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Novelle von
Johanna Kinkel.
»Besser lerne ich die F-Moll-Sonate doch nicht spielen,« sagte Ida und stand müde vom Clavier auf. »Eigentlich geht sie recht gut, und selbst mein überstrenger Lehrer wäre damit zufrieden gewesen,« fügte sie hinzu. »Was ihr in meinem Gefühl noch fehlt, das, fürchte ich, läßt sich mit weiterem Ueben nicht herausbringen. Das unbegreiflich Phantastische des ersten Allegro, das verzweifelte Spielen mit dem Schmerz im Adagio, dieß lachend dem Untergang Zustürzen im Finale, das hab' ich anfangs besser ausdrücken können. Indem ich aber die raschen Passagen zu feilen suchte, ist mir der Vortrag glatter, zierlicher geworden, und ich kann nicht mehr in den großen Styl zurück. Ich spiele die Sonate jetzt exakt aber ohne Geist, das ist höchst fatal!«
»Sie nehmen auch Alles gar zu pedantisch streng,« antwortete eine bejahrte Dame, die zuhörend in der Sofa-Ecke saß, »und legen Dinge in die Musik hinein, die kein anderer Mensch heraushört.«
Die Künstlerin war früh verwaist von entfernten Verwandten in Obhut genommen worden. Ein verständiger Vormund hatte ihr kleines Vermögen größtentheils dazu verwendet, ihr hervorragendes Talent für die Musik ausbilden zu lassen. Jetzt war sie selbstständig und hatte den Rest ihres Eigenthums für einen Flügel von Erard hingegeben. Kaum so viel blieb ihr übrig, daß sie die Reisekosten nach ihrem Bestimmungsort und eine sehr einfache Einrichtung bestreiten konnte.
Umherreisen und Conzerte geben mochte sie nicht, da ihre musikalische Richtung zu sehr dem herrschenden Geschmack des Publikums entgegenstand; auch hätte sich ihr abgeschlossener Charakter nie zu den tausend kleinen Demüthigungen hergegeben, die Keinem erlassen werden, der noch unbekannt in der Fremde seine Erfolge sucht. Lieber wollte sie in einer bedeutenden Stadt als Lehrerin ihr Heil versuchen, und indem sie das Opfer brachte, Anfänger zu bilden, sich so die Mittel erwerben, um auf jene höchste Kunststufe zu gelangen, die ihr in der abgelegenen Heimathstadt unerreichbar war.
Jetzt war sie bei einer alten Freundin ihrer verstorbenen Mutter gastlich aufgenommen worden. Es war die Frau des Amtmanns Werl in Waldheim, welches eine Stunde von der Hauptstadt in einem Gebirgsthale lag. So lange sollte sie dort verweilen, bis sie eine passende Wohnung und einige Schülerinnen gefunden hätte. Mit großer Gefälligkeit begleitete Frau Werl sie täglich zur Stadt, um die nöthigen Besuche zu machen und Erkundigungen einzuziehen, wobei es leider viel vergebliche Schritte gab.
Der Empfang bei den meisten Kunstgenossen war ziemlich abstoßend, oder kam doch Ida so vor. Weil sie immer an die traute Umgebung der Verwandten und Jugendfreunde gewöhnt war, erschienen ihr die großstädtischen Formen unsäglich frostig und die Kürze wahrhaft erschreckend, mit der die musikalischen Notabilitäten ihre Fragen abfertigten. Meist vertröstete man sie damit: es werde sich wohl machen, wenn sie es abwarten könne, bis ihre Leistungen bekannter würden; doch um diese bekannt zu machen, rührte sich Niemand, obgleich hier Alles auf eine rasche Entscheidung ankam.
Neben der Amtmanns-Wohnung des Dörfchens Waldheim lag die Villa des Grafen Selvar, die er vom ersten Frühlingswehen bis zu den Novemberstürmen zu bewohnen pflegte. Der Amtmann und seine Frau waren immer gern dort gesehen, und so oft der Graf ihnen begegnete, wiederholte er seine Einladung, ihn häufiger zu besuchen; doch ging Frau Werl nur in der schlechtern Jahreszeit darauf ein, wenn die Besuche der vornehmen Welt ausblieben, die in den Sommermonaten stets Salon und Garten des Grafen füllten. Um Ida's willen überwand sie dießmal ihre Scheu vor der großen Gesellschaft. Im Selvar'schen Hause trieb man leidenschaftlich die Musik, und hatte sich diese Familie einmal für Ida interessirt, so konnte es ihr nicht fehlen, daß sie in den ersten Häusern Zutritt fand.
Frau Werl theilte Ida ihren Plan mit und ermahnte sie, nur ja keine Fugen von Johann Sebastian Bach im Salon des Grafen vorzutragen, weil sie damit Alles verderben würde.
»Warum soll ich denn nicht mein Bestes leisten?« sagte Ida. »Ich weiß nichts, was mehr die Aufmerksamkeit wach erhält, als eine Fuge. Ich möchte deren Stimmengang dem ewigen Wandel der Gestirne vergleichen. Die wunderlich in einander verschlungenen Melismen in den Präludien erinnern mich dagegen an die seltsamen Moose und Steinbildungen, die ich zuweilen gesehen.«
Frau Werl theilte der jungen Bach-Enthusiastin ihre eigenen Erfahrungen über das Musik-Naschen der Vornehmen mit, und brachte sie glücklich dahin, einige vermittelnde Compositionen von Hummel und Carl Maria von Weber frisch einzuüben, die so ziemlich die Grenze zwischen der gelehrten und ganz trivialen Musik hielten.
Um die Theestunde ging sie mit Ida hinüber. Die Gesellschaft sei heute im entferntesten Theile des Gartens unter dem neuen Zelt versammelt, sagte der Diener.
»Das ist auch eine Liebhaberei des Grafen,« erzählte, indem sie den Garten durchwanderten, Frau Werl, »immer frische Anlagen zu machen, und man muß zugeben, daß er sehr viel Geschmack hat.«
Ida hatte nie einen so reizenden Aufenthalt gesehen, der, wie dieser, das Elegante mit dem Phantastischen verband. Immer waren ihr die kleinen Obst- und Blumengärtchen, die angelegten Promenaden unausstehlich gewesen, und der wilde Bergwald ihr einzig lieber Spaziergang. Hier trat ihr zuerst die reiche Poesie eines geordneten Pflanzenlebens in den schönsten malerischen Formen entgegen. Das schneeweiße, in klaren Verhältnissen erbaute Landhaus lehnte an eine Parthie von hohen dunkeln Linden. Aus dem Gartensaal trat man in einen weiten Kreis von Aloen und blühenden Orangenbäumen. Der Garten zog sich wohl eine halbe Stunde weit diesseit und jenseit eines kleinen Flüßchens bis zu einem Dorf, das zu der ganzen Anlage zu gehören schien.
Durch Arkaden von Clematis und wildem Wein, an den schönsten Blumenpartien, Springbrunnen und Volièren entlang erreichten Ida und ihre Beschützerin das Zelt, wo eine große Versammlung von Herren und Damen so vertieft in scherzende Gespräche waren, daß sie die unscheinbaren Gestalten der beiden Ankommenden gar nicht zu bemerken schienen. Der Graf war eben mit einigen Personen zu einem andern Theile des Gartens hin gegangen. Seine Schwester, die die Fremden empfing, bot zwar der Nachbarin einen Platz an ihrer Seite an und unterhielt sich sehr zuvorkommend mit Ida, doch so oft ein neuer Wagen herbeirollte, gab es neues Begrüßen, Vorstellen ankommender Gäste, wobei die beiden einzigen bürgerlichen Personen am Tische nie das gedrückte Gefühl des Verlassenseins los wurden. Die Dame des Hauses hatte zwar Takt genug, sich in jedem freien Moment zu ihnen hinzuwenden und ein Gespräch anzuknüpfen, doch konnte sie nicht füglich die Rücksicht, die sie einem großen Kreise schuldig war, auf zwei Personen allein concentriren. Die Andern waren zu egoistisch, um sich einen Augenblick in ihrer Bequemlichkeit stören zu lassen. Man schwatzte mit den Bekannten und beachtete die Verlegenheit der beiden Fremden nicht, die, nachdem sie sich eine kleine halbe Stunde lang leise unter sich von der schönen Natur unterhalten hatten, die günstige Minute erhaschten, um sich zu empfehlen.
Draußen athmete Ida schwer auf und wollte eben gegen ihre Beschützerin das Gelöbniß aussprechen, nie wieder diese schwüle Atmosphäre zu besuchen, als ein Mann, den sie für den Obergäriner hielt, rasch vor ihnen hin über eine Brücke schritt, ohne sie zu sehen. Er war sehr luftig in hellgrauen Stoff gekleidet und trug einen großen Strohhut tief in die Stirne gedrückt.
»Welch ein merkwürdig schönes Gesicht ist das!« sagte Ida. »Ich dachte, solche gäb' es nur im Antiken-Museum, nicht in der Wirklichkeit.«
»Ei, das ist ja der Graf,« lachte Frau Werl; »nun, eine Antike ist er freilich, wenn er sich auch trägt wie ein junger romantischer Maler.«
Verwundert hörte Ida, daß der Mann, dem sie kaum vierzig Jahre zugetraut hatte, mindestens acht und fünfzig alt sein müsse. Es war eine jener unverwüstlichen Männerschönheiten, die als Greise noch bezaubernd sein können. In der Jugend höchst schmächtig, hatte er durch die Jahre eine kräftige Fülle geliehen erhalten, die nirgends über das reine Ebenmaß hinausschwankte. Das Profil mit der Adlernase, den graziösen feingerundeten Lippen über dem etwas vorstrebenden Kinn war wirklich majestätisch. Während die entschieden blauen oder schwarzen Augen meist im Alter eine trübere Farbe annehmen, hatten seine, von einem dunkeln Grau, eine geistige Klarheit bekommen, die seinem Blick etwas Hinreißendes, Unwiderstehliches gab.
»Welch ein unermeßlicher Vorzug ist ein schönes Gesicht,« seufzte Ida; »diesem völlig Unbekannten traue ich sogleich ein Verständniß alles Großen und Schönen zu, bloß weil er so sehr gescheidt aussieht. Wäre ich schön, oder hätte ich nur irgend etwas Imposantes in Miene und Geberde, so hätte mich in dem Kreise, den ich mit gepreßtem Herzen verlassen, gewiß Einer oder der Andere angeredet, während Niemand daran denkt, daß hinter einem blassen Gesicht und einer gebückten Stellung auch eine Seele wohnt.«
Nach einigen Tagen kam eine freundliche Einladung an die Amtmannsfamilie und deren Gast, einen stillen Abend beim Grafen Selvar und den Seinigen zuzubringen.
»Gott sei Dank, es ist ein Regentag,« sagte Frau Werl, »da bleiben wir wohl allein drüben.«
Und so war's auch. Außer der verheiratheten Tochter des Grafen und deren Gemahl kam Niemand weiter. Der Amtmann, ein sehr munterer alter Herr, mit dem Selvar gerne verkehrte, hatte ihn mit Ida's Verhältnissen und Aussichten bekannt gemacht, indeß diese mit der jungen Gräfin über Bellini und Donizetti disputirte. Gleich den meisten aristokratischen Damen liebte die Gräfin diese beiden Componisten über alles Maß, und fand Alles von ihnen magnifique, superbe u. s. w.
Ida hielt ihr die große Armuth der modernen italienischen Compositionsweise entgegen. Sie erinnerte sie an die immer wiederkehrenden süßlichen, charakterlosen Melodien, unfähig, das höchste Entzücken, wie den tiefsten Seelenschmerz auszudrücken; an die Ansätze zu Kraftstellen, die stets affectirt und lächerlich erschienen und durch die mindeste Parodie sogleich in ihrer ganzen Blöße aufgedeckt würden; an den monotonen Marschrhythmus; an die Harmonie, die in zwei oder drei verwandten Tonarten im Kreise läuft, wie im Tretrad, und an die totale Nichtigkeit der Begleitung und der Zwischenspiele.
»Und dennoch entzückt diese Musik alle Welt,« sagte die Gräfin, »man hört und singt sie mit Vergnügen alle Tage, während man bei einem Oratorium von Bach oder Händel vor Langeweile einschläft.«
»Wer sich bei diesen Meistern langweilen kann,« erwiederte Ida, »dem traue ich überhaupt keinen Kunstsinn zu. Es ist vielleicht eine Trägheit des Denkens in vielen musikalisch begabten Menschen, die sie verlockt, sich mit halbem Ohr und halber Seele dem sinnlichen Reiz einer schmeichelnden Melodie hinzugeben, ohne Rechenschaft zu verlangen, ob dieses die wahre und edle Kunst ist. Könnten Sie sich einmal überwinden, Frau Gräfin, den Gang jeder Einzelstimme in einer Bach'schen Fuge aufmerksam zu verfolgen, oder eine Sonate von Beethoven so zu studiren, daß Sie die Unendlichkeit ihrer Tiefe empfänden, Sie würden nach solch einem geistigen Genießen gar nicht mehr zu jener faden Spielerei mit Tönen zurückkehren mögen.«
Die Gräfin lachte und meinte, wozu sie sich denn die Mühe eines anstrengenden Studiums geben solle, wenn die leichte Musik, die sie von selbst begriffe, eben so angenehm klänge. »Das mag für die gelehrten Musiker sein,« fügte sie hinzu, »die den sogenannten Contrapunkt verstehen. Für uns genügt eine Melodie, die oben liegt und die vom Baß und den Mittelstimmen nicht weiter behelligt wird. Die künstliche Ausarbeitung ist nur Schuld, daß man das Schönste nicht mehr klar versteht. Es ist gewiß Zeichen eines feinern Geschmacks, daß die Italiener so elegant und einfach componiren.«
Der Graf erinnerte jetzt, daß die Zuhörer sich viel besser an wirklicher Musik, als am Gespräch darüber, ergötzen würden, und bot Ida den Arm, um sie ans Clavier zu führen.
