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Bäckermeister Mehrig junior hatte Wort gehalten. An der Spitze einer Abordnung, bestehend aus den Herren Schlossermeister Habicht, Kaufmann Schwenke und Schneidermeister Redlich hatte er der Baronin seinen Besuch gemacht. Die Dame empfing die ehrsamen Handwerker unter den schattigen Bäumen ihres Parkes, welcher am Strom liegt und auf den Landungsplatz hinausschaut, wo die behauenen Sandsteine aufgestapelt lagern, die mit den Zillen aus den Sandsteinbrüchen hereingebracht werden. Mehrig hatte zunächst ein Blumenbouquet überreicht und der Baronin eine lange Geschichte erzählt, aus der hervorgehen sollte, daß er allein der Schuldige sei. Denn da er, wenn auch nicht im selben Maße wie der verstorbene Baron, an einer übermäßigen Leibesstärke leide, so sei ja er eigentlich der wahre Gegenstand des Hohns und Gelächters gewesen; er habe auch die Hosen des Seligen angezogen und den ganzen Schabernack getrieben. Er wußte so glaubwürdig zu sprechen, Herrn Schwenke und die anderen 68 Klubmitglieder weiß zu brennen und die Aussagen der Köchin und Mariens in einzelnen Punkten als unzuverlässig hinzustellen, daß die Baronin versprach, sich die Sache zu überlegen. Schwenke, der Hauptschuldige, hörte blaß und mit schlecht verhehlter Beängstigung zu, wie der hochherzige, dicke junge Mann ihn und die Anderen aus der Verlegenheit zu ziehen suchte; als aber die Baronin erklärte, mit ihrem Rechtsanwalt über die Zurückziehung der Klage sprechen zu wollen, überreichte er mit süßem Lächeln seinen neuesten Preiskourant nebst Geschäftsempfehlung. Ganz vorsichtig und beiläufig ließ er einfließen, daß beim Bedarf von Kaffee, Thee, Zucker, Gewürzen und sonstigen Kolonialwaaren er es sich zur besonderen Ehre schätzen würde, der Frau Baronin einen erhöhten Rabatt zu gewähren, auch im Bedarfsfalle auf längere Zeit Kredit gewähre. Besonders könne er auch sein extra raffinirtes Petroleum und die echten Vollheringe empfehlen, desgleichen seine vielgesuchten Kakaosorten. Wenn also die Frau Baronin sein Geschäft etwa durch sich selbst oder durch ihre Köchin beehren wollten, so könnte sie koulantester Bedienung jeder Zeit versichert sein. Ermuthigt durch Schwenkes kühnes Vorangehen wickelte auch Herr Schlossermeister Habicht aus einer zerlederten Brieftasche seine Geschäftsempfehlung; Redlich aber, der nur Herrenschneider 70 war und deshalb eigentlich nicht gut auf Aufträge der Baronin rechnen konnte, holte nichtsdestoweniger mit einer eleganten Bewegung seine Visitenkarte aus der Brusttasche und meinte mit anmuthiger Verneigung: »Gestatten Frau Baronin, auch mein Geschäft in angenehme Erinnerung zu bringen, da ich ja die Ehre hatte, für den hochseligen Gemahl zu liefern. Sollten Sie wieder einmal in der Lage sein – denn man kann ja nicht wissen – für einen hochwohlgeborenen Herrn Gemahl – so würde jeder Zeit gleichfalls mit bedeutendem Rabatt in der Lage sein –«
Die Baronin antwortete nur mit einem stolzen Lächeln und Neigen des Kopfes und die Herren empfahlen sich. Was Herrn Mehrig anlangte, so war er zu stolz gewesen, gleichfalls sich zu einem Bestechungsversuch dieser Art herabzulassen. Er hatte die ganze Sache auf sich genommen und sich als Sündenbock hergegeben in einer Art von Verzweiflung an Leben und Glück. Daß durch seine Marie, die ihm wegen seiner Dickheit einen Korb gegeben, auch noch diese ganze Geschichte ausposaunt worden war, hatte eine Art von stumpfer Entsagung in ihm bewirkt, welche sich in einer höchst wehleidigen Neigung, sich selbst als einen verlorenen Posten anzusehen, äußerte. Ja er war nun ordentlich eifersüchtig darauf, daß kein Anderer als er, 71 in dieser und womöglich auch in jeder anderen Angelegenheit als schuldig galt; als am Sonntag der Herr Pastor in der Vorstadt-Kirche vom Lamm Gottes gesprochen hatte, das der Welt Sünden trägt, hatte Mehrig sogar heimlich zu schluchzen begonnen, als ob ihn der Bock stieße. Einen Augenblick hatte er daran gedacht, nach Karlsbad zu reisen, um dort eine Abmagerungskur zu brauchen; dann aber hatte der plötzliche, wilde Entschluß gesiegt, nicht die geringste Konzession zu machen, sondern eher in seinem eigenen Fette zu ersticken, ehe er dieser Marie zu Liebe etwas an sich thun werde. Seitdem beobachtete man, daß Mehrig noch einmal so viel aß, als früher, sehr viel trank und es geradezu darauf anzulegen schien, als ob er noch stärker und dicker werden wolle. Er fraß sozusagen seinen Kummer in gesteigerten Mittagsmahlzeiten in sich hinein.
