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Achtes Kapitel.

Torpenhow beschäftigte sich damit, die letzten Blätter eines Manuskripts zu paginiren, während Nilghai, der gekommen war, um Schach zu spielen, und blieb, um über Taktik zu sprechen, den ersten Teil desselben durchlas und ihn inzwischen zornig kommentirte.

»Es ist pittoresk genug und auch skizzenhaft,« sagte er, »aber als eine ernsthafte Betrachtung der Verhältnisse im östlichen Europa ist es nicht viel wert.«

»Jedenfalls ist es von meiner Hand ... Siebenunddreißig, achtunddreißig, neununddreißig Blätter zusammen; sind es nicht so viel? Das wird zwischen elf bis zwölf Seiten wertvoller falscher Berichte geben. Hallo!« Torpenhow schob die Schreiberei zusammen und summte:

»Hab' Lämmlein feil, hab' Lämmlein feil,
Wär' Geld und Gut mein Erb' und Teil,
Ich riefe nimmer: Hab' Lämmlein feil!«

Dick trat selbstbewußt und ein wenig mißtrauisch ins Zimmer, aber in der besten Laune von der Welt. »Endlich zurück?« fragte Torpenhow.

»Mehr oder weniger. Was haben Sie gethan?«

»Gearbeitet. Dick, Sie führen sich auf, als ob die Bank von England hinter Ihnen stände. Sonntag, Montag, Dienstag sind Sie ausgegangen und haben nicht einen Strich gemacht. Es ist skandalös!«

»Die Einfälle, die Ideen kommen und gehen, – sie kommen und gehen wie unser Tabak,« antwortete er, seine Pfeife stopfend. »Außerdem,« er hielt an, um einen Span in den Rost zu stecken, »streicht Apollo nicht immer seine – O, hol der Henker Ihre plumpen Spässe, Nilghai!«

»Dies ist nicht der Ort, um über die Theorie direkter Inspiration zu predigen,« sagte Nilghai, Torpenhows großen Blasebalg, der an einem Nagel an der Wand hing, nehmend. »Wir glauben an Schusterpech. Da! – wo wollen Sie sich hinsetzen?«

»Wenn Sie nicht so groß und fett wären,« erwiderte Dick, sich nach einer Waffe umschauend, »so würde ich ...«

»Keine halsbrecherischen Kunststücke in meinen Zimmern! Ihr beide habt jüngst mein halbes Meublement zerbrochen, als ihr euch mit Kissen warft. Sie könnten wohl so viel Anstand haben, zu Binkie: ›Wie befinden Sie sich?‹ zu sagen. Sehen Sie ihn nur an!«

Binkie war vom Sofa heruntergesprungen und schmeichelte sich an Dicks Kniee an, während er dessen Stiefel kratzte.

»Lieber kleiner Kerl,« sagte Dickie, ihn aufhebend und auf den schwarzen Fleck über dem rechten Auge küssend. »That dir der Onkel etwas, Binks? Hat dich der abscheuliche Nilghai vom Sofa gedrängt? Beiß ihn, Mr. Binkie!« Er warf ihn Nilghai auf den Magen, da der große Mann bequem ausgestreckt lag und Binkie sich anstellte, als ob er Nilghai Zoll für Zoll zerreißen wollte, bis ein Sofakissen ihn niederhielt, und ihn veranlaßte, keuchend seine Zunge gegen die Gesellschaft auszustrecken.

»Der kleine Binkie unternahm heute morgen einen Spaziergang, bevor Sie aufgestanden waren, Torp. Ich sah ihn, wie er sich beim Metzger an der Ecke liebenswürdig machte, als die Fensterläden abgenommen wurden – gerade als ob er in seinem eigenen Hause nicht genug zu fressen bekäme,« sagte Dick.

»Binks, ist das ein wahrhafter Bericht?« fragte Torpenhow streng. Der kleine Hund zog sich unter das Sofakissen zurück und zeigte durch sein feistes weißes Hinterteil, daß ihn die weitere Unterhaltung in der That nicht interessirte.

»Da fällt mir ein, daß heute früh noch ein anderer tadelnswerter Hund ausging, um sich herumzutreiben,« sagte Nilghai. »Weshalb sind Sie so zeitig auf den Beinen gewesen? Torp erzählte mir, Sie hätten vielleicht ein Pferd kaufen wollen?«

»Er weiß doch, daß für ein so ernstes Geschäft drei von uns erforderlich wären. Nein, ich fühlte mich einsam und unglücklich, deshalb ging ich fort, um das Meer zu sehen und die hübschen absegelnden Schiffe zu beobachten.«

»Wohin gingen Sie?«

»Irgendwohin an den Kanal; Proply oder Snigly oder sonst eine Pferdeschwemme war der Name; ich habe ihn vergessen, aber es war nur eine Fahrt von zwei Stunden von London und viele Schiffe kamen und gingen.«

»Sahen Sie ein bekanntes Fahrzeug?«

»Nur den ›Barralong‹, der auswärts nach Australien ging, und ein Getreideschiff aus Odessa, tief geladen. Es war ein nebeliger Tag, doch die See roch gut.«

»Weshalb zieht man denn seine besten Hosen an, um den Barralong zu sehen?« bemerkte Torpenhow spitzig.

»Weil ich keine anderen habe außer meinen Mallumpen. Dann wollte ich auch der See Ehre erweisen!«

»Machte die See Sie wieder ruhelos?« fragte Nilghai.

»Ganz verrückt. Sprechen Sie nicht davon. Es thut mir leid, daß ich hinging.«

Torpenhow und Nilghai tauschten einen Blick aus, als Dick sich bückte und sich mit des ersteren Stiefeln und Schuhen beschäftigte.

»Diese werden passen,« sagte er schließlich. »Ich kann gerade nicht behaupten, daß Sie viel Geschmack in Pantoffeln haben, doch ist die Hauptsache, daß sie passen.« Er schlüpfte in ein Paar niedriger Lederpantoffel und legte sich ausgestreckt auf eine Chaiselongue. »Das sind meine Lieblingsschuhe,« sagte Torpenhow, »ich wollte sie gerade selbst anziehen.«

»Alles nur Ihre verwerfliche Selbstsucht! Gerade wenn Sie sehen, daß ich mich eine Minute glücklich fühle, müssen Sie mich plagen und stören. Suchen Sie sich ein anderes Paar.«

»Es ist wirklich gut für Sie, Torp, daß Dick nicht Ihre Kleider tragen kann. Ihr beide lebt in Gütergemeinschaft,« sagte Nilghai.