Ida wählte Hummels Es-Dur-Phantasie, ein Stück, das auf der letzten Grenze desjenigen Gebietes steht, welches ein an Sebastian Bach gewohnter Spieler nicht überschreitet, und dessen anmuthige Verzierungen andererseits noch eben im Stande sind, einen Bellini-Fanatiker zu versöhnen.
Ida's Vorzüge als Spielerin waren besonders groß in mannigfaltigen Schattirungen des Vortrags. Ward sie hie und da in Fertigkeit der Finger übertroffen, so blieb sie doch unnachahmlich in dem Interesse, das sie durch die freie Entfaltung ihrer eigenthümlichen Auffassung einem Tonstück zu geben wußte, so daß es bald wie ein Drama, bald wie ein Bild erschien, wobei sie dennoch nie die Schranken überschritt, die der Wille des Componisten vorschrieb. Kam sie in Feuer, so beflügelten sich ihre Finger, die Wangen rötheten sich und das schwarze Auge leuchtete auf.
Selvar betrachtete sie während des Spiels und wunderte sich über die Veränderung ihrer Züge, die ihm vorher so unbedeutend erschienen waren. Fein und klug wußte er ihr, als sie aufstand, die üblichen Schmeicheleien in einer ganz neuen Weise zu sagen, so daß sie mehr wie eine Beurtheilung, die er an die Anwesenden richtete, und nicht wie Complimente klangen.
»Versteht denn Ihr Mund auch so zu singen, wie Ihre Finger?« fragte er.
»Der Gesang ist mein Fach nicht, doch singe ich gerne Lieder, deren Text meiner Stimmung entspricht, aber die kann ich nur gut vortragen, wenn ich allein bin; vor Zuhörern glaube ich mein Innerstes zu verrathen, wenn ich ausdrucksvoll singe.«
»Das ist eine zu unkünstlerische Gesinnung, als daß ich sie Ihnen zutrauen könnte.«
Nach einigen Weigerungen, die ihr übrigens ganz ernst gemeint waren, sang Ida mit einer vollen tiefen Altstimme einige überaus schöne Volkslieder fremder Nationen, deren Uebersetzungen in diesem Kreise noch unbekannt waren.
Selvar war völlig hingerissen, seine von den Jahren nie herabgestimmte enthusiastische Natur verleitete ihn zu Ausdrücken der Bewunderung, welche eben so begeisternd auf die Sängerin zurückwirkten. Die verschlossene Glut ihrer Seele machte sich Luft in schmelzenden, jubelnden, verzweifelnden und schalkhaften Liedern, und Blitz auf Blitz entzündeten diese noch nicht ganz erloschene jugendliche Empfindungen im Herzen ihres Zuhörers. So unerschöpflich ihr Gedächtniß, so unersättlich war er im Belauschen ihrer schönen Lieder. Den Andern ward es denn doch endlich zu viel. Erst hatten sie mit um Mehr gebeten; dann zogen sie sich aus dem Kabinet, worin das Clavier stand, in den anstoßenden Salon zurück, um verstohlen neben der Musik des Plauderns zu genießen. Dort wurden Lampen herein gebracht. Der Graf verbat das Licht als die reine Wirkung der Musik störend. Nur durch ein geöffnetes Gartenfenster blickte zwischen duftenden Orangebäumen der aufgehende Mond herein, und vom Wasserfalle her rauschte und plätscherte es zu dem ewig rührenden, zauberreichen Liede von Goethe:
Füllest wieder Busch und Thal
Still mit Nebelglanz.
Jetzt stand Ida auf, weil sie fürchtete, Frau Werl möchte es tadeln, daß sie sich zu sehr von der Gesellschaft isolire. Rasch ergriff der Graf noch in der Thüre ihre Hand, drückte diese auf sein Herz, nannte sie: »liebe, holde Freundin!« und sprach mit schmeichelnden Lauten ihr aus, wie sie seine liebsten Träume aus der Verschollenheit alter Zeiten neu heraufbeschworen, und wie ihrer Stimme eine Wundergewalt über seine Seele verliehen sei, die er sich nicht erklären könne.
Bei der Abendtafel war Ida zerstreut und verlegen. Kein Gedanke erschien ihr gut genug, um ihn ihm gegenüber auszusprechen. Der Witz versagte ihr, wenn sie in seine mächtigen Augen blickte, die er ernst und zuversichtlich auf sie gerichtet hielt.
Ida's Umgang war seit ihrer Kindheit auf sehr spießbürgerliche Personen beschränkt gewesen. Eine Ausnahme machte ihr Vormund und ihr Musiklehrer. Das Publikum der jungen Männer in ihrer Heimath bestand meist aus Handlungsbeflissenen oder angehenden Landwirthen. Dachte sie jetzt an die Wenigen zurück, die ihr einst vorzüglich gebildet und angenehm erschienen waren, oder deren Artigkeit sie in eine kleine Aufregung versetzt hatte, so schämte sie sich vor ihr selber. Wie ästhetisch waren alle Bewegungen, wie ruhig der langsame Sprachton des vornehmen Mannes; welch eine furchtsame Ehrerbietung flößte seine edle, prachtvolle Erscheinung ihr ein! Und dieser Mann mit der Königsmiene hatte ihre Hand an sein Herz gedrückt, sie seine liebe, holde Freundin genannt. Also hatte auch er denselben Zug zu ihr in seinem Herzen empfunden, wie sie zu ihm; so glaubte sie mit schauerndem Entzücken.
Nie an Verstellung gewöhnt, bemühte sie sich nicht im geringsten, ihre Aufwallung zu verbergen. Daheim saß sie ungesprächig, oft völlig stumm, und schaute nach dem weißen Hause hinüber, ward glühend roth, wenn der Graf erschien, und zitterte merklich, als er heraufkam, sie zu besuchen. Frau Werl durchschaute bald ihr Gefühl, und setzte sich eifrig vor, sie von einer so unnatürlichen Narrheit zu kuriren; denn so sah sie die Leidenschaft eines jungen Mädchens zu einem Manne an, der bei aller Liebenswürdigkeit doch immer dem Greisenalter nahe stand.
Sie erzählte Ida eine Menge von Liebesgeschichten, die er der Sage nach während und nach seiner Heirath durchlebt haben sollte, und warnte, daß sie sich nicht lächerlich machen möchte, indem sie einen zu großen Werth auf seine Freundlichkeiten legte. Das immer wiederkehrende Thema ihrer Tischreden, in welche der Amtmann, wenn auch weniger rigoristisch, mit einstimmte, war: »Selvar ist eine männliche Coquette und um so gefährlicher, weil er nicht selber kalt bleibt. Aber nur so lange dauert seine Begeisterung, bis er merkt, daß er einen tiefen Eindruck gemacht hat; dann ist seine Eitelkeit befriedigt, und er ist wieder kalt höflich und verbindlich, wie immer. Und was begeistert ihn nicht Alles! Schönheit, Talent, Eleganz und geniale Nachlässigkeit, was nur irgend auffallend ist. Am längsten fesselt ihn ein kalter, witziger, minutiöser Verstand. Wenn er diese vornehmen Eigenschaften einmal in seiner Umgebung entbehren muß, so läßt er sich auch wohl herab, dem Talent im Kattunkleidchen zum Spaß den Hof zu machen.«
Von all diesem glaubte Ida natürlich nichts, und sah nur die Absicht ihrer Freunde hindurch. Die Schilderung war auch wirklich nicht in dem Maße wahrhaft, als sie wohlmeinend gegeben wurde. Es war ein Kern in der Begeisterung für das Hohe, Geistige, bis zum äußerlich Anmuthigen hinab, welche Selvar den Frauen gegenüber empfand. Allerdings wehte ein Anflug von Eitelkeit und vornehmer Leichtfertigkeit drüber hin, doch diese waren nicht der Grundinhalt, und jenes liebevolle Element eben so wenig eine bloße Färbung.
Die jetzt sehr häufigen Einladungen des Grafen lehnte der Amtmann unter allerlei Vorwänden ab, konnte aber nicht hindern, daß er desto häufiger sein Haus besuchte und sich unbefangen neben Ida ans Clavier setzte. Es ward für Frau Werl unmöglich, dasjenige consequent durchzuführen, was sie sich zur Pflicht gemacht hatte, nie einen Augenblick das Paar allein zu lassen, damit, wie sie es platt aussprach: »der alte Roué nicht vollends dem unerfahrnen Mädchen den Kopf verrücke.« Nur zu oft fand sich eine unbewachte Minute, wo er ihr einen neuen Funken in die Seele werfen konnte, den sie in der Einsamkeit tagelang nährte.
Ihre erste Sorge ward jetzt, sich der Tyrannei ihrer Beschützerin zu entziehen, deren stetes Verunglimpfen Selvars ihr unausstehlich erschien. Sie erklärte, sie wolle ihren Beruf als Lehrerin nun endlich frisch antreten. Rasch hatte sie eine Wohnung in der Stadt gemiethet, und da sie durch die bekannte Vorliebe ihres Freundes einmal der vornehmen Welt interessant geworden war, so drängte man sich dazu, von ihr Unterrichtsstunden zu erhalten.
Nun begann eine neue Lebensordnung, in die sich Ida sehr schwer hineinfand. Jedes große musikalische Talent muß im Lehrerberuf anfangs eine Periode der Verzweiflung überwinden. Alle freie Zeit, die Ida ehemals dem Studiren der trefflichsten Werke gewidmet hatte, wurde nun durch größten theils talentlose Schüler aufgezehrt, die gar zu gerne schwere Compositionen stotterten, zu denen sie nicht befähigt waren. Ihr selbst ging noch die Mäßigung und Routine ab, die ein Musiklehrer vor allem braucht, um nicht aus übelverstandener Pflichttreue den Schüler auf einmal mehr zu lehren, als er binnen einer Stunde begreifen kann. Nun kam das Schwerste hinzu: ihr Gemüth war von einem andern Interesse ganz erfüllt, und wenn sie sich bewußt ward, daß sie die Schülerin gedankenlos hatte weiter spielen lassen, weil sie in ihren Träumen bei dem schönen Freunde drüben in Waldheim war, so schreckte sie zusammen und verdoppelte ihre Aufmerksamkeit. Mitten im Streben, jene Gewissenlosigkeit wieder gut zu machen, ward ihr von neuem die Seele entführt. Erschöpft kam sie nach Hause, und warf sich in die Sofaecke, um endlich ungestört an ihn zu denken; dann scheuchte der Trieb Neues zu lernen sie wieder auf, und mit unglaublicher Anstrengung zwang sie sich, die wenigen Stunden, die ihr bis zur Nacht blieben, redlich auf ihre Fortbildung zu wenden. Aber alle Vorsätze zerrissen, wenn der Wagen des Grafen draußen hielt, um sie nach Waldheim zu führen. Diese Einladungen waren für sie unwiderstehlich, und doch kam sie nie zu einer reinen Seelenstimmung, wenn sie ihnen gefolgt war.
So sehr sie sich ihrer alten Beschützerin entfremdet hatte, hielt sie sich doch verpflichtet, sie jedesmal zu besuchen, ehe sie das Haus der neuen Freunde betrat. Dann konnte Frau Werl sich's nie versagen, die junge Künstlerin, die sich ihrer Botmäßigkeit entzogen hatte, mit einer Warnung oder einem Spott zu quälen, der ihr den Abend verbitterte. Selten ward ihr der Ersatz eines einsamen, recht herzlichen Gesprächs mit Selvar; denn die junge Gräfin, seine Tochter, ließ es absichtlich nicht dazu kommen. An flüchtige leidenschaftliche Zuneigungen des Grafen zu dieser oder jener Weltdame war seine Familie gewöhnt und fand sie ganz in der Ordnung. Hier aber drohte ein ernstlicher Ausgang, weil die Leidenschaft mit jugendlicher Heftigkeit erwiedert ward.
Diese Besorgniß war indeß ungegründet; denn so sehr Selvar manche kleine Neckereien schmeichelten, es ward ihm doch etwas ängstlich dabei, wenn er an Ida's geringe Selbstbeherrschung und an ihre Weltunkenntniß dachte. Stets war er in Gefahr, daß sie sich durch eine unverhohlene Liebesäußerung vor Menschen verrieth, die darüber witzelten, während er selbst in den Schranken der Klugheit blieb. Darum ward er immer sparsamer mit Ausdrücken der Leidenschaft, und ließ sich nur in solchen Stunden den Zügel schießen, wo er sicher war, daß ihm Zeit blieb, seine Enthusiastin wieder zu beruhigen.
Die Musik war hierzu die beste Vermittlerin. Ida's eigene Seele lechzte nach geistiger Nahrung, wenn sie einen Tag lang die musikalischen Fadaisen ihrer Schülerinnen durchgestanden hatte. Ihre geliebten Melodien waren ihr nun zugleich Liebessprache geworden. Selvar fühlte es, wie sie mit der höchsten Glut ihres Vortrags ihm ihr ganzes Sein zu Füßen zu legen strebte. Nichts Leichtfertiges lag in diesem Spiel mit den Tönen. Indem sie nur das Edelste, was die Kunst im leidenschaftlichen Styl geschaffen, zum Aussprechen ihrer Gefühle erwählte, erschienen diese dichterisch verklärt und geadelt.
Wie ein Donnerschlag traf es sie, als Selvar ihr vorschlug, Variationen von Herz über ein Thema von Rossini einzustudiren. Er hatte sie in einem Coneerr gehört und war davon ungemein entzückt.