Einige Tage nach dem Besuche bei der Baronin kam die erfreuliche Nachricht an den Klubvorstand, daß die Baronin sämmtliche Klagen gegen die Klubmitglieder zurückgezogen habe, ausgenommen die Klage gegen Herrn 72 Bäckermeister Mehrig. Daran war dieser junge Mann selbst schuld gewesen, denn er hatte es verstanden, allen Groll der Baronin auf sich abzulenken. Er hatte nämlich mit einem Tone des stillen Trotzes und, im Bewußtsein seiner Märtyrerschaft, sogar mit einer ganz eigenthümlichen stumpfsinnigen Genugthuung seine Darstellung der Hosengeschichte gegeben, und das hatte die Frau Baronin im Stillen nur noch mehr empört. Als nun die Anderen durch ihre Rabattvergünstigungen ihr Herz vollends gewonnen hatten, denn die Baronin war ziemlich geizig, trotzdem sie ein stattliches Schloß aus Sandstein ihr Erb und Eigen nannte, war all ihr Unmuth auf den einen Mann übergegangen. Sie hatte beschlossen, Gnade und Recht gleichzeitig zu üben; Gnade an den Uebrigen, Recht aber gegen den großen, dicken Menschen. Schon daß er so dick war, hatte ihr ein Vorurtheil gegen ihn eingegeben; es wirkte in ihrem Gemüthe wie eine höhnische Anspielung auf ihren Verstorbenen – kurz und gut, der Bäckermeister war ihr ein Dorn im Auge geworden, und um ähnliche Vorfälle zu verhüten, sollte an ihm das warnende Beispiel gegeben werden.
Mariechen Gottlieb hatte seither die Tage in wachsender Verzweiflung verbracht. Nicht nur, daß ihr alle Hoffnung auf Lebensglück genommen war, seit sie 73 sich an ihrem Freier bei der Hosenmaskerade »versehen« hatte, sie mußte auch die Stichelreden der Damen des Klubs anhören, die über nichts so sehr entrüstet waren, als daß Herr Schwenke im Laufe der Angelegenheit seinen Vorsitz hatte niederlegen müssen. Natürlich war auch daran nur diese Fleischerstochter Schuld, und Herr Schwenke war doch so ein liebenswürdiger, aufmerksamer und spaßhafter Vorstand gewesen, der alle älteren Damen stets von neuem mit seinen kleinen Gefälligkeiten beglückt hatte. Als Frau Kaufmann Schwenke bei Frau Fleischermeister Gottlieb einen Kaffeebesuch gemacht hatte und dabei ausführlich das Unglück ihres Mannes erzählte, der sich für den Klub aufgeopfert habe, bekam Mariechen von ihrer Mutter die heftigsten Vorwürfe zu hören, wurde als klatschhaft und verrätherisch ausgezankt und als störrisch und eigensinnig bezeichnet, weil sie die Hand des braven Herrn Mehrig so sinnlos von sich gewiesen habe.
Indessen Mariechen wurde nur störrischer dadurch und empfand in der Aussicht, daß der ganze Klub bestraft werden würde, sogar eine stille Genugthuung. Warum hatte man den Scherz auch getrieben, der ihre Liebe zu Mehrig zerstört und ihr das schrecklichste Gefühl der Vorahnung gebracht hatte. Sie fühlte weder mit Schwenke noch mit Mehrig, noch mit irgend Einem 74 das geringste Mitleid; im Gegentheil, wenn sie ein paar Hundert Mark Strafe zahlen sollten, so wäre es gerade recht. Erst als sie hörte, daß auch Gefängniß daraus werden könnte und dann Mehrig wohl auch sitzen müßte, wurde sie unruhig, bekam Angst und fing an zu verzagen. Einige Tage später war Frau Bäckermeister Mehrig bei ihrer Mutter zu Besuch und erzählte in Mariechens Gegenwart, wie sie so große Angst um ihren Sohn habe. Er äße so furchtbar viel; er müßte irgend einen Kummer haben; er hätte gesagt, um ihn wäre es doch nicht schade, wenn er sich zu Tode äße. Mehrig hatte seinen Eltern nichts von dem Korb erzählt, den ihm die Jungfer Marie ertheilt hatte. So schwatzte die besorgte, ahnungslose Mutter in deren Gegenwart darauf los, wenn ihr Sohn so fort äße, würde ihn der Schlag rühren oder er würde noch ganz dumm werden, und was solle dann aus dem Geschäft werden, wenn der einzige Sohn durch Einbuße seiner Verstandeskraft sich und Andere schädige? Und nun habe dieser unglückliche Sohn auch noch in seiner Dummheit die ganze Schuld in der Sache des Barons Werdau auf sich geladen; kein Einziger würde bestraft werden, nur er allein habe die ganze Verantwortung auf sich genommen und so werde er natürlich auch um so härter bestraft werden. Gefängniß stehe sogar nach dem Reichsstrafgesetz darauf, und wie sie als 75 Mutter es überleben sollte, daß ihr einziger Sohn wegen so einer Sache noch im Gefängniß sitzen müßte, das wisse sie nicht. Ganz gewiß würde er aus Kummer darüber nur noch mehr essen, er habe schon so eine Andeutung gemacht, daß er dadurch hoffe, einen Schlag zu bekommen, um so seine eigene Schande und die Schande der Familie nicht zu überleben.