»Dick hat nie etwas, das ich tragen kann. Er schmarotzert nur gewöhnlich.«

»Hol Sie der Henker, Sie haben wohl in meinen Kästen herumgestöbert?« entgegnete Dick. »Ich legte gestern einen Sovereign in den Tabakskasten. Wie können Sie erwarten, daß jemand seine Rechnungen in Ordnung hält, wenn Sie ...«

Hier fing Nilghai zu lachen an und Torpenhow ebenfalls.

»Versteckte gestern einen Sovereign. Sie sind nicht von dieser Sorte von Finanziers. Sie liehen mir vor etwa einem Monat einen Fünfer. Entsinnen Sie sich?« sagte Torpenhow.

»Ja, natürlich.«

»Entsinnen Sie sich auch, daß ich Ihnen denselben nach zehn Tagen zurückzahlte und Sie ihn auf den Boden des Tabakskastens legten?«

»Beim Himmel, that ich das? Ich dachte, ich hätte ihn in einen von meinen Farbenkästen gelegt.«

»Sie dachten! Vor einer Woche ging ich in Ihr Atelier, um mir etwas Tabak zu nehmen, und fand ihn.«

»Was thaten Sie damit?«

»Ich nahm Nilghai mit in ein Theater und gab ihm zu essen.«

»Sie konnten Nilghai nicht satt füttern für zweimal so viel Geld – selbst nicht, wenn Sie ihm Armeeochsenfleisch gaben. Nun, ich denke, ich würde es früher oder später entdeckt haben.«

»Sie sind in vieler Hinsicht ein erstaunlicher Kuckuck,« bemerkte Nilghai, noch immer kichernd bei dem Gedanken an das Diner. »Machen Sie sich nichts daraus. Wir beide hatten schwer gearbeitet, und es war Ihr unverdientes Geld, das wir ausgaben, und da Sie nur ein Bummler sind, so machte es nichts aus.«

»Das ist wirklich ergötzlich – von jemand, der beinahe platzt von meiner Mahlzeit. Ich werde mir das Diner dieser Tage zurückgeben lassen. Wie wäre es, wenn wir jetzt in ein Theater gingen?«

»Unsere Stiefel anziehen, uns umkleiden und waschen?« sagte Nilghai faul.

»Ich ziehe meinen Antrag zurück.«

»Ich denke, daß wir – das heißt wir alle, um der Abwechslung willen – einer ergreifenden Abwechslung, wie Sie wissen – unsere Kohle und Leinwand zur Hand nehmen und unsere Arbeit fortsetzen.« Torpenhow sprach etwas spitzig, doch Dick bewegte nur seine Zehen in den weichen ledernen Pantoffeln.

»Was für ein gedankenloser Vogel ist das! Wenn ich eine unvollendete Figur unter der Hand hatte, so fehlte es mir an einem Modell; wenn ich mein Modell hatte, so besaß ich kein Geld dafür, und niemals ließ ich eine Kohlenzeichnung unfixirt über Nacht; und wenn ich mein Modell und Geld hätte und zwanzig Photographien von Hintergründen, so könnte ich heute abend doch nicht arbeiten. Ich fühle mich nicht dazu aufgelegt.«

»Binkie, mein Hündchen, er ist ein faules Schwein, nicht wahr?« sagte Nilghai.

»Nun gut, ich will etwas thun,« sagte Dick, rasch sich erhebend. »Ich will das Nungabungabuch holen und ein anderes Bild zu der Nilghaisage hinzufügen.«

»Haben Sie ihn nicht vielleicht etwas zu sehr gequält?« fragte Nilghai, als Dick das Zimmer verlassen hatte.

»Vielleicht, aber ich weiß, was er leisten kann, wenn er will. Es macht mich ganz rasend, wenn ich ihn loben höre für seine früheren Arbeiten, da ich weiß, was er thun könnte. Sie und ich sind dazu da, um ...«

»Durch das Kismet und unsere eigenen Vollmachten, das übrige ist Mitleid. Ich habe viel darüber nachgedacht.«

»Auch ich, aber wir kennen jetzt unsere Grenzen. Ich bin ganz niedergeschlagen, wenn ich daran denke, was Dick sein könnte, wenn er sich ganz seiner Arbeit hingeben würde. Das ist es, was mich seinetwegen so böse macht.«

»Und wenn alles gesagt und gethan ist, so werden Sie mit vollem Rechte – eines Mädchens wegen beiseite geschoben werden.«

»Ich bin neugierig darauf. Wo meinen Sie, daß er heute gewesen ist?«

»An der See. Bemerkten Sie nicht den Blick in seinen Augen, als er von ihr sprach? Er ist so ruhelos wie eine Schwalbe im Herbst.«

»Ja, aber ging er wohl allein?«

»Ich weiß es nicht, und es kümmert mich auch nicht, doch hat er den Anfang des Reisefiebers in sich. Er hat Abwechslung und Bewegung nötig, die Anzeichen davon sind gar nicht zu verkennen. Was er auch vorhin gesagt haben mag, er fühlt den Ruf in die Ferne jetzt in sich.«

»Es könnte seine Rettung sein,« bemerkte Torpenhow.

»Vielleicht – wenn Sie die Verantwortlichkeit übernehmen wollen, sein Retter zu werden; ich selbst bin nicht geneigt, mich mit Seelen zu befassen.«

Dick kehrte mit einem großen verschlossenen Skizzenbuche zurück, welches Nilghai gut kannte und keineswegs liebte. Dick hatte in dasselbe während seiner freien Zeit alle Arten von aufregenden Ereignissen gezeichnet, die er entweder selbst erfahren oder von anderen gehört hatte aus allen vier Ecken der Erde. Doch der weite Umfang von Nilghais Körper und Leben zogen ihn am meisten an. Wenn es ihm an der Wirklichkeit fehlte, so griff er auf die wildeste Dichtung zurück und stellte Ereignisse aus Nilghais Laufbahn dar, die unziemlich waren, seine Heiraten mit verschiedenen afrikanischen Prinzessinnen, seinen schamlosen Verrat von Truppencorps des Mahdi für arabische Weiber, seine Tätowirung durch geschickte Operateure in Birmah, seine Unterredung mit dem gelben Henker auf dem blutgetränkten Hinrichtungsplatze in Canton und schließlich den Uebergang seiner Seele in die Körper von Walfischen, Elefanten und Tukans. Torpenhow hatte von Zeit zu Zeit sich reimende Beschreibungen hinzugefügt, so daß das Ganze ein merkwürdiges Kunstwerk war, weil Dick behauptete, mit Rücksicht auf den Namen des Buches, der eigentlich »nackend« bedeutete, daß es unrecht wäre, Nilghai unter irgend welchen Umständen mit Kleidern zu zeichnen. Infolge dessen war die letzte Skizze, welche den vielgeprüften Mann darstellte, wie er beim Kriegsministerium seine Ansprüche auf die ägyptische Medaille geltend machte, kaum besonders zartfühlend. Dick setzte sich bequem an Torpenhows Tisch und wandte die einzelnen Seiten des Buches um.

