Egon Erwin Kisch
Landung in Australien
Egon Erwin Kisch

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Für das Sydney City Hospital ist das Brüllen noch kein Aufnahmegrund, es muß zunächst festgestellt werden, ob ein medizinischer Grund vorliegt. Deshalb tut der Arzt, was unser Mann zu tun gedroht hat, er zerschlägt den Gipsverband; dann wird der blauweißrot angelaufene Unterschenkel gemustert und die Entscheidung gefällt, die Trikolore habe mitsamt ihrem Träger hier zu bleiben.

Der Pflegebefohlene der Polizei ist zum Pflegebefohlenen des Sydney City Hospitals geworden, die vier Konstabler, die unseren Mann im Wagen hergeleitet haben, können nun nach Hause gehen – sollte man glauben. Dem ist aber mitnichten so. Zuseiten der Rollbahre marschieren die Vier in den langgestreckten Krankensaal ein und setzen sich im Rund um das Bett, in das unser Mann gelegt wird. Eigentlich nur drei, der vierte bewacht die Tür. Scharf beobachten sie unseren Mann, dem eben von zarter Hand der Körper, einschließlich zartester Stellen, mit Alkohol abgerieben wird; sie lassen ihn selbst dann nicht aus dem Auge, als er mal muß. Er muß mal. Eine Leibschüssel wird ihm gereicht und Papier, und nun hockt er auf fremdem 95 Kontinent und kennt sich nicht aus, die Tiefen- und Längenverhältnisse sind ihm unbekannt, die Lage ungewohnt, das Risiko ungeahnt groß, und drei Polizisten, revolverbewehrt, lassen ihn nicht aus dem Auge. (Der vierte bewacht die Tür.) Am Morgen sitzen sie noch immer da, wenngleich die Köpfe über den Uniformkragen andere sind, in der Nacht scheint eine Wachablösung stattgefunden zu haben.

Beim Einzug ins Krankenzimmer hatte sich das Vorhandensein von Menschen nur aus glucksenden Geräuschen ahnen lassen, hie und da fuhr ein Lichtschein über unverständliche Schatten. Da der Tag leuchtet, sieht sich ein nachts Hereingebrachter zwischen Unbekannten liegen, die ihn ebenso neugierig betrachten, wie er sie.

Halle der Knochenbrüche. Etwa achtzig Mann zählt der Belag. Das Inventar gleicht dem einer Weberei. Jedes Bett ist ein Handwebstuhl, über jedem Bett wölbt sich ein Überbau von Brettern, Stricken und Rollen, Gewichte halten das Gleichgewicht, gekreuzte Schnüre lassen an das Entstehen von Schuß und Kette denken, aber all das Gehänge und Gestänge ist unbeweglich, dient dazu, der Patienten gebrochene Gliedmaßen hoch- und festzuhalten.

Um acht Uhr morgens geht die ärztliche Visite von Webstuhl zu Webstuhl. Als wäre unser Mann die Tänzerin Fanny Elßler, von deren berühmtem Bein man zu ihren Lebzeiten immer und immer wieder Gipsabgüsse machte, wird sein Bein neuerdings in Gips gelegt. Als wäre er die Tänzerin Fanny Elßler nach einem ihrer Bühnenabende, tragen vier Männer ihn zum Wagen.

Es geht zur Polizei, wo ihm heute wegen hartnäckiger Unkenntnis der gälischen Sprache der Prozeß gemacht 96 werden soll. Im Warteraum des Polizeigerichts ist die Jagdbeute der Polizei von heute Nacht aufgestapelt, Taschendiebe, Zuhälter, Prostituierte, Trunkenbolde, Messerstecher, ein chinesischer Spielhausbesitzer, und sie sehen genau so aus, wie ihre Kollegen in anderen Weltteilen auch.

Nicht unfreundlich nehmen sie unseren Mann auf und belehren ihn, heute amtiere Richter May und der sei O. K. Eine alte Trinkerin rühmt sich, etwas deutsch zu können, yes, Sir, und dann sagt sie mit Stolz: »Schnaps.« Des weiteren unterrichten sie den Fremdling bereitwillig und kollektiv über die nächtliche Geographie von Sydney, aber leider lichtet sich das Kollektiv nach und nach, denn wer abberufen wird, um seinem Richter Rede und Antwort zu stehen, kehrt nicht mehr in das Fegefeuer des Warteraums zurück, sondern wird direkt in den Himmel der Freiheit oder in die Hölle der Haft überstellt.

Auch unserem Mann schlägt endlich die Stunde. Polizisten tragen ihn in den dichtgefüllten Saal und wollen ihn auf die Anklagebank setzen, jedoch er klappt zusammen, und so legt man ihn denn vor dem Tisch des Hauses auf die Erde.

Mister Piddington führt seine Sache mit Wucht. Immer toller sei das, was da in Australien getrieben wird. Zuerst habe man diesen Gentleman gesetzwidrig an der Landung verhindert, dann in Melbourne nach Seeräuberart überfallen und auf ein Schiff verschleppt, und gestern, sofort nachdem das Obergericht ihm seine Freiheit wiedergab, wurde er von neuem gekidnapped, und auf seine Anwältin Frau Jollie-Smith wurde ein Mordüberfall verübt. Mister Piddington beantragt Vertagung, weil er wegen des Attentats auf die Anwältin die Aktenvorbereitung nicht besitze. 97

Demgegenüber wendet der Kronanwalt ein, es bedürfe keiner Aktenvorbereitung, es handle sich ja nur um die Feststellung, daß der Angeklagte die gesetzliche Intelligenzprüfung nicht bestanden hat. Und das sei klar wie die Sonne und werde nicht bestritten.

Wohl werde das bestritten, erwidert Piddington, er bestreite das durchaus und werde beweisen, daß just die gesetzliche Intelligenzprüfung nicht vorgenommen wurde. Er bitte, seinem Vertagungsantrag stattzugeben und den schwerverletzten Angeklagten auf freien Fuß zu setzen.

Wahrhaftig, der schwerverletzte Angeklagte liegt auf dem Parkett, unrasiert, blaß, nichts hört, nichts sieht er von der Verhandlung, seine Lippen zittern und manchmal versucht er, ein Stöhnen zu verbeißen, jeden Augenblick – so scheint es – kann seine Seele aus dem zerknitterten Pyjama entweichen.

Dennoch protestiert der Staatsanwalt gegen den Antrag auf Freilassung: der Angeklagte sei ein gefährlicher Agitator, sein verwegener Sprung von einem Ozeandampfer beweise zur Genüge, wie groß die Fluchtgefahr sei, und er . . .

»Was?« unterbricht Richter May. (Richter May wird den Angeklagten verurteilen müssen, wie es seine vorgesetzte Behörde verlangt, er ist ja kein richtiger Richter, er ist nur ein Polizeibeamter; muß er sich aber auch einreden lassen, daß dieser sich in Agonie windende Mensch eine Flucht unternehmen werde?) »Was?« unterbricht er den Staatsanwalt, »Sie wollen mir weismachen, daß ein Mann in diesem Zustand fliehen kann? Ich vertage die Verhandlung auf nächsten Freitag. Der Angeklagte ist gegen eine Sicherstellung von 100 Pfund bis zur Urteilsverkündung frei.« 98

Und siehe da, in diesem Augenblick begibt sich ein Wunder. Unser Mann erhebt sich vom Sterbelager und humpelt ohne fremde Unterstützung zur Tür. Die Leute im Saal, sie haben, wie die anderen Bewohner Sydneys, ihn bisher nur in liegender Lage, noch niemals aufrecht gesehen, starren ihn entgeistert an, dieweil er aufsteht und wandelt, und dann bricht ein Gelächter los, wie es dieser Erdteil angeblich noch nie vorher erlebt hat. Allerdings ist es ein junger Erdteil.

Nur der Vertreter der Krone lacht nicht, er spricht eine trübe Prophezeiung aus, die eine Stunde später von den Zeitungsjungen ausgerufen wird: »Das kann ja schön werden!«

Keineswegs darf unser Mann direkt in die Freiheit humpeln, zunächst muß er wieder in eine Gefängniszelle. Der Inspektor mit der Silberpeitsche verfügt: »Keinen Stuhl in die Zelle,« entfernt sich aber so schnell, daß eine allfällige Antwort im Dreiklang von Tür, Schloß und Schlüsselbund unhörbar würde.

Bei der Erlegung der Kaution, welche der Sekretär des Gewerkschaftsverbandes von Neusüdwales, King, gestellt hat, werden die Formalitäten nach Tunlichkeit verzögert. Aber schließlich haben auch Formalitäten ein Ende, und unser Mann darf in die Freiheit einer Woche. Vorläufig bedeutet diese Freiheit nur die Rückkehr ins Sydney City Hospital. Es ist das gleiche Bett, und dennoch das gleiche nicht: die es umgebenden Polizisten fehlen, und auch an der Tür sitzt keiner.

Zur nachmittägigen Besuchsstunde kommen Freunde und Fremde. Unser Mann ist fieberfrei, und doch erscheint Gwendolyn; man kann einander freundschaftlich ansehen, aber kaum miteinander sprechen, zu viele Leute sind 99 Zeugen. »In Ihrer Kabine war es besser für Sie,« sagt Gwendolyn. »O ja,« sagt unser Mann.

»Morgen haben wir ein Meeting in der Domain,« teilen unserem Mann die Freunde vom antifaschistischen Komitee mit, und erklären ihm, was die Domain ist: eine Art Forum Romanum, auf dem die Dialektiker verkünden, daß das Bestehende nicht unveränderlich sei. Viele politische Kämpfe wurden in der Domain ausgefochten, zuletzt mitten im Weltkrieg die siegreiche Kampagne gegen den Versuch, in Australien die allgemeine Dienstpflicht einzuführen. In der Domain herrscht Redefreiheit, – allerdings, zu den kommunistischen Meetings kommt die Polizei und verhaftet die Verkäufer von Literatur. »Morgen spricht Reverend Rivett und dann Sie, sind Sie einverstanden? Wir werden Sie morgen mittags abholen.« Morgen ist Sonntag.

Weil die lahmen Patienten den Gottesdienst nicht besuchen können, schickt die Vincent de Paul-Sozietät eines ihrer Mitglieder ins Krankenhaus, auf daß den Verlassenen frommer Trost gespendet werde. Diesmal macht den Sonntagsdienst ein Mann von kleiner Statur, Typus eines Handwerkers, im Knopfloch trägt er ein Kreuz mit der Umschrift »St. Vincent de Paul«.

