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Eine Geschichte vom Lande.
Von
Gottfried Kinkel.
Am obern Schlusse des schönen Ahrthales, wo das Flüßchen dem Fuße eines stark ansteigenden Berges entspringt, liegt in die grüne Schlucht zurückgezogen das Städtchen Blankenheim, ein Schutz und Schirm der jetzt zertrümmerten Grafenburg, der es seinen Ursprung dankt. Mancher Wanderer wird sich mit Vergnügen des lieben Oertchens erinnern, wo er nach den rauhen Pfaden der obern Ahr oder nach beschwerlicher Eiffelfahrt zum erstenmal wieder städtisches Behagen in reizender ländlicher Umgebung fand. Zumeist, wer etwa im ersten Frühling das Thal besuchte, gedenkt sicher mit Entzücken des weiten weißen Blüthenschleiers, mit dem die ganze Schlucht wie übersponnen liegt, ein blühend Idyll mitten unter den wilden Eiffelhöhen, deren theils kahle, theils bewaldete Rücken die Stadt rings umziehen. Im Schirm dieser Höhen ruht sie und genießt in Folge dieser Lage eines rheinischen Sommers, während eine Viertelstunde Weges die Berge hinauf genügt, uns in eine rauhe, nur der Fichte noch günstige Luft zu versetzen.
Freilich sieht's dann im Winter ganz anders aus. Sein über die endlosen Schneeflächen ringsum hersausender Hauch schont auch das Thal nicht. Die Wiese dorrt vor ihm, durch welche in der mildern Jahreszeit die junge Ahr so munter herabtanzt, tiefer Schnee sperrt die Stadt von dem gebildeten Leben entfernterer Gegenden und selbst von dem Verkehr mit den benachbarten Ortschaften ab. Da ziehen sich dann die Honoratioren Abends ins Casino zusammen, spielen Karten und trinken Wein; draußen aber vor den Mauern ist's nimmer gut hausen.
Am wenigsten erwünscht kommt dann in solchen Zeiten der Besuch der Wölfe, welche durch den hinter Blankenheim endlos sich ausdehnenden Zitterwald aus den Ardennen vorrücken und ihren räuberischen Hunger bis dicht vor die Stadtthore tragen. Unser ungründlicher Nachbar, der Franzose, hat die Singvögel aus seinen Laubhainen, die Hasen aus seinen Feldern weggeschossen, aber nicht Ausdauer genug gehabt, jenes widrig gemeine Raubthier zu tilgen; an seiner Süd- und Nordgrenze, in Pyrenäen und Ardennen, höhnt es noch den civilisirten Zustand des Landes. Was von diesen grauen und bösen Gästen nach Deutschland herüberkommt, findet jetzt meist rasch seine Kugel, aber so lange ists noch nicht her, daß man sie sogar in der Rheinebene und, wenn das Eis ihnen eine Brücke über den großen Strom gab, selbst auf dem rechten Ufer antraf. Die ganze Eiffel bildet noch bis heute ihre Domäne, der sie einen Winterbesuch abzustatten niemals verfehlen. Nachts gehen sie am liebsten auf die Hunde an der Kette aus, am Tage holen sie vor den Augen der Hirten Schafe von den Weideplätzen. Selten werden sie dem Menschen gefährlich; doch geht die unheimliche Sage im Volk, daß ein Wolf, der einmal aus grimmigem Mangel an Nahrung Menschenfleisch gekostet habe, hernach an keinem Thier sich mehr vergreifen möge.
Jener Wald nun der ihren Zug gegen Blankenheim hin deckt, zieht sich fast von der Stadt an, nämlich von dem Thiergarten der alten Grafen bei den Schloßtrümmern über einen hohen Bergrücken fort, der die Stromscheide zwischen Ahr und Kyll bildet. Beiderseits liegen spärliche Dörfer meilenweit auseinander, hie und da trifft man einen Bauernhof, und wo in tiefen bebuschten Rinnen Bäche jenen größern Flüßchen zulaufen, hat sich wohl eine einsame Mühle auf einem Stück mühsam gerodeten Wiesen- oder Ackerlandes angesiedelt.