Die junge Gräfin, die bemerkte, wie Ida stutzte, fiel ein: »Man ist doch endlich des langweiligen Beethoven müde, und Ihr Repertoire würde durch etwas Mannigfaltigkeit sehr gewinnen.«
Ida sprach mit gewohnter Heftigkeit ihre Verachtung aller bloßen Variationen-Schmiede aus, und erklärte, daß Herz in der Kunst auf der untersten Stufe stehe, ja streng genommen er und seines Gleichen gar nicht mitzählten.
Der Graf wollte begütigen: »Meine Freundin,« sagte er sanft, »Sie sind allzu extrem. Man muß gegen alle Leistungen gerecht sein. Ich höre sehr gerne Beethoven, aber Rossini macht mir eben so viel Vergnügen. Vollkommen liebenswürdig würden Sie handeln, wenn Sie mir zu Liebe jetzt die moderne italienische Musik eben so eifrig studiren wollten, als ich Ihnen bisher treu in die Labyrinthe der classischen deutschen gefolgt bin.«
Ida war einen Augenblick erstarrt. Dann sagte sie: »Heißt das nicht: laß das Schlechte gelten, so wollen wir tolerant gegen das Gute sein?«
Die junge Gräfin entgegnete spitz: »Auch das größte Talent verliert an Werth, wenn einem Künstler die Bescheidenheit abgeht.«
Ein mißbilligender Blick ihres Vaters ließ sie schnell abbrechen. Er hatte sich zwar auch durch Ida's Aeußerung verletzt gefühlt, doch sah er eher eine ihr längst verziehene gesellschaftliche Unbildung darin, die er durch seinen Einfluß mehr und mehr abzuschleifen hoffte.
Ida hatte die Augen voll schwerer Thränen. Selvar bot ihr einen Spaziergang durch den Garten an. Es war schon herbstlich kühl geworden; die abfallenden gelben Blätter mahnten an den baldigen Heimzug in die Stadt. Selvar bat Ida, dort sein Haus wie das eines Vaters anzusehen, und dabei drückte er ihren Arm noch zärtlicher an seine Brust, als ein Vater gethan hätte. Ida hatte sich schon im Stillen gelobt, ihm zu Ehren als höchstes Liebesopfer die verhaßten Variationen einzuüben, obschon sie ihre musikalische Religion dabei verläugnen mußte. Sie spiegelte ihrem Gewissen vor: »Wer weiß, ob nicht auch diese Art von Musik ihren Zauber besitzt, der nur demjenigen ewig verschlossen bleibt, der sich nicht mit Kindesglauben hinein versenkt. Ich habe nie ein solches Stück geduldig bis zu Ende gespielt, es gleich nach den ersten Seiten weggeworfen; eine affectirte Passage reichte hin, mir eine ganz anmuthige Melodie, die vielleicht nicht ohne Seele war, zu verleiden. Eben so ungerecht habe ich ja einem Menschen mit modischer Frisur bisher keinen großen Gedanken zutrauen können.«
Diesem Gedankengange schloß Selvar unbewußt noch einige Bemerkungen an, die Ida in ihrem Toleranzentschluß bestärkten. Er sagte: »Sie haben in Ihrer schönen Begeisterung mich so oft überzeugt, daß Ihr Gluck, Ihr Händel und Ihre anderen Abgötter die heiligsten Menschengefühle, das größte Geschick, das Sterbliche treffen kann, uns in Tönen wieder erschließen. Aber wie wenige Menschen haben Ungeheures erlebt oder sind befähigt, es zu verstehen. Wie fern liegt uns die Sympathie für eine Armida, eine Alceste! Diese Fabelwesen haben kaum einen Anspruch an unser Mitgefühl, und wir müssen uns vorher in eine erhöhte Stimmung schrauben, die wir unmöglich jeden Abend zur Theestunde heraufbeschwören können. Sollen wir Salonmenschen mit unsern Salonschmerzen, die wahrlich oft nicht geringer sind als die eines zerschnürten Herzens, sollen wir völlig unberechtigt sein, eine Kunst zu kultiviren, die eben unsere Leiden ausspricht? So wie die feine Sitte, die Grazie der äußern Erscheinung jeden rohen Ausbruch der Leidenschaft verhüllt, so umschleiern Rossini's und seiner Nachfolger reizende Fiorituren die tieferen Ausdrücke eines Wehegefühls, das uns ohne diesen Schmuck peinlich afficiren würde.«
Ida begann zu Hause die Variationen, und war nach zwei Tagen über die Wahrheit im Reinen, daß es leichter ist, für ein geliebtes Wesen sich in Lebensgefahr zu stürzen, als eine täglich sich erneuende Widerwärtigkeit zu ertragen: ein Opfer, das von demjenigen gar nicht als ein solches anerkannt wird, dem man es mit blutendem Herzen darbringt.
Während der größere Theil gediegener Musikstücke einem geübten Spieler wenig technische Schwierigkeiten in den Weg wirft, und er sogleich den Genuß ihres geistigen Inhalts gewinnt, der sich beim jedesmaligen Durchspielen steigert, tritt das Gegentheil bei der Salon-Musik ein. Eine oberflächliche Melodie, die man sogleich auswendig behält, muß man tagelang unermüdlich wiederholen, weil die absurden Sprünge und Zierrathen, die ihr zugesellt sind, in der ungeheuersten Raschheit blindlings getroffen werden müssen. Auch ein Virtuose ersten Ranges wendet mindestens einen Monat Zeit an das schwierigste moderne Concertstück.
Ida verzweifelte an der dritten Variation. Sie saß mit heißen Unmuthsthränen am Clavier, weil sie sich gelobt hatte, sie durchzuführen. Ihre wenigen Mußestunden vergingen, ohne daß die Sprünge merklich rascher und reiner gelingen wollten. Dieses Geklimper lag ihr zu fern; sie hätte eher das ganze »wohltemperirte Clavier« vom Blatt gespielt. Nun sah sie von weitem drohen, daß es bei dieser einen Anforderung nicht bleiben werde, daß, je glänzender sie dieß erste Stück vortrüge, allen Rondo brillants, Fantaisies sur des thèmes favoris, ja dem ganzen parfümirten Verlage von Schott's Söhnen in Mainz die Schleußen so viel weiter eröffnet würden. Ihr treuer Erard'scher Flügel erschien ihr profanirt, und nachdem sie den »Henri Herz« erst in eine Ecke geschleudert, und dann erschrocken als ein Geschenk des Geliebten wieder aufgehoben, geküßt und sanft auf den Tisch gelegt, nahm sie die »chromatische Phantasie« hervor und entsühnte damit die Saiten.
Plötzlich fuhr's ihr durch den Sinn: »Dieß Opfer ist nicht durchzuführen und kann gar nicht von mir verlangt werden. Wäre ich über die volle Tageszeit Herr, wie sonst, so wendete ich ein paar Stunden an diese Monstremusik, und erholte mich nachher am Vortrefflichsten. Aber jetzt, da ich sechs Stunden unterrichte und fast jeden Abend in Waldheim zubringe, muß ich geistig verschmachten, wenn mir die wenigen Mußestunden geraubt werden. Er wird das begreifen, wenn ich ihm schildere, wie dieser Henri Herz mich ums Leben bringt. Aber das Andere kann ich: italienische Opern singen lernen. Die kosten weniger Zeit und machen ihm eben so viel Freude.«
Sie ließ sogleich Bellini'sche Arien holen und versuchte sie in der modernen Prima-Donnen-Manier zu singen. Fast mußte sie über sich selbst lachen; denn sie kam sich vor, als probire sie eine Maskeraden-Toilette.
»Wie kann Selvar glauben,« rief sie, »daß solche Karrikaturen wirkliche Liebe und wirklichen Schmerz aussprächen! Nur Lüge und Affectation ist in dieser Musik, und was sollen wir von den vornehmen Empfindungen der Salonmenschen Besseres halten, wenn sie sagen: das ist unsere Sprache. Und Alceste, Iphigenie sollen nicht mehr von der Gegenwart verstanden werden können? Was ist denn ewig und allen Generationen aufgeschlossen, wenn nicht die geheiligten Triebe der Eltern-, Gatten- und Geschwisterliebe, für die Gluck die wahrhafteste und einfachste Sprache gefunden bat? Der Stolz und die Hingebung Armidens, leben sie nicht neu in jedem Herzen auf, das von der Leidenschaft für die Schönheit nach verzweifelten Kämpfen überwältigt wird!«
»Ach, wer vertilgt ihn wohl von des Daseins Spur,« stimmte sie an, und vertiefte sich so sehr in die Rolle Armidens, daß sie das Klopfen an der Thür überhörte und plötzlich Selvar neben ihr stand.
Es war das erstemal, daß er sie in ihrer Wohnung besuchte. Bisher hatte er vermieden in die Stadt zu kommen; nun wollte er beim Vertauschen seines Landgutes mit dem Winteraufenthalt ihr einige Zimmer seines Hauses anbieten, wo sie unter dem Schutze seiner Familie, wie er ihr vorstellte, schicklicher in der großen Stadt existiren könne, als so allein bei fremden Menschen.
So reizend es Ida erschien, mit ihm unter einem Dache zu leben, so süß sie sich dort in ein innigeres Verhältniß zu ihm geträumt hätte – in welches, war ihr selbst nicht klar – so hatte sie doch eine unnennbare Scheu, von ihm etwas anzunehmen, das nur den Schein eines Geschenkes gehabt hätte. Liebe und geistige Gaben konnte sie erwiedern, aber womit sollte sie die verschwenderische Gastfreundschaft des Reichen lohnen, als indem sie ihr Talent dem Salon dienstbar machte? Ihn wollte sie zu jeder Stunde damit erfrischen, wenn ihm die durchgenossene Welt schaal erschien, aber eben aus dieser faden Welt heraus strebte sie in kindlicher Unschuld ihn zu reißen, in den geweihten Tempel eines überirdischen Daseins, wie ihr die Musik erschien.
Nachdem sie entschieden Selvars Anerbieten abgelehnt hatte, legte sie ihm Alles, was sie heute über gute und schlechte Musik gedacht hatte, in wohlgeordneten Beweisen vor. Sie führte abwechselnd Beispiele von Gluck und Bellini sogleich praktisch auf dem Klavier aus, und meinte, heute oder nie werde sie ihn überzeugen.
Statt dessen entfremdete sie sich seiner Neigung, da er diese Hartnäckigkeit in einer Sache, die ihm nicht bis zu solchem Grade wichtig erschien, höchst unliebenswürdig fand. Sein Verstand war ihren Beweisgründen keineswegs verschlossen, aber er hielt ihren Standpunkt für ganz einseitig, da sie exclusiv nur wenige Componisten gelten ließ, welche die wahren Kunstforderungen erfüllt hätten. Mehr noch als ihr unerschöpflicher Liederquell hatte ihn die unverhohlene Liebesglut entzückt, die ihm aus ihren tiefen schwarzen Augen, aus dem Erröthen ihrer jugendlichen Wangen entgegenblitzte. Seit langen Jahren hatte er keine so unverstellte Leidenschaft mehr geweckt, und in einer so klaren ächten Mädchenseele. Jetzt, da es ihr unmöglich war, ihm ein Opfer zu bringen, das er nur als eine Gefälligkeit in Anschlag brachte, begann er an ihrem Gemüth und zugleich an ihrer Bildungsfähigkeit zu zweifeln. Innerlich verstimmt, aber mit einer sehr höflichen Ausrede, brach er ab, küßte ihre Hand und ging, als im selben Moment Frau Werl zur Thüre hereintrat.
Diese hatte Selvars Anstalten zum Umzug aus Waldheim beobachtet und sich verpflichtet, noch einmal den ehemaligen Schützling vor der ihm jetzt drohenden zwiefachen Gefahr zu warnen.
»So, so,« fing sie an, »der Herr Graf ist wohl hier schon wie zu Hause.«
»Er war zum erstenmale bei mir,« entgegnete Ida.
»Nun, da Sie alle Tage zu ihm gehen, braucht er sich ja nicht zu Ihnen zu bemühen.«
»Sie haben mich ja selbst bei seiner Schwester eingeführt und wissen, daß ich dem Einfluß dieser Familie meine ganze Stellung hier verdanke; wie kann ich anders, als mich denen dankbar anschließen, die wie für ein Kind für mich gesorgt haben.«
»Und die jetzt eben so sicher sorgen, daß Sie diese Stellung wieder verlieren werden. Glauben Sie denn, daß die gestrengen Mütter Ihnen länger das Lehreramrt bei ihren Töchtern anvertrauen, sobald erst Ihr Verhältniß zum Herrn Grafen Selvar das Mährchen der ganzen feinen Gesellschaft wird?«
»Und wie kann man denn ein Verhältniß zu meinem väterlichen Freunde mißdeuten?«
»Ein schöner väterlicher Freund, der Ihnen den Hof macht, wie er vor Ihnen einer ganzen Reihe von Schauspielerinnen und Coquetten den Hof gemacht hat.«
»Sie sehen's nun einmal von dieser Seite an. Ich aber glaube, daß sein feiner Verstand ihn gewiß nicht mehr als die übliche Galanterie an unwürdige Gegenstände verschwenden ließ. Was mich betrifft, so bin ich seiner wahren Theilnahme längst gewiß.«
»Das ist ja eben der Beweis, wie Sie von Ihrer thörichten Leidenschaft verblendet sind, daß Sie vorgeben, ihn in ein paar Monaten besser kennen gelernt zu haben, als wir, die wir ihn ein halbes Leben hindurch schon beobachten. Ich bin überzeugt, daß seine Eitelkeit eine unverantwortliches Spiel mit Ihnen treibt.«
»Eben hat er mir den Beweis des Gegentheils gegeben,« sagte Ida kalt.