Diese Worte hörte Mariechen an, während die Damen auf dem Sopha am Kaffeetische saßen und sie hinter Blumenstöcken neben dem Fenster damit beschäftigt war, einen Strumpf zu stricken. Die Damen schauten verwundert auf, als plötzlich die Stricknadeln klirrten, der angefangene Strumpf in eine Ecke flog und Mariechen, die Schürze vors Angesicht geschlagen, wie von einer Uebelkeit erfaßt, zum Zimmer hinauslief. Sie setzte sich in den Hof auf eine Bank und sah nicht einmal das Schwein, welches ihr Vater eben mit den Knechten unter gräßlichem Geschrei an den Ohren und Beinen in den Hof zerrte, um es abzustechen. Als aber das Blut in einem langen Strahl aus dem Leibe des Schweines in das Faß schoß, da stürzten auch Mariens Thränen unaufhaltsam hervor.
In der Nacht nach diesem für Mariechen so schrecklichen Tage konnte man leise die Thür ihres väterlichen Hauses knarren hören und eine in einen Mantel 76 gehüllte weibliche Gestalt rasch aus derselben herausschlüpfen sehen. Mit eiligen Schritten, ohne sich umzublicken, eilte Marie die Straße hinab, zagend vor dem Schall ihrer eigenen Tritte und doch unwiderstehlich vorwärts getrieben. Der Mond kam gerade über den schwarzen Dächern und Kaminrändern empor und schien langsam die eilende Frauengestalt zu verfolgen, wie ein dicker Liebhaber, dessen Antlitz behaglich glänzt und der langsam watschelnd eine scheue Schöne überholen will, um ihr ins Angesicht zu sehen. Mariechen mußte um mehrere Straßenecken biegen; endlich hielt sie vor einem Hause mit einem geschlossenen Laden, über dessen Fenstern man im ungewissen Mondlicht so etwas wie »Bäckerei von G. Mehrig« las. Aus den Fenstern des unterirdischen Kellergeschosses schien ein matter Lichtschein heraus und erleuchtete ein wenig den Rand der Granitplatten des Straßenfußsteiges.
Hier blieb Marie mit leise ineinander gerungenen Händen stehen, wickelte sich fester in ihren Mantel und Kopftuch und versuchte in das Kellergeschoß hinabzusehen. Richtig, da unten stand er, beleuchtet von der Gasflamme, die über ihm brannte. Er war in Hemdärmeln und eben damit beschäftigt, auf dem blankgescheuerten Backtische einen Teich einzurühren und mit den Händen durchzuwalken. Sie sah, wie er die 78 Hand mit ausgespreizten fünf Fingern aus der Schüssel aufzog und wie daran in langen Strähnen der Teig hängen blieb und niedertroff; sie sah, wie er mit der anderen Hand zwischen den Fingern das Anklebende losmachte und mit einer klatschenden Bewegung der Hand wieder in die Schüssel zu dem übrigen Teig schnellte. Er hatte die Aermel bis zu den Schultern aufgestreift, hatte eine weiße Leinwandmütze und die weiße Bäckerschürze an, und Gesicht und Arme waren von Mehlstaub äußerst weiß und reinlich gepudert. Und wie sie ihn nun in dieser mehligen Weiße, dieser ängstlichen Sauberkeit und Reinlichkeit sah, während er mit einem wehmüthigen Ausdrucke den Teig durchknetete und mit keinem der Gesellen sprach, die neben ihm standen und die Feuerung besorgten, als sie ihn in dieser engelhaften Weise so recht lauge ansah, da fiel ihr auch ganz das Bewußtsein seiner Großmuth 79 auf das Herz, welche er bewiesen hatte in jener ganzen Angelegenheit. Und nun schien er gar unglücklich, unglücklich, weil sie ihn zurückgewiesen hatte, sie, durch deren Schuld er womöglich noch ins Gefängniß kommen konnte.