Solch ein Fleck in der tiefen lautlosen Stille einer flimmerkalten Winternacht liegt vor uns; nicht einmal das Rauschen des Wassers oder der leis plätschernde Umschwung des Mühlrades regt sich, alles starrt im Eise. An den Menschen und sein Dasein mahnt nur ein schwaches Licht in einem Fenster des kleinen an die Mühle angelehnten Nebenbaus, das gegen den kalten, blauen, östlich über die schneeigen Baum- und Bergspitzen heraufkommenden Mond mit warmem Roth sich absetzt. Sonst herrscht allwärts der ernste, grausige, allem Leben feindliche Todesschlaf einer herben Wild- und Waldnatur.
Bei jener Lampe aber wacht und klopft ein armes Menschenherz – ein junges Weib beim Sterbebett ihres Kindes. Sie ist nicht Jungfrau, nicht Weib, nicht Wittwe, aber dennoch ist sie Mutter. Ganz einsam und verlassen übt sie ihre Pflicht, über die fiebernde Stirn des Kindes, das in tiefem starrem Gehirnschlaf mit gespenstig halb geöffneten Augen theilnahmlos ihre Mühe hinnimmt, schlägt sie rasch wechselnd die nassen kühlenden Tücher – und zwischen jedem Aufschlag kniet sie vor der Mutter Gottes hin, die zwischen den Fenstern unter der Lampe hängt, und spricht ein stilles, ringendes Gebet.
Gott und seine Heiligen sind furchtbar stumm in solchen Nächten! die einsame Mutter erfuhr es. Kein Engel kam herab, seine heilende Hand auf die Stirn des kranken Knaben zu legen, das heiße Fieber stieg gegen die Mitternacht hin, immer schneller mußte sie das kühlende Linnen erneuern. Ueber die dunkle Ecke, wo das Kind vor dem Lampenschein geschützt lag, fiel jetzt mit blassem blauem Licht der Mondschein, wob einen Glanz um das blonde müde Köpfchen und schlich nach kurzer Frist wieder darüber hinweg, als hätte er das Sterbende noch einmal mit dem Strahl des Lebens umleuchten wollen und dann der ewigen Nacht geweiht. Die Stunden rannen hin, die Mutter, stumpf von Leid und Ermattung, empfand ihren Gang nicht mehr und hörte gleichgültig den Schlag der Wanduhr, der ihren Wandel verkündigte.
Gegen Morgen ging der Odemzug des Kindes ruhiger, die Händchen wurden kühler, die Adern der Stirne begannen leiser zu schlagen und die Augdeckel zogen sich fester zu. Sie wußte jetzt aus der Erfahrung dreier schrecklichen Wochen, daß ihr das Kind wieder auf Einen Tag geschenkt sei. Noch einmal legte sie, das Köpfchen sanft aufhebend, ein feuchtes Linnen unter. Dann setzte sie sich beiseits ans Fenster, lehnte den Kopf auf die aufgestützten Hände, hielt die heiße schmerzende Stirn an die gefrornen Scheiben und sah mit den verwachten verweinten Augen in die trostlose Schneenacht hinaus, die der Mond in ihrer ganzen lautlosen Erstorbenheit noch blasser und leichenhafter malte.
Und nun, da keine äußere Thätigkeit und Sorge sie mehr zerstreute, erwachte ihr inneres Auge. Ihre ganze Vergangenheit lief in raschen Bildern vor ihr vorüber, jede frühere Lust, jeder vergangene Schmerz bohrte sich tief und wühlend in ihre müde Seele ein, und alle diese kämpfenden Erinnerungen führten sie zuletzt wieder zu ihrer Gegenwart, zu ihrer gräßlichen Verlassenheit, zum Sterbebett ihres schönen Kindes.