Frau Werl rief eifrig: »Wie, er hat Ihnen wirklich einen Heirathsantrag gestellt?«
Ida schrack zusammen und ward bleich und roth. »Gott bewahre, welch eine wahnsinnige Voraussetzung!« rief sie, und hielt beide Hände vor die Augen. »Wie können Sie ein solches Wort aussprechen? Der Gedanke hat auch nie von fern meine Seele berührt.«
»Ach was! Ueberspanntes Zeug, wie immer! Der einzig vernünftige Abschluß einer Liebschaft ist die Heirath. Sieht man die nicht als Ziel winken, so bricht ein vernünftiges Mädchen den Umgang ab, ehe er ihrem Rufe geschadet hat. Doch lassen Sie hören, was denn Ihr vortrefflicher, weiser und väterlicher Freund heute für Sie ausgesonnen hat.«
Ida berichtete unbefangen den Vorschlag Selvars, und Frau Werl brach in ein lautes Gelächter aus.
»Also das ist der große Beweis von Verehrung, den Sie von ihm erhalten haben. Nun, mit den Folgerungen, die das Publikum aus dieser Hausgenossenschaft machen würde, will ich Sie verschonen. Aber sehen Sie denn nicht den bloßen Egoismus aus der Zumuthung heraus, daß Sie das Amt der Hauskünstlerin versehen sollen, die Klavier spielt, wenn langweilige Gesellschaft da ist, damit man die Pausen nicht hört, die im Gespräch eintreten; oder die die Familie amusirt, wenn man nicht bei Laune war auszugehen; die bei Geburtsfesten passende Melodien unter Dilettantengedichte bringt, und im Theater die Lieblingsarien aus den neuen Opern auswendig behält und sogleich zwischen dem Souper reproducirt.«
»Alles dieß wäre für einen Mann von Selvars Bildung ein überflüssiger Zeitvertreib. Ihm steht ja ohnehin zu Gebot, was diese Stadt an Kunstgenüssen bietet. Was sollte ihn vermögen, gerade mich auszuzeichnen, wenn es nicht der Zug seines gütigen, wohlwollenden Herzens wäre!«
»Das ist just das Gefährliche, daß wirklich ein Funke in dieß alte entzündbare Herz gefallen ist. Sie verstehen nur zu schlecht Ihren Vortheil, und dämpfen den durch Ihr Entgegenkommen, anstatt ihn anzufachen. Das hätte mir in meiner Jugend vorkommen sollen, ich hätte die Sache ganz anders angefangen. Dieser Selvar hat's mit den meisten Männern gemein: wenden wir uns von Einem ab, so verfolgt er uns; merkt Einer, daß unser Herz ihm nachgezogen wird, so erkältet sich das seine. Sobald Sie merkten, daß Sie auf dem Wege waren, ihm unentbehrlich zu werden, da hätten Sie sich selten machen müssen, und gerade dann nicht kommen dürfen, wenn er am dringendsten Sie einlud. Dann wäre ihm endlich der Gedanke aufgestiegen: was hindert mich, mir meinen Lebensabend so hell wie möglich zu schaffen! Und er hätte alle Rücksichten über den Haufen geworfen, um Sie für immer zu fesseln. Aber nun, was braucht er sich der Mißbilligung seiner Familie, dem Spott seiner Standesgenossen auszusetzen, um ein Herz zu gewinnen, das sich ihm ohne alle Bedingungen zu Füßen wirft?«
Ida rief empört: »Welche unwürdige Rolle muthen Sie mir zu! Also den Egoismus in der Liebe, den Sie am Manne tadeln, empfehlen Sie mir als Tugend? Nein, lieber verschmäht werden, lieber lächerlich vor der Welt, als kalt berechnen.«
»Halten Sie das, wie Sie wollen, nur mit dem Einen Punkte, mit dem Rufe, spaßen Sie nicht; dieß ist mein letzter guter Rath.«
Mit diesen Worten entfernte sie sich und ließ Ida in einer rechten Seelenfolter zurück. Sie war an diesem Abend zu keinem hellen Gedanken fähig. Der rauhe Eingriff in ihr Liebesheiligthum hatte ihr die Reinheit der Seele getrübt. Sie war so beschämt, als hätte sie selbst und nicht Frau Werl vom Heirathen gesprochen. Ihr Clavier mochte sie nicht anrühren. Die Variationen, die sie sich gelobt hatte durch kein neues Studium zu unterbrechen, widerten sie an; ihre Lieblingsstücke konnten sie nicht trösten; denn die waren es ja, die sie mit ihm entzweit hatten, und ach, die letzte Zuflucht des wunden Herzens, sein Bild heraufzubeschwören, von Ihm zu träumen, war ihr genommen. Wohl hatte sie die Kühle und Förmlichkeit des heutigen Abschieds empfunden. Es stand etwas zwischen ihnen, und so gern sie ihn wiedergesehen hätte, um den bösen Zauber zu zerreißen, nach dem verwirrenden Gerede der Frau Werl wäre es ihr unmöglich gewesen, sein Haus unbefangen zu betreten.
Dießmal vergingen einige Tage, bis ein Billet des Grafen ihr ankündigte, daß er, durch ein leichtes Unwohlsein ans Zimmer gefesselt, sich sehr nach ihrer Gegenwart sehne.
Im selben Augenblick war sie auf dem Wege zu ihm. Da sie einige Personen um seinen Theetisch versammelt fand, beschloß sie dießmal recht an sich zu halten und die Stimmung der Anderen gegen sie genau zu beobachten.
Da ließ sich denn nicht abläugnen, daß Einige mit spöttischem Lächeln einander ansahen, wenn ihr Blick schüchtern den Geliebten gesucht und wieder geflohen hatte; daß Andere sie zwar fein, aber dennoch verletzend aufzogen; daß die junge Gräfin sich mühsam bezwang, um ihre Antipathie gegen eine Persönlichkeit im Zaume zu halten, die ihren Platz im Vaterherzen zu verengen schien; und daß – dieß war das Bitterste – er mehr auf seiner Hut war, nicht lächerlich zu erscheinen, als sie zu kränken. Und sie war tief gekränkt, daß er nicht mehr so hingerissen, so rücksichtslos sich zeigte, wie an den ersten unvergeßlichen Abenden in Waldheim.
Mit jeder Zusammenkunft ward der Riß tiefer; denn Ida verlor ihre Lebhaftigkeit und erschien in der Gesellschaft stumpf und unmuthig. Ihre Gegenwart wurde mehr ein Druck als eine Aufheiterung für den Grafen. Daheim weinte sie unaufhaltsame Thränenströme ihrem schönen Traume nach, der sich nicht mehr neu gestalten wollte. Dann verzweifelte sie an Selvars Liebe; dann hoffte sie die alten Zauberformeln wiederzufinden, die sie frisch entfachen sollten. Hatte sie geschworen, ihn nicht wieder zu sehen, so ward sie des Lebens überdrüssig, und sie folgte bald wieder dem Zuge zu seiner gefährlichen Nähe. Nun wollte sie fröhlich, gefällig, unbefangen erscheinen, und lauschte doch nur mit bangem Herzklopfen auf ein Zeichen der Sehnsucht, der bangen Leidenschaftsglut aus seinem Munde. Aber wehe, dieß Auge blieb immer klar und freundlich, diese Stimme blieb mild und herzlich wie die eines Vaters, aber sie erbebte nicht. Wurde Ida einmal von einer Erinnerung überwältigt, lockte ein Lied, dessen Worte Selvar einst als Dolmetscher seiner heimlichen Neigung vorsichtig und nur ihr deutlich wiederholt hatte, ihr Thränen ins Auge, so ward er kühlhöflich und lenkte das Gespräch auf allgemeine Dinge.
Sie verzehrte sich in Qual. Er war unwiderstehlich liebenswürdig geblieben, und sie konnte seine Gegenwart nicht mehr entbehren. Daß sie ihm nicht mehr gefiel, fand sie natürlich und rechnete es ihm nicht zum Vorwurf. Sie fühlte, daß sie nicht mehr dieselbe war, daß ein verstummtes, meist verweintes Mädchen, unfähig, ihre Stimmung zu beherrschen, diesen Mann nothwendig langweilen mußte. Ihre Berufsthätigkeit ward ihr eben so aufreibend, als der Liebeskummer. Früher ertrug sie eine Reihe ohrenzerreißender Clavierstunden nur in der Hoffnung des holden Abends, der die tagelange Geduld krönen sollte. Jetzt spannte jeder Mißgriff der Schülerin empfindlich ihre überreizten Nerven. In einer Stunde, als ein Mädchen, das alles musikalischen Gehörs entbehrte, immer mit der rechten Hand eine Dur-Terz zu einem Moll-Accord in der linken griff, stieg ihr ganz ernstlich der Gedanke an Selbstmord auf. »Soll man leben müssen, wenn das unser Schicksal bis ins Alter sein soll: Anhören falscher Töne und weiter nichts!« so murmelte sie auf dem Heimweg.
Und Selvar? Er läugnete sich nicht, daß er einen Fehler gemacht, indem er einem kleinstädtisch erzogenen Mädchen dieselbe Leichtigkeit, mit seiner Liebe fertig zu werden, zugetraut hatte, als etwa der französischen Gesandtin. Doch wie tief der Pfeil gedrungen, dafür hatte er trotz der Fülle seiner Liebeserfahrungen keinen Maßstab. Er meinte, sobald er selbst die Schranken wiedergefunden, auch sie wieder durch ein beschwichtigendes, stets ruhiges Entgegentreten in das Geleise kindlicher Empfindung zu bannen. Daß der alte Meister hier gleich dem Zauberlehrling stand, erzürnte ihn fast gegen Ida, deren langsamen, melancholischen Blick er nun am liebsten vermied.
So verging der Winter, und schon im März siedelte die gräfliche Familie nach Waldheim über. Selvar verreiste auf einige Wochen mit seiner Tochter und deren Gemahl. Seine Schwester blieb allein auf dem Lande, und überwachte die Verschönerungen, die er in Haus und Garten angeordnet hatte. Ida fühlte ihr Herz, wenn es auch still blutete, jetzt leichter, als sie fast diese ganze Zeit hindurch bei der liebenswürdigen alten Dame zubrachte, die ihr dringend gerathen hatte, sich einmal kurze Ferien zu gönnen. Diese milde Seele berührte so lind, so heilend die wunde Stelle in Ida's Herzen. Sie verstand zu schonen, zu reden und zu schweigen, wenn es Noth that. Sie hatte das seltene Talent zu trösten, ohne falsche Hoffnungen zu wecken, und eben so wenig der Liebekranken letzte arme Zuflucht, das Versinken in träumerisches Sinnen, zu stören.
Ida durchwandelte mit ihr den öden, weiten Garten, in dem auf vielen Stellen der Schnee noch nicht geschmolzen war. Der erste Hauch von warmer Luft aus dem Süden spielte ihr heute entgegen. Ein Strauch Veilchen war frisch aufgeblüht, und elektrisch durchbebte es ihr die Brust: »Nun muß sich Alles, Alles wenden!«
Da – war das nicht ein Reisewagen, der in den Hof rollte? –Ja – er kehrte wieder! Ihr Herz loderte in Flammen auf – ihm entgegen flog sie – dann bezwang sie sich und hielt den Arm seiner Schwester fest, um ihre Aufregung unter deren stillerer Begrüßung zu verbergen. Da kam noch ein zweiter Wagen; aus dem ersten stieg die junge Gräfin, welche mit einem eigenen tückischen Lächeln Ida grüßte und dann ein paar heimliche Worte an ihren Gemahl richtete, der sie auch ironisch ansah. Selvar sprang eben geschäftig und leichtfüßig wie ein Jüngling aus dem andern Wagen und hob eine sehr hübsche Dame von etwa acht und zwanzig Jahren heraus, die er seiner Schwester als ihren Gast vorstellte. Dann bewillkommte er Ida und sagte freundlich: »Sie dürfen mir dankbar sein; denn ich bringe Sie in die Nähe der größten Sängerin unserer Zeit, die Sie oft zu hören gewünscht. Wir wohnten im selben Hötel, da habe ich sie vermocht, hier Gastrollen zu geben, und vorher von den Anstrengungen des Winters in unserm Familienkreise zu rasten. – »Hier, Madame Fioretta,« fuhr er zu der Fremden gewendet fort, »stelle ich Ihnen einen weiblichen Kapellmeister vor.«
Die Sängerin beantwortete Ida's Gruß nur sehr flüchtig, und richtete das Gespräch sogleich wieder an die Herren. Sie theilte die Unart der meisten Bühnenkünstlerinnen, sich den Frauengesprächen unzugänglich zu machen. Sie hatte nur für den männlichen Theil der Gesellschaft Auge und Ohr, und nicht etwa darum, weil sie auf dieser Seite die tiefere Bildung voraussetzte; nein, auch mit dem ungebildetsten Manne sprach sie lieber, als mit der geistreichsten Frau.
Madame Fioretta mußte sich nach einigen Scenen, die ihr Ida vom Blatt begleitete und auf ihren Wunsch sogleich in eine andere Tonart transponirte, überzeugt haben, daß diese mindestens eine ihr ebenbürtige Künstlernatur war. Dennoch richtete sie kein Wort, kein Urtheil je an sie, noch weniger beachtete sie es im Strom ihrer Rede, wenn Ida eine Aeußerung versuchte und erschrocken wieder abbrach.
Außer Ida waren Alle von dem Wortgefecht entzückt, das Madame Fioretta bei Tische mit dem Grafen hielt und das wie ein buntes Feuerwerk schimmerte. Sie war witzig und bei ziemlicher Kälte des Herzens mit großer Geistesgegenwart begabt. Der Graf konnte sein Behagen an der kecken, philinenhaften Art der Italienerin gar nicht verbergen, und Ida sah, wie sich vor ihren Augen die Nacht immer düsterer zusammenzog, bis endlich die Stunde des Aufbruchs sie befreite.
Am andern Morgen war sie nicht mehr zu halten; endlich ließ man sie zur Stadt fahren, da alles Zureden umsonst gewesen. Die Sängerin, die sich nicht gern selbst begleitete, weil sie gewohnt war beim Singen zu gestikuliren, stimmte aufrichtig in die Bitten der Familie mit ein, daß Ida recht bald, recht oft wiederkommen möge. Sie versprach es, und wollte sich zur Erfüllung der Zusage zwingen, weil sie sich den wahren Grund ihres Wiederwillens nicht gestehen mochte.
Innerlich unklar und fast gedankenlos wanderte sie am folgenden Nachmittage vors Thor, zwischen Gärten und Landhäusern hin, die sich von der Vorstadt bis nahe gegen Waldheim zogen. Es dämmerte schon ein wenig, als sie die Plattform des hohen weißen Hauses blinken sah. Zweifelhaft, ob sie umkehren solle, blieb sie stehen, wagte dann einige Schritte weiter, und stand endlich am Ufer des Flüßchens, das sie just von der Stelle des Gartens schied, wo sie die Fenster des Musiksaales sehen konnte. Diese erhellten sich von vielen Lichtern, sie unterschied bei der Stille des Abends die bekannten Stimmen, und bald begann nach einem ungeschickten Vorspiel, das die Hand der jungen Gräfin verrieth, eine der Rossinischen Lieblingsarien des Grafen, um die er Ida einigemale vergebens gebeten hatte, Madame Fioretta sang sie so, daß sie Einen mit der ganzen italienischen Musik hätte versöhnen können. Die lang gehaltenen Töne des Adagio in der tieferen Stimmregion bebten und schwellten sich von der lieblichsten Zartheit bis zur unerhörtesten Kraft. Wie ein Spiel krystallener Glöckchen schlug dann das Rondo hinein, und der Abschluß, der im höchsten Sopran lag, ließ die Prachtstimme der Sängerin ihren ganzen Reichthum entfalten. Kein höherer Geist war in dieser Leistung, aber ein sinnlicher Zauber, der auch den ärgsten Rigoristen auf Augenblicke blenden und berücken mußte.
Ida wußte Alles, was in Selvar jetzt vorging, als wäre sie zugegen; was er sagen würde, mit welchem Blick er jetzt nach den Lippen der schönen Sängerin hinlauschte. Sie bog sich über das Geländer und ließ die Thränen in den Fluß hinabtropfen. Am liebsten hätte sie selbst sich hinuntergestürzt. Das Wasser rauschte munter vorwärts, drüben hörte sie ein neues Vorspiel, sie wollte nicht länger horchen; rasch wandte sie sich und ging durch die Dunkelheit der Stadt zu.
Nach einer unsäglich bittern Nacht brachte ihr der erste Sonnenblick den Entschluß, der sie aus ihrer Seelen-Erschöpfung endlich errettete. Sie ordnete Alles zur Abreise, wohin, wußte sie noch nicht. Erst als sie durch eine schriftliche Anzeige an ihre Schülerinnen den Schritt unwiderruflich gemacht hatte, schlug sie in der musikalischen Zeitung die Berichte aus verschiedenen Städten auf, und erwählte diejenige zu ihrem Wohnort, wo die classische Musik vorherrschend gepflegt wird. Der schwere Gang nach Waldheim ließ sich nicht vermeiden. Zuerst nahm sie Abschied von Frau Werl, welche gutherzig genug war, sie dießmal ohne Spott zu entlassen. Nur die Sorge sprach sie ihr aus, daß sie ohne alle Empfehlungen in einer fremden Stadt schwerlich so schnell Glück machen werde, als hier. Das galt Ida gleich; sie dachte: »Was ist es dem, die Noth des Lebens zu ertragen, dem das Leben selbst nur eine lästige Gewohnheit ist.«
Die Sehnsucht, Selvar noch einmal zu sehen, ließ sie vergessen, daß es das letztemal sei. Sie traf ihn und seine Schwester allein, doch erwarteten sie Gesellschaft. Ida wollte keinem fremden Gesicht mehr begegnen, nachdem sie, wie sie meinte, das schönste auf Erden mit festem Blick lange angeschaut und ihrer Erinnerung auf ewig eingeprägt hatte. Sie sprach kurz aus, warum sie gekommen sei, und erregte ihren Freunden das höchste Erstaunen. Man nannte ihren Entschluß übereilt und ganz excentrisch, man wollte nicht an ihren Ernst glauben und forderte vernünftige Gründe. Den wahren Grund konnte sie nicht aussprechen, und lügen mochte sie nicht; so sprach sie statt aller Antwort nur den Dank für das wirklich Gute aus, das ihr dieß Haus geboten, und riß sich in fast ungestümer Eile los.
Als am andern Morgen früh Selvar in ihrer Wohnung nach ihr fragte, hieß es, sie sei schon am vorigen Abend mit einbrechender Nacht fortgefahren. »Sie war ein sonderbares Mädchen,« dachte er; »etwas mehr kalte Besonnenheit wäre ihr zu wünschen gewesen, doch hat sie eigentlich dießmal nichts ganz Verkehrtes ergriffen, wenn sie sich doch nicht in ihre gesellschaftliche Stellung fügen konnte.«
Im Spätsommer trafen sich zufällig Selvars Schwester und Frau Werl auf einsamem Spaziergange. Fast zugleich fragte Jede die Andere: »Haben Sie noch keine Nachricht von unserer Freundin Ida?«
Die Gräfin hatte oft eine leise Besorgniß wegen Ida's Gemüthsverfassung genährt; dahingegen fürchtete Frau Werl mehr für ihre äußere Lage, und sprach darüber weitläufig mit der vornehmen Dame, welcher das Wort Noth noch nicht eingefallen war. Erschreckt von solcher Möglichkeit mahnte die Gräfin daheim ihren Bruder, sich doch einmal zu erkundigen, was aus Ida geworden. Dieser erinnerte sich, daß ein junger Musiker, der ehedem Lehrer seiner Tochter gewesen war, in Ida's jetzigem Wohnort eine Stelle beim Orchester habe, und bat diesen schriftlich die junge Künstlerin zu besuchen und ihm Nachricht von ihrem dortigen Ergehen zu geben.
* * *
Der junge Concertmeister Sohling saß im Kreise einiger Collegen, die sich in einem öffentlichen Garten vertraulich von ihren Verhältnissen unterhielten. Einer, der zugleich Clavierlehrer war, erzählte Anekdoten von seinen Schülerinnen:
»Da hatte mich neulich die Baronin zu einer ihrer musikalischen Soiréen gezogen, wo ich ein paar Etüden von Chopin vorspielte. »Bringen sie mir diese Etüden doch morgen,« sagte sie, »ich will sie auch durchspielen!« Ich, gerade heraus, erwiedere: »Die sind zu schwer, Frau Baronin, die können Sie unmöglich spielen!« Sie wollte aber durchaus an die Nro. 11 in Es-Dur mit den unmenschlich weiten Griffen. Als sie nun mit hartnäckiger Todesverachtung einen Accord so falsch wie den andern hinwürgte, hörte ich mit stummer Verzweiflung zu; da ermahnte sie mich, sie doch sans gène zu corrigiren. Ich begann also beim nächsten Takt, jede Note zu kritisiren; denn es kam gar keine reine vor. Da sagte sie gleichmüthig: »Weiter, weiter!« Und so wechselte sie ab mit: »Ei, so helfen Sie doch, und sagen, wo ich falsch greife!« und: »Weiter, weiter!« Als das Stück aus war, sagte ihr Mann, der kopfschüttelnd zugehört hatte: » Mais c'est un diable de compositeur, ce Chopin là!«
»Wenn ich nur begreifen könnte,« fragte Sohling, »auf welche Art sich diese Dame bei den unmusikalischen Leuten in den Ruf einer Musikkennerin gebracht hat?«
»Nun,« erwiederte der Vorige, »den Ruf halten nur die Leute oben, die sie nie spielen gehört haben. Sie hat eine fabelhafte Kühnheit im Beurtheilen.«
»Leider imponirt sie damit Keinem vom Fach,« sagte Sohling; »denn sie bringt seit Menschengedenken nur zwei Phrasen vor. Wird eine Sängerin gelobt, so sagt die Baronin: »Es ist nur Schade, daß sie keine Idee von Portament hat.« Und ist von einem guten Clavierspieler die Rede, so wirft sie ein: »Wie kann man dieß Spiel schön finden; denn er hat ja einen schlechten Anschlag.« Im umgekehrten Falle, wenn eine Anfängerin auftritt, so sagt die Baronin: »Sie kann zwar noch nicht viel, aber sie hat ein natürliches Portament, was man bei mancher großen Sängerin vermißt.« Oder: »Man mag diesen Spieler tadeln, wie man will, ich finde aber, daß er einen guten Anschlag hat, und das ist die Hauptsache.«
»Auch mir ist heute eine gute Probe von weiblichem Kunsturtheil vorgekommen,« berichtete ein Dritter. »Ich gebe einer kleinen Engländerin Stunde, die vorher nichts als Walzer gelernt hatte. Ich brachte, wie sich versteht, die Clavierschule an die Stelle, und da klagte die Kleine ihrer Mutter bitterlich, daß der neue Lehrer sie lauter ugly pieces spielen ließe. Spielte ich dann ein solches richtig, so tröstete die Mutter: » Look, my dear child, the most ugly piece is turned in a fine piece, when it is well practised.« Als ich heute zur Stunde kam, fand ich die ganze Familie um die neueste Etüde versammelt, und die Mama rief vom Clavier her mir entgegen, dieß sei aber wirklich ein so gräuliches ugly piece, daß man es der poor creature nicht zumuthen dürfe. Sie hatten es alle probirt, und die ältesten Misses, die im Hause für Virtuosinnen galten, hatten es auch most ugly gefunden. Ich setzte mich hin und begann die Etüde, die ganz natürliche, wohlklingende Accorde hatte, da unterbrach mich der gellende Ausruf der Mutter und aller drei Töchter: » The treblekey, the treblekey, oh dear, the treblekey!« Der alte Herr kam herbei, betrachtete das Notenheft und schüttelte sich vor Lachen, indem er immer im tiefsten Baß wiederholte: » O ho, the treblekey, ho, ho, ho, the treblekey!« Zu diesen langsam hervorgestoßenen Lauten klang das Gekicher der Weiber wie ein figurirter Contrapunkt in der ersten Violine zum Cantus firmus der Baßtuba; sie wurden nicht müde, einander zuzurufen: » The treblekey, yes indeed, the treblekey!« Ich stand, als wenn ich in ein Narrenhaus gerathen wäre, und begriff nichts, bis mir die Eine explicirte, daß der Violinschlüssel auf Englisch the treblekey heiße, und daß sie bei jenem Stück Alle übersehen hätten, daß dieses Zeichen auch der linken Hand vorgeschrieben sei. Da hatten sie denn freilich eine höllische Harmonie hervorgebracht.«
Ein Anderer sagte: »Man lacht wohl über dergleichen Dummheiten, aber es bleibt doch wahr, daß ein Clavierlehrer ein gequälter Mensch ist. Die Anfänger auf einem Streich- oder Blaseinstrument können nur einen einzigen Ton falsch spielen, indeß einer auf dem Clavier gleich eine Handvoll Dissonanzen greift. Man schämt sich vor sich selbst, daß man eine solche Ohrenmißhandlung um des Dings willen aushält, das Existenz genannt wird bei den Philistern.«
»Und diese Wuth, die jetzt unter die Satans-Dilettanten gefahren ist, Clavier und nur Clavier zu spielen,« sagte ein Harfenist. »Alle Clavierlehrer prosperiren in dieser Stadt, während ich meine Harfe an die Weiden Babylons hängen müßte, wenn sie nicht hie und da im Orchester aus ihrer Verschollenheit ans Licht gerufen würde!«
»Man kann nicht behaupten, daß es den Clavierlehrern hier so leicht gelänge,« wandte der Erste ein; »ich habe als frischer Ankömmling mein Erspartes zusetzen und endlich für einen Spottpreis meine kostbare Zeit aufopfern müssen, bis ich in die Mode kam, und da ging's gut. Keiner will es mit einem ungeprüften Lehrer versuchen, und immer heißt es: man muß erst sehen, ob sich seine Methode bewährt. Die alten ansäßigen Meister haben auch dann noch, wenn sie anerkannt faul neben den Schülern sitzen, mehr das Vertrauen, als ein junger noch selbststrebender. Und doch sind in der Regel die letztern die eifrigsten und gewissenhaftesten Lehrer.«
»Ob denn wohl die Fräulein Ida Fernhofer Stunden bekommen hat, über deren lakonische Anzeige im Intelligenzblatt wir damals so viel lachten?« fragte der Chopinspieler.
»Ich habe nichts mehr davon gehört,« antwortete der Vorige. »Welche Prätention ist's aber auch, daß ein völlig namenloses Mädchen, von einem namenlosen Lehrer gebildet, aus einem Winkelstädtchen gebürtig, gerade hierher kommt, um Unterricht zu geben.«
Sohling merkte auf und rief: »Denkt euch, heute erhalte ich einen Brief von meinem alten Gönner Selvar, der mir diese Ida Fernhofer als ein Genie empfiehlt. Ich fürchte mich eigentlich, die Pathenschaft über eine muthmaßliche Herz- und Kalkbrenner-Virtuosin zu übernehmen, doch muß ich wohl hingehen, da ich dem Selvarschen Hause von früher her verpflichtet bin. Weiß denn Einer, wo das Mädchen wohnt?«
Der Chopinspieler antwortete: »Ich hätte gar nicht mehr an die Person gedacht, wenn ich nicht heute zufällig ihren Namen wieder gelesen hätte.« Hiermit zog er ein altes Intelligenzblatt aus der Tasche, in welches er Cigarren gewickelt hatte, und reichte es Sohling, indem er auf Ida's Adresse deutete.