Am Bett unseres Mannes angelangt, fragt er diesen, ob er große Schmerzen habe, ob er einen Unfall erlitten, ob er aus Sydney sei, ob er ein Gebetbuch brauche. Unser Mann dankt für das Interesse und fügt hinzu, er habe viel über das Leben von St. Vincent de Paul gelesen, das sei ein abenteuerliches und tapferes Leben gewesen.

»Ich weiß wenig vom Leben des heiligen Vinzenz,« erwidert das Männchen treuherzig. 100

»Was St. Vincent de Paul zu seiner Zeit getan hat,« fährt unser Mann fort, »tut in unserer Zeit die Rote Hilfe. Sie hilft den Gefangenen und den Opfern der Ungerechtigkeit.«

»Rote Hilfe? Davon weiß ich leider gar nichts, ich höre davon zum erstenmal. Aber ich werde unseren Pfarrer darüber fragen.«

»Der wird Ihnen nicht das Richtige sagen. Die Geistlichen haben auch für Vincent de Paul nur Hohn und Verleumdung übrig gehabt, selbst als er schon Almosenverwalter des Königs war. Ihr Pfarrer wird sicherlich gegen die Rote Hilfe sein, wenn Sie ihn befragen werden.«

»Ja, aber was soll ich machen, um etwas darüber zu erfahren? Mich interessiert das sehr.«

»Lesen Sie die Rote-Hilfe-Broschüren, und dann können Sie in Ihrer Sozietät den Antrag stellen, man möge die Rote Hilfe unterstützen.«

»Ja, wenn ich mit dem Inhalt einverstanden bin, werde ich das tun. Aber wo bekommt man solche Broschüren?«

»Zum Beispiel heute nachmittags in der Domain.«

Er bekreuzigt sich. »Ich war noch niemals bei einem Meeting in der Domain.«

»Sie müssen es wagen, wenn Sie sich einen Anhänger von Vincent de Paul nennen. Der ging sogar zu den Cholerakranken und zu den Galeerensträflingen.«

Bewegt, als leiste er ein Gelübde, verspricht der Handwerksmann, in die Domain zu kommen. »Wird heute nicht dieser Ausländer dort sprechen, dieser . . .?«

Ja, alle Sonntagsblätter melden, er werde heute öffentlich sprechen, allen Anstrengungen und Erklärungen der Behörden zum Trotz. Und damit nicht genug, Dienstag abends werde er in Australia-Hall auftreten, nachher nach 101 Melbourne fliegen, von dort im Flugzeug zurückkehren, und am Freitag sei in den Sydneyer Betrieben ein Streik beabsichtigt, damit die Arbeiterschaft den Ausländer in geschlossenem Zug zum Polizeigericht begleiten könne . . .

Alarmnachrichten. Sie erklären die besorgten Mienen, mit denen die Ärzte bei der Morgenvisite das Bein unseres Mannes betrachten. Da es mit Gips verkleidet ist, können sie gar nichts sehen, aber sie schütteln die Köpfe, als wäre ihnen in ihrer Praxis noch nie ein so beängstigend blasser Gipsverband vor Augen gekommen.

»Das Bein muß hochgehängt werden,« verordnet der Chefarzt, und fügt im Ton herzlicher Sympathie hinzu: »Sie werden viel Geduld haben müssen, lieber Freund, sonst bleiben Sie Ihr Leben lang ein Krüppel.«

»Herr Doktor,« sagt unser Mann, »ich will heute das Spital verlassen.«

Im Nu verwandelt sich der Ton herzlicher Sympathie in scharfes Anschnauzen: »Glauben Sie, wir sind ein Taubenschlag? Daß man sich aufnehmen lassen kann und wieder weggehen, wenn man gerade Lust hat? Wir geben uns Mühe, Ihr Bein zu retten, und Sie treiben Schindluder mit uns . . .«

Wütend ziehen die Ärzte ab, denn sie haben den Auftrag nicht zu erfüllen vermocht, den politisch peinlichen Patienten mit medizinischen Mitteln vom öffentlichen Auftreten abzuhalten. Noch vom Nebenbett her drohen sie: »Sie werden es bereuen. In längstens vierzehn Tagen sind Sie zur Amputation hier.«

Das ist wohl mehr ein Schreckschuß als eine Diagnose, aber man kann ihm Wirksamkeit nicht absprechen. Ein Bein zu verlieren, ist keine angenehme Perspektive. 102

Eine halbe Stunde später kommt ein deutscher Anstaltsarzt, Doktor Theiler, ans Bett. Er kommt als Landsmann. Sein Vater, erzählt er, Leiter einer lutheranischen Mission in Queensland, erhalte seit Hitlers Machtantritt keine Subvention aus Deutschland mehr. Es geschähe also, sagt er, nicht etwa aus politischen Gründen, sondern aus rein ärztlichen, wenn er unserem Mann dringend rate, im Krankenhaus zu bleiben.

Unser Mann besteht jedoch auf Entlassung, er unterschreibt eine Erklärung, daß er auf eigenen Wunsch, auf eigene Verantwortung und gegen den Rat der Ärzte das Spital verlasse. Als er dann aus dem Bett steigt, hilft ihm niemand, er muß sich allein ankleiden, allein zum Fahrstuhl humpeln. Unten im Hof warten die Freunde. Mit der Begründung, jetzt sei keine Besuchsstunde, war ihnen verwehrt worden, unseren Mann aus dem Krankensaal abzuholen.

*

Nein, die Domain ist dem Forum Romanum in nichts ähnlich. Weder steinerne Stufen noch marmorne Säulen, weder Rostren noch Tempel. Kein Staub, kein Stäubchen. Grün strahlt die Domain bis zu ihrem Hintergrund von mildem Blau, der mildblaue Hintergrund ist das Wasser im Hafen. Die Rasenflächen heben sich in Wellen, auf deren niederen Kämmen alte Bäume verloren umherstehen. Kleine Kinder und erwachsene Männer spielen mit Bällen; das Ballspiel der Erwachsenen heißt Kricket.

Der November ist in Australien ein Monat des Hochsommers, im offenen Taxi fährt unser Mann mit Freunden über das grüne Gefild zu seiner ersten Versammlung auf 103 australischem Erdreich. Auf einem Hang steht eine Gruppe von Leuten, unser Mann fragt: »Ist hier unser Meeting?« Die Freunde verneinen lächelnd. Unter einem Baum ist ein Podium aufgerichtet, ein paar Dutzend Hörer umgeben den Redner. »Ist das unser Meeting?« – »Nein, auch nicht.«

Langsamen Tempos fährt der Wagen auf eine Fläche zu. Sie ist bestanden von Menschen, ein dichter und weiter Wald von Menschen. Nur ihre Rücken sind zu sehen, an zwanzigtausend Hinterköpfe mit zwanzigtausend Nacken, die Gesichter sind nach dem Mittelpunkt der Wiese gerichtet, dorthin, wo von einem Lastauto ein Redner mit silbern leuchtendem Vollbart zu ihnen spricht. Symmetrische und weitausladende Gesten begleiten seine Worte. »Das ist Reverend Rivett,« sagen die Freunde, und unser Mann freut sich auf den Händedruck mit ihm, der ihm den guten Brief geschrieben hat und so viel Solidarität bekundet.

Die Freunde heben unseren Mann aus dem Taxi, die äußeren Kreise der Versammlung werden aufmerksam, dann die nächstinneren, man trägt ihn durch die Menge. Nach ein paar Schritten aber hält man an, vorne scheint etwas vorgefallen zu sein, alles versucht, der Tribüne zuzudrängen, von der der Redner verschwunden ist. Wer nicht vorwärts kann, stellt sich auf die Zehenspitzen, reckt den Kopf, man flüstert erregt.

Versammlungsteilnehmer berichten den im Auto Angekommenen von der Rede Rivetts. Mit solchem Feuer habe der Alte noch nie gesprochen wie heute. Reverend Rivett hat mit der Feststellung begonnen, das heutige Meeting sei das größte seit zwanzig Jahren, das größte seit der Anti-Dienstpflicht-Versammlung, mit der das australische Volk einen Vorstoß gegen seine Vergewaltigung unternahm. Es 104 sei Zeit für die Völker, einen neuen Vorstoß zu unternehmen. »Für die Rettung der Demokratie glaubten die Völker den Weltkrieg zu führen, aber das Ergebnis ist, daß sie Faschismus oder Gefahr des Faschismus geerntet haben. 75 Prozent der Bevölkerung Australiens sind arbeitende Menschen,« sagte Reverend Rivett, und wenn diese gemeinsam für ihr Recht einstehen, können sie Krieg und Faschismus verhindern, mit so üblen Mitteln diese beiden Geißeln der modernen Menschheit auch vorbereitet werden. Friedenskämpfern hat man verboten, bei uns einzukehren, und diese Schmach noch vergrößert, indem man dieses Verbot mit der Unkenntnis entlegener Sprachen begründete. Käme Christus hierher, um für den Frieden der Menschen auf Erden zu werben, unsere Landpfleger und Zöllner würden ihn daran zu hindern versuchen, weil er ein Ausländer sei und keine europäische Sprache beherrsche, zumindest nicht gälisch.«

Mitten in seiner Rede habe Reverend Rivett das Taxi erblickt, das sich langsam dem Versammlungsplatz näherte. »Dort naht unser Gast, dessen Einlaß man verhindern wollte. Freuen wir uns, daß wir nicht vergeblich gekämpft haben, freuen wir uns, daß wir ihn sehen. Meine Zeit ist um, ich schließe.« Und bei den Worten »ich danke Ihnen,« mit denen jeder angelsächsische Redner schließt, sank Reverend Rivett um.

Die Massen im Rund ergriff eine Ahnung, daß das mehr als ein Unwohlsein, mehr als eine Ohnmacht war. Und jetzt ist die Ahnung Gewißheit, erregt flüstert es von der Mitte her bis an den Rand: »Er ist tot . . . Er ist tot.«

Reverend Rivett ist tot.

Erschüttert und starr stehen die Zwanzigtausend da, in 105 ihrem Auge ist noch das Bild des Redners, in ihrem Ohr sind seine Sätze. Reverend Rivett liegt in dem Wagen, von dem er sprach, und ist tot. Unser Mann wird hinaufgehoben. Er sieht den Reverend Rivett zum ersten Mal und zum letzten Mal.