Margret war das Kind begüterter Eltern aus einem benachbarten großen Dorfe. Ihr Vater hatte unter Napoleon gedient, viele Länder gesehen, und mit dem verständigen Blicke, der dem rheinfränkischen Stamme eigen ist, Menschen und Sitten beobachtet. Ueberall fand er daß Kenntniß Macht gibt, und als er mit einem zerschossenen Arme, aber sonst noch rüstig in sein väterliches Dorf zurückkehrte, ein Weib nahm und sein kleines Erbgut zu bewirthschaften anfing, da wandte er Alles was er gesehen und in achtsamem Herzen bewahrt hatte, auf sein Arbeiten an, nicht in dem neuernden Geiste halber Bauernbildung, der Alles versucht und gleich wieder aufgibt, bevor es sich als nützlich hat bewähren können, sondern mit besonnener und geduldiger Prüfung. Zum Staunen des Dorfes trat er, der schlichte Mann vom Pfluge, in einen benachbarten Verein reicher und gebildeter Grundbesitzer ein, der eben damals zur Aufbesserung der schmählich vernachlässigten Landwirthschaft jener Gebirge zusammentrat; gern nahmen ihn die Theoretiker auf, die von seinem sichern Blick und seiner verständigen Erfahrung vieles lernten, während dagegen er von ihnen die Resultate der neuern Wissenschaft für den Landbau empfing und sogleich benützte. In fünfzehn Jahren stand der Mann, der so klein angefangen hatte, bloß durch die Macht des Verstandes unter den wohlhabendsten Leuten seiner Gemeinde da, und die erst über seinen neuen Bebauungsweisen und die wunderlichen Besserungen und Futterkräuter lachend den Kopf geschüttelt, beeiferten sich jetzt von ihm zu lernen. Man wählte ihn zum Schöffen, und wenn er seine Meinung über eine gemeinschaftliche Maßregel im Gemeinerath oder auch im Wirthshause vortrug, so war Alles still, dem klaren, scharfen Auge, den ruhig hingestellten Gründen, der beredten praktischen Ausführung seiner Vorschläge vermochte auch kein Gegner zu widerstehen, und er war im Geiste der Fürst seines Kreises, obwohl an äußerer Stellung und an Reichthum der alte Schultheiß noch über ihm stand.
Jenen Schatz von Kenntnissen nun, dem er sein Lebensglück dankte, wollte er um jeden Preis auch seiner ganzen Familie ins Leben mitgeben. Er hatte neun Kinder und sah also voraus, daß von seinem Erbe auf jedes doch nur ein kleines Theil fallen werde, daß sie also gleich ihm wieder unten anfangen müßten, wenn sie es in der Welt zu etwas Rechtem bringen wollten. Die Söhne nahm er selbst in seine Schule, gewöhnte sie von früh auf an eigenes kräftiges Zugreifen bei der Feldarbeit, führte sie schon als Knaben mit auf die Jagd und theilte ihnen alle Vortheile mit, die sich dem Landleben und der allnährenden Erde abgewinnen lassen. Dann mußten sie, die Kinder eines wohlbegüterten Landmannes, dennoch ohne Ausnahme für ein paar Jahre als Knecht auf großen Gütern bei tüchtigen Gutsbesitzern eintreten: denn beim Militär hatte der Alte gelernt, daß nur wer vortrefflich gehorchen gelernt hat, hernach vortrefflich zu befehlen versteht. Dann aber, mit klugem Blicke die zu große Zahl der Bevölkerung in einem rauhen, wenig ergiebigen Lande wägend, schloß er sich, einer der Ersten, mit Rath und That an die große Auswanderung nach Amerika an, welche noch jetzt von jenen Gegenden abströmt. Die beiden ältesten Söhne gingen, trotz den Thränen der Mutter, mit einer mäßigen Geldsumme nach Michigan, die beiden nächsten in der Reihe folgten zwei Jahre später mit der ältern Schwester und einem bedeutenden Nachschuß von Geld. Hierfür mußte er einen ansehnlichen Theil seiner Ländereien veräußern, aber er ließ sich auch von den Abziehenden, deren Schicksal er so gesichert hatte, einen schriftlichen Revers ausstellen, daß sie nach seinem Tode keinen weitern Anspruch ans Erbgut machen wollten. Wirklich ging es den jungen Leuten in Amerika vortrefflich, da sie Fleiß, praktischen Blick und ein Betriebskapital vom Vater mitgebracht hatten. Die Söhne konnten in jedem Briefe Besseres von ihrem Haus- und Viehstand melden, das Mädchen, durch Schönheit und eine in Amerika seltene Bildung ausgezeichnet, hatte einen der reichsten Pflanzer aus dem Süden geheirathet und gebot über achtzig Sklaven und Sklavinnen.