In einem entlegenen Stadtviertel wohnte sie; dort angelangt, wies man Sohling durch zwei Höfe und Hintergebäude hindurch nach einem Gartenhäuschen, das inmitten eines großen Bleichplatzes lag. Eine alte Wäscherin mit einer jüngern Gehülfin trieb dort ihr Wesen, und die Kübel und Schragen, die in dem Häuschen umherstanden, ließen den Concertmeister bezweifeln, daß hier eine Kunstgenossin wohnen könne. In der Meinung, daß eine Namensverwechselung obwalte, wollte er eben umkehren, als er ein paar mächtige Accordfolgen auf einem vorzüglichen Instrumente hörte, die als Eingang zu einer Toccata von Scarlatti improvisirt wurden. Horchend blieb er stehen, und fand den Vortrag des sehr bedeutenden Musikwerks völlig tadellos. Sobald es geendet, trat er ins Haus und fand Ida in einem niedrigen Zimmer, dessen Fenster von einem außen angepflanzten Rebstock verdunkelt waren. Nur die nothdürftigsten Möbel und Geräthe enthielt der Raum, dessen geweißte Wände sehr gegen das prächtige Pianoforte abstachen. Die Bewohnerin sah leidend und etwas vernachlässigt aus, und erschien auf den ersten Blick nichts weniger als anziehend.
Als der Concertmeister Selvars Namen nannte, überzog eine Fieberröthe ihre Wangen, und sie war so verlegen, daß Jener kaum wußte, wie er die Unterhaltung weiter spinnen sollte. Er meinte, mit einem Gespräch über ihr gemeinschaftliches Fach müsse es doch endlich gelingen. Er fragte, was sie von Mendelssohn, von Chopin spiele? Sie hatte von Keinem je eine Note angerührt. Die Opern von Spohr, Weber, Spontini waren ihr fremd. In ihrem Geburtsorte war keine Bühne, und in der Residenz hatte man nur das Modernste aufgeführt. Aus Clavierauszügen hatte sie das studirt, was mindestens seit einem halben Menschenalter als unübertrefflich galt. Die neueste Oper, die sie kannte, war Fidelio.
Sohling blätterte in den Musikalien, die umher lagen, und fand Namen vom ersten Range, aber nur bis zu einer gewissen Zeit. Von den Lebenden auch nicht Einen.
»Welche Fülle von Genuß steht Ihnen noch bevor,« sagte er, wenn Sie das Treffliche kennen lernen, das unsere Zeitgenossen schufen. Bei einer Grundlage, wie die Ihre, werden Sie leichter als Andere auffassen, wie redlich unsere großen Meister auf der Bahn weiter bauten, die jene Unsterblichen vorher geebnet haben.«
Ida lächelte bitter: »Sie werden doch einem Ohr, das von diesen unsterblichen Klängen genährt ist, nicht zumuthen wollen, sich an so ephemerer Musik zu erfreuen.«
Sohling sah sie ironisch an. Sie schlug die Augen nieder; denn sie besann sich, daß sie ja keinen von den Componisten, die er ihr genannt, je eines gründlichen Studiums gewürdigt hatte. Er selbst war mit Personen von dieser Urtheilsstufe schon zu oft zusammengetroffen, um sich daran zu ärgern. Höchstens ein Lächeln hatte er, wie jeder gebildete Musiker von weitumfassendem Ueberblick, für den beschränkten Hochmuth der kleinen Gemeinde, die man wohl die musikalischen Pietisten nennen möchte. Die eine Hälfte besteht aus denjenigen, die zu träg waren, mit der Kunst gleichen Schritt zu halten. Auf einer gewissen Stufe zurückgeblieben, erklären sie diese eigensinnig für die höchste, weil sie nur vornehm auf die Gegenwart hinab, nie demüthig zu ihr emporschauen möchten. Die andere Hälfte sind ganz jugendliche Talente von wenig eigener Erfahrung, wie Ida. Diese sprechen blindlings dem stabilen Urtheil eines Lehrers nach, der das Lernen seit dem neunzehnten Jahrhundert aufgegeben, oder sie lassen sich von der Ansicht irgend eines Familienoberhauptes beherrschen, welches bloß in der Jugend Begeisterung für Musik hatte, und, anstatt in sich selber, in dem Geiste der neuen Zeit die Erstarrung spürt.
Ueberzeugt, daß diese Kunstansicht so schwer und langsam zu heilen ist, wie eine fixe Idee, brach Sohling das Thema ab und fragte: »Ist es Ihnen schon gelungen, Schülerinnen zu finden?«
Auf Ida's verneinende Antwort fuhr er fort: »Daran kann Ihre entlegene Wohnung schuld sein. Wir Künstler sind mit unserm Erwerb leider an die Gunst der Vornehmen angewiesen und müssen uns in deren Anforderungen fügen, sollten uns diese auch bloße Vorurtheile dünken. Wohnten Sie mitten in der Stadt in einem eleganteren Hause –«
»So hatte ich's angefangen,« unterbrach ihn Ida, »aber damals fehlte es mir an der Energie, deren es bedarf, um die ersten Schritte in die Oeffentlichkeit zu thun. Ich blieb immer zu Hause und hatte keine Lust Protection zu suchen. Nach ein paar Monaten vergeblichen Wartens sah ich die Nothwendigkeit ein zu sparen, und da habe ich mich bei meiner Wäscherin eingemiethet.«
Sohling besann sich einen Augenblick; dann sagte er: »Wollen Sie mir Ihr Vertrauen schenken, so will ich für Sie einen passenderen Aufenthalt und eine gemäße Thätigkeit ausmitteln.«
Ida erwiedern nichts. Sie schämte sich, zu bekennen, daß sie heute ihr letztes Goldstück gewechselt hatte. Jetzt blieb ihr nur noch die Aussicht, ihren getreuen Erard zu verpfänden, und dann der Trost, den die Jugend nach einer verlorenen Liebe so leicht und naturgemäß findet, der Trost, daß der Tod der beste Ausweg ist, wo man keinen blumenreichen Pfad vor sich sieht. Doch hat auch darin die Natur so ewig weise vorgebaut, daß gerade die Noth es ist, die so eisern den Menschen an das liebe verachtete Dasein fesselt.
Sohling drang nicht weiter in den Sonderling, der ihm mehr ein neugieriges Interesse, als Wohlgefallen erweckte. Er bat Ida um die Erlaubniß, wieder zu kommen, sobald er einen fertigen annehmbaren Vorschlag hinsichtlich ihres Unterkommens hätte.
Zu einer ihm befreundeten Malerin, die durch den Tod ihrer Schwester eben vereinsamt geworden, begab sich alsbald Sohling mit der Aufforderung, daß sie die junge Tonkünstlerin in ihren Schutz nehmen möge. Diese war bereitwillig und suchte zuvorkommend die Fremde auf. Ida's angeborne Scheu, Wohlthaten materieller Art anzunehmen, und das Bewußtsein ihrer düstern, unheimlichen Stimmung bewirkten, daß sie sich lange weigerte; endlich ging sie auf das Anerbieten ein, als Sohling ihr vorstellte, daß sie aufheiternd auf ihre neue Freundin wirken könne und ihr über die erste schwerste Zeit des Verlustes hinüber helfen sollte. Hier wußte sie sich an ihrer Stelle; denn sie war, gleich der Nacht, schaurig den Frohen, aber lieblich und mild tröstend den Leidenden.
Ida ward von ihren jetzigen Freunden vorzugsweise bei den Familien eingeführt, die ihren exclusiven Geschmack theilten, oder sich doch den Schein davon gaben, um für die superfeinsten Kenner zu gelten. Einigen zwar war sie noch nicht orthodox genug, weil sie neben Bach und Händel auch Mozart und Beethoven verehrte; doch die meisten trugen sie auf Händen, weil sie mit unermüdlicher Gefälligkeit fast die ganze klassisch-musikalische Literatur des vorigen Jahrhunderts auswendig producirte. Nebenbei lernte Ida auch ein wenig die Heuchelei dieser Menschenklasse kennen, welche nur am Namen ihrer Abgötter klebt, ohne deren Geist je begriffen zu haben. In einer Anwandlung von Muthwillen mystificirte sie einen alten Professor, welcher eine große Verachtung gegen Beethoven zur Schau trug, den er noch vor seiner Berühmtheit persönlich gekannt hatte. Sie spielte ihm Melodien seines Händel aus einer wenig bekannten Oper desselben für Beethoven'sche vor und ebenso umgekehrt, und er nannte die ersteren: einen erz-romantischen Nebel, und von den andern sagte er: »So kann nur Händel schreiben!«
Als sie Sohling den Spaß erzählte, erwiederte er trocken: »Ganz ebenso könnte man Sie mystificiren, wenn man Ihnen einzelne Partien aus guten neueren Werken für Mozart und Beethoven spielen wollte.«
Ida meinte, das sei unmöglich; Sohling drohte, sie nächstens auf die Probe zu stellen. Die Malerin wandte ein: es sei doch besser, die andere Probe zu versuchen, ob Ida vorurtheilsfreier sei als jener Professor, und rieth Sohling, sie mit guten neuen Compositionen ohne Verhüllung des Namens bekannt zu machen. Ida gelobte, sich nicht dem Schönen zu verschließen und ehrlich zu prüfen, ehe sie verwerfe.
Ihre Zuversichtlichkeit war heute etwas wankend geworden, als Sohling ihr alte Recensionen aus den Zeiten, da Mozart und Beethoven noch junge Männer waren, verschafft hatte. Darin wurde beiden Ungründlichkeit, Verschrobenheit, mit Haaren herbeigerissene Originalität vorgeworfen; ja sogar der liebliche sonnenklare Mozart sollte sich in ohrenzerreißenden, geschmacklos gehäuften Dissonanzen gefallen, und verstorbene untergeordnete Componisten wurden dem Heroen als Muster einfach edlen Styls vorgehalten.
»Ist es nicht, als lese man einen Beethoven-Fanatiker unserer Tage gegen die Lebenden eifern?« fragte Sohling, als sie jenes vergilbte Blatt anstaunte. Ida meinte, der Unterschied sei nur, daß der Beethoven-Fanatiker mehr in seinem Rechte wäre, und fragte Sohling, ob er denn Einen Namen unter den Lebenden an die Seite jener Heroen stellen könne, deren kleine Schaar sie einzig verehre?
Sohling erwiederte, daß auch er weit entfernt sei, zu läugnen, daß die Sechszahl: Bach, Händel, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven bisher das Vollendetste geleistet; daß in ihren Schöpfungen die Masse des Großen bei weitem über das Unbedeutende vorwalte. »Aber,« setzte er hinzu, »dieß Zugeständniß schließt nicht aus, daß sie auf einzelnen Punkten von Andern übertroffen werden könnten. Ich finde es ganz in der Ordnung, daß Sie den Don Juan höher stellen, als etwa den Oberon; aber lächerlich, wenn Sie Ihre Pietät so weit treiben, daß Sie die Bravourarien der Constanze oder der Königin der Nacht durchstudiren und es daneben verschmähen, die Partie der Rezia eines Blickes zu würdigen. Halten Sie es nicht für Ihre heilige Pflicht, alle Variationen von Beethoven, selbst die ganz unausstehlichen – nun, fallen Sie nicht in Ohnmacht – über God save the King zu kennen, indeß Sie Mendelssohns Lieder ohne Worte als kleinliche und bedeutungslose Spielerei bezeichnen? Die faden musikalischen Scherzstücke von Bach und Mozart über das »Liesel und den Coffee,« oder »Liebes Mandel, wo ist's Bandel« finden Sie rührende Reliquien. Gut; aber hätte ein Lebender die Naivetät gehabt, dergleichen herauszugeben, Sie würden denken: an dem Stück haben wir genug, um den ganzen Menschen darnach zu beurtheilen, und Sie würden kein Heft mehr aufschlagen, das seinen Namen an der Stirn trüge.«
Ida lachte: »Das ist ja gerade, als ob Sie einem großen Manne vorwerfen wollten, daß er einmal beim Wein einen platten Spaß gemacht habe.«
»Das nicht; aber ich würde es seinen Verehrern vorwerfen, wenn sie den Spaß als Orakelspruch ein Jahrhundert lang weiter trätschten und ihn über alle Weisheit der Andern erhöben. Die großen Meister fördern uns nur, insofern wir sie verstehen, sie in ihren Mängeln und in ihren Vorzügen richtig und scharf beurtheilen. Ihre blinden und verdummten Anbeter aber sind es, die alle Kunstentwickelung, wenn nicht in manchen Fällen ertödten, doch stets hemmen und verzögern. Selbst von den Mozart'schen Opern ist noch ein Riesenschritt zum Besseren und Höheren möglich, wenn er auch noch nicht gethan ist. Doch zeigen die Versuche, daß der Pfad richtig erkannt worden. Don Juan und Figaro will ich als Ausnahmen gelten lassen. Von keiner Nummer darin möchte ich die frevelnde Behauptung wagen, daß ein Anderer sie besser erschaffen hätte. Doch seine anderen Opern haben alle schwache Stellen, und gewisse Glieder derselben werden von analogen aus Spohrs und Webers Opern bei weitem überboten.«
Er setzte sich ans Clavier und spielte die kleinen Chöre der Krieger aus Cosi fan tutte, aus Idomeneo, und hieß Ida gewissenhaft beurtheilen, ob die Kriegerchöre aus Jessonda nicht edler, lebhafter seien. Sie mußte es zugeben. Er fuhr fort und hieß sie die Gesänge der drei Knäbchen aus der Zauberflöte mit den verwandten Elfenchören aus Oberon vergleichen. Er führte ihr Kirchenmusiken von Mozart und Haydn mit anderen von Mendelssohn in bunter Reihe vorüber. Er gruppirte das Beste von Spontini neben Verwandtes von Gluck, und wenigstens mußte Ida gestehen, daß man es neben einander ertragen könne. Bis spät Abends ermüdeten die beiden Zuhörerinnen nicht vor dieser Musterreihe, die er aufrollte, und als er weg war, setzte sich Ida nochmals daran, aus dem Gedächtniß die schönsten Melodien zu wiederholen.
Ein verstockter Dilettant kann allenfalls sein Leben mit den Gedanken von sechs Componisten fristen. Doch sei es auch das Auserwählteste, die Seele desjenigen, der stets in Tönen lebt und athmet, hat es endlich ausgenossen. Der Durst nach Neuem, Unerhörtem wird rege, und den, der sich an dem Besten seines Faches gebildet hat, laßt nur selbst dafür sorgen, aus dem Neuen das Falsche, Alltägliche auszuscheiden. Ihn wird nur das Edle reizen, das sich würdig an das ihm vorangegangene Große anschließt.
Ida's Verstand war zu klar, ihre Seele dem Schönen zu weit geöffnet, um sich nicht bald von dem erfahrneren Künstler überzeugen zu lassen, daß der Geist der Tonkunst sich nicht auf einige wenige Häupter in der Frist eines kurzen Zeitraumes niedergelassen hat, um als unwandelbares Sternbild über einer unendlichen Nacht zu glänzen, sondern daß er wie ein Feuerstrom durch alle Zeiten ergossen hier als Flamme, dort als Fünkchen aufglüht, und daß er, wo sein reines Licht erscheint, zünden und strahlen, nicht verlöscht und zertreten werden soll.
»Sie verwerfen aber doch die modernen Italiener und ihre Nachahmer?« fragte Ida bei der nächsten Zusammenkunft Sohling.
»Ja, weil sie die Lüge in der Kunst darstellen. Aus demselben Grunde negire ich aber auch die Arie des Sextus, welche das lieblichste Rondo auf den Text voll »Verzweiflung und Höllenpein« bringt. Abstrahiren wir aber vom Text, so versöhnt uns hier das reizende Zusammenwirken von Melodie, Harmonie und Rhythmus, während die Italiener wenig mehr besitzen, als eine arme, flitterhafte Melodie. Unser Flötist vergleicht sie mit einer Wassersuppe, auf der oben nur wenige Fettaugen schwimmen.«
Die Malerin sagte: »Der Vergleich ist richtig, aber garstig. Eher sollte man die Melodie der Italiener eine coquette Dame nennen, die allein ein leichtfertiges Gespräch führt, indeß unsere deutsche Musik der Unterhaltung einer gebildeten Gesellschaft ähnlich alle Stimmen zur Geltung kommen läßt.«
Die beiden Damen und der Concertmeister waren mehrmal in der Woche bei Gesprächen, zu denen gemeinschaftlich ausgeführte Musikstücke die Grundlage gaben, vereinigt. Ida's leichtes Verständniß, das, wie sie mehr und mehr ihr Vorurtheil abstreifte, sich ausbildete, zog Sohling sehr an. Ihre witzige Laune kehrte wieder, wenn auch durch den heimlichen Schmerz etwas gedämpft. Doch war dieß mehr zu ihrem Vortheil; denn ihre allzugroße natürliche Aufregung bedurfte einer Milderung. Nach und nach kehrte mit der Seelenruhe ihr blühendes Aussehen wieder, und sie mußte sich zugestehen, daß sie nicht mehr elend war, trotzdem, daß sie mit der eigensinnigen Consequenz ihres Alters nie wieder glücklich werden wollte.
Die Malerin, eine vielseitig gebildete Dame, hatte bald durchschaut, daß Ida in allen Gebieten außerhalb der Musik ziemlich unwissend geblieben war. Ihre Fragen, wenn sie sie mit in die Gemäldegallerie genommen hatte, oder wenn ihr ein bedeutendes Buch in die Hand fiel, zeigten, wie wenig sie gelesen, und wie sie, stets in das innerliche Behorchen der Töne versunken, nie die Erscheinungen der äußern Welt beobachtet hatte. Sie konnte hundertmal an einem merkwürdigen Gebäude, an einer Statue vorbeigegangen sein, ohne sich ein deutliches Bild ihrer Einzelheiten im Gedächtniß bewahrt zu haben.
Bei einem Gespräche mit Ida lobte die Malerin es besonders an Sohling, daß er nicht wie seine meisten Kunstgenossen ein sogenannter Stockmusikus sei. Sie setzte hinzu: »Man lernt darum so viel von ihm, weil er nicht dem Laien auf bloß technischem Wege sein Fach begreiflich macht, wie jene, sondern weil ihm bei seiner allgemeinen Bildung tausend Analogien zu Gebote stehen, um jeden da zu fassen, wo die lichte Stelle seiner Begriffsfähigkeit sich aufthut. Wüßten Sie zum Beispiel so viel vom klassischen Alterthum, als er, so könnten Sie besser Ihren Gluck vor den Laien in die rechte Beleuchtung stellen. Kein gebildeter Mann, der den Sophokles gelesen hat, wird noch die Schwäche für niedrige Opernmusik festhalten, wenn Sie ihm eine eben so ewige und wahre Dramatik in der Tonkunst vorführen, als die griechische war.«
Bei einer Ausstellung, wo die Malerin entzückt vor einem trefflich componirten Bilde älterer Zeit stehen blieb, welches Ida wegen seiner nachgedunkelten Färbung langweilig und düster vorkam, und dem sie einen Edelknaben nach der frühern Manier der Düsseldorfer Schule bei weitem vorzog, neckte die erstere sie: »Und Sie wollen es den Musikalisch-Unwissenden übelnehmen, daß sie lieber Donizetti als Sebastian Bach hören! Hier haben Sie den Geist Beider, wie er in Farben sich offenbaren würde.«
Ein Jahr in dieser Umgebung reichte hin, den lebhaftesten Trieb zum Lernen in Ida aufzustacheln. Sie machte sich's zur Pflicht, nicht eine Stunde mehr dem Erwerb zu widmen, als sie zur Bestreitung der nächsten Bedürfnisse mußte. Alle freie Zeit benützte sie redlich zu ihrer Fortbildung. Sie trat in die geheiligte Atmosphäre der großen vaterländischen Dichter ein, und mit dem klaren Unterscheiden der Kunstformen auf dem Gebiete des Wortes ward ihr zugleich die Beurtheilung und Erkenntniß musikalischer Lyrik, des Epischen in der Symphonie aufgeschlossen. Sie öffnete den Farben und Formen ihren Sinn, und wie sich ihre Seele an der Geschichte der Völker erweiterte, so blühte ihrer Phantasie an deren Sagen ein neues Leben auf.
Sohling ward nun eben so lebhaft von ihrem Gedankenaustausch angeregt und erhielt durch ihre Auffassung neue Anschauungen, wie sie einst von ihm. Sie ward der Umgang, der ihn am meisten anzog, ohne daß sein Herz die mindeste Leidenschaft für sie empfunden hätte. Er kam bei ihr zu gar keiner träumerischen Stimmung, die dem Verlieben so günstig ist. Ihr Geist war zu beweglich, als daß ein junger Mann aus Langeweile nur einen Augenblick dem Gedanken nachgehangen hätte: »Du bist hier am späten Abend mit einem hübschen Mädchen allein.«
Oft kam die Dämmerung, ohne daß sie es bemerkten, und statt der Lampe schienen Mond und Sterne herein. Die blühenden Linden auf dem Platze draußen sandten ihren Duft hinauf, und der Springbrunnen plätscherte gar anmuthig. Dennoch fand keine zärtliche Hinneigung Raum, sich zwischen beiden Herzen eine Brücke zu bauen. Es kam kein Moment des Schweigens, sie hatten immer noch unerschöpflichen Gesprächsstoff, wenn sie schieden. Die Gewohnheit des Beisammenseins hatte längst die steifen Formen norddeutschen geselligen Verkehrs aufgehoben; ihr Verhältniß glich dem zweier Freunde gleichen Geschlechts, die einander unverholen Alles mittheilen, auch die Herzensangelegenheiten.
Sohling hatte sich oft über ihr schnelles Abbrechen gewundert, wenn er sie an das Selvar'sche Haus erinnerte. Ihre Bewegung bei seinem ersten Besuche und ihre scheue Weigerung, seinem Briefe an Selvar einen von ihrer Hand beizufügen, fielen ihm wieder ein. Später hatte ihm wohl geahnt, es sei ein Herzenskummer im Spiele, doch da er auf den wahren Gegenstand nie verfiel, sondern nach Art der jungen Männer (auch der nicht besonders eiteln) glaubte: nur zwischen Zwanzig und Dreißig könne man einem Mädchen gefährlich werden, so sprach er immer ganz unbefangen von dem »alten Grafen,« und erzählte Anekdoten von ihm, die ihm ganz harmlos dünkten, aber seiner Zuhörerin die vernarbte Herzenswunde aufrissen.
Bei einer solchen Gelegenheit, als Ida ihre Thränen nicht mehr verbergen konnte, hatte sie den jungen Mann zum Vertrauten gemacht. Wie ein tobender Flammenberg eröffnete sich ihr Herz, und der Strom leidenschaftlicher Schmerzen breitete sich gleich der Lava über das stille Gartenbild aus, das sich Sohling von ihrem Leben und Treiben gemalt hatte.
Er verstand diese Liebe zu einem kühlen, halbergrauten Manne nicht, doch interessirte ihn die Macht und Wahrhaftigkeit ihrer Aeußerung, da ihm dergleichen bei der Herzensverschlossenheit großstädtischer Damen nie vorgekommen war. Ida fühlte sich zwar am andern Tage beschämt, weil sie ihr Herzensgeheimniß verrathen; doch überwog die heimliche Lust, daß sie endlich Einen Menschen gefunden, mit dem sie von ihm reden konnte, der auch einst in seiner zauberischen Nähe gelebt hatte. Sie strebte ihre Erinnerungen vor dem unvermeidlichen Verblassen zu bewahren, dem endlich jede Liebe, die ihren Hauptsitz in der Phantasie hat, vor Mangel an frischer Nahrung verfällt.
Sohling hatte einen ähnlichen düstern Punkt in seiner Vergangenheit, mit dessen Enthüllung er Ida's Vertrauen erwiederte. Eine schöne vornehme Schülerin hatte er geliebt, die mit einer herrlichen Stimme ein wirkliches Talent verband. Eben aus einer Pariser Pension heimgekehrt, hatte sich das junge coquette Mädchen darin gefallen, mit dem Gesanglehrer ein Vorspiel der Rolle aufzuführen, die sie den Winter bei Hofe zu erhalten dachte. Die Mama hatte es nicht übel gefunden, daß die Kleine sich an den Huldigungen eines so unschädlichen Individuums einübte, um bei den bald zu erwartenden ernstlicheren nicht linkisch und verlegen zu erscheinen.
Sohling hatte lange geglaubt, einer kindlichen Seele erste Liebe zu sein; mit bitterer Entsagung bezwang er sich ihr gegenüber, im Vorgefühle der Hoffnungslosigkeit ihrer gegenseitigen Wünsche. Dann wußte die kleine Raffinirte ihn durch scheinbar unbefangene Fragen in eine neue Aeußerung seiner verhehlten Glut zu verstricken, bis ihn endlich die Zuthunlichkeit des Fräuleins und das gleichmüthige Zusehen der Mutter wirklich täuschte, und er an die Möglichkeit der Erreichung glaubte. Nachdem er noch einige Monate gehänselt worden, heirathete das unschuldige Kind einen reichen Hagestolzen, dessen Häßlichkeit nur von seiner Dummheit übertroffen wurde.
Sohling war nicht so schwach, sie noch fort zu lieben; sein Herz war so plötzlich abgekühlt, daß er ein paar Jahre fortlebte, ohne es einer neuen Liebe zu öffnen.
Die beiden Künstler gingen nun ihren Lebenspfad ruhig neben einander hin, mit dem vollen Gefühl der Sicherheit; er, daß er zu gleichmüthig geworden sei, um je wieder zu lieben; sie, daß ihre ewige Trauer um Selvar der Talisman sei, der ihr Herz mit dreifachem Panzer umgäbe. Dabei bemerkten Beide nicht, warum ein Abend in anderer Gesellschaft zugebracht, selbst bei reichen geistigen Genüssen, ihnen bei weitem leerer und inhaltloser erschien, als das stille Beisammensein im Hause der Malerin. War Ida nicht im Concerte, so dirigirte er nur mit halbem Ehrgeiz; erwartete sie ihn vergebens um die Stunde, wenn er zu kommen pflegte, so ward sie verstimmt, und konnte weder am Clavier noch bei ihren Büchern rechte Ruhe finden.
Ein lang gehegter Wunsch Sohlings ward ihm jetzt unvermuthet wieder nahe gerückt. In einer kleineren, aber sehr gebildeten Stadt ward ein Musikdirektor gesucht, der zugleich ein gutes Theater und einen trefflich geschulten Gesangverein zu leiten hatte. Sohling bewarb sich um die Stelle und erhielt sie vor vielen nicht unwürdigen Mitstrebenden. Er eilte mit seiner frohen Nachricht zu Ida, die erblich und sehr trüb und nachdenkend ward. Die Malerin gab ihrer Ueberraschung die rechten Worte; sie wünschte ihm Glück, doch beklagte sie aufrichtig die unausfüllbare Lücke, die ihrem Hause durch seine Entfernung entstehen mußte.
Sohling fühlte beschämt, daß die erste Freude ihn dieß ganz hatte vergessen lassen. Sein Herz war sehr warm und treu. Großer Schmerz, das bedachte er jetzt, werde ihm beim Abschied gewiß nicht erspart werden. »Und diese Eine wirst du am schwersten vermissen!« so sprach es in ihm, als er Ida ansah, die sanft die Augen niederschlug. So lieblich war sie ihm nie erschienen, als in dieser stillen, anspruchslosen Wehmuth. Sein Herz klopfte unruhig, er seufzte und übersann, daß es doch ein recht blindes, vernunftloses Geschick sei, welches nicht gewollt, daß sie lieber ihn statt jenes Selvar so heiß liebte.