Ärzte breiten ein Tuch über den Toten, Stille, Totenstille herrscht, im Block der Zwanzigtausend öffnet sich eine Straße, durch die Reverend Rivett aus der Versammlung getragen wird, in die Leichenkammer des nahen Hospitals.

Ein alter Mann erklimmt das Lastauto und beginnt zu sprechen, Frank Cotton, des Toten Freund von Jugend an. Er war heute mit Reverend Rivett zur Versammlung gekommen und möchte vor denen, deren Ohr sein Freund in seiner Todesstunde gesucht hat, etwas zum Andenken seines Freundes sagen. »Schon im Burenkrieg hat Arthur Rivett gegen die Teilnahme australischer Truppen gekämpft,« erzählt Frank Cotton, »schon damals griffen ihn die Kriegshetzer ingrimmig an, und im Weltkrieg war es noch schlimmer, aber Arthur hat seine Überzeugung mutig weiter verfochten, bis an sein Ende . . . bis an sein . . .«

Hier kam der Redner nicht mehr weiter, schluchzend wankt er zurück, die Menge erzittert in neuer Befürchtung.

Senator Rae tritt vor die Versammlung, auch er einer von der alten Garde, auch er legt Zeugenschaft ab über Arthur Rivett, an dessen Seite er zwei Menschenalter lang stand. Dann gibt der Vorsitzende, L. L. Sharkey, unserem Mann das Wort, »das Wort, das wir uns erzwungen.« Er müsse jedoch um Nachsicht für den Gast bitten, falls der in gebrochenem Englisch sprechen sollte.

»Ja,« nimmt unser Mann das Wort, »ja, mein Englisch 106 ist gebrochen, auch mein Bein ist gebrochen, nicht gebrochen aber ist mein Herz. Denn die Aufgabe, mit der mich die Antifaschisten Europas zu denen Australiens aussandten, erfüllt sich, da ich zu euch spreche. So tief uns der Schmerz über den jähen Tod von Reverend Rivett bewegt, es war ein edler Tod; Reverend Rivett fiel mitten in der Ausübung einer selbstgewählten Pflicht. Sein Name, bisher nur den Australiern teuer, wird nun auch von den europäischen Antifaschisten geehrt werden, und wenn ich ein Buch über Australien schreibe, dann soll darin, das verspreche ich hier, dem tapferen Priester ein Kreuz des Gedenkens errichtet sein.«

Reverend Arthur Rivett

ein Kämpfer gegen den Krieg
ein Kämpfer gegen Faschismus
Gestorben
in Sydney Domain am Sonntag
den 18. November 1934.

Wie die rückwärtszerrenden und abwärtszerrenden Gewalten, vor denen Reverend Rivett bis zum letzten Atemzug gewarnt, wie diese Gewalten des Rückschritts und der Hetze in Deutschland zur Herrschaftsform wurden, davon gibt unser Mann Bericht; er spricht über die Schändung von Menschenwürde und Menschenrecht im Hitlerkerker und sagt, was von dem illegalen Widerstand deutscher Arbeiter in Worten ausgedrückt werden kann.

»Jedoch damit,« zetert am nächsten Tag die reaktionäre Presse, »jedoch damit war der Tag noch lange nicht zu 107 Ende, den der Vorsitzende in seinem Schlußwort als einen denkwürdigen in der Geschichte Australiens bezeichnete. Um das sich in Bewegung setzende Lastauto formierte sich die Menge als ›Schutzgarde, damit unserem Gast kein Harm geschehe‹. Der saß auf dem Lastauto und schwenkte einen Strauß roter Blumen, die ihm bei seiner Ankunft auf dem Versammlungsfeld überreicht worden waren. Tausende folgten dem Wagen durch Macquarie Street, die für den morgigen Einzug des Herzogs von Gloucester festlich dekoriert ist, und sangen »Red Flag« und ähnliche Lieder. Einige Dekorationen mit der Aufschrift »Willkommen« wurden von den Kandelabern gerissen und an dem Auto befestigt. Vor dem Abgeordnetenhaus wurde der Delegierte unter ununterbrochenen Hochrufen aus dem Lastauto gehoben und in ein Personenauto getragen. Dann sang man die »Internationale«, wobei die Menge nach Mister Kisch's Vorbild die Fäuste zum Gruß erhoben hielt. Diese Geste ist, wie uns von informierter Seite mitgeteilt wird,« (fix gearbeitet, deutsches Konsulat!) »die Grußform des sogenannten Roten Frontkämpferbundes, einer schon vor Herrn Hitlers Regierungsantritt in Deutschland aufgelösten kommunistischen, paramilitärischen Formation . . . Wie wir erfahren, wird Polizeirichter May, der die verhängnisvolle Freilassung verfügte, bei der Fortsetzung der Verhandlung am Freitag nicht mehr im Richterstuhl erscheinen.«

*

Gerald Griffin, »der Mann mit Tarnkappe und Siebenmeilenstiefeln«, war Freitag in Sydney gewesen; Newcastle, wo er Sonnabend im Saal des Gewerkschaftshauses auftrat, liegt 100 Meilen nördlich von Sydney an 108 Australiens Ostküste; am Sonntag, an dem der andere verbotene Delegierte in Sydney Domain spricht, wird Gerald Griffin in Melbourne erwartet, 16 Schnellzugsstunden weit westlich von Sydney, an Australiens Südküste.

Er soll am Abend in einem Protestmeeting gegen die beiden Landungsverbote sprechen. Alle Bahnhöfe in der Umgebung Melbournes sind polizeilich bewacht, in den Zügen werden die Passagiere streng zur Ausweisleistung veranlaßt, die Beamten fassen alte Männer bei deren echten Bärten, um festzustellen, ob es nicht falsche Bärte sind, auf den Landstraßen wird ein Auto nach dem andern angehalten und untersucht, sogar der Kühler.

Achttausend Menschen sind abends in Melbourne Stadion. Um 10 Uhr, die ersten Redner, die Labor-Abgeordneten Blackburn und Frank Brennan haben geendet, erhebt sich der Vorsitzende und teilt mit, er werde eine Frage stellen und nach ihrer Beantwortung den Saal verdunkeln und die Türen schließen lassen. Achttausend Menschen halten den Atem an.

Vorsitzender Gleeson: Ist Gerald Griffin im Saal?

Eine Stimme von der Ostseite der Halle: Ja, ich bin hier.

Mit der Gewalt einer Eruption schlägt die Atemlosigkeit in ein Toben der Begeisterung um, die Versammelten steigen auf Stühle und Bänke, die Galeriebesucher strömen auf jene Seite, von der man Den sehen kann, der die Frage beantwortet hat und aufgestanden ist, ein junger Mann mit hoher Stirn und großer Hornbrille: der steckbrieflich gesuchte Gerald Griffin. Tücher werden geschwenkt, Hochrufe brausen, das Händeklatschen nimmt kein Ende, auch nicht, nachdem die Lichter verlöscht sind. 109

Aus dem Finstern schallt Gerald Griffins Stimme, er erzählt von seinem vorgestrigen Besuch auf der »Strathaird«, von seiner gestrigen Rede bei den Bergarbeitern von Newcastle, von seiner heutigen Fahrt nach Melbourne, einer Fahrt mit Hindernissen. Er ruft auf zum Kampf gegen Krieg und Faschismus.

Während nach seiner Rede der Beifall tobt, verschwinden fünf Männer durch einen Seitenausgang in eine Querstraße, wo ein Auto hält; einer der fünf preßt sein Taschentuch an den Mund. Die fünf Männer schauen sich vorsichtig um, ob kein Polizist in der Nähe ist. Nichts Verdächtiges. Kaum aber flitzt ihr Wagen los, da sperren ihm an der Straßenecke zwei heranfahrende Polizeiautos den Weg: »Hände hoch!«

Die Insassen des Privatwagens müssen umsteigen ins Polizeiauto, die beiden wuchtigsten der Konstabler halten die Arme des Mannes fest, der sein Taschentuch gegen das Gesicht gepreßt hat.

Schade!

Schade, daß dieser Mann nicht Gerald Griffin ist, schade, daß keiner der Verhafteten Gerald Griffin ist, und daß alle fünf binnen einer halben Stunde die knurrende Wachstube verlassen dürfen.

Was Gerald Griffin anbelangt, hat er in der Dunkelheit und ohne Hornbrille seinen Platz gewechselt, und wartete dann das Ende der Versammlung ab, um mit dem Strom der Achttausend von dannen zu schwimmen.

Ob rechts, ob links, es gibt nur eine Meinung: wenn etwas noch ungeschickter und lächerlicher sein kann, als die beiden Landungsverbote, so ist es die Tatsache, daß die Regierung sie nicht durchzuführen vermag. Welch' 110 eine unfreiwillige Regierungspropaganda für die Antifaschisten!

Auf einer der vielen Karikaturen in den Zeitungen sieht man unseren Mann – nein, unser Männchen, denn ganz klein und häßlich sitzt er auf einem Stuhl; unter ihm jedoch läßt die Regierung ihr Licht leuchten, und dadurch erscheint der Schatten des kläglichen Zwergs gigantisch und respekteinflößend an der Wand. – »Schafft Griffin her,« schreit auf einer anderen Zeichnung der Generalstaatsanwalt Menzies der Polizei so heftig zu, daß die Konstabler an die Wand klatschen und die für Griffin vorbereiteten Handschellen zu baumeln beginnen. Ein Karikaturist läßt Griffin und unseren Mann Arm in Arm durch die Einreiseverbote schreiten wie durch einen Triumphbogen.

Ceterum censeo, zeterte Menzies noch vor vier Tagen, die Delegierten werden den Fuß nicht auf den Boden des australischen Gemeinwesens setzen. Dieses Axiom hat er mit der gleichen Energie verfochten, wie die mittelalterlichen Geographen das ihre: den südlichen Teil der Erdhälfte könne nimmermehr eines Menschen Fuß betreten, weil sothaner Fuß oben haften, hinwiederum sein Körper und sein Kopf nach unten hängen müßten, welches zwar bei Fliegen an der Zimmerdecke möglich sei, mitnichten aber bei Menschen. Seither hat sich dieses Axiom als unrichtig erwiesen, unter anderem bei jenen Füßen, für die Mister Menzies eine Ausnahme statuieren wollte. Der eine trägt einen Siebenmeilenstiefel, der andere eine gipserne Hülle, und so fest wurden die verbotenen Füße auf australischen Boden gesetzt, daß dieser in ein einziges Versammlungsfeld verwandelt zu sein scheint.