»Was für ein Glück wären Sie für Blake gewesen, Nilghai!« sagte er. »In einigen von diesen Skizzen herrscht ein saftiges Blaßrot, das mehr als lebensähnlich ist. Nilghai während des Badens umringt von den Leuten des Mahdi, das beruhte auf einer Thatsache, wie?«

»Es war fast mein letztes Bad, Sie unehrerbietiger Sudler. Ist Binkie noch nicht in die Sage gekommen?«

»Nein; Binkie hat nichts gethan als essen und Katzen töten. Laßt uns weiter sehen. Hier sind Sie als Heiliger auf geflecktem Glase in einer Kirche. Verteufelt dekorative Linien Ihres anatomischen Baues; Sie müßten eigentlich dankbar sein, daß Sie in dieser Weise der Nachwelt überliefert werden. Nach fünfzig Jahren werden Sie noch existiren in seltenen und merkwürdigen Facsimiles, das Stück zu zehn Guineen. Was soll ich jetzt zeichnen? Das häusliche Leben des Nilghai?«

»Habe gar keins geführt.«

»Also dann das unhäusliche Leben des Nilghai. Natürlich! Massenversammlungen seiner Weiber in Trafalgar Square! Das ist es. Sie kamen von allen Enden der Erde, um Nilghais Hochzeit mit einer englischen Braut beizuwohnen. Das soll in Sepia gemalt werden. Es ist ein süßes Sujet für einen Maler.«

»Es ist eine skandalöse Zeitverschwendung,« bemerkte Torpenhow.

»Schelten Sie nicht; es erhält einem die Hand in der Uebung, besonders wenn man ohne Stift beginnt.« Dick machte sich rasch an die Arbeit. »Das ist Nelsons Säule. Sogleich wird Nilghai oben darauf erscheinen.«

»Geben Sie ihm diesmal wenigstens einige Kleider!«

»Gewiß – einen Schleier und einen Kranz aus Orangenblüten, weil er verheiratet ist.«

»Wahrhaftig, das ist wirklich geschickt,« sagte Torpenhow über die Schulter blickend, als Dick mit drei raschen Pinselstrichen einen sehr fetten Rücken und gewaltige Schultern auf das Papier warf, die sich an den Stein lehnten.

»Stellen Sie sich vor,« fuhr Dick fort, »wenn wir etwas von diesen lieben kleinen Dingern veröffentlichen könnten, jedesmal wenn Nilghai einen Mann, der schreiben kann, mietet, um dem Publikum eine ehrliche Meinung von meinen Bildern beizubringen.«

»Sie werden mir doch zugeben, daß ich es Ihnen stets mitteile, wenn ich etwas Derartiges gethan habe. Ich weiß, daß ich Sie nicht verarbeiten kann, wenn Sie es nötig haben, deshalb übertrage ich den Spaß einem andern. Zum Beispiel der junge Maclagan –«

»Nein – nur eine halbe Minute, alter Herr; strecken Sie Ihre Hand nach der dunklen Wandtapete aus – Sie brummen nur immer und schimpfen mich. Diese linke Schulter ist gar nicht zu zeichnen; ich muß buchstäblich einen Schleier darüber werfen. Wo ist mein Federmesser? Nun, was ist es mit Maclagan?«

»Ich gab ihm nur den Auftrag, Sie im allgemeinen zu prügeln, weil Sie kein Werk geschaffen, das für immer dauern wird.«

»Worauf dieser junge Narr« – Dick bog den Kopf zurück und schloß ein Auge, als er das Blatt unter seiner Hand etwas änderte – »alleingelassen mit einem Tintenfaß und dem, was er für seine eigenen Gedanken hielt, beides in den Zeitungen über mich ausschüttete. Sie hätten wohl einen erwachsenen Menschen für das Geschäft engagiren können, Nilghai. Wie sieht der Brautschleier jetzt aus, Torp?«

»Wie, zum Henker, können drei Kleckse und zwei Ritze den Stoff so vom Körper abhalten, wie es der Fall ist?« sagte Torpenhow, für den Dicks Methoden stets neu waren.

»Es hängt nur davon ab, wohin man sie macht. Wenn Maclagan das bei seinem Geschäfte gewußt hätte, so würde er es wohl besser ausgeführt haben.«

»Weshalb wenden Sie denn diese verdammten Kleckse nicht bei etwas an, das von Dauer sein wird?« sagte Nilghai dringend, der wirklich viel Mühe und Verdruß gehabt hatte, als er zu Dicks Bestem die Feder eines jungen Mannes gemietet, der den größten Teil seiner Zeit einer eifrigen Betrachtung der Zwecke und Ziele der Kunst widmete, die, wie er schrieb, ein und unteilbar sei.

»Warten Sie eine Minute, bis ich sehe, wie ich meine Prozession von Weibern arrangiren muß. Sie scheinen sehr ausgedehnt geheiratet zu haben, und ich muß sie roh skizziren mit Bleistift – Mederinnen, Partherinnen, Edomiterinnen. – Nun, ich setze die Schwäche, Gottlosigkeit und Keckheit, eine Arbeit zu versuchen, die leben wird, wie man sagt, beiseite und bin zufrieden mit dem Bewußtsein, daß ich heute mein Bestes gethan habe; Aehnliches werde ich nicht wieder machen, in den nächsten Stunden wenigstens nicht, wahrscheinlich für Jahre nicht, höchst wahrscheinlich niemals.«

»Was! Haben Sie einen Stoff vorrätig für Ihr bestes Werk?« fragte Torpenhow.

»Haben Sie etwas verkauft?« sagte Nilghai.

»O nein. Es ist nicht hier und auch nicht verkauft; besser als das: es kann gar nicht verkauft werden, und ich glaube nicht, daß irgend jemand weiß, wo es ist ... Immer noch mehr Weiber auf der Nordseite des Squares. Bemerken Sie das tugendhafte Entsetzen des Löwen?«

»Sie könnten uns wohl eine Erklärung geben,« sagte Torpenhow, worauf Dick den Kopf von dem Papier aufhob.