Und so gelang es ihm auch mit den zu Hause gebliebenen Kindern trefflich. Zwei Söhne verheiratheten sich in reiche Häuser, dem letzten, jüngsten wurde das väterliche Haus und Gut bestimmt. So blieb nur noch die kleine Margret übrig; sie war noch ein Kind, als nun ihre Mutter nach kurzem Krankenlager starb.
Hier fühlte nun der Vater daß sein Wissen nicht ausreiche für alles Feinere, was Frauen lernen können und lernen sollten. Ihm selbst war seine Jugend vernachlässigt worden; der Mann, der mit seinem Geiste die amerikanischen Verhältnisse überblickte und seine ganze Umgebung beherrschte, hatte als Kind nicht schreiben gelernt und später nur mühsam die Fähigkeit sich erworben Geschriebenes zu lesen und seinen Namen mit steifer Hand hinzumalen. Und doch liebte er, und so auch die verstorbene Mutter, diese Margret vor allen Kindern; zuletzt im Alter, nachdem das vorhergehende Kind schon acht Jahre alt, war dieß Nesthäkchen wie eine ungehoffte Weihnachtsfreude den Eltern noch geschenkt worden. Früh schon anstellig und dem Vater nachschlagend zeigte sie auch für Anderes als Spinnen und Nähen Sinn, und der alte Schulmagister fand, als sie zehn Jahre alt war, daß sie von ihm nichts mehr lernen könne, obwohl er sich wohlweislich hütete davon ein Wort zu sagen.
Trotz dem sah der kluge Schöffe sehr bald ein wie es damit stand: es verdroß ihn daß sein Mädchen noch bis zur ersten Communion auf den Schulbänken sitzen sollte, ohne davon etwas im späteren Leben Förderliches zu gewinnen. Er sann sich einen Plan aus und griff zur Ausführung. Theils beim Wein im Wirthshaus, theils im Gespräch mit den Frauen der reichern Gemeineleute verfolgte er ihn: er wußte ein Dutzend Familien für ihn zu gewinnen. Es sollte nämlich ein studirter Mann auf ein paar Jahre ins Dorf gezogen werden, um etwa zwanzig Kinder in demjenigen zu unterrichten, was die Dorfschule nicht leistete. Manche Bauern hatten Söhne zum Studiren bestimmt, mehrere Frauen wünschten ihren Kindern städtische Erziehung zu geben. Der Schöffe erbot sich den künftigen Lehrer in Kost und Wohnung zu nehmen, schon weil er sich freute dadurch manche Stunde Gespräch mit einem gebildeten Manne zu gewinnen: die andern Familien sollten ein kleines Schulgeld erlegen, das, als man hernach die Köpfe der angemeldeten Schüler zählte, dreimal so groß war, als das Salair, womit der Adel sich seinen ersten Bedienten unter dem Namen eines Hauslehrers ins Haus zu miethen pflegt.
Als dieß feststand, ging der Schöffe selbst in die nahe Universitätsstadt, fragte einen zufällig begegnenden Studenten nach dem allerbesten Professor, den sie an der Universität für die Sprachen hatten, und ging frischweg auf dessen Haus zu. Der berühmte Philolog, zu dem er dort geführt wurde, sah den Mann im Linnenkittel erst erstaunt an bei der Bitte, ihm den wackersten seiner Studenten als Bauernhauslehrer zu empfehlen; als er ihn aber seinen verständigen Plan in klarer, einfacher Rede darlegen hörte und zuletzt mit Staunen den Betrag des angebotenen Einkommens vernahm, da nannte er sogleich einen höchst tüchtigen Jüngling, der eben bei Beendigung seiner Studien noch unversorgt war, und schon am Abend wanderte der Schöffe mit dem neuen Lehrer seiner Heimath zu.