So kann es keinesfalls weitergehen, den beiden 111 Gegenfüßlern Menzies' muß der Boden entzogen werden. Um das dem Griffin zu tun, wird die Nachricht lanziert, der Mann, der als Griffin in den Versammlungen auftrete, sei gar nicht Griffin, sondern ein Australier, die Behörde kenne seinen Namen und seine Adresse genau, habe aber keinen Anlaß, gegen ihn einzuschreiten.

Dann wird, vielleicht aus Politik, vielleicht aus Sensationslust, diese Behauptung übersteigert: nicht einen Mann, sondern drei Männer lasse das antifaschistische Komitee in verschiedenen Teilen Australiens jeweils als Griffin sprechen. Und einer dieser drei heiße sogar wirklich »Griffin«. Das gibt Anlaß zum Titel »Griffin ist wirklich Griffin, wenn auch ein anderer«, als ob schon allgemein feststünde, daß es auf keinen Fall der richtige sei.

Zur Verstärkung dieser Kampagne wird ein »Privattelegramm aus Wellington (Neuseeland)« ausgegeben, »Mister Gerald Griffin, der sich seit seinem Abtransport aus Australien wieder hier befindet, erklärte heute, er sei sehr belustigt darüber, daß jemand in Australien unter seinem Namen Versammlungen abhalte.«

Um dieses Netz von Falschmeldungen zu zerreißen, lädt Griffin Pressevertreter zu einer (selbstverständlich vor Überrumpelung gesicherten) Zusammenkunft ein, legitimiert sich mit Paß und Unterschrift und mit seinen beiden in Neuseeland ausgestellten Schiffskarten, aber die Interviews werden von den regierungsbeeinflußten Chefredaktionen mit der gleichen Überschrift versehen, unter denen über sein Auftreten in den Versammlungen berichtet wird: »Der Mann, der Griffin zu sein behauptet.«

Sogar die sozialdemokratische Presse beginnt, die Formel »der angebliche Griffin« anzuwenden, und so erwachen 112 auch in der Arbeiterschaft Zweifel; mancher betrachtet sich als genasführt, schämt sich, einem falschen Griffin zugejubelt zu haben, in den Betrieben setzt es Diskussionen. Die antifaschistische Bewegung, von der viele Schichten der Bevölkerung zum erstenmal durch die Schikanen gegen die Delegierten hörten, gerät in den Verdacht, ein übles Manöver inszeniert zu haben.

Gerald Griffin hatte ursprünglich die Absicht, ebenso illegal wie er gekommen war, nach Neuseeland zurückzukehren. Eine geheime Abreise hätte aber die Lügen nicht zum Verstummen gebracht, und so beschloß er, sich den Behörden zu stellen. Öffentlich wurde angekündigt, Griffin werde am nächsten Sonntag in der Domain sprechen. Wieder waren Zehntausende auf dem Platz. Das Wort wurde einem Mister John King erteilt, der sich sofort als Gerald Griffin zu erkennen gab und begründete, warum er heraustrete »aus dem Rauch«. (So nennt man in Australien die Illegalität.)

Kompaniestark war die Polizei auf dem Platz der Redefreiheit erschienen, sie umstellte in dichtgeschlossenem Kreis die Tribüne mit dem Langgesuchten, jeden Augenblick ließ sich ein Angriff, ein Handgemenge gewärtigen. Bleich, aber unbeirrt sprach Griffin gegen die Tyranneien des Faschismus und gegen die, in deren Interesse ein Neubeginn des Völkerschlachtens liegt.

Nach zwanzig Minuten erklärte er seine Rede und seine illegale Vortragsreise durch Australien für beendet, stieg von der Tribüne herab. Das uniformierte Aufgebot, das seinerseits durch einen dichten Kordon von Zivilpolizisten gegen die Versammlungsteilnehmer abgeriegelt war, nahm Gerald Griffin fest. 113

Andere Methoden mußten gegen unseren Mann angewendet werden. Er war durch Gerichtsbeschluß auf freiem Fuß, man konnte ihn nur bei einer strafbaren Handlung verhaften. Deshalb wurden ihm Fallen gestellt, zumeist in den »Dinner-Hour-Meetings«, den Versammlungen, die während der Mittagspause vor dem Fabrikstor abgehalten werden. Hierher konnte man Provokateure entsenden, denn die Belegschaftsmitglieder kennen einander nicht allesamt, und die Vermutung, daß sich ein Spitzel eingeschlichen habe, liegt ziemlich fern, insbesondere für die politisch wenig erfahrenen Zufallshörer. Hauptsächlich um solche Indifferente zu erfassen, werden diese Mittagsversammlungen vor den Arbeitsstätten abgehalten, aber die Veranstalter begegnen hier oft einem kühlen, fast ablehnenden Auditorium: daß die Versammlung zum Arbeiter kommt, statt der Arbeiter zur Versammlung, ruft sein Mißtrauen wach. Wenn auf dem Fabrikshof Caruso sänge oder Greta Garbo spielte, er würde nur widerwillig hinhören und brummen: was wollen die von mir?

Solche Stimmungen sind guter Boden für Provokationsbazillen. Unser Mann sprach vor den Eisenbahnwerkstätten von Eveleigh. Eine dröhnende Stimme rief dazwischen: »Genosse, sagen Sie uns ganz offen, ob wir im nächsten Krieg zuerst unsere eigenen Offiziere erschießen sollen?« Wenige Minuten später ließ sich der gleiche oder ein ähnlicher Zwischenrufer vernehmen: »Führen Sie uns zum Gouverneursgebäude, und wir werden dort gleich Ordnung schaffen!«

Für Dienstag, drei Tage nach dem Domain-Meeting, war eine Abendversammlung in Australia-Hall angesetzt. Unser Mann kam an, Freunde hoben ihn aus dem Auto 114 und auf eines Simson Rücken, der ihn treppauf trug. Polizei rechts und links, nebenan und hinterdrein. Sie schritt, aber sie schritt nicht ein, weder auf der Treppe, noch im Vorraum.

Erst in dem Augenblick, als unser Mann in den gefüllten Saal einritt und die Versammelten ihn begrüßten, schob sich ein baumlanger Detektiv durch die Polizeikette und sagte, lauter und brüsker als nötig, zu unserem Mann: »Folgen Sie mir sofort in die Garderobe.« Versammlungsteilnehmer drängten bedrohlich gegen den Polizeikordon, Zurufe wurden laut und die Stimmung kritisch. Der Simson, der unseren Mann noch immer auf dem Rücken trug, schickte sich an, den Weg zum Podium fortzusetzen, Polizisten stellten sich ihm entgegen. »Hallo,« rief unser Mann, »laßt uns mal zuerst hören, was der Onkel uns zu erzählen hat.«

»Ich bin nicht Ihr Onkel,« schrie der Detektiv, »und Sie sind, gottlob, nicht mein Neffe.«

»Nun, nun,« begütigte ihn unser Mann, »mein Sohn sind Sie ja auf keinen Fall.« Ringsum wurde gelacht. Der Detektiv krallte seine Hand in unseres Mannes Schulter. Aber er verhaftete nicht. Ihm mochte eingefallen sein, daß hier keine formale Amtsehrenbeleidigung vorliege. Wenn man jemandem sagt: »Sie sind vielleicht mein Sohn,« so bedeutet das in Australien die schwerste Beleidigung, die der Mutter. Unser Mann hatte jedoch ausdrücklich das Gegenteil versichert: der Detektiv sei auf keinen Fall sein Sohn.

Simson und seine Last bewegten sich in den Garderobenraum. Dort händigte der Detektiv unserem Mann eine Vorladung für die Verhandlung am Freitag ein. Sonst nichts. 115 Das hätte ebensogut im Saal oder vor dem Hauseingang getan werden können, abgesehen davon, daß unser Mann auch ohne die schriftliche Vorladung bei Gericht erschienen wäre. Aber darauf war es der Polizei nicht angekommen, angekommen war es ihr darauf, einen Zusammenstoß hervorzurufen. Im Laufe des Meetings, das nunmehr beginnen konnte, wurde die Vorladung an den Meistbietenden versteigert.

Tags darauf verständigten die Freunde unseren Mann von seinem bevorstehenden Zusammentreffen mit dem Ministerkabinett beim Empfang der Fellowship für den Poeta laureatus . . .

»Halt, halt! Ich verstehe kein Wort. Habt Ihr in Australien einen Poeta laureatus? Was ist die Fellowship? Warum gibt sie ihm einen Empfang? Was hat das mit dem Ministerkabinett zu tun? Und was mit mir?«

Nein, Australien besitzt keinen Poeta laureatus, aber derjenige, der diese mittelalterliche Höflingscharge gegenwärtig in England bekleidet, ist nach Australien beordert worden, um mit dem Sohn des Königs an der Jahrhundertfeier teilzunehmen. Selbiger Poeta laureatus heißt John Masefield.

»John Masefield? So heißt auch ein Poeta ganz anderer Art. In Upton Sinclairs Anthologie der sozialen Literatur gibt es revolutionäre Verse von einem Masefield.«

»Das ist der gleiche, aber solche Verse macht er nicht mehr. Vielleicht erinnern Sie ihn an seine früheren Gedichte, wenn Sie mit ihm zusammenkommen.«

»Wieso, zum Teufel, soll ich denn mit ihm zusammenkommen?«

Das ist so: die Fellowship of Australian Writers, der 116 Schutzverband australischer Schriftsteller, veranstaltet zu Ehren des hohen Kollegen ein Bankett, die Bundesregierung und die Regierung von Neusüdwales haben ihr Erscheinen zugesagt.

Nun aber haben linksstehende Mitglieder des Verbandes, gerade so viele, als zur Einladung eines Gastes statutengemäß berechtigt sind, beschlossen, einen ausländischen Kollegen zu dem Bankett einzuladen. Und zwar jenen, der nach Ansicht der Regierung widerrechtlich und unerwünscht im Lande ist.