»Die See rief es in mein Gedächtnis zurück,« sagte er langsam. »Ich wünschte, sie hätte es nicht gethan. Es wiegt einige tausend Tonnen – wenn man es nicht mit einem scharfen Meißel herausschneidet.«

»Seien Sie nicht so blödsinnig. Sie können uns gegenüber keine Pose annehmen,« sagte Nilghai.

»Bei der ganzen Sache ist durchaus von keiner Pose die Rede. Es ist ein Faktum. Ich fuhr von Lima nach Auckland in einem großen, alten Passagierschiffe, das für untauglich erklärt und in ein Frachtschiff umgeändert worden war; es gehörte einer italienischen Firma zweiten Ranges. Es war ein hinfälliger Kasten. Wir waren auf fünfzehn Tonnen Kohlen täglich reduzirt worden und schätzten uns glücklich, wenn wir es bis auf sieben Knoten in der Stunde brachten. Dann stoppten wir gewöhnlich, ließen die Zapfenlager sich abkühlen und waren neugierig, ob der Sprung in der Welle größer geworden?«

»Waren Sie in jener Zeit Steward oder Heizer?«

»Ich war damals sehr verschwenderisch, deshalb reiste ich als Passagier, sonst, denke ich, wäre ich wohl Steward gewesen,« erwiderte Dick ganz ernsthaft, sich wieder mit der Prozession der Weiber beschäftigend. »Ich war der einzige Passagier von Lima, das Schiff hatte nur halbe Ladung und war voll von Ratten, Kakerlaken und Skorpionen.«

»Aber was hat denn das mit dem Bilde zu thun?«

»Warten Sie nur eine Minute. Der Dampfer war früher bei dem Handel in China beschäftigt gewesen, so daß im Zwischendeck Abteilungen für zweitausend Schweine angebracht waren. Diese waren geblieben, doch das Schiff leer, während das Licht durch die Seitenluken einfiel – ein sehr lästiges Licht, um dabei zu arbeiten, bis man sich daran gewöhnt hatte. Ich war wochenlang ganz unbeschäftigt. Die Schiffskarten waren zerrissen, und unser Schiffer wagte es nicht, südlich zu segeln, aus Furcht, in einen Sturm zu geraten. So begnügte er sich damit, sämtliche Gesellschaftsinseln, eine nach der andern, anzulaufen, während ich ins Zwischendeck hinunterstieg und bei einer Schiffsluke, möglichst weit nach vorn, an meinem Bilde arbeitete. An Bord befand sich etwas braune und grüne Farbe, mit der man die Boote anstrich, sowie auch schwarze Farbe für das Eisenzeug; das war alles, was ich hatte.«

»Die Passagiere müssen Sie für verrückt gehalten haben.«

»Es war nur ein einziger an Bord, und der war eine Frau, doch gab diese mir die Idee zu meinem Bilde.«

»Wie sah sie aus?« fragte Torpenhow.

»Sie war eine Art von Negerjüdin aus Kuba mit moralischen Heiratsgedanken. Sie konnte weder lesen noch schreiben und hatte es auch nicht nötig; gewöhnlich kam sie herunter und sah mir beim Malen zu, obschon es dem Schiffer nicht besonders gefiel, weil er ihre Ueberfahrt bezahlt hatte und meistens auf der Kommandobrücke sein mußte.«

»Ich verstehe. Das muß lustig gewesen sein.«

»Es war die beste Zeit, die ich je erlebt. Erstens wußten wir nicht, ob wir hinauf oder hinunter gehen sollten, wenn die See unruhig war; wenn Windstille herrschte, war es ein Paradies, die Frau mischte gewöhnlich die Farben und sprach gebrochen englisch, während der Schiffer sich alle Minuten nach dem Zwischendeck hinunterschlich, weil er behauptete, er befürchte, daß Feuer entstehen könnte. Wir konnten daher niemals sicher sein, nicht erwischt zu werden: doch hatte ich ein glänzendes Sujet, das ich nur in drei Hauptfarben ausarbeiten konnte.«

»Was war es für ein Sujet?«

»Zwei Zeilen in Poesie:

›Nie können die Teufel tief unter dem Meer,
      Auch die Heere der Himmlischen nie
Mehr reißen die Seele mir los von der Seele
      Der löblichen Annabel Lee.‹

»Es entwickelte sich ganz von selbst auf der See. Ich zeichnete diesen Kampf, in grünem Wasser über der nackten, erstickenden Seele ausgefochten, während die Frau mir als Modell diente zu den Teufeln sowie auch gleichzeitig zu den Engeln – Seeteufeln und Seeengeln – die halb ertrunkene Seele zwischen sich. Es klingt nicht besonders großartig, aber wenn im Zwischendeck eine gute Beleuchtung war, so sah es sehr schön aus. Es war sieben Fuß hoch und vierzehn Fuß breit, alles in wechselndem Licht für eben solche Beleuchtung gemalt.«

»Inspirirte die Frau Sie?« fragte Torpenhow.

»Sie und das Meer gemeinschaftlich – ganz gewaltig. Es befand sich sehr viel falsche Zeichnung in jenem Bilde. Ich entsinne mich, daß ich gegen meine Gewohnheit Verkürzungen anbrachte, ganz allein aus Vergnügen an denselben; dennoch ist es das Beste, was ich je gemacht; jetzt vermute ich, daß das Schiff abgebrochen oder untergegangen ist. Ach, was war das für eine Zeit!«

»Was geschah dann später?«

»Es ging alles zu Ende. Als ich das Schiff verließ, wurde es mit Wolle beladen, doch selbst die Einlader ließen das Bild bis zuletzt frei. Die Augen der Dämonen jagten ihnen Furcht ein, wie ich aufrichtig glaube.«

»Und die Frau?«

»Sie fürchtete sich ebenfalls, als das Bild fertig war. Gewöhnlich bekreuzte sie sich, ehe sie hinunterging, um es zu betrachten. Genau drei Farben und keine Möglichkeit, andere zu bekommen, die See außerhalb und unbegrenzte Liebelei innerhalb, dabei die Furcht vor dem Tode fortwährend über uns, o Gott!«

Er hatte aufgehört, die Skizze zu betrachten, starrte aber gerade aus vor sich hin.

»Weshalb versuchen Sie jetzt nicht etwas Aehnliches?« fragte Nilghai.