Sie lehnte, die Augen unter den Händen verborgen, ihr Köpfchen an die kalte Mauer des Hauses und begann wieder leise zu weinen. Ach, warum er nur so dick war, warum er sie nur an den seligen Baron hatte erinnern müssen, so daß die Furcht in ihr entstand, er möchte auch so stark wie jener werden, was ihr entsetzlich gewesen wäre! Wie hübsch er doch aussah in seiner weißen Bäckerschürze mit den mehlbestäubten Armen; er kam ihr in dieser Gasbeleuchtung gar nicht so schrecklich mehr vor. Ach, wenn er doch eine Kur gebrauchen wollte, eine Kur würde Alles wieder gut machen, wenn er nach Karlsbad ginge und ihr diesen einzigen Gefallen thun wollte, so wollte sie Alles vergessen und mit ihm sein Gefängniß theilen. Denn das hatte sie sich gesagt, in dem Augenblicke, wo sie erfuhr, daß er sich zum Märtyrer für die Anderen gemacht habe, dürfe sie ihn nicht verlassen und müsse nunmehr treu zu ihm stehen, auch wenn ihr vor ihm ekelte. Aber das war nun das Allerschrecklichste in ihrer Lage! Sie durfte ihn nicht verlassen, sie fühlte die Pflicht, ihn aus seinem Kummer 80 zu erlösen und womöglich ihn zu heirathen, aber ohne Liebe. Sie würde ihn ohne Liebe, kaltherzig vom Flecke weg heirathen. Und sie war Nachts von Hause fortgeschlichen um ihm zu sagen, daß sie ihn heirathen wolle, und das geschah nun ohne Liebe, rein aus sittlicher Ueberzeugung und Reue, ohne jede Liebe! Das war wohl, um ein Herz zu brechen. Wenn er nur eine Kur gebrauchen wollte! Darin würde gewiß ihre Rettung liegen und sie die Furcht vor dem Schicksale des Barons verlieren. Und wenn er sie nicht anwendete, so würde sie ihn ohne Liebe heirathen und am Hochzeitstage ins Wasser gehen.
Sie schielte wieder durch das vergitterte Fenster in den Backkeller und sah wie er eben anfing, aus dem Teig kleine Klöße und aus diesem runde Brote zu formen, die er mit zwei Kerben auf der Oberfläche versah. Dreierbrötchen waren's, richtige Dreierbrötchen, wie man sie zum Frühstück ißt, Dreierbrötchen, welche sie von klein auf gegessen hatte, die ihr Leibgericht waren, besonders, wenn sie dieselben mit Gänsefett bestreichen konnte. Und wie sie so hinunterblickte, fiel ihr auf einmal ein, daß sie zu Hause ihre Dreierbrötchen auch von Mehrigs bezögen und daß sie in Folge dessen ja schon seit Jahren die Dreierbrötchen gegessen hatte, welche dieser dicke junge Mann mit seinen eigenen Fingern 81 geknetet hatte. Dieser Gedanke kam zuerst wie ein Schreck über sie, aber es war ein seliger Schreck, ein süßer Schreck, eine plötzliche Empfindung, die sie mit einem ungeheuren Wonnegefühl erfaßte. Seit Jahren hatte sie mit besonderem Genuß das Alles gegessen, was diese runde, dicke Hand da unten eingerührt, geknetet, geformt und gebacken, sie hatte es gethan, ohne zu ahnen, wer es gethan und gewiß war auch manch ein Tröpflein Schweiß von ihm mit in den Teig gefallen. Da sie nun trotzdem mit dem größten Appetit ihre Dreierbrötchen verspeist, so kam sie sich auf einmal selber ganz unverständlich und albern vor, wie sie nur einen Augenblick sich über seine Stärke hatte entsetzen können. Wie sauber und appetitlich er aussehen konnte, das sah sie jetzt auf einmal vor Augen, sie hätte Lust gehabt, am liebsten sich selbst zu ohrfeigen, daß sie ihn auch nur einen Augenblick in Kümmerniß versetzt hatte.
Und mit einem wundersam seligen Gefühle merkte sie, wie auf einmal die schlimme Abneigung, welche die Komödie beim Stiftungsfeste in ihr erzeugt hatte, aus ihrer Seele wich und der Mann da unten ihr so liebenswürdig, heirathsfähig und angenehm erschien wie irgend einer seiner schlankeren Mitmenschen. Daß er außerdem aber auch noch ein Herz voll Großmuth bewiesen hatte, das nahm sie nur vollends für ihn ein.
82 Indessen, die Kur sollte er doch brauchen. Es konnte auf alle Fälle nichts schaden, wenn der Bräutigam ein wenig schlanker erschien. Aengstlich wartete sie lange auf einen Augenblick, bis er einmal allein im Zimmer wäre. Endlich verließen die zwei Gesellen dasselbe und Mehrig war eben dabei den letzten Teigrest zusammenzustreichen und ein kleineres Brötchen daraus zu formen, als sie halb gebückt und leise mit dem Finger an das Fenster klopfte. Anfangs hörte er nichts; sie mußte wiederholt klopfen, endlich sah er sich um und als sie leise rief: »Herr Mehrig«, trat er rasch ans Fenster unten und öffnete.
»Wer da?« rief er barsch hinaus, denn er konnte sie nicht in der Dunkelheit erkennen.
Mariechen erschrak zu Tode von dieser Frage, denn jetzt erst fiel ihr ein, welch einen Schritt sie in ihrer Verzweiflung unternommen hatte. Sie antwortete nicht. Endlich schlug er rasch das Fenster wieder zu, weil er glaubte, Vorübergehende hätten sich einen Scherz erlaubt. Da klopfte sie behutsam noch einmal und als er unwillig, wie um die Störenfriede noch zu erwischen, es rasch wieder aufriß, flüsterte sie schnell und ängstlich:
»Ich bin's ja, Herr Mehrig.«
»Wer?«
»Nun ich, das Mariechen Gottlieb.«
83 Er starrte ins Dunkel hinaus, um die Umrisse ihrer Gestalt zu erkennen, die er nun endlich undeutlich sah. Aber es war nur ein bestürzter, kein freudiger Ausdruck in seinem Gesicht.
