Egon Erwin Kisch
Kriminalistisches Reisebuch
Egon Erwin Kisch

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Das Verlies des Grafen von Monte Christo

Wie sich der Leser wohl erinnert, wird Edmond Dantès, nachmals Graf Monte Christo, von einem ehrgeizigen Berufskollegen verleumdet, von einem eifersüchtigen Nebenbuhler angezeigt und von einem um seine Karriere besorgten Staatsanwalt eingekerkert in den Kasematten des Schlosses If bei Marseille, durch einen Gang, den ein Zellennachbar, der Abbé Faria, in jahrelanger Mühsal gräbt, erlangt Dantès das Geheimnis eines Schatzes und schließlich die Freiheit, indem er sich anstelle des verstorbenen Priesters in den Totensack einnähen und als Leichnam in das Meer werfen läßt.

Unwahr ist, daß es je einen Edmond Dantès, vulgo Monte Christo, gegeben, unwahr die ganze Denunziationsgeschichte, unwahr der Abbé Faria und der Schatz, unwahr (und kitschig) der ganze weitläufige Racheplan des Freigekommenen. Wahr aber, fürchterlich wahr die Kerkerhölle im Schlosse If, Alexandre Dumas hat schaudernd die Verliese gesehen und sich, ein Sohn der Bastillestürmer, die Tragödien ihrer Bewohner auszumalen vermocht; ein enges Loch, das zwei Zellen verbindet, war der Anlaß zu seinem Roman, dem gelesensten der Weltliteratur – das Scherzwort, man müsse, um eine Kanone herzustellen, ein Loch nehmen und mit einem Lauf umgeben, war allen Ernstes sein Rezept, um das Loch herum schrieb er sein Buch . . . Angesichts dieses von einem Lebendigbegrabenen zum Leidensgefährten gebahnten Weges, angesichts einer kahlen Felseninsel von stöhnendem Kalk, angesichts erbarmungsloser Wälle und finsterer Wölbungen und vergitterter Luken, angesichts einer dreihundertjährigen Vergangenheit von Qualen geschichtsbekannter Kerkersträflinge begann er das Leben eines zu erzählen, der niemals gelebt . . .

Um dieses Phantoms willen wallfahrten Menschen in Barkassen zu dem Eiland ihres Lieblings aus dem Roman und dem Kino. Fröstelnd stehen sie in seiner Zelle, die es nie war, und nur nebenbei, da ja das Eintrittsgeld bereits bezahlt und die Kerze noch nicht niedergebrannt ist, schweifen sie in die anderen Räume und erfahren, daß Frankreich im Mittelmeer eine zweite Bastille besaß, ihrer Pariser Kollegin würdig.

 

Der Romanschreiber läßt seinen Helden nach vollbrachtem Rachewerk die ehemalige Zelle zwecks Reflexion besichtigen, denn seit 1830, der Julirevolution, ist der Kerker aufgehoben, und Neugierige können ihn anschauen kommen. Das aber ahnten Dumas-Vater und Monte Christo, der Sohn seiner wüsten Phantasie, nimmermehr, daß sich diese Schauderstätten wieder mit zwangsweiser Bewohnerschaft bevölkern und noch im Jahre 1919 Menschen in den Festungswänden von Schloß If festgehalten würden. Während des Weltkrieges saßen deutsche und österreichische Zivilgefangene darin.

 

Dreieinhalb Jahrhunderte lang wurde hier ausgesetzt, wer gegen Kirche, König und Staat aufzumucken wagte, nur die Minderheit fand aus dem Felsengrab den Weg ins Leben zurück. Den ersten Häftling, den Wundertäter Alberto del Campo, holte das Ketzergericht selbst heraus, um dem Volk das Schauspiel eines Autodafés zu bieten: Am Weihnachtstage 1588 wurde in Aix der falsche Abbé verbrannt und seine Geliebte, Margarita Sachetti, nackt vom Henker ausgepeitscht. Einer seiner Nachfolger, der wegen oppositioneller Haltung gegen den Kardinal Richelieu eingekerkerte Marseiller Kaufmann Bernardot, ist in der Kriminalgeschichte als Urheber der verzweifeltesten und am meisten Energie erfordernden Methode zur Abkürzung der Haft bekannt: des Hungerstreiks; in den zehn Tagen seines freiwilligen qualvollen Fastens schrieb er mit einem Stück Kohle und mit Blut die Schilderung seiner Torturen an die Wand, und am elften Tage sank er tot zusammen.

Illustre Herren hatten im Laufe der Zeiten in den »Cachots« Wohnung zu beziehen, so Prinz Kasimir von Polen, der auf spanischer Seite Kriegsdienste nehmen wollte, trotzdem sein Bruder, König Ladislaus VII., mit Ludwig XIII. ein Waffenbündnis abgeschlossen; durch Schiffskatastrophe zum Landen gezwungen, durch Verrat verhaftet, endete seine Absicht in der Kasematte im Mittelländischen Meer. Ein noch erlauchterer Bruder, der Mann mit der eisernen Maske, dessen Geheimnis seinen Tod überdauerte, kam, vom Gouverneur der Pariser Bastille, Herrn von Cinq-Mars, begleitet, 1686 hierher; seine Zelle im ersten Stock wölbt sich höher und geräumiger als die anderen, aber auch sie ist kalt und nackt und feucht, und im Louvre oder in Versailles ließ es sich besser wohnen – in den Schlössern, die ihm wohl gehörten.

Die Rache, die der phantasieentsprungene Graf von Monte Christo hier ausbrütet – ein wirklicher Häftling, ein wirklicher Graf hat sie wirklich genommen. Wegen leichtfertigen Schuldenmachens wurde am 23. August 1774 eingeliefert Gabriel Honoré de Riquetti, Comte de Mirabeau. Er hat später seine Leidensgenossen beschrieben, deren Verbrechen zumeist darin bestand, eine schöne Frau oder eine schöne Tochter zu besitzen, mit welcher der oder jener Machthaber ungestört leben wollte. Auf Château d'If verfaßte Mirabeau seinen »Essay über den Despotismus«, eine der großen Werbeschriften für die große Revolution, die Mirabeau an ihrer Spitze sah und die die Türen auch dieser Verliese öffnete –

– um sie unter der Herrschaft Napoleons hinter neuen Opfern ins Schloß fallen zu lassen. Deserteure, Attentäter, Royalisten, Spione, Meuterer und Frondeure werden von Sbirren und Gendarmen hinübergerudert, der erste Tag der ersten Restauration macht sie frei, der erste Tag der Hundert Tage überliefert sie wieder dem Donjon au Château d'If, der erste Tag der zweiten Restauration füllt alle Löcher der Festung mit Bonapartisten. Das ist die ewige Raserei der Justiz, sie glaubt gerecht zu peitschen und wird selbst gepeitscht von der Politik, heut von dieser, morgen von jener, Macht geht vor Recht, ohnmächtig schlagen Fäuste gegen Eisentüren. Verschwörungen und Fluchtversuche der Häftlinge enden auf dem Galgen. Einer schlägt den Kerkermeister nieder und wird gehängt. Einer stürzt sich in die Zisterne, die unter den Meeresboden reicht, ins Gebiet des Süßwassers. Bei jedem Wellenschlag ächzen die porösen Felsen, als erwachten in ihnen die längst verhallten Seufzer.

Die Julirevolution hebt das Inselgefängnis auf, doch die Niederwerfung der Revolution von 1848 liefert ihm an einem Tage zweihunderteinundsechzig Personen, fast jede von ihnen hat ihren Namen auf eine Platte der Terrasse gemeißelt; der Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 – »der 18. Brumaire des Louis Bonaparte« – stopft die Höhlen mit festgenommenen Republikanern voll, und nach der Commune von 1871 sind fünfhundertdreizehn Gefangene da, Frauen darunter, sie werden verurteilt, meist zum Tode (unter anderen stirbt Gaston Crémieux auf der Guillotine) oder zur Verbannung. Dann sind's Araber, die einen Aufstand in Algier unternahmen, und die deutschen und österreichischen »Zivilinternierten« von 1914 bis 1919 werden die ersten Nachfolger Monte Christos im zwanzigsten Jahrhundert und die letzten – bis jetzt.

 


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