»Weil dergleichen Dinge nicht durch Fasten und Beten über einen kommen. Wenn ich ein Frachtschiff und eine kubanische Jüdin sowie ein anderes Sujet mit demselben alten Leben wieder fände, möchte ich es wohl thun.«

»Sie werden das alles hier nicht finden,« bemerkte Nilghai.

»Nein, das glaube ich auch.« Dick machte heftig das Skizzenbuch zu. »Dieses Zimmer ist so heiß wie ein Ofen. Oeffne doch einer das Fenster.«

Er lehnte sich hinaus und betrachtete die dichte Finsternis Londons unter sich. Die Zimmer lagen viel höher als die nächsten Häuser und überragten hundert Schornsteine mit gebogenen Kuppen, die wie sitzende Katzen aussahen, wenn sie sich herumdrehten, und andere seltsame Dinge aus Ziegeln oder Zink, von eisernen Stützen gehalten und mit S-Klammern befestigt. Nördlich warfen die Lichter des Piccadillyzirkus und des Leicestersquare einen kupferfarbigen Schimmer über die schwarzen Dächer, während südlich die Reihen der Lichter auf der Themse lagen. Ein Zug rollte über eine der Eisenbahnbrücken, dessen Donner einen Augenblick den dumpfen Lärm in den Straßen übertonte. Nilghai blickte auf seine Uhr und sagte kurz:

»Das ist der Nachtzug nach Paris. Man kann von hier bis St. Petersburg ein Billet nehmen, wenn man will.«

Dick zwängte Kopf und Schultern durch das Fenster und sah über den Fluß. Torpenhow trat an seine Seite, während Nilghai sich an das Pianino setzte und dasselbe öffnete. Binkie dehnte sich, sich so breit wie möglich machend, auf dem Sofa aus wie jemand, der nicht so leicht zu stören ist.

»Nun,« fügte Nilghai zu den beiden anderen, »habt ihr früher niemals diesen Ort gesehen?«

Ein Dampfschlepper auf dem Flusse pfiff, als er die beladenen Fahrzeuge ans Werst schleppte. Dann drang der Lärm des Verkehrs ins Zimmer. Torpenhow stieß Dick an. »Ein guter Platz, um Geld zu verdienen – ein schlechter Platz, um darin zu leben, Dickie, nicht wahr?«

Dick stützte sein Kinn auf die Hand, als er mit den Worten eines nicht unberühmten Generals erwiderte: »Mein Gott, was für eine Stadt zum Plündern!«

Binkie fand, daß die Nachtluft seinen Bart kitzelte, und nieste kläglich.

»Wir werden dem armen Binkie eine Erkältung zuziehen,« sagte Torpenhow. »Kommen Sie herein.«

Sie zogen ihre Köpfe ins Zimmer zurück. »Sie, Dick, werden eines Tages in Kensal Green, wenn es inzwischen nicht geschlossen wird, begraben werden, zwei Fuß von irgend jemand anderem, Ihrem Weibe und Ihrer Familie, entfernt.«

»Allah wolle es verhüten! Ich werde weit fortgehen, bevor diese Zeit eintritt. Gib einem Menschen Platz, seine Beine auszustrecken, Mr. Binkie!« Dick warf sich aufs Sofa und zwickte Binkies Sammetohren, während er gewaltig gähnte.

»Sie werden diesen Garderobekasten sehr verstimmt finden,« bemerkte Torpenhow zu Nilghai. »Er wird, außer von Ihnen, von niemand berührt.«

»Ein Stück großartiger Verschwendung,« brummte Dick, »Nilghai kommt nur, wenn ich nicht zu Hause bin.«

»Das ist nur der Fall, weil Sie stets fort sind. Heulen Sie los, Nilghai, und lassen Sie ihn etwas hören.«

Nur Totschlag und Trug hat der Nilghai betrieben.
Verwässerter Dickens ist, was er geschrieben;
Doch erhebt er die Stimme auch nur von fern.
Dann stürben sogar die Mahdieh gern.

Dick führte diese Verse aus Torpenhows Niederschreibungen in dem Nungabungabuche an. »Wie nennt man das Elentier in Kanada, Nilghai?«

Dieser lachte. Das Singen war sein einziges gesellschaftliches Talent, wie manches Korrespondentenzelt in seinen Landen erfahren hatte.

»Was soll ich singen?« fragte er, sich in dem Stuhl umdrehend.

»Moll Roe am Morgen,« sagte Torpenhow aufs Geratewohl.

»Nein,« sagte Dick scharf, so daß Nilghai seine Augen aufsperrte. Das alte Lied, dessen Worte er vollständig auswendig wußte, war kein hübsches, doch hatte es Dick früher häufig, ohne zu zucken, angehört. Ohne Vorspiel begann er nun den herrlichen Gesang, der die Herzen der Zigeuner des Meeres erfreut und bewegt:

»Lebt wohl und adieu, ihr spanischen Damen,
Ihr spanischen Damen, lebt wohl und adieu!«

Dick warf sich unbehaglich auf dem Sofa umher, denn er konnte hören, wie der Bug des Barralong durch das grüne Wasser der See brach, auf seinem Wege zu dem Kreuz des Südens. Dann kam der Chor:

»Wir tollen und brüllen wie britische Segler,
Wir tollen und brüllen die Salzflut entlang,
Bis wir werfen das Lot im Kanal von Altengland –
Fünfundvierzig Meilen sind's bis Scilly von Ushant.«

»Fünfunddreißig – fünfunddreißig,« rief Dick ausgelassen. »Mengen Sie sich nicht in die heilige Schrift. Weiter, Nilghai!«

»Zuerst sahn ein Land wir, das hieß der Tote.«

worauf sie mit vieler Kraft das Lied zu Ende sangen.

»Es würde ein besseres Lied sein, wenn sie ihren Bug nach der andern Seite hin gewendet hatten – nach den Lichtern von Ushant zum Beispiel,« meinte Nilghai.

»Ihre Arme herumwerfend wie eine wahnsinnige Windmühle,« sagte Torpenhow. »Lassen Sie uns noch ein anderes hören, Nilghai! Sie haben heute abend eine schöne Stimme wie ein Nebelhorn.«

»Singen Sie den ›Gangeslotsen‹; Sie sangen ihn im Carré in der Nacht vor der Schlacht bei El-Maghrib. Beiläufig, ich möchte wohl wissen, wie viele von dem Chore heute noch am Leben sind,« bemerkte Dick.