Die Wahl war gut getroffen. Der Lehrer war auf der Universität ein kräftiger Demagog und Turner gewesen, neigte nicht zur städtischen Ueberfeinerung, und selbst Bauernsohn fand er sich in das schlichte aber reichliche Leben beim Schöffen leicht und gern hinein. Den Knaben gab er Latein und sonstige Gymnasialfächer, brachte sie auch so weit, daß die meisten beim späteren Eintritt in öffentliche Schulen ein paar Klassen übersprangen. Die Mädchen aber unterrichtete er mit den Knaben zusammen im Deutschen, in Erdbeschreibung, Vaterlands- und Völkerkunde und in Geschichte. Vom nächsten Quellchen und Mühlbach, von den überall sichtbaren Nachbarhöfen beginnend führte er die Einbildungskraft und die Begriffe seiner kleinen Schüler in das Ahrthal, an den Rhein, an die See, und so weiter in allen Ländern und Herrlichkeiten umher; dann erst begann er die Geschicke der Menschen auf unserm Balle zu berichten. Er war eine der herrlichen Naturen, bei denen jedes Wissen augenblicks ins Praktische, jedes Ferne ins Nächste übergeht, und der stürmische Freiheitsmuth, mit dem er die Gegenwart umgestalten wollte, gab seinen Erzählungen aus der Geschichte eine Gluth, die als zündende Menschen- und Vaterlandsliebe in die jungen Herzen schlug. Alles Fremdländische, alles Charakterlose, alle Verirrungen der modernen Kultur hielt er von ihnen fern, schon weil ihm selbst das alles fern lag. Mit leuchtendem Auge hing selbst der alte Schöffe in diesen Unterrichtsstunden an dem Munde des männlichen Jünglings, mit noch leuchtenderem die kleine Margret.
Der Sinn des Mädchens ist weich und auf alles Milde gewendet, so lang es jung bleibt. Schwindet dieser frühe Duft von ihm, erwacht der schärfer sondernde Verstand, so wird das Weib, weil sein Denken meist keine edeln und großen Stoffe ergreift, kleinlich, persönlich-beobachtend, und leicht herb, bösartig oder gemein. Ist aber jener anfänglichen Wärme ein Gedanke geboten, ist dem Kinde eine Zahl mächtiger Persönlichkeiten bekannt geworden, dann erhält sich an diesen Erinnerungen die Jugend des Geistes und des Gemüthes, das reifende Denken sinkt nicht in's Kleine, Alltägliche hinunter, und die ganze Hingabe, die in der weiblichen Natur liegt, wird zur Nachahmung jener großen Menschen und ihrer reinen Thaten. Solch ein Weib wird stärker in seinem festen Willen, aufopferungsfähiger für die erkannte Pflicht und ausdauernder in seiner Lebensaufgabe, als der kräftigste Mann.