Krach im Schutzverband. Die Rechte beschuldigt die Linke, Politik in den Verband hineingetragen zu haben, die Linke entgegnet, die Politik sei vom Vorstand hineingetragen worden, indem er aus rein politischen Gründen den fremden Kollegen nicht von selbst einlud. Der Vorstand behauptet, unser Mann sei nicht als Schriftsteller, sondern zu politischer Tätigkeit nach Australien gekommen. So?, antwortet die Opposition, und was ist's mit den offiziellen Jubiläumsgästen aus Übersee, den Hankey und Baden-Powell und all den noch höheren, fuhren sie etwa nicht zu politischer Tätigkeit nach Australien? Glaubt der Vorstand, der Poeta laureatus kam hierher, um sich uns anzusehen, oder um ein Gedicht auf Australien zu machen? Nein, Mister Masefield wurde zu politischer Tätigkeit hierhergesandt, und deshalb beteiligt sich die Regierung an dem Empfang.

Interviewt, ob sie trotz der Einladung des unerwünschten Ausländers erscheinen werden, erklären Ministerpräsident und Minister, darunter Minister Th. White, der den Schriftstellerberuf unseres Mannes bestreitet, daß sie sich durch nichts daran hindern lassen werden, an der 117 Huldigung Australiens für den englischen Poeta laureatus teilzunehmen. »Ich werde kommen,« verkündet jeder Minister einzeln, »ob Kisch da ist oder nicht.« – »Ich werde kommen,« verkündet auch unser Mann, »ob die Minister da sind oder nicht.« Er empfinde es als Ehre, der Einladung Folge zu leisten, denn er sei selbst im Vorstand der Fellowship of German Writers. Mister John Masefield wird gleichfalls befragt, ob er etwas gegen die Anwesenheit des prohibited immigrant beim Festmahl einzuwenden habe. »Ich habe keine Meinung in dieser Angelegenheit,« antwortet er.

In England scheint man diesem Zusammentreffen eines hohen Hofmannes mit dem beanstandeten Fremden noch mehr politische Bedeutung beizumessen als im Dominium. Die Korrespondenten der Londoner Presse bekommen Weisung, bei ihren Berichten über den Verlauf des Banketts keine Kabelspesen zu sparen, und im Wentworth-Hotel werden Telefonzellen gebaut, von denen aus die Berichterstatter die Festhalle überblicken können.

Wir aber, nicht auf Zeilenhonorar und Aufträge von Fleet Street angewiesen, wollen uns damit begnügen, zu sagen, daß es ein wohlgelungenes Fest war. Fünfhundert Gäste, die Herren im Cut, die Damen mit Schmuck. Die Mitglieder der Regierung, so mannhaft sie ihr Erscheinen in Aussicht gestellt hatten, waren ausnahmslos ferngeblieben. Dagegen glänzte, wie wir nicht verschweigen wollen, der nicht allen liebsame Gast durch seine Anwesenheit. Vier Männer trugen ihn feierlichen Schrittes durch die lautlos zur Seite tretende Menge zu seinem Platz, und er nahm sich im Jackett und in den Hosen seines blauen Pyjamas ganz schmuck aus. 118 Der Vorsitzende begrüßte Mister John Masefield mit warmen Worten. Mister John Masefield dankte mit warmen Worten, hob die Notwendigkeit von Solidarität und Freundschaft und Liebe zwischen den Angehörigen der schreibenden Zunft hervor, und ging dann eilig von dannen, – vielleicht gemahnte ihn die Anwesenheit des anderen überseeischen Kollegen peinlich an eine Zeit, da er für Upton Sinclairs Anthologie so unversöhnliche Worte gegen alle Helfershelfer der Mächtigen gefunden hatte.

Vierhundertneunundneunzig blieben essend und plaudernd im Saal, darunter der andere fremde Gast. Eine Autogramm-Polonaise zu ihm beendete das schöne Fest. Er fügte zu seinem Namenszug jedesmal die Worte »ein Springer« hinzu, um auszudrücken, daß ihn hier niemand als Schriftsteller kenne und nur von dem Akrobaten ein Andenken heische.

Mit spitzem Lächeln reicht ihm eine Dame »ihr Lieblingsbuch«, auf daß er es signiere, ein kostbar eingebundenes Exemplar von »Mein Kampf«. Bereitwillig schreibt er auf die Titelseite die Feststellung, zum ersten Mal im Leben setze er seinen Namen auf solch stupides Zeug.

Am nächsten Tag – oh, wir haben ein reichhaltiges Festprogramm, tschindaratschinbum, hereinspaziert, meine Herrschaften! – am nächsten Tag ist Liverpool Street schon vor 9 Uhr morgens schwarz von Menschen, begierig, kundig, eingedenk, teilhaftig, mächtig, voll genießen sie die Zeremonie, mit der der Angeklagte die Freitreppe zum Polizeigericht emporgetragen wird, und auch der Verhandlungssaal ist begierig, kundig, etz., und vor allem: voll.

Wie angekündigt, sitzt Richter May, der unseren Mann auf freien Fuß gesetzt hat, nicht mehr im Richterstuhl. 119

»Nein,« erwidert unser Mann, als er von Richter Gibson gefragt wird, ob er sich schuldig bekenne, und es geht los.

Inspektor Wilson von der Zollbehörde wird als Zeuge verhört, ob und wie die Intelligenzprüfung vorgenommen wurde. Er sagt aus, der Angeklagte habe so laut, daß es die Leute außerhalb der Wachstube hören konnten, gerufen: »Es ist unfair, mich gälisch zu prüfen. Nicht mich stellen Sie damit bloß, sondern Australien. Die ganze Welt wird darüber lachen.«

Bewegung im Publikum. Polizisten stürzen mit Gummiknüppeln auf die Zuhörer zu und bellen: »Ruhe im Gerichtssaal!« Ein Mann ruft gestikulierend: »Ein Prophet! Er wollte Euch warnen, Australien lächerlich zu machen.« Man schleppt ihn aus dem Saal. »Ein Prophet!« hört man ihn noch von draußen rufen:

Zeuge Wilson: »Der Angeklagte behauptete, es sei keine Tinte in der Füllfeder, die ich ihm gereicht hatte, und . . .«

Bewegung im Publikum. Die Polizisten bellen: »Ruhe im Gerichtssaal!«

Zeuge: ». . . und zerriß das Papier und warf es fort.« (Daß der Angeklagte es auf einen Detektiv warf, verschweigt der Zeuge großmütig.) »Er sagte auch, er sei einmal in Strathnaver gewesen und spreche etwas keltisch, aber Konstabler Mac Kay habe keine Ahnung davon.«

Konstabler Mac Kay wird als nächster Zeuge vorgerufen, gibt an, er sei bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr im Dorf Tongue in Sutherland, einer gälisch sprechenden Gegend Schottlands aufgewachsen, der Schulunterricht sei englisch gewesen.

Piddington befragt den Zeugen Mac Kay nach einigen gälischen Worten, Zeuge antwortet, er habe sie vergessen. 120 Auch einfache Vokabeln, wie »nein«, »Straße«, »Haus«, kennt er nicht oder übersetzt sie falsch. (Piddington hat ein englisch-gälisches Wörterbuch mitgebracht.) »Es ist schon zwanzig Jahre her, seit ich gälisch sprach,« entschuldigt sich Mac Kay.

Piddington fordert ihn auf, ein Wort aus dem Diktionär vorzulesen. (Keltisch hat eigene Buchstaben.) Zeuge: »Das scheint irisches Gälisch zu sein, ich kann nur schottisches Gälisch lesen.«

Piddington: »Die schottische Bevölkerung zählt 4,843,000 Seelen, kaum 2,8 Prozent von ihnen sprechen keltisch. Das ist also keine lebende europäische Sprache im Sinne des Gesetzes.«

Es entspinnt sich ein linguistischer Streit, Beweise begegnen Gegenbeweisen, Beweisanträge und Gegenbeweisanträge kreuzen sich, die Vertagung des Prozesses wird gefordert.

Staatsanwalt: »Ich habe nichts dagegen, unter der Bedingung, daß der Angeklagte bis zur Wiederaufnahme in Haft bleibt, damit sich so skandalöse Szenen, wie in der Domain die geballte Faust, die Demonstration in Macquarie Street oder die öffentliche Versteigerung der Vorladung, nicht wiederholen.«

Der Richter erklärt, die Freilassung des Angeklagten bis zur Urteilsverkündung sei bereits verfügt und könne nicht rückgängig gemacht werden. Der Prozeß wird vertagt.

Zur nächsten Verhandlung bringt der Staatsanwalt einen Sachverständigen mit: John Mc Crimmin, Polizei-Inspektor a. D., geboren auf Isle of Skye, einer zu Schottland gehörenden Hebriden-Insel, soll bekunden, daß Konstabler Mac Kay richtiges Schottisch-Gälisch spreche. Um die 121 Eignung des Sachverständigen zu beweisen, legt ihm der Staatsanwalt den Text der Diktatprüfung vor. John Mc Crimmin liest vor und übersetzt, ohne zu stocken:

»Er erinnert sich daran, daß sein Vater ein Buch, genannt das ›Rote Buch‹, besaß, welches vielerlei über die Sippen des Hochlands erzählte und auch Teile von Ossianschen Gedichten enthielt.«

[Der Sydneyer Schriftsteller Julian Smith»On the Pacific Front. The adventures of Egon Kisch in Australia.« By Julian Smith; Sydney 1936. Australian Book Services Ltd., Manchester Unity Building. (230 S.; 14 Fotos.) entdeckte, daß dieses Zitat einem alten Werk »Sprache und Literatur des schottischen Hochlands« von Prof. John Stuart Blackie entstammt, darin eben die Maßregeln angeführt sind, mit denen König Georg II. im Jahre 1747 nicht nur die gälisch-keltische Sprache zu unterdrücken versuchte, sondern sogar das Tragen von schottischer Tracht zu einem schweren Verbrechen stempelte. Wäre die Terra Australis schon damals ein freies britisches Dominium gewesen, so hätte sie jeden nur gälisch sprechenden Einwanderer ebenso abgewiesen, wie sie heute den nicht gälisch sprechenden abweist]

Da der Sachverständige Mc Crimmin das Prüfungsstück fließend liest und übersetzt, müßte man nun widerspruchslos seine Entscheidung hinnehmen: Konstabler Mac Kay vermag die schottisch-gälischen Worte so vorzulesen, daß jeder Kenner dieser Sprache sie mitschreiben kann.

Leider mischt sich Mister Piddington mit einer Frage an den Richter ein: »Erlauben Sie, Verehrungswürdiger, daß auch ich von Mister Mc Crimmin etwas übersetzen lasse?« Der Verehrungswürdige erlaubt es, Piddington hält 122 dem sachverständigen Kelten ein Buch hin und verdeckt das letzte Wort der zu übersetzenden Stelle.

Sachverständiger (übersetzt): »Ebenso könnten wir nützen, wenn wir es ihr frei überließen, sich zu ihrer Zerstreuung dem Laster hinzugeben.«

Piddington: »Wollen Sie, bitte, Ihre Übersetzung dem Protokollführer diktieren?«

Sachverständiger (diktiert): »Ebenso könnten wir nützen . . .« Mit entschuldigendem Lächeln: »Das ist keine sehr moralische Sentenz.«

Piddington: »Im Original schon. Es ist nämlich der Satz aus dem Vaterunser: Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Das Wort, das ich mit dem Finger verdeckt habe, heißt ›Amen‹.«

Die Polizisten rücken gegen das Auditorium vor: »Ruhe im Gerichtssaal!« Aber all die drohend geschwungenen Gummiknüppel können das Gelächter nicht ersticken. Der Richter schneuzt sich des langen und breiten.

Sachverständiger: »Im Gälischen gibt es drei verschiedene Arten von Orthographie, und dadurch kann sich leicht ein anderer Sinn ergeben.«

Piddington: »Ich glaube nicht, daß eine Orthographie das Vaterunser so verwandeln kann. Übrigens bezweifle ich jetzt, Mister Mc Crimmin, daß Sie den Text der Diktatprüfung auch so fließend übersetzt haben, als Sie ihn zum erstenmal lasen.«

Sachverständiger (mit Entschiedenheit): »Jawohl, das habe ich.«

Piddington: »Wann war denn das?«

Sachverständiger (merkt, daß er sich verplappert hat): »Muß ich diese Frage beantworten?« 123

Piddington: »Sie haben ja schon zugegeben, daß Sie den Text vorher kannten, also können Sie auch sagen, wann Sie ihn gesehen haben.«

Sachverständiger: »Gestern.«

Piddington: »Und wo?«

Sachverständiger schweigt.

Piddington: »Im Büro des Herrn Staatsanwalts?«

Sachverständiger: »Ja, aber ich habe den Text sofort . . .«

Der Rest seiner Aussage erleidet trotz Gummiknüppeldrohung und »Ruhe im Gerichtssaal«-Gebell kläglichen Schiffbruch im Sturm der Heiterkeit.

Wieder mündet die Disputation in die prinzipielle Frage, ob Gälisch im allgemeinen und Schottisch-Gälisch im besonderen eine Sprache im allgemeinen und eine europäische Sprache im besonderen sei.

Richter Gibson meint, Schottisch-Keltisch werde in Europa gesprochen, also sei es ohne Zweifel eine europäische Sprache.

Piddington: »Es gibt mehr Chinesen in Sydney als schottischgälisch sprechende Menschen in Europa. Wenn aber jemand ernsthaft behaupten wollte, Chinesisch sei ohne Zweifel eine australische Sprache, würde man ihn ins Irrenhaus sperren.«

Richter: »Zielt das auf mich?«

Piddington: »Sie haben doch nicht behauptet, Verehrungswürdiger, daß Chinesisch ohne Zweifel eine australische Sprache sei.«

Erst recht geraten Rechtsanwalt und Staatsanwalt einander in die Haare, bei jeder Gelegenheit beschimpfen sie einander weidlich, niemals aber tun sie es ohne die vorgeschriebene Anredeform »mein gelehrter Freund«. 124

»Your Worship« dagegen ist die Formel, die hier, bei einem Gericht unterer Instanz, dem Richter gebührt. Unser Mann sagt: »Your Warship«, – Gelächter, »Ruhe im Gerichtssaal!« – ohne daß man es dem Ausländer als bösen Willen auslegen kann, wenn er den feinen Unterschied in der Aussprache nicht herausbringt, und dadurch eine verehrungsberechtigte Amtsperson einem ollen Kanonenboot gleichsetzt.

Zwei Ecktürme wachsen auf dem Richtertisch zu schwindlichten Höhen empor. Der rechte dräut den Frevlern, die dem Gälischen das Recht bestreiten, eine Sprache im Sinne des australischen Einwanderungsgesetzes zu sein, aus dem anderen Turm richtet sich die Bestückung gegen jene, die einen aussterbenden Dialekt ausgraben, um ihn für ihre politischen Antipathien zu mißbrauchen. Noch sind die Turmbauten nicht bis zum Giebel gediehen, noch liegt weiteres Baumaterial bei den Rivalen bereit, Bücher, Zeitschriften, Statistiken. Aus allen Werken starren die Lesezeichen hervor, als wären sie Flintenläufe.

Unser Mann könnte zum Turmbau seiner Partei nur einen einzigen Quaderstein beitragen; er erinnert sich, daß Friedrich Engels in der »Lage der arbeitenden Klasse in England« vom Verschwinden der gälisch-keltischen Sitten und Sprache spricht, und die wirtschaftlichen Gründe und sogar den Zeitpunkt dieser Erscheinung anführt: die mit dem Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Industrierevolution erschloß das schottische Hochland, auf den neu erstandenen Chausseen wanderte die bisher zumeist aus Schmugglern und Wilddieben bestehende Bergbewohnerschaft in die Industriebezirke ab, und vor dem Anrücken der englischen Zivilisation mußten die alten Gebräuche und Ausdrucksformen verschwinden. 125

Aber es gelingt nicht, ein Exemplar von Engels' Meisterreportage aufzutreiben in dem Land, in dem sich mehr als in einem anderen die Lage der englischen Arbeiterklasse vom Anfang des vorigen Jahrhunderts ausgewirkt hat. Belege aus der bürgerlichen Literatur hingegen schleppt Piddington in solcher Fülle heran, daß der Staatsanwalt die Hände ringt: »Was soll denn das für einen Zweck haben?«

»Den Zweck,« antwortet Piddington, »Ehre und Freiheit eines bedeutenden Gastes zu retten und mehr als das, den Ruf Australiens.«

Staatsanwalt: »Quatschen Sie keinen solchen Blödsinn, mein gelehrter Freund, Ihr bedeutender Gast wird eingesperrt werden, wie er es verdient, und in acht Tagen erinnert sich kein Mensch mehr seines Namens.«

Auch er scheint ein Prophet zu sein, wenigstens was das Einsperren betrifft. Der Richter denkt nämlich gar nicht daran, sich mit den beiden babylonischen Türmen und ihrer Sprachenverwirrung zu befassen, er denkt nicht daran, den Prozeß um weitere Verhandlungstage zu verlängern, deren Abende der Angeklagte doch nur, wie die bisherigen, verwenden würde, um Vorträge und Reden zu halten.

Woran Richter Gibson sicherlich denkt, ist die Absetzung seines Vorgängers, des Richters May. So erhebt er sich denn und verkündet das Urteil: Keltisch ist eine europäische Sprache, Schottisch-Gälisch ist eine Abart dieser Sprache und selbst eine europäische im Sinne der Einwanderungsakte, der Konstabler, der den Angeklagten der Diktatprüfung unterzog, war dieser Sprache mächtig, und der Angeklagte hat die Prüfung nicht bestanden. Daher ist der Angeklagte schuldig, unbefugt in Australien eingereist 126 zu sein, und wird zu sechs Monaten Zwangsarbeit und zur Zahlung der Gerichtskosten verurteilt.

Piddington: »Unerhört! Zum Strafausmaß habe ich ja noch gar nicht plädiert.«

Richter: »Das ist nicht nötig, das Strafausmaß ist im Gesetz genau festgelegt.«

Piddington: »Sie verwechseln, Verehrungswürdiger, Ihren von der Regierung erhaltenen Auftrag mit dem Gesetz. Sechs Monate Zwangsarbeit sind keineswegs festgelegt, sondern im Gegenteil als Höchststrafe angegeben.«

Da sich erweist, daß das stimmt, wird das Strafausmaß zurückgezogen, und Piddington plädiert.

Plädiert? Wie ein heraldischer Löwe hält er den Ehrenschild seines bereits schuldig gesprochenen Klienten in den Klauen. Nicht mehr um den Sieg kann er kämpfen, bloß noch um glimpfliche Gefangenschaft, er faucht und funkelt und dröhnt: nur die Mindeststrafe darf verhängt werden.

Richter Gibson ist kein Romantiker, er fürchtet nicht, von einem Wappentier zerfleischt zu werden, er fürchtet nur das Schicksal des Richters May. Darum fällt er von neuem das Verdikt: »Sechs Monate Zwangsarbeit und Zahlung der Gerichtskosten.«

Vier Polizisten schleppen unseren Mann aus dem Saal, zahlreiche andere preschen gegen das Publikum vor, das seiner Empörung über die hohe Strafe lauten Ausdruck gibt.

Wiederum wird unser Mann einer Leibesvisitation unterzogen; höhnisch steht der Polizei-Inspektor dabei und knallt die Silberpeitsche gegen seine Ledergamaschen.

Verhallt ist der altgewohnte Dreiklang von Tür, Schlüssel und Schlüsselbund. Unser Mann liegt in einer großen 127 Zelle und versucht sich auszumalen, wie sich das nächste Halbjahr gestalten wird. Sechs Monate Zwangsarbeit, vielleicht im australischen Busch unter Känguruhs und giftigen Schlangen. Es kann auch noch länger als sechs Monate dauern; Gerichtskosten werden überall im Fall der Nichteinbringlichkeit mit Haft bezahlt, – die einzige international geltende Valuta.

Zwei Stunden später wird unseres Mannes Zelle anderweitig gebraucht. Aus Parramatta ist ein Schub von zwölf Häftlingen angekündigt, erzählen ihm die Polizisten, die ihn freundlich und fürsorglich in eine kleinere Zelle tragen. Die stinkt noch mehr als die große; sie stinkt am meisten von allen ihm hier vertrauten Zellen. Ohne Licht, ohne Lektüre, ohne Bleistift und ohne Papier liegt er auf der Pritsche. Zum Abendbrot gibt's Kaffee (oder ist es Tee?), immerhin nicht so schlimm wie in Spandau, und drei Scheiben gerösteten Brots.

Spät abends ruft ein Polizist mit gedämpfter Stimme durchs Guckloch: »Zerreißen Sie das sofort!« und schnellt ein Papierkügelchen in die Zelle. Ein Brief: »Keine Sorge, wir arbeiten weiter. G.«

»G.« bedeutet Gwendolyn.