»Aber Fräulein, so bei Nacht. Was ist denn geschehen?«
»Ach, Herr Mehrig,« flüsterte sie schnell, »ich wollte Ihnen ja nur sagen, wie mich das reut, daß ich so unvorsichtig ausgeplaudert habe. Aber es war nicht die geringste böse Absicht dabei. Die Köchin, die war ja an Allem Schuld. Ich wollte Sie nur um Verzeihung bitten, wenn Sie etwa ins Gefängniß – ach Gott, der Jammer – ich habe es ja schon tausendmal bereut –«
»Ja, was hilft mir das jetzt,« sagte Mehrig mit einem Seufzer. »Mit uns ist's ja doch aus.« Er hatte sich so in seinen Schmerz hineingewöhnt, daß es ihm unangenehm war, wenn er jetzt durch den kleinen Lichtblick des Glückes, der da aufzudämmern schien, wieder sich hätte herausgewöhnen müssen. »Was hilft das mir jetzt!«
»Ach,« sagte Mariechen, um ihm die Wandlung ihrer Gefühle verständlich zu machen, »wenn Sie wüßten, wie ich mich morgen früh auf mein Dreierbrötchen freue!«
Er stutzte; er wußte nicht, was das bedeuten sollte. Was, bei Nacht und Nebel hierher zu schleichen, 84 um ihm zu sagen, daß man Dreierbrötchen gern ist? Das sah doch ziemlich wie Hohn aus. Er sagte ernst:
»Fräulein Marie, ich verstehe Sie nicht recht –«
Mariechen fieberte vor Ungeduld, sich ihm verständlich zu machen, mochte es ihm aber doch auch nicht geradezu sagen, daß sie ihn wieder liebe wie ehedem und nichts mehr dagegen habe, seine Frau zu werden. Endlich sagte sie rasch und neckisch:
»Na, Herr Mehrig, wie wär's mit einer Karlsbader Kur? Ach, thun Sie mir nur den kleinen Gefallen, dann wird auch sicher nicht mehr der Schatten des Baron Werdau zwischen unserer Liebe stehn.« Sie hatte diese Worte noch nicht zu Ende geredet, als mit einem hörbaren Knall das Fenster vor ihr zuflog und Mehrig mit einem nicht verständlichen Ausrufe in seinen Keller wieder hineinging. Dieser Hohn setzte Allem die Krone auf. Er würdigte sie keines Blickes mehr. Verdutzt, verschüchtert und aus all ihren Hoffnungen gerissen aber stand Mariechen vor dem Fenster und fürchtete, vor Scham in den Boden versinken zu müssen, daß ihre Annäherungsversuche auf so rauhe Weise zurückgewiesen wurden. Plötzlich, in einer Aufwallung ihres Zorns und ihrer Enttäuschung, stieß sie mit ihrem kleinen Fuße wild gegen die Fensterscheibe, welche klirrend erklang, denn ein großer Sprung zog sich mitten durch das Glas; 85 sie kehrte sich darauf um und eilte athemlos nach Hause zurück, einzig bedauernd, daß in ihrem Fuße nicht Kraft genug gewesen war, die Fensterscheibe vollständig zu zerschlagen. Sie schlich in ihr Kämmerchen, zog sich aus und legte sich, ohne eine Thräne zu weinen, zu Bett, schlief recht zum Trotz und um sich selbst vorzumachen, daß die Sache sie nicht im mindesten schmerze, sofort ein. Als sie aber am anderen Morgen beim Frühstück saß und die ersten Bisse in ihr Dreierbrötchen gethan hatte, da fing sie auf einmal ein jammervolles Weinen an und sie aß und aß unter Thränen weiter und schmierte sich darauf, ganz gegen ihre Gewohnheit, noch ein zweites Brötchen, das sie mit einem so wehmüthig-verliebten und bekümmerten Ausdruck in ihr Hälschen hineinschlang, als fräße sie ihren Allerliebsten selber vor Leidenschaft und Liebe auf. Die Mutter 86 schüttelte den Kopf und macht sich Sorgen um all das Unverständliche, was mit ihrem Töchterchen vorging.
Marie beachtete übrigens in der nächsten Zeit Herrn Mehrig nicht im geringsten mehr. Er schien sie gleichfalls zu übersehen, wo man sich zufällig in öffentlichen Einkehrshäusern und Biergärten traf. Abends aber, wenn er in seine Bäckerstube stieg, da starrte er wohl lange Zeit auf den Sprung in der Fensterscheibe, der ihm wie ein Riß durch das eigene Herz hindurch ging. Und dann dachte er wohl auch mit Schmerz und Jammer an ein kleines Füßchen, welches er blitzschnell hinter jener Fensterscheibe hatte unter einem Rocksaume vorstoßen sehen; ach, wenn es sein eigenes Herz, statt der Fensterscheibe zertreten hätte, er meinte, ihm wäre wohler gewesen.
So kam der Tag näher und näher heran, zu welchem der Gerichtshof die öffentliche Verhandlung in der Beleidigungssache gegen den Bäckermeister Mehrig junior festgesetzt hatte. Unter den Damen des Klubs herrschte die größte Aufregung; sie machten sich reihum Besuche wie aufgescheuchte Tauben, die sich von einem Dachfirst zum Anderen schwingen und einen Augenblick nebeneinander setzen, worauf man weiter fliegt und sich gegenseitig wie auf der Wache ablöst. Und überall war das Tagesgespräch die Aufopferung des braven Bäckers und 87 die Verrätherei der geschwätzigen Fleischermarie. Man rieth Herrn Mehrig, doch auch einen Versuch zu machen bei der Baronin, ob er durch Anbieten einer Entschädigung oder eines großen Rabattes auf Kuchen und Backwaaren nicht eine Zurücknahme der Klage erreichen könnte. Er aber blieb stolz und wollte den ganzen Kelch des Unglückes ausleeren; es war unter seiner Würde, der Baronin auch nur das geringste Zugeständniß zu machen.
Unterdessen war Mariens Angst auf die höchste Spitze gestiegen. Sie hatte eine gerichtliche Zeugenvorladung auf den angesetzten Termin erhalten und der Gedanke, als Zeugin gegen Mehrig auftreten zu müssen, erfüllte sie mit einer ganz rasenden Furcht. Solchen Jammer hatte noch nie ein Paar erlebt, das füreinander bestimmt schien und einzig wegen der Hose eines Verstorbenen nicht zueinander kommen konnte. Lieber ins Wasser gehen, als gegen Mehrig zeugen! Der Letztere war ganz verdüstert durch den Umstand, daß die eigene stille Geliebte, die ihn so grausam verhöhnt, auch noch als Zeugin gegen ihn auftreten sollte. Indessen, er hatte entsagt, mochte daraus werden, was wollte, er that keinen Schritt zur Versöhnung.
Unter solchen Umständen faßte Mariechen einen verzweifelten Entschluß. Ehe sie ins Wasser ging – 88 der Strom hatte gerade Hochwasser, welches bis an die Parkmauer des Werdauschen Schlosses stand und zum Hinterpförtchen bis in die Anlagen hineinfloß – wollte sie noch einen letzten Versuch zur Rettung machen.
Zwei Tage vor dem Termin klingelte es eines Nachmittags bei Herrn Schneidermeister Redlich. Frau Redlich öffnete und war erstaunt, das Mariechen Gottlieb vor der Thüre zu sehen. Sie nöthigte das Mädchen herein, aber Mariechen wollte um keinen Preis eintreten, sie habe schnell etwas von ihr zu erbitten und das sei gleich geschehen.
»Na, was denn, Fräulein Mariechen,« fragte Frau Redlich.
»Die Hosen! Haben Sie noch die Hosen des Baron Werdau?«
»Ja, aber wozu denn, mein Kind.«
»Ach, ich bitte Sie auf meinen Knieen, geben Sie mir sie heraus,« flehte Marie dringender. »Ich weiß ja selber nicht, warum ich sie will, aber ich muß sie haben, sonst giebt es ein Unglück.«
Frau Redlich sah mit beklommenem Erstaunen das verstörte Gesichtchen Mariens und meinte daher, von einer Ahnung erfüllt:
»Na, wenn's so dringend ist, können Sie sie haben. Gleich, Mariechen, gleich.« Sie nöthigte wiederholt zum 89 Eintreten, aber das Mädchen war nicht dazu zu bewegen. Nach einer Weile brachte Frau Redlich, in einem Tuch eingeschlagen, die zusammengelegten Hosen heraus und übergab das Päckchen an das Mädchen. Sie hörte nur 90 noch ein flüchtiges Dankwort und schon war Mariechen mit dem Packet die Treppe hinunter gesprungen und auf der Straße. »Guter Gott! was man auch Alles erlebt!« sagte Frau Redlich, indem sie andächtig die Hände faltete und dann noch eine lange Weile mit ihrer Nachbarin zusammenstand, welche leise die Thüre geöffnet hatte und nun mit den Worten hinter derselben vorkam: »Nun sagen Sie nur einmal, Frau Redlich –«
Unterdessen eilte Marie nach dem Hause der Baronin, erfuhr, daß sie zu Hause war und ließ sich gleich darauf durch die Köchin anmelden.