Torpenhow dachte einen Augenblick nach. »Beim Himmel, ich glaube, nur Sie und ich. Rayner, Vickory und Deanes – alle sind tot; Vincent bekam die Blattern in Kairo, brachte sie mit hierher und, und starb daran. Ja, nur Sie, ich und Nilghai sind übrig geblieben.«

»Hm! Dennoch sagen die Leute hier, die ihr Leben lang ihre Arbeit in einem wohl durchwärmten Atelier verrichtet haben mit einem Polizisten an jeder Straßenecke, daß ich in meinen Bildern zu viel übertreibe.«

»Sie kaufen Ihre Arbeiten, nicht Ihre Lebensversicherungspolicen, teures Kind,« bemerkte Nilghai.

»Ich setzte das eine ein, um das andere zu gewinnen. Predigen Sie nicht! Vorwärts mit dem Lotsen! Wo in aller Welt kamen Sie an dieses Lied?«

»Auf einem Grabsteine,« antwortete Nilghai. »Auf einem Grabsteine in einem fernen Lande. Ich machte dazu eine Begleitung mit einer Menge von Baßaccorden.«

»O, Eitelkeit! Fangen Sie an!«

Nilghai begann:

Mein Tau hab' gelöst ich, Maaten, werd' schon von der Flut gewiegt,
Ich hab' Befehl, zu segeln, da ihr vor Anker liegt!

An heit'rem Junimorgen fuhr nie ich hinaus aufs Meer
So hoffnungsreich, das Gewissen so rein und das Herz so sorgenleer.

Schulter an Schulter, Hans, mein Junge, hinein, wo die Massen sich staun!
Die Messer blank, ihr Maaten – doch nicht mit der Schneide gehaun!

»Den Brahminen schließt krumm,« ruft Sharnock, »vom Holzstoß reißt das Scheit,
Die blasse Witwe für mich, Hans, für dich die bräunliche Maid!«

Jung' Hans (bist nah an sechzig!), was hat dich so dunkel gemacht?
Sanft blau ist Käthchens Auge – was schwärzte deins? – Horch! gib acht!

Sie sangen jetzt alle drei. Dick mit dem Brüllen des Windes auf hoher See in den Ohren, als er seine tiefe Baßstimme erschallen ließ.

Das Morgengeschütz! – He, aufgepaßt! – Die Artebusen her! –
Mein Blei drang Hollands Admiral ins Herz, wie es dringt ins Meer!

Treib, treib den Ganges hinunter, das Lot zum Wurfe bereit.
Und ank're mich nahe bei Sharnock – zunächst meiner bräunlichen Maid

Mein Segen auf Käthchen in Fairlight, – Hollwell, für dich mein Dank! –
Frisch auf! Wir steuern gen Himmel, vorüber an Riff und Bank!

»Nun,« sagte Dick, als sie das Lied zu Ende gesungen, »was ist in diesem Unsinn enthalten, das einen Mann ruhelos machen könnte?«

»Das kommt auf den Mann selbst an,« meinte Torpenhow.

»Den Mann, der hinuntergefahren ist, um die See wieder zu sehen,« bemerkte Nilghai.

»Ich wußte nicht, daß sie mich in diesem Maße aufregen würde.«

»Das sagen Männer immer, wenn sie hingehen, um einer Frau Lebewohl zu sagen. Doch ist es leichter, drei Frauen los zu werden, als ein Stück aus seinem Leben und seinen Umgebungen.«

»Aber eine Frau kann sein –« begann Dick unbedacht.

»Ein Stück vom Leben eines Mannes,« fuhr Torpenhow fort. »Nein, das kann sie nicht.« Sein Gesicht verfinsterte sich einen Augenblick. »Sie sagt, sie müsse mit Ihnen sympathisiren und Ihnen helfen bei Ihrer Arbeit, sowie bei allem andern, was ein Mann doch offenbar allein machen muß. Dann schickt sie Ihnen fünf Briefchen täglich, um zu fragen, weshalb, zum Teufel, Sie Ihre Zeit nicht mit ihr verschwendet haben.«

»Verallgemeinern Sie nicht,« bemerkte Nilghai. »In der Zeit, bis Sie bei fünf Briefchen täglich angelangt sind, müssen Sie eine Menge anderer Dinge durchmachen und sich dementsprechend benommen haben. Sie sollten dergleichen Sachen nicht anfangen, mein Sohn.«

»Ich hätte nicht an die See hinuntergehen sollen,« erwiderte Dick, sehr begierig, die Unterhaltung zu wechseln. »Und Sie hätten nicht singen sollen.«

»Die See schickt Ihnen nicht fünf Briefchen täglich,« sagte Nilghai.

»Nein, aber ich bin verhängnisvoll kompromittirt. Sie ist eine ausdauernde alte Hexe; es thut mir leid, daß ich ihr begegnet bin.«

»Hört, wie er seine erste Liebe lästert! Weshalb sollten Sie denn nicht auf sie hören?« sagte Torpenhow.

Bevor Dick antworten konnte, erhob Nilghai seine Stimme und begann so kräftig, daß die Fenster klirrten, das Lied »Die Männer der See«, das, wie allgemein bekannt, anfängt:

»Die See ist ein böses altes Weib,«

und nach acht Zeilen voll lebhafter, wahrhaftiger Schilderung mit einem Refrain endigt, so schwerfällig wie das Geklapper eines Ankerspills, wenn das Schiff widerwillig auf die Barren kommt, wo die Leute schwitzen und auf den Planken umherstampfen.

»Habt gehegt uns, treu gepflegt uns!
Güt'ger noch ist das Meer,
Denn sein Ruf dringt uns zu Herzen!«
Sprach der Matrosen Heer.

Nilghai sang diesen Vers zweimal mit einfachem Ausdruck, in der Absicht, daß Dick ihn hören sollte; doch dieser wartete auf den Abschied der Männer von ihren Frauen.

»Müßt, ihr Lieben, uns betrüben?
Teurer noch ist das Meer,
Euer Schlummer ein so süßer!«
Sprach der Matrosen Heer.