*

Auch Gerald Griffin wird zu sechs Monaten Zwangsarbeit verurteilt; in Sträflingskleidern sitzt er im Zuchthaus von Parramatta. Griffin ist in Irland geboren, also ein Kelte, ein Gäle sogar. Sein Verbrechen besteht darin, daß er nicht Holländisch kann.

Die beiden Verurteilungen wühlen die Gemüter auf. Vor allem sieht die Arbeiterschaft das Vorgehen der 128 Behörden als Herausforderung an, die Protestbewegung wächst und äußert sich so radikal, wie dies noch vor einigen Jahren undenkbar gewesen wäre.

Zur Zeit der Prosperität, als noch keine industrielle Reservearmee von Hunderttausenden die Löhne drückte, als viele Arbeiter ein Häuschen mit Garten und manche ein Kleinauto erwerben konnten, galt den Australiern ihr Land als ein ewig unveränderbares Paradies, sie fühlten sich den Bewohnern der übrigen Weltteile überlegen, und ihre Zukunftsforderungen, ihr politisches und gewerkschaftliches Ideal, erschöpften sich in dem Satz: »Ten bob a day – zehn Schillinge Tagesverdienst.«

Selbst jene Mitglieder der Labor Party, die sich Sozialisten nannten, glichen im Grunde dem Tolstoischen Gerichtsherr Iwan Ilitsch; der weiß genau, daß alle Menschen sterben müssen und glaubt dennoch nicht an seinen Tod, weil er, Iwan Ilitsch, ja nicht »alle Menschen« ist. So wußten jene Labor-Sozialisten von den internationalen Gesetzen der kapitalistischen Produktion, von der Ausbeutung der Arbeitskraft, vom Wechsel von Konjunktur und Krise, und vom Kampf der Klassen, leugneten aber deren Gültigkeit für Australien.

Als die Weltkrise über vier Weltteile hereinbrach und den fünften verschonte, schien das ein neuer Beweis für die Sonderstellung Australiens zu sein. 1929 jedoch kreuzte die Krise den Äquator, und der konservative Ministerpräsident Bruce (jetzt Australiens Vertreter in London und beim Völkerbund) wußte besser von ihrem Kommen als die Sozialisten obiger Observanz. Er demissionierte und machte einem Labor-Kabinett Platz, damit dieses die Verantwortung auf sich lade. 129

In der Tat konnte das neue Ministerium die Landung der Krise nicht verhindern. Sie hißte ihre graue Fahne, sie verwandelte die arbeitswilligsten Bewohner des menschenärmsten Erdteils in Arbeitslose, sie schloß Betriebe, sie schränkte Belegschaften ein und erhöhte die Arbeitszeit und senkte die Löhne, sie rief Streiks und Aussperrungen hervor, sie ließ den Ministerpräsidenten von Neusüdwales, J. Lang, einen Labor-Mann, durch den britischen Generalgouverneur absetzen, und übergab auch die Regierung des Staatenbunds wieder einer nationalistischen Koalition.

Bei Iwan Ilitsch beginnt es zu dämmern. Schon verhaftet man in der Domain, dem Platz der freien Rede. Schon verbietet man Bücher, die in England erlaubt sind. Und nun will man uns sogar vorschreiben, wen wir hier empfangen dürfen? Sollen wir uns gefallen lassen, daß Antifaschisten und Kriegsgegner verurteilt werden?

Neue Anhänger stoßen zur Avantgarde des Klassenbewußtseins, die diese Entwicklung längst vorausgesagt hat, in den Arbeiterbezirken gründen sich antifaschistische Komitees, Keimzellen der Einheitsfront.

Aber auch weite Kreise des Kleinbürgertums und des Bürgertums sind höchst unzufrieden mit ihrer Regierung. Sie ist ihnen zu konservativ, vertritt allzu offen die Interessen von ein paar Banken, Versicherungsgesellschaften, reichen Weizenfarmern und Schafzüchtern und der fast ganz in englischen Händen liegenden Großindustrie.

Die Mehrheit der australischen Bevölkerung ist demokratisch. Hierzulande gibt es keinen Hof, keine Aristokratie und keine privilegierte Offizierskaste, – Kommandant der 130 australischen Truppen im Weltkrieg war ein als Reserveoffizier eingerückter jüdischer Ingenieur namens Monash. Den Ehrgeiz, in »bessere Kreise« aufgenommen zu werden, hat der richtige Australier nicht; anders als in Europa, schaffen Titel und Orden, ja selbst Reichtum allein kein Ansehen; anders als in Amerika, empfindet man es als lächerlich, alles auf der Welt nur nach dem Einkaufspreis zu schätzen.

Sich das Leben so leicht wie möglich zu machen, sich Hirn und Seele nicht allzusehr zu beschweren, ist des Australiers oberstes Maxime. Sein Ahne hatte Land und Weide in Besitz genommen, wo er sie fand, Eingeborene, chinesische und europäische Einwanderer als Sklaven verwendet und nach Gutdünken leben oder sterben lassen, – nichts störte ihn als die Obrigkeit mit ihrem Zuchthausregime und ihrem Verlangen nach Bezahlung des Bodens und Steuern. Immer waren daher die duftigsten Blumen im Bukett der australischen Flüche für die Behörden ausersehen.

Davon steckt dem Enkel etwas im Blut. Er findet es verdammt unsympathisch, was die Behörden da treiben, und verdammt sympathisch, daß sich die beiden Delegierten dagegen wehren. Insbesondere der Tiefsprung vom Deck wurde von dem sportfanatischen Erdteil als sportliche Leistung gewertet.

Was die Regierung den beiden zu sagen verwehren wollte, haben sie wiederholt gesagt. Jeder im Lande hat es gehört oder gelesen, und keiner im Lande hat etwas Gefährliches darin gefunden. Also war das Verbot nicht nur wirkungslos, sondern auch sinnlos, und die sechs Monate Zwangsarbeit sehen wie nackte Rache aus.

Das anfängliche Mißtrauen gegen die beiden Delegierten 131 hat sich als unberechtigt erwiesen, Griffin ist der richtige Griffin und nicht jemand, der sich für ihn ausgibt. Von dem Anderen hat Minister White behauptet, er sei ein politischer Agitator und kein Schriftsteller, jedenfalls kein besonderer, sonst wäre er ins Englische übersetzt. Jetzt aber kündigen die Buchhändler zwei englische Ausgaben an, »Secret China« erscheint in London, »Changing Asia« in New York.

Die Berufung gegen die Verurteilungen rollt zu verschiedenen Instanzen, und niemand kennt sich in diesem Labyrinth aus. Unter anderem muß unser Mann vor einem Supreme-Court in der alten Hauptstadt Parramatta erscheinen, und stilles Schaudern befällt ihn, da er in dieses Gerichtszimmer getragen wird, wo in den Kinderjahren der Kolonie Neusüdwales ein betrunkener Richter, ohne die Angeklagten oder die Zeugen anzuhören, Urteil auf Urteil lallte: »Tod durch den Strang.«

Davon ist im gegebenen Fall keine Rede, es wird in Parramatta überhaupt kein Urteil über ihn gefällt, weil sich – wie gesagt, komplizierte Dinge – gleichzeitig das Oberste Bundesgericht in Sydney mit der Sache befaßt. Dessen Fünfmännersenat berät eine Woche lang über die Frage, ob der Einwanderer zu Recht auf Schottisch-Gälisch geprüft worden ist, und entscheidet dann mit vier gegen eine Stimme: nein.

Wohl sei Scotch-Gaelic in philologischem Sinne eine Sprache und zweifellos eine europäische, hingegen sei sie es, zum Unterschied von Irish-Gaelic, der Staatssprache des Freistaates Irland, nicht im politisch-rechtlichem Sinne, id est nicht in dem des Einwanderungsgesetzes. Diesem Sinn entspreche eine sich rapid vermindernde 132 Sprechweise einiger abgelegener Pfarrgemeinden keineswegs. Somit wird das Urteil des Polizeigerichts aufgehoben, und jede weitere Verfolgung wegen Unkenntnis des Schottisch-Gälischen oberstgerichtlich untersagt.

So ist denn unser Mann zum erstenmal in Australien ein freier Mann, nicht nur ein auf freiem Fuß befindlicher Mann. Er verlangt seinen Paß und sein Rückreisebillett, die man ihm in Fremantle abgenommen hat, erhält sie aber nicht.

*

Im Eisenbahnzug, der ihn von Sydney zu einer Versammlung nach Melbourne führt, drängen sich Bauern, Dorfpriester, Frauen, Kinder; sie fahren zum Eucharistischen Kongreß. Auf dem Bahnhof in Melbourne wird unser Mann mit Ansprachen begrüßt und die Internationale gesungen; bewegt stehen die eucharistischen Pilger entblößten Hauptes im Kreis, dann nahen sie sich dem vermeintlich heiligen Mann, berühren ehrfürchtig seine Krücken, versuchen ihm die Hände zu küssen und erbitten seinen Segen.

Das antifaschistische Meeting findet im Stadion von Westmelbourne statt; das ist heute ebenso voll wie beim Auftreten von Griffin; wieder sind über Zehntausend versammelt. Der Labor-Abgeordnete Blackburn faßt die Gründe der allgemeinen Erregung in einem Satz zusammen: »Wir Australier waren stolz darauf, in einem freien Land zu leben; aber das, was den beiden Antikriegsdelegierten widerfahren ist, hat jedem von uns gezeigt, daß Australien kein freies Land mehr ist, und auch die Reste der Freiheit in Gefahr sind.« 133

Unser Mann leitet sein Referat damit ein, daß er bereits zur Jahrhundertfeier in Melbourne sein wollte. In den Tagen, deren Gedenken der Staat Victoria feierte, dauerte eine Reise aus Europa nach dem damals unbewohnten Port Phillip, dem heutigen Hafen von Melbourne, acht Monate, und von dort hierher, wo heute die Versammlung abgehalten wird, kaum zehn Minuten. Er aber habe von Europa hierher nur vier Wochen gebraucht, und vom Melbourner Hafen bis nach Westmelbourne nicht weniger als nochmals vier Wochen. So wurde der Abstand zwischen Erdteil und Erdteil verringert, und der Abstand zwischen Mensch und Mensch ist größer denn je.