Die Baronin war gerade damit beschäftigt, alte Briefschaften ihres verstorbenen Gemahls zu ordnen und durchzusehen und ihre Gedanken waren daher ganz in der Erinnerung an ihn versunken, als Marie eintrat. Das Mädchen blieb ängstlich in der Thür stehen und sagte kein Wort, bis die Baronin gnädig fragte:
»Reden Sie, mein Kind, was ist Ihnen gefällig?«
»Ach,« sagte Mariechen, »es ist gewissermaßen eine gemeinsame Angelegenheit, in der Frau Baronin ja auch Leidensgenossin gewesen sind. Herr Baron waren ja auch etwas korpulent und weil der Meinige oder mein Zukünftiger – so dachte ich – Frau Baronin würden gewissermaßen ein Einsehen oder Mitleid mit meiner Noth haben –«
91 Die Baronin machte ein fatales Gesicht. »Lassen Sie meinen Gemahl, bitte, ganz aus dem Spiele; was steht zu Diensten?«
Mariechen that einen verlegenen Knix und sagte: »Ach, ich wollte Sie nur ganz ergebenst gebeten haben, Frau Baronin, die Klage gegen den Herrn Bäckermeister Mehrig zurückzunehmen. Es würde mir der größte Gefallen sein.«
»Ihnen? Ja, aber ich denke, Sie wollen selber als Zeugin gegen ihn auftreten? Sie sind ja durch meinen Rechtsanwalt vorgeladen!« entgegnete die Baronin betroffen.
»Ach, nein, Frau Baronin. Das wird nicht geschehen. Mein ganzes Lebensglück steht auf dem Spiele! Wenn ich gegen ihn zeugen muß, so ist Alles aus! Er hat es nun schon so schrecklich übel genommen, daß ich ihm eine Karlsbader Kur anrieth; ach, gewiß wäre der selige Herr Baron auch nicht so stark geworden, wenn er diese Kur öfters gebraucht hätte. Er hat gewiß auch zuviel gegessen. Und nun sitzt er da und will sich vor Kummer auch noch einen Schlag an den Hals essen und es ist ganz unmöglich, daß wir jemals zusammenkommen, so lange der Schatten des seligen Barons zwischen uns steht und ich Angst haben muß, daß es mir so gehen muß wie Ihnen, Frau Baronin, was doch 92 schrecklich wäre, wenn der eigene Mann ein solches Leiden hat. Ach, ziehen Sie die Klage zurück, Frau Baronin, thun Sie mir die Liebe!«
Die Baronin sah das Mädchen ganz erstarrt an. Was? Der Schatten ihres Mannes? Wie sollte denn der Schatten ihres Mannes zwischen den Beiden stehn? Sollte das ein neuer Hohn, neue Beleidigung sein?
»Bedaure,« sagte sie hart. »Die Klage muß ihren Fortgang nehmen. Hätten Sie nicht geplaudert, Fräulein Marie, so könnte ich ein Auge zudrücken. Durch Sie aber ist die Sache an die Oeffentlichkeit gedrungen und dieser Oeffentlichkeit bin ich es schuldig, das Andenken meines Mannes vor Beschimpfungen sicher zu stellen. Herr Bäckermeister Mehrig hat sich in einer Weise benommen –«
»Sie wollen nicht?!« rief Mariechen ganz außer sich.
»Nein, mein Kind, die Sache muß ihren Fortgang nehmen.«
»Nun, dann, dann will ich Ihnen nur einmal zeigen, um was Sie eigentlich diesen ganzen Prozeß führen,« fuhr Mariechen mit wilder Entschlossenheit heraus. »Hier, hier ist diese fürchterliche, diese ungeheuerliche Hose, eine Dreimännerhose, Frau Baronin; sehen Sie sich sie an, Frau Baronin, das ist sie, und so wahr ich hier stehe, wenn Sie die Klage nicht zurückziehen, 93 so nehme ich die Hose mit auf die Zeugenbank und zeige sie dem hohen Gerichtshof und allen Zuschauern, so wie ich sie Ihnen jetzt zeige, denn das ist mein Recht als Zeugin!«
Und bei diesen leidenschaftlich hervorgestoßenen Worten faltete sie die Hose aus dem Packet, ließ die Beinlängen niederfallen, faßte die Hose mit beiden Händen am Bunde an und zog sie in ihrer ganzen Weite auseinander. Hierauf schüttelte sie sie wild in der Hand, als wäre es ein Medusenhaupt, das sie der erstarrten Baronin entgegenhielt.
Entsetzt blickte die Baronin auf die Hose und auf das Mädchen. Endlich flüsterte sie mehr, als sie sprach:
»Das werden Sie nicht thun, Mariechen.«
»Das werde ich thun, Frau Baronin, so wahr ich hier stehe. Vor dem ganzen hohen Gerichtshof werde 94 ich die Hose auspacken und der Herr Gerichtshof wird entscheiden, ob darin eine strafbare Handlung liegt, wenn man über eine solche Hose lacht. Ich, Frau Baronin, ich habe nicht gelacht, mich kostet sie schon tausend Thränen, denn ich habe den Herrn Baron oft darin gehen sehen. Aber er ist fort, er liegt im Grab, er ist nicht mehr da; nur die Hose ist als Erinnerung an ihn übrig geblieben und wenn ich denke, daß mein Zukünftiger so stark werden sollte – ach, Frau Baronin – fühlen Sie mein Unglück – retten Sie mich –«
»Geben Sie mir die Hose, mein Kind, ich will sehen.«
»Nein, Frau Baronin, nicht ehe Sie die Klage zurückgezogen haben. Denn, beim heiligen Gott, ich nehme sie mit ins Gericht und lege sie als den Beweis für meine Aussagen vor, und wenn dann erst die Zeitungen darüber schreiben – dann wollen wir sehen, wer gewonnen hat –«
Sie schluchzte und ließ sich doch durch kein Zureden, keine List bewegen, die Hose aus der Hand zu geben. Eine Weile sah die Baronin ganz starr auf die Beinkleider hin, allmählich aber sagte sie sich, daß es nichts helfe, sie werde die Waffen strecken müssen. Auf einmal mußte sie ganz unvermuthet herauslachen, indem sie die Hose näher ansah und sich die Situation 95 vergegenwärtigte, die vor Gericht entstehen konnte. Und als Mariechen die Baronin lachen sah, da lachte sie unter ihren Thränen ins Schluchzen hinein. Wie nun aber die Baronin das Mädchen lachen hörte, faßte auf einmal sie selbst der innere Jammer, sie hielt ihr Taschentuch vor die Augen, lachte und weinte und schluchzte darauf los, daß es einen Stein erbarmen konnte.
Also saßen die beiden Frauen eine lange Weile nebeneinander, weinten und schluchzten und lachten dazwischen, während auf Mariens Schooß die leere Hose lag wie ein Häuflein Unglück, ein jammerwürdiges Bild dessen, was aus dem Menschen, dem Ebenbilde der schöpferischen Macht, werden kann und was von ihm nach dem Tode übrig bleibt.
Als die Frauen sich beruhigt hatten, reichte die Baronin dem Mädchen die Hand und sagte: »Die Klage wird zurückgezogen, Mariechen. Nehmen Sie die Hosen mit, ich schenke sie Ihnen, vielleicht kann Herr Mehrig sie tragen eines Tages.«
»Danke, Frau Baronin,« entgegnete Mariechen, »aber ich werde mir erlauben, so wie wir die Nachricht von der Zurückziehung haben, Ihnen dieses Andenken zurückzugeben. Bei Ihnen sind sie doch am besten aufgehoben.«
Sie knixte, und es geschah, nachdem sie die Hose 96 sorgfältig wieder eingepackt hatte, daß die Frauen beim Abschied begannen, sich gegenseitig die Wangen zu streicheln, worauf ein schwesterlicher Kuß das wechselseitige Mitempfinden eines gleichen oder doch verwandten Schicksals herzlich besiegelte. –
Die Klage ist längst zurückgezogen, die Versöhnung zwischen Mehrig und Marie geschehen, die Hosen sind zurückgeschickt, die Baronin hat in einer neuen Ehe den Namen Werdau mit einem Anderen vertauscht, Herr Schwenke ist längst wieder Vorstand des Klubs und noch eben so witzig, Mariechen Gottlieb führt längst den Namen Marie Mehrig und steht im Bäckerladen ihres Gemahls. Statt der Lendenstücke und Würste verkauft sie jetzt Streußelkuchen, Quarkkuchen, Pflaumenkuchen, und ganz besonders hält sie als junge Meisterin darauf, daß die Dreierbrötchen nicht zu klein und recht reichlich im Gewicht ausfallen, denn sie hat ihre besonderen Gedanken dabei.
Eben hört sie aus der Wohnstube neben dem Laden ihren Namen rufen. »Marie!« Es ist die Stimme des Herrn Gemahls. Da Niemand im Laden ist, so sieht sie durch das Fenster der Glasthüre ins Zimmer hinein, um zu erfahren, was es giebt. Sie blickt hinein und muß ganz selig und glücklich auflachen. Denn dort sitzt Mehrig junior, stark, aber nicht mehr dick, gesund 97 und groß und gar nicht aufgeschwemmt, denn er ist nicht nur in Karlsbad gewesen, sondern die gute Pflege seiner Frau hat ihm auch sonst gute Verhältnisse verschafft. Vor ihm auf der Erde aber steht ein kleiner, dicker, pausbäckiger Junge im Hemdchen da und der Vater hat ein paar kleine Höschen in der Hand. Der Vater hält die Höschen auf, und das Knäbchen soll in die kleinen Hosen hineinsteigen, was es auch mit großem Ernste und sichtbarem Stolze thut. Und nachdem er hineingestiegen ist, knöpft der Vater ihm die Knöpfe zu und 98 stopft ihm hinten das Hemdchen hinein. »Marie! sieh nur!« ruft der glückliche Vater wieder, während der kleine Mann stolz im Zimmer hin und her stampft. Da reißt Marie die Thür auf, läuft ins Zimmer, faßt den Buben und küßt ihn herzhaft, indem sie zu ihm sagt: »Ach, die schönen Höschen! Jetzt ist das Kindchen ja ein kleiner Mann! Ach, so ein Kind hat man ja noch gar nicht gesehen!
»Mariechen,« sagt Mehrig, indem er den Arm um sie legt, »Mariechen, findest Du nicht –«
»Na, was denn?!«
»Daß ich damals auch so schön ausgesehen habe? Du weißt schon! Man glaubt gar nicht, wieviel Glück und Unglück in so ein paar Hosen liegen kann! Aber so seid Ihr Frauen! Wer kann Euch berechnen?«