Die rauhen Worte klangen wie der Anprall der Wellen gegen den Bug des gebrechlichen Dampfers von Lima in den Tagen, als Dick Farben mischte, liebte, Teufel und Engel im Halbdunkel zeichnete und neugierig war, ob nicht in der nächsten Minute das Messer des italienischen Kapitäns ihm zwischen den Schulterblättern sitzen wurde. Und das Reisefieber, das häufiger vorhanden ist als manche andere Krankheiten, erwachte und wütete in ihm, ihn, der Maisie mehr liebte als irgend sonst etwas auf der Welt, antreibend, fortzugehen und wieder die frühere Hitze, das alte Leben zu kosten, sich herumzubalgen, zu fluchen, zu spielen und mit seinen Gefährten leichtfertige Liebschaften aufzusuchen. Was hinderte ihn, ein Schiff zu nehmen und die See noch einmal kennen zu lernen, durch sie sich zu neuen Bildern zu begeistern, mit Binat auf dem Strande von Port Saïd zu plaudern, während die gelbe Tina die Getränke mischte, das Krachen des Gewehrfeuers zu hören und den Rauch fortrollen, sich verdünnen und wieder verdichten zu sehen, bis die glänzenden schwarzen Gesichter durch denselben hervorbrachen; und in dieser Hölle war ein jeder allein für seinen eigenen Kopf verantwortlich und von einem ungefesselten Arm niedergeschlagen worden! Es war ja unmöglich, ganz unmöglich, dennoch –

»O, ihr Väter auf dem Kirchhof!
Aelter noch ist das Meer;
Unsere Gräber um so grüner!«
Sprach der Matrosen Heer.

»Was ist es, das Sie zurückhält?« fragte Torpenhow während des langen Schweigens, das auf den Gesang folgte.

»Sie sagten vor einiger Zeit, daß Sie an einer Reise um die Welt nicht teilnehmen würden, Torp.«

»Das war vor Monaten, und ich war nur dagegen, daß Sie Geld für die Kosten der Reise erwarben. Sie haben hier Ihren Bolzen abgeschossen, der auf Sie zurückgeprallt ist. Gehen Sie fort, arbeiten Sie und sehen Sie sich die Welt an!«

»Versuchen Sie, etwas von Ihrem Fett abzusetzen; Sie sind unverhältnismäßig dick geworden,« bemerkte Nilghai, vom Stuhl sich hinüber beugend und Dick oberhalb der rechten Rippen in die Seite packend. »Weich wie Glaserkitt – der reine Talg infolge von Ueberfütterung. Trainiren Sie es fort, Dickie!«

»Wir sind alle gleich dick, Nilghai. Nächstens werden Sie den Platz, auf dem Sie sitzen, nicht verlassen können, mit den Augen zwinkern, nach Luft schnappen und am Schlagfluß sterben.«

»Das thut nichts. Schiffen Sie sich ein. Fahren Sie nach Lima oder Brasilien. In Südamerika gibt es immer Unruhen.«

»Bilden Sie sich vielleicht ein, daß man mir sagen muß, wohin ich gehen soll. Du lieber Himmel, die einzige Schwierigkeit ist, zu wissen, wo ich anhalten soll. Aber ich werde hier bleiben, wie ich Ihnen vorhin sagte.«

»Dann werden Sie in Kensal Green begraben und mit den übrigen in Staub verwandelt werden,« sagte Torpenhow. »Denken Sie an Ihre festen Aufträge? Zahlen Sie Buße und gehen Sie. Sie haben Geld genug, um wie ein König reisen zu können, wenn es Ihnen beliebt.«

»Sie haben die gräßlichsten Begriffe von Vergnügen, Torp. Ich sehe mich schon an Bord eines Hotels von sechstausend Tonnen, Salon erster Klasse, und wie ich den dritten Ingenieur frage, was die Maschinen so herumdrehen macht und ob es im Heizraum nicht recht warm sei! Ho! ho! Ich würde zu Schiffe gehen als ein Bummler, wenn ich mich je zur See begeben sollte, was ich aber nicht zu thun beabsichtige. Ich werde einen Kompromiß machen und zum Anfange nur einen kleinen Ausflug unternehmen.«

»Das ist jedenfalls etwas. Wohin wollen Sie gehen?« fragte Torpenhow. »Es würde wirklich ganz vortrefflich für Sie sein, alter Sohn.« Nilghai bemerkte, wie Dick mit den Augen blinzelte und unterdrückte, was er sagen wollte.

»Ich werde zuerst in Rathreys Stall gehen, dort ein Pferd mieten und sehr vorsichtig bis Richmond Hill reiten. Dann werde ich wieder ebenso zurückkehren, im Falle es zufällig mit Schaum bedeckt sein und Rathrey ärgerlich werden sollte. Ich werde das schon morgen thun, der frischen Luft und der Bewegung wegen.«

»Pah!« Dick hatte kaum Zeit, seinen Arm auszustrecken, um sich vor dem Kissen zu schützen, das Torpenhow zornig ihm nach dem Kopfe warf.

»Luft und Bewegung in der That!« sagte Nilghai, sich schwerfällig auf Dick setzend. »Wir wollen ihm etwas von beidem geben. Nehmen Sie den Blasebalg, Torp.«

Bei diesem Punkte geriet die Konferenz in Unordnung, weil Dick den Mund nicht öffnen wollte, bis Nilghai ihm die Nase zuhielt; auch verursachte es einige Schwierigkeiten, die Spitze des Blasebalgs ihm zwischen die Zähne zu bringen; als es endlich gelungen, versuchte er schwach, gegen die Gewalt des Einblasens zu pusten, so daß seine Wangen mit einer starken Explosion sich aufbliesen. Da die Feinde vor Lachen nicht mehr konnten, schlug er sie mit einem Sofakissen über den Kopf, so daß die Nähte aufgingen und die Federn umherflogen, während Binkie, der sich zu Gunsten Torpenhows einmischte, in den halbleeren Ueberzug eingepackt wurde und sich wieder herauskratzen mußte, was ihm nach einiger Zeit auch gelang, indem er rasch auf dem Fußboden hin und her lief. Als er sich endlich befreit hatte, sah er mit Genugthuung, wie die drei Säulen seiner Welt sich die Federn aus ihren Haaren machten.

»Ein Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande,« sagte Dick kläglich, seine Kniee abstaubend.

»Es geschah alles nur zu Ihrem Besten,« sagte Nilghai. »Nichts geht über Luft und Bewegung.«

»Alles zu Ihrem Besten,« fügte Torpenhow hinzu, ohne die mindeste Beziehung zu der soeben ausgeführten Balgerei. »Es wird Ihnen die Dinge in ihrem wirklichen Werte erscheinen lassen und verhindern, daß Sie in diesem Treibhause von einer Stadt schlapp werden. In der That würde das der Fall sein, alter Freund; ich würde es gewiß nicht sagen, wenn ich es nicht dächte. Leider machen Sie aus allem einen Spaß.«

»Bei Gott! ich thue es nicht,« sagte Dick rasch und ernst. »Sie kennen mich nicht, wenn Sie das von mir glauben.«

»Ich glaube es nicht,« bemerkte Nilghai.

»Wie können Männer gleich uns, die wissen, was Leben und Tod bedeuten, es wagen, einen Scherz aus allem zu machen? Ich weiß, wir beanspruchen das, um uns selbst vor dem Zusammenbrechen zu bewahren oder zu dem entgegengesetzten Extrem überzugehen. Kann ich etwa nicht sehen, alter Herr, wie besorgt Sie immer meinetwegen sind und versuchen, mir guten Rat zu geben, damit ich meine Arbeiten besser mache? Glauben Sie, daß ich selbst nicht darüber nachdenke. Aber Sie können mir nicht helfen – Sie können mir nicht helfen – selbst Sie nicht. Ich muß selbst auf meine eigene Weise mir durchhelfen.«

»Hört, hört!« rief Nilghai.

»Was ist das Einzige in der Nilghaisage, das ich nie in das Nungabungabuch gezeichnet habe?« bemerkte Dick zu Torpenhow, der über diese plötzliche Abschweifung etwas erstaunt war.

In dem Buche befand sich nämlich ein weißes Blatt, das für die Skizze bestimmt war, die Dick nicht gezeichnet hatte, nämlich für die der größten Heldenthat in Nilghais Leben, wie dieser Mann, als er noch jung war und vergessen hatte, daß sein Leib und seine Gebeine der Zeitung angehörten, die ihn in ihre Dienste genommen, in der Nachhut von Bredows Brigade über das von der Sonne verbrannte und schlüpfrige Gras geritten war, an jenem Tage, als diese tapferen Soldaten sich auf Canroberts Artillerie gestürzt, sowie auf zwanzig in Front aufgestellte Bataillone, um das geschlagene vierundzwanzigste deutsche Infanterieregiment zu retten und den Ihrigen Zeit zu geben, das Schicksal von Vionville zu entscheiden, und so zu erfahren, bevor der Rest der Brigade nach Flavigny zurückgekehrt war, da Kavallerie eine unerschütterte Infanterie angreifen, zersplittern und durchbrechen kann. Wenn er jemals geneigt war, nachzudenken über ein Leben, das vielleicht besser, über ein Einkommen, das größer, und eine Seele, die bedeutend reiner hätte sein können, so würde Nilghai sich bei dem Gedanken neu belebt und gestärkt haben: »Ich ritt mit Bredows Brigade bei Vionville,« und Mut gefaßt haben zu einer geringeren Schlacht, die der nächste Tag bringen konnte.

»Ich weiß,« sagte er sehr ernst. »Ich war immer froh darüber, daß Sie das fortgelassen haben.«

»Ich ließ diese Skizze fort, weil Nilghai mich gelehrt, was die deutsche Armee damals erfahren und was der General Schmidt ihrer Kavallerie beigebracht hatte. Ich kann nicht deutsch. Wie heißt es? ›Achtet auf das Tempo, und die Richtung wird sich von selbst ergeben.‹ Ich muß meine Linie nach meinem eigenen Takte reiten, alter Freund.«

»Tempo ist Richtung! Sie haben Ihre Lektion gut gelernt,« sagte Nilghai. »Er muß allein gehen, er spricht die Wahrheit, Torp.«

»Es kann sein, daß ich mich irre. Ich muß das selbst herausfinden, ebenso wie ich mir die Sujets selbst ausdenken muß; aber ich darf nicht meinen Kopf umdrehen, um mich nach dem Nebenmanne zu richten. Es schmerzt mich viel mehr, als ihr glaubt, daß ich nicht im stande bin, fortzugehen, aber ich kann nicht, das ist alles. Ich muß meine Arbeit verrichten und mein Leben hinbringen auf meine eigene Weise, weil ich für beides verantwortlich bin. Nur denken Sie ja nicht, daß ich leichtfertig handle, Torp. Ich habe meine eigenen Zündhölzchen und Schwefel und will mir meine eigene Hölle bereiten.«

Es trat eine unbehagliche Pause ein; dann sagte Torpenhow sanft: »Was sagte der Gouverneur von Nord-Carolina zum Gouverneur von Süd-Carolina?«

»Ein ausgezeichneter Gedanke. ›Es ist eine lange Pause zwischen dem Trinken.‹ In Ihnen steckt der Stoff zu einem feinen, aufgeblasenen Fant, Dick,« sagte Nilghai.

»Ich habe mein Gemüt erleichtert, achtungswerter Binkie mit den Federn im Maul.« Dick nahm den noch immer unwilligen Hund auf und schüttelte ihn zärtlich. »Du warst in einen Sack gebunden und mit verbundenen Augen wie ein Blinder umhergelaufen, Binkie, ohne jeden Grund, und das hat Deine kleinen Gefühle verletzt. Mach Dir nichts daraus. Sic volo, sic jubeo, stat pro ratione voluntas, und niese mir nicht in mein Auge, weil ich lateinisch spreche. Gute Nacht.«

Er verließ das Zimmer.

»Das ist deutlich etwas für Sie,« bemerkte Nilghai. »Ich sagte Ihnen ja, es sei vergeblich, sich hineinzumengen. Es hat ihm durchaus nicht gefallen.«

»Er hätte über mich geflucht, wenn es nicht der Fall gewesen. Ich kann es nicht herausbekommen. Er hat das Reisefieber im Leibe und will nicht fortgehen. Ich hoffe nur, daß er nicht eines Tages fortgehen muß, wenn er es nicht nötig hat,« sagte Torpenhow.

*

In seinem eigenen Zimmer stellte Dick sich selbst eine Frage – diese Frage war, ob die ganze Welt mit allem, was darin ist, sowie das glühende Verlangen, dieselbe auszubeuten, ein Dreipennystück wert sei, das in die Themse geworfen worden war.

»Es kam vom Anblick der See; ich bin wirklich ein schlechter Kerl, noch darüber nachzudenken,« entschied er. »Schließlich wird in den Flitterwochen jene Tour stattfinden – natürlich mit einigen Einschränkungen; nur glaubte ich wirklich nicht, daß die See eine solche Gewalt über mich habe. Ich würde es nicht so arg fühlen, wenn ich mit Maisie zusammen wäre. Diese verdammten Lieder waren daran schuld. Er fängt schon wieder an.«

Doch es war nur Garricks Serenade an Julia, welche Nilghai sang; und bevor dieselbe zu Ende war, erschien Dick wieder auf der Thürschwelle, keineswegs vollständig bekleidet, aber in der richtigen Stimmung, durstig und friedlich gesinnt.

Der Schlamm war mit der steigenden und fallenden Flut beim Fort Keeling gekommen und gegangen.


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