Seine Abreise mußte sehr beschleunigt werden. Nach jeder flüchtigen Stunde, die sie noch mit Sohling zu brachte, ward Ida'n ihre eigene Empfindung räthselhafter. Es lag wie Gewitterdruck auf ihr. In seiner Gegenwart versagte ihr die Rede, und auch er schien von einer lähmenden Traurigkeit befangen.
Der Abschiedsabend war da. »Noch einmal singen Sie mir eines der schottischen Lieder von Beethoven,« bat er sie. »Mein liebstes wissen Sie schon: O, Zaubrin, leb' wohl!«
Der Blick, mit dem er in ihr Auge sah, war ihr von ihm noch nicht geworden. Sie bebte zusammen, wie vor etwas Fremdem, Unheimlichem. Die liebe bekannte Melodie löste ihr wieder das Herz; es war ja ihr Freund, ihr Bruder, der heute von ihr schied, er, dem ihre stürmische Seele offen lag, der ihr den freien Blick in sein mildes, ruhiges Innere vergönnt hatte. Sie begann zu singen, doch aus dem tiefsten Herzensgrund quollen ihr die Thränen empor, und als die Stelle kam:
»O nur ein zärtlich Herz,
Das Liebe will brechen,
Versteht meine Qual, daß ich dich nicht mehr seh –«
da verdunkelte sich ihr Auge, kein Ton wollte mehr aus der gepreßten Brust, sie mußte plötzlich abbrechen, und wandte ihr Gesicht nach der Wand hin. »Gott, ist es möglich,« sprach ihr Herz, »ich liebe ja ihn, und keinen Andern!«
Sohling saß eine Weile schweigend neben ihr, dann stand er auf und nannte leise ihren Namen. Sie faßte sich und erhob sich ihm entgegen. Er wollte das Wort Lebewohl, das grausame, trostlose Wort, aussprechen, doch es wollte nicht über seine Lippen. Ganz selbstvergessen umfaßte er sie, sie ruhte mit dem Haupt auf seiner Brust, dann ein einziger Kuß, in dem sie sich fast unbewußt begegneten, – sie wollte sich losringen, er ließ sie nicht, immer von neuem preßte er sie wilder an sich, bis er laut weinend sich auf ihre Schulter lehnte. »Ich kann Dich nicht lassen, Ida,« rief er, »ich bin unglückselig; denn ich liebe Dich, nur Dich, und wußte es nicht.«
Sie fand keine Sprache, still ließ sie ihn ausweinen, dann richtete sie ihn empor, sah ihm mit dem liebevollsten Blick ins Auge, und reichte ihm die Hand.
Die Abreise ward um ein paar Tage hinausgeschoben; denn noch mehr Stoff, als einst die Musik, gab ihnen nun das gelöste Herzensräthsel, das sie so unermüdlich besprachen, wie Kinder die überreichen Gaben der Weihnachtsbescherung. Auf eine kurze Zeit ward die Kunst, ja die ganze Welt vergessen, bis endlich die verständige Malerin erinnerte, daß die Reise und häusliche Einrichtung eines Ehepaars mehr besonnene Vorbereitung bedürfe, als die eines Junggesellen. Doch ein Glück war's, daß die Freundin diese Sorge auf sich nahm; denn sonst wären die Beiden, die in ihrer neuen Aufwallung zu keinem prosaischen Alltagsthun mehr im Stande waren, noch heute nicht unter Einem Dache.
* * *
Zehn Jahre waren verflossen, seit Ida von Waldheim geflohen war. Des Grafen Selvar Schwester war schon vor langer Zeit gestorben, er selbst, wenn nicht in seinen Neigungen, doch sehr in seiner äußeren Erscheinung gealtert. Seine Tochter und deren Gemahl, welcher ein Deutsch-Russe war, mußten den strengen Gesetzen des Czaren zufolge, nachdem sie mehreremale um längeren Aufenthalt in Deutschland petitionirt hatten, endlich auf ihre Güter heimkehren. So blieb Selvar, der keine nähere Verwandte besaß, die seinen Salon weiblich vertreten hätte, ziemlich vereinsamt in seinem Hause. Häufigere Reisen sollten ihn für die Stille entschädigen, die jetzt in dem ehemals so belebten Waldheim eingezogen war.
In diesem Sommer war ihm selbst das Theater langweilig geworden; keine neuen Stücke, keine interessanten Gastspielerinnen wollten kommen. Er beschloß, ein paar Monate bei seiner Tochter zuzubringen. Eine eintägige Rast von der Reiseanstrengung hielt er in einer mitteldeutschen Stadt, die in einer sehr lieblichen Gegend lag und, wie die vielen Bauten verriethen, in blühendem Wachsen begriffen war.
»Ist Theater hier?« fragte er den Wirth seines Gasthofs.
»Heute nicht,« war die Antwort, »aber statt dessen ein Concert.«
»Theater hätte mir mehr zugesagt, als ein Coneert,« erwiederte Selvar, »doch womit soll ich den Abend ausfüllen? Lassen Sie mir eine Karte holen.«
Etwas zu spät angekommen, fand Selvar nur einen der entferntesten Plätze im Saale leer. Das Programm überlesend, fiel ihm der Name Sohling auf. »Das ist ja ein alter Bekannter,« sprach er vor sich hin, »richtig, ich habe ja einmal an ihn geschrieben wegen der armen Ida; – nun, solches Unheil verschulde ich jetzt nicht mehr!« und ein kleiner Seufzer folgte dieser Reflexion.
Die Symphonie begann, von Sohling trefflich dirigirt. Fast überall herrscht noch im vornehmen Publikum der Aberglaube, als gehöre die Symphonie nicht so recht mit zum Concert, sondern sei nur eine Art Vorspiel zu demselben. Ja, die Damen behandeln sie oft mit nicht mehr Aufmerksamkeit, als die Trommel in den Menagerien. Sie finden das vollständige Orchester eben bequem, um die Bemerkungen zu übertäuben, die sie halblaut mit der Nachbarin über die Toiletten der Anwesenden machen.
Hier aber schien das Publikum besser erzogen zu sein. Bei dem ersten Versuche Selvars, der von dieser ächt-aristokratischen Unart nicht frei war, während der Musik eine Conversation mit den Nachbarn anzuknüpfen, erhielt er statt der Antwort nur ein höfliches Zeichen, und die vor ihm stehenden Personen sahen sich fast erschrocken nach ihm um. Von den Anwesenden mit lautem Applaus empfangen, trat Ida auf. Trotz seiner Lorgnette erkannte Selvar sie nicht mehr. Die Verwandlung ist mächtig, die in solchen Frauen vorgeht, welche in der frühesten Jugend durch geistige Anspannung und überstarke Gemüthsaufregung in ihrer Entfaltung gestört wurden. Kommt ihnen noch zur rechten Zeit ein Zustand des Glücks und der Ruhe, so wirkt ein Spätfrühling größere Wunder, als je ein Lebensmai.
Sie berührte leicht präludirend die Tasten, und als wollte sie die eben erst verrauschten Accorde mit den folgenden vermitteln, ging sie unmerklich aus jenen Anklängen in die Tonart der zauberhaften Nocturnen von Chopin über, die sie heute zum erstenmale ihren Zuhörern vorführte. Wie leises Glockenläuten aus einer im Meere versunkenen Stadt beim stillen Abendroth herauftönt, so märchenhaft fassen diese ungeahnten Melodien die Seele in ihren geheimen Abgründen. Es ist, als ob in diese Musik die Stimmen der Nacht gebannt wären, die uns im einsamen Walde, von den Sternen herab und aus dem See herauf anzurufen scheinen.
Wenige vermögen es indessen, diesen Zauber zu beschwören. Wer mit prosaischem Sinne nur Noten abspielen kann, der löst das Räthsel nicht, und verworrene Klänge beunruhigen den Hörer. Ida verstand, jeder Fingerspitze Zartgefühl einzuhauchen, hier einen Ton ins Licht, dort einen in die Dämmerung zurücktreten zu lassen, wie es das Tonbild forderte.
An diesem Anschlag, der die Herrscherin über die Saiten verrieth, die dem todten, starren Metall ein warmes Leben, einen ewig bewegten Geist einhauchte, erkannte Selvar sie zuerst, und noch einmal tauchte der verschollene Traum jener Tage vor ihm auf. Keinen Blick verwandte er von ihr, bis das Schattenbild aus der Erinnerung mit den Zügen der Gegenwärtigen verschmolz. Das flackernde Auge war sanft und ruhig geworden; die scharfen Züge, die bleichen Wangen von ehemals blühten nun in weicher, milder Frische. Ihre Gestalt schien größer, weil sie sich der nachlässigen Haltung endlich entwöhnt hatte.
In der Pause beobachtete Selvar, wie lebhaft gesprächig Ida mit dem großen Kreise der Befreundeten verkehrte, die sie umringten. Es waren nicht bloß junge Stutzer, wie sie sich sonst ausschließlich an die Künstlerinnen zu drängen pflegen, sondern Personen jeden Alters. Auch mit den Frauen schien Ida in Verhältnissen der Achtung und Theilnahme zu stehen. Sie selbst war lebhaft gesprächig, und schien versöhnt und zufrieden mit der Welt, die sie umgab.
Eine neue Composition Sohlings rief am Schlusse des Abends noch einmal Ida ans Clavier. Sie war für bloß weibliche Stimmen und eine Begleitung von Clavier und anderen Solo-Instrumenten geschrieben, die nur für bedeutende Künstler ausführbar war. Der Text war sehr lieblich und beschrieb den Tanz der Elfen in der Mondnacht auf den ersten Maiblumenkelchen, den das erwachende Sonnenlicht mit seinem fröhlichen Waldrauschen und Lerchengeschmetter zuletzt überwältigt. Die Feinheit der Composition und der Ausführung wetteiferten mit einander. Ein Halbkreis von lieben, rosigen, jungen Mädchen mit klaren Glockenstimmen sangen die Rollen der Elfen und Lerchen. Fast ohne merkliches Kopfneigen, nur mit dem Blicke lenkte Ida den Chor, den sie, wie Selvar von einem Nachbar erfuhr, selbst gebildet hatte.
»Sie ist an ihrem Platz,« dachte er, als er den Saal verließ und den heitern Abschied sah, den die Sänger von ihrer Dirigentin nahmen. Er schwankte, ob er zu ihr treten und sie begrüßen sollte, doch eine Art von Verstimmung hielt ihn zurück, als er sie so strahlend von Freude an Sohlings Arm sah. Es schien ihm aus den Mienen der beiden Glücklichen, als schriebe Jeder dem Andern seinen Erfolg zu, und als dankten sie einander mit jedem Athemzuge, während er unbeachtet ihr fern stand.
In den Gasthof zurückgekehrt, öffnete Selvar ein Fenster und lehnte sich in die kühle Nachtluft hinaus. An dem Hause gegenüber fuhr ein Wagen vor, und bei dem hellen Kerzenschein glaubte er Ida's Gestalt rasch in den Hausflur schreiten zu sehen. Oben wurden einige Fenster erhellt; gewiß, sie war es, die hereintrat im weiß und lichtblau gestreiften schimmernden Seidenkleid, mit den rabenschwarzen Locken, die über die Wangen herabfielen. Nun konnte er dem Wunsch nicht Schweigen gebieten, noch einmal ihre Stimme zu hören.
Er schickte seine Karte hinüber mit der Frage, ob er so spät noch einen kurzen Besuch wagen dürfe. Eine bejahende Antwort lud ihn zu dem Künstlerpaare.
Mit unbefangener Herzlichkeit ward er von Sohling und Ida empfangen, obgleich die Wangen der letzteren sich merklich rötheten. Selvar hatte schnell den rechten Ton gefunden; er schützte den neugierigsten Antheil an ihren Schicksalen vor, um nicht das Gefühl von Verlassenheit zu verrathen, das ihn bei dem Gedanken an sein eigenes Haus befiel. Bald aber ward das Gespräch durch ein paar rothwangige Kindergesichtchen unterbrochen, die sich schalkhaft lauschend an der Thüre zeigten, und trotz des ernsten Abwehrens ihres Vaters nicht zu Bette wollten, bis sie von der Mutter noch einen Kuß bekommen hätten. Ida stand lachend auf, aber noch ehe sie die Thür erreichte, stürzten die lockigen Schelmchen in ihren Nachtröckchen auf sie zu und umklammerten sie. Als diese nun endlich beschwichtigt waren und dem fremden Herrn ein Händchen gegeben hatten, wobei sie treuherzig den Papa fragten: »Ist das der Großvater, der uns diesen Sommer besuchen soll?« da fing das Jüngste im Nebenzimmer an zu lallen und nach der Mama zu weinen. Wollte sie Ruhe haben, so mußte Ida es auf ihren Schooß nehmen, wo es, unbekümmert um den schönen Seidenschmuck, den es zerknitterte, bald einschlief.
Mit diesem Bilde von ihr schied Selvar. Sie gehörte nun einer Welt an der er keinen Antheil hatte, »und doch,« sprach er leise, als er über die Schwelle schritt, »hat sie einst nur mir gelebt!«
Als Sohling und Ida wieder allein waren, fragte sie: »Hat es Dich denn gar nicht getrübt, dem Manne zu begegnen, den ich vor Dir geliebt habe?«
Er küßte lächelnd ihre Stirne und sagte: »Soll ich es ihm nicht danken, daß er Dich so lieben gelehrt? Denn die losgefesselte Glut Deines wilden Herzens hat mich überwältigt, und nimmer hätte mich die unbewußte erste Liebe einer unreifen Seele so beglückt.«
* * *