Margret lernte aus der Geschichte, was zu allen Zeiten wenig Weiber begreifen, daß die Pflicht mehr ist als das Gefühl, der Beruf wichtiger als die Neigung. Das gab ihr in Allem, was sie that, auch im Kleinsten, eine Macht des Willens, die bei andern Frauen zum widrigen Eigensinn geworden wäre. Sie aber hatte Erkenntniß genug, nur an das ihren Willen zu setzen, was eines Willens werth war. In allem Uebrigen blieb Margret ein Kind vom Land gleich allen andern Dorfmädchen. Zwei Frauen des Dorfes, die Küsterin und die Wundärztin, gaben ihren Töchtern, als diese ins Jungfernalter traten, städtische Hüte, Umschlagtücher und Sonnenschirme, und eine reiche Bäuerin schickte die ihren gar auf ein Jahr in eine Pension zu Professoren- und Kaufmannstöchtern: »damit sie doch sich unterhalten lernen,« wie die Mutter sagte. Das hätte der Schöffe nie gelitten und Margret hätte es nie gewollt. Im Sommer führte sie mit den Mägden die Sichel und den Melkeimer, im Winter spann sie. Obwohl sie Sonntags unsere besten Schriftsteller las und sie besser verstand als die städtischen Nähmädchen, redete sie doch mit Jedermann den derben Dialekt, an welchem die Rheinländer so fest halten. Auch ihre Tracht blieb die ländliche; nur auf den Reihen und am Festtag trug sie den kostbaren aber immer der Dorfsitte gemäßen Putz, wie man ihn am Rhein bei reichen Halfenstöchtern sieht. Es ist eine kleidsame Tracht: das Haar wird vorne schlicht gescheitelt, nach hinten aber heruntergekämmt, und dann über den Kopf in rundem, auf dem Nacken liegenden Wulst wieder heraufgeschlagen. Eine große eckig gebogene Goldspange sitzt auf beiden Schläfen auf und trägt auf dem obern Bügel die weiße, nur das Hinterhaupt bedeckende Haube von klarem Stoff, mit der kostbaren Spitze, welche handbreit um Stirn und Wangen flattert. Das Kleid fällt lang und faltig an den Hüften herunter, ein Spitzentuch liegt über Schultern und Brust; lange Handschuhe decken den untern Theil des vollen, vom Sommerbrand gerötheten Arms. Man findet in diesem Stande zuweilen die schönsten, schlanksten Gestalten: mit großen festen Schritten sieht man sie wohl am Arme ihrer Burschen auf den Jahrmärkten herumziehen, das Körbchen am Arme, mit klugen braunen Augen, voll von Selbstgefühl auf ihre Jugendfülle und auf den Respekt, den ihnen der Reichthum ihres Vaters unter ihren Umgebungen erwirbt.
Solch ein Mädchen wurde Margret, nicht eben fein oder besonders hübsch, aber kräftig an Leib und Seele, klar und frisch wie ein blühender Schlehdorn; weil sie ernster und männlicher war als die meisten andern Dirnen, hielten die Bursche des Dorfes sie für stolz, und vielleicht war sie das auch. Aber fremde Manieren hatte sie nicht an sich, und auf dem Tanzboden wußte sie zwischen reichen und armen Burschen keinen Unterschied.
Mit ihr war als Spielgenoß und später auch als Mitschüler in jenen Unterrichtsstunden bei dem neuen Lehrer der einzige Sohn des Schultheißen aufgewachsen, nicht allein der reichste Erbe im Dorfe, sondern auch der schmuckste und tüchtigste Junge von allen, strebsam, verständig und kühn. Trefflich führte Nikola seine Büchse, auf die Jagd nahmen ihn auch die benachbarten herrschaftlichen Jäger gerne mit, und wer mit dem alten, gebrechlichen Schultheißen ein Geschäft hatte, verhandelte lieber mit dem raschen Sohne. Daß er hübsch war, hätte Niemand abstreiten dürfen, und er selbst wußte es am besten, auch wenn's ihm die Mädchen nicht zu verstehen gegeben hätten. Gegen eine starke Neigung zur Eitelkeit hatte schon bei dem Knaben der Student, der jenen Unterricht gab, vergebens angekämpft; er trug sich städtischer und modischer als die andern Bursche, und auf seinen Betrieb hatte der Schultheiß die Hauptstube seines Hauses, als sie einer Auffrischung bedurfte, nicht neu mit Wasserfarbe malen, sondern mit Tapeten auskleiden lassen.
Das Gefühl beiderseitig anerkannter Tüchtigkeit hatte Nikola und Margret von früh auf zusammengeführt und vertraut gemacht, und als sie älter wurden, zweifelte Niemand daran daß aus ihnen ein Paar werden sollte: wer hätte auch im ganzen Dorfe besser zusammengepaßt? Aber zu einer Erklärung war es zwischen ihnen beiden noch nicht gekommen.
Das jährliche Dorffest des Vogelschießens kam heran. Früh morgens zogen Trