stockwerk und tötete Cornelius und Johan de Witt, dem Holland den Aufschwung seiner Seemacht verdankt, und man besudelte die Leichen und hängte sie kopfabwärts auf einen Galgen, so geschehen am 12. August 1672. Der neue Statthalter war dermaßen großmütig, keine Untersuchung über die Missetäter anzustellen, und seine Nachfolger schmückten im Lauf der Jahrhunderte die Zelle mit den Bildern der Erschlagenen, mit der Büste des Johan de Witt und einem geschnitzten Eichentisch und zwei Lederstühlen – kaum anzunehmen, erstens, daß sich schon damals bequeme Möbel im Zimmer eines zu marternden Hochverräters befanden, und zweitens, daß sie nicht zertrümmert worden wären bei diesem Bastillesturm mit umgekehrtem Vorzeichen.

Die Peripetie der Familie Oldenbarnevelt – Dingelstedts dramatisiertes »Haus der Barneveldt« – hat sich gleichfalls im Gevangenpoort und im benachbarten Binnenhof abgespielt. 1619 ließ Statthalter Moritz von Oranien den Ratspensionär Johann von Oldenbarnevelt, einen zweiundsiebzigjährigen Greis, der den zwölfjährigen Waffenstillstand mit Spanien abgeschlossen hatte, und seine Freunde, die Gelehrten Hugo Grotius und Hoogerbeets, in einem Seitengemach der Ständeversammlung verhaften, Oldenbarnevelt wurde in den Gevangenpoort gesetzt, von einem parteiischen Gericht zum Tode verurteilt und im Binnenhof hingerichtet, obwohl er beteuerte, »stets aufrichtig und fromm als guter Patriot gehandelt zu haben«. Seine Söhne Wilhelm und René versuchten ihn durch ein Attentat gegen den Statthalter zu rächen, es mißglückte, Wilhelm flüchtete, doch René erbte seines Vaters Schicksal: das Verlies im Gevangenpoort und das Schafott im Binnenhof.

Die dunkelste der Zellen, die man zeigt, ist die des Priesters Jan de Bekker, genannt Pistorius, der Luthers Lehre nach Holland verpflanzen wollte und dieses Beginnen als Häretiker auf dem Scheiterhaufen büßte; spätere Insassen haben die Wand mit Bildern bedeckt – Gemälde, entstanden in der Finsternis, einzige Farbe der Palette: Blut. Unter dem Schutz der vollkommenen Dunkelheit brachen Gefangene fluchtlüstern einige Backsteinziegel des Gemäuers los, um schließlich erkennen zu müssen, daß hinter den Ziegeln eine drei Ellen dicke Eichenholzwand den Fingernägeln und Zähnen hohnsprach.

Die Reste der Künstler- und Freiheitssehnsucht an den Wänden können von den sonntäglichen Liebespaaren des Haag bei voller Helle beschaut werden, es gibt im Gevangenpoort längst elektrisches Licht, auch in den dunkelsten Dunkelzellen, im Schuldturm und im Gefängnislazarett mit seinen Nischen, im Hungerkerker, in den man die Gerüche aus der gegenüberliegenden Küche lenkte, im Verlies für die letzte Nacht des zum Tode Verurteilten, in der Vrouwenkamer, wo man die Frauen mit dem Haar an den Pflock band, ihnen die Brüste ausriß und nachher den Kopf schor (was alles heutzutage nicht mehr möglich wäre), in der Zelle, in der dem Delinquenten Wasser auf den Kopf tropfte, so daß er innerhalb dreier Tage als Wahnsinniger starb, in der Gerichtsstube, wo der Angeklagte nackten Fußes über einen glühenden Rost schreiten mußte, um seine Unschuld zu beweisen, in all den zwiefach vergitterten und mit eisernen Platten ausgeschlagenen Marterstätten, die noch so wirksam sind, den sonntäglichen Liebespaaren des Haag das Gruseln besser beizubringen als das Kino.

Als wäre man entsprungen, atmet man auf, da man das Haus verläßt, vor dem schon neue Besucher begierig harren.

Friedlich schwimmen die weißen Schwäne auf dem Wasser, Autos fahren und Radfahrerinnen mit freundlichen Kniekehlen, ein zufriedener Herr geht vorbei, er ist in Begleitung einer Dame, sein Gesicht kommt uns so bekannt vor, ja, sie sprechen Deutsch, woher kennt man dieses Gesicht . . .

das ist gleichgültig, die Gedanken kehren zurück in die Gemächer des Hauses, das die Geschichte der Niederlande birgt wie der Tower die Englands und diesem auch in der düsteren Anlage und seiner gegenwärtigen Bestimmung als Museum ähnlich.

Die Herrscher wußten sich zu schützen und zu rächen, kein Kerker ist furchtbarer als das politische Staatsgefängnis, ob es Tower heißt oder Spielberg oder Bastille oder Engelsburg, nicht so schlimm hat es der Verbrecher, der dem Nebenmenschen nur an Leib und Gut will, der Mörder, der . . .

und plötzlich erinnert man sich, wer der zufriedene Herr war, der mit der Dame ging, woher man sein Gesicht kannte:

es war Leutnant Vogel, der Mörder von Rosa Luxemburg

 


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