Über den weiteren Inhalt der Reden kann man in den Protokollen des Bundessenats nachlesen, der sich – aber wir wollen den Ereignissen nicht vorgreifen. Vor der Pause wird die Versammlung aufgefordert, Beiträge für den Verteidigungsfond zu spenden. In der Mitte des Saales erhebt sich ein Boxring, auf ihn regnet es Geld von allen Seiten, nur zehn Minuten lang und nur kleine Münze. Die Zählung ergibt 130 Pfund, ein beispielloser Rekord.

Am nächsten Tag sieht unser Mann Melbourne, die Stadt, die seine unbezähmbare Neugierde wachrief, als er, ein dem Schiff Verhafteter, seine Besucher von ihr sprechen hörte. Melbourne ist ein Märchen, auch für den, der aus dem Märchen Sydney kommt. Sydney scheint entstanden zu sein, indem aus einem gigantischen Becher tausende von Würfeln auf eine bizarr gezackte, von Hügeln umsäumte Bucht geschüttelt wurden, unbekümmert darum, ob einer oder der andere der Würfel ins Meer fiel, einer oder der andere just noch am Felsenrand hängen blieb; dann stapfte ein Riese durch das bewürfelte Land und schuf so die 134 Serpentinenstraßen am Hafen. (Wo er hinschiß, ist die City.)

Was aber Melbourne anlangt, so hat es sich ein Feenkönig sorgsam erdacht, bevor er es hinzauberte, und hernach hüpften seine Töchter über die Wege und bestreuten sie mit unsäglich bunten Beeten und Blumen und Sträuchern.

Nun beguckt sich unser Mann diese moderne Wunderstadt, fährt durch St. Kilda Road, eine Straße, weit schöner als die Avenue des Champs Elysées in Paris, nun lernt er alles verstehen, was ihm bei jenen Bordgesprächen der Melbournesen unverständlich war.

»Deepdene« ist die Straßenbahn, die den Stadtteil Deepdene durchfährt, Heidelberg ist ebenfalls ein Stadtteil am Yarra Yarra-Fluß und heißt so, weil der erste Grundstückbesitzer dieser Gegend den Yarra Yarra dem Neckar ähnlich fand. Auch ein Braunschweig gibt's in Melbourne, jawohl. Und mit dem Menzies, bei dem man Cocktail trinkt, verhält es sich wie mit Heidelberg und Braunschweig: es ist nicht der Staatsanwalt, sondern ein Gastwirt in William Street, Ecke Collins Street. Bei Lyons in Swanston Street trinkt unser Mann Kaffee, und dieser Lyons ist alles eher als Australiens Ministerpräsident. Dagegen ist Bill Dolphin, der Geigenmacher, durchaus original; nach Feierabend kommen seine Freunde und es geht feuchtfröhlich zu. Jemand lädt unseren Mann zu sich ein: »Rufen Sie mich vorher an, Ivanhoe 4646, das ist leicht zu merken . . .« Ja, sagt unser Mann, ich habe mir Ihre Nummer schon gemerkt, als Sie sie an Bord der »Strathaird« nannten.

In Unity Hall spricht unser Mann in einer Versammlung, auch nach Wonthaggi fährt er, einer Stadt 100 Kilometer hinter Melbourne, die schwärzer ist als andere Kohlenstädte, 135 obwohl sie so hart am Meer liegt, daß die Wellen an die Häuser klatschen.

*

Schwere Debatten setzt es im Senat von Canberra. Eines seiner Mitglieder, der alte Sozialist Rae, wurde vom australischen Komitee gegen Krieg und Faschismus nach Neuseeland delegiert, um eine Vortragstournee abzuhalten. Die neuseeländische Regierung, sonst konservativer als die australische, hat die Einreise bewilligt, wohlweislich will sie das Feuer nicht schüren, das seit den beiden Landungsverboten über dem ganzen australasischen Archipel lodert. Nicht so klug sind Rae's Senatskollegen und Landsleute; sie verlangen eine Maßregelung, weil er sich in die Verhältnisse eines Nachbarstaates einmische, weil er seine Beurlaubung von den Senatssitzungen mit privaten Angelegenheiten begründet habe, und vor allem, weil er dieser staatsfeindlichen Antikriegsbewegung angehöre.

Unerkannt (vermummt?) hat ein Senator namens Payne dem Meeting in Melbourne Stadion beigewohnt, er tut sich auf diesen seinen Mut allerhand zugute, und gibt im Senat den Inhalt der schrecklichen Reden wieder; er schwört, der Kapitalismus sei dort als Ursache der Kriege bezeichnet, und diese und ähnliche lästerliche Behauptungen mit Beifall aufgenommen worden. Auf dem Titelblatt einer in der Versammlung verschleißten Broschüre vergieße ein Krokodil Tränen vor dem neuen Kriegerdenkmal. »Ich lenke die Aufmerksamkeit der hohen Regierung . . .«

Ach, die Aufmerksamkeit der hohen Regierung ist schon lange gelenkt. Sie hat am Tage nach der Verurteilung unseres Mannes die Stimmen aus dem Goebbelschen Blätterwald, die den sechs Monaten Zwangsarbeit begeistertes Lob 136 zwitscherten, an die australische Presse ausgegeben. Aber daß die Nazis befriedigt sind, befriedigt die demokratischen Australier keineswegs. Befriedigt hingegen ist unser Mann, weil er auf diesem Wege erfährt, wie schnell die gleichgeschaltete Presse Deutschlands die illegalen Antifaschisten davon unterrichtet hat, daß ihre Freunde den Kampf bis nach Australien tragen.

Im Bundesparlament bringt die Regierung einen Gesetzentwurf ein, der sie ermächtigen soll, jeden ihr mißliebigen Fremden auch ohne Sprachprüfung von Australien fernzuhalten. Die Labor Party opponiert, die Regierung erklärt, das Gesetz werde nicht rückwirkend auf die beiden Delegierten Anwendung finden, dennoch fällt der Entwurf.

*

Nach der Aufhebung des Polizeiurteils durch den Obersten Gerichtshof wird die Beeinflussung der öffentlichen Meinung gegen die Delegierten organisiert. Täglich veröffentlicht der »Sydney Morning Herald« spaltenlange pseudonyme Zuschriften, in denen Scotch-Gaelic geradezu zu einer Weltsprache gestempelt wird. Schotten, Hochländer, klingt es aus dem Mund der Masken, gerät euer Blut nicht in Wallung, wenn ein Fremder die Sprache eurer Heimat schmäht, und ihm von Australiens höchsten Richtern Recht gegeben wird?!

An jedem Neujahrstag versammelt sich die schottische Kolonie von Sydney auf dem Gelände der Landwirtschaftsmesse zu fröhlich-landsmannschaftlicher Tagung. Auch diesmal kommen sie heran, die Macphersons, die Macdouglas, die Macintoshs, die Macgregors, die Macdonalds und die 137 Macdarishes, in Röckchen und Käppchen und mit dem Dudelsack, aber statt zu tanzen und lustig zu sein, vernehmen sie Flüche gegen den Mann, der die Ursprache ihrer Urahnen nicht kennt, und dennoch freigesprochen wurde; ein Priester versteigt sich in seiner Predigt zu den wenig priesterlichen Worten: »Würde ein australischer Gerichtshof im schottischen Hochland behaupten, Schottisch-Gälisch sei nicht als lebende Sprache anzusehen, so würden diese Herren selbst nicht länger als lebend anzusehen sein. Denn man würde sie erschlagen.«

Nicht alle Schotten, scheint es, wollen an solchem Totschlag teilhaben; viele schreiben unserem Mann, daß sie sich als gute Schotten fühlen, auch wenn sie nicht gälisch verstehen. Einer, der es versteht, schickt zum Beweis, daß er es versteht, einen gälischen Brief an unseren Mann, die englische Übersetzung legt er bei. Er preist die gälische Sprache als markig und ausdrucksvoll, ihre Wiedererweckung wäre des Kampfes wert; beleidigt sei das Gälische nicht durch den, der es nicht kennen konnte, sondern durch jene, die es zu einer Falle mißbrauchten. Er habe dem »Sydney Morning Herald« den gleichen Brief geschrieben, aber da er nicht abgedruckt wurde, möge er wenigstens bei Gericht als Zeugnis eines treuen Kelten dienen.

Durch »inoffizielle Kanäle« erfahren die Freunde unseres Mannes, daß höchst offizielle Persönlichkeiten die Verfasser der pseudonymen Artikel im »Sydney Morning Herald« sind. Hinter dem Namen »Columbinus« verbirgt sich zum Beispiel Sir Mungo Mac Callum, Kanzler der Sydneyer Universität, Führer der Konservativen, ideologischer Ratgeber des Ministeriums. Er spricht sich für die 138 Verwendung der gälischen Sprache bei Intelligenzprüfungen aus, weil durch sie, »wenn auch auf vertrackte und winkelzügige Weise, ein unerwünschter Ausländer von Australien ferngehalten werden kann«. Mit herabgelassenem Visier berennt Ritter Mungo die Richter, die die ihm sympathische »vertrackte und winkelzügige Moral« als vertrackte und winkelzügige Unmoral verurteilt haben, und neigt am Schluß des Turniergangs mit einem ironisch-demütigen »Caesar super grammaticam« die Waffen vor dem Obersten Gericht, – dem Cäsar, dem er Unkenntnis der Grammatik vorwirft.

Ein einst fortschrittliches Wochenblatt, »The Bulletin«, wird durch sein Bedürfnis, der Kampagne eine neue Note beizugesellen, antisemitisch; um die jüdischen Abonnenten dennoch nicht vor den Kopf zu stoßen, erfindet es die Rasse der »Internationalen Juden«, deren vorläufig einziger Repräsentant – erraten! – unser Mann ist.

Das alles ist nur Vorspiel zur nächsten Komödie. Am 3. Januar erscheint ein Polizeibeamter im Büro der Anwältin Jollie-Smith, er hat unserem Mann, dessen Adresse die Polizei nicht kennt, eine Vorladung persönlich einzuhändigen. Unser Mann ist natürlich nicht anwesend, aber Frau Jollie-Smith ist anwesend, eben aus dem Hospital entlassen, und sie gibt dem Beamten den Bescheid, übermorgen um zehn Uhr vormittags wiederzukommen. Übermorgen, am 5. Januar, ein Detail, das sich als entscheidend herausstellen wird, nimmt unser Mann aus den Händen des Polizeibeamten die Vorladung entgegen.

Ein neuer Prozeß ist die Antwort auf das wiederholte Verlangen nach Rückgabe von Paß und Fahrkarte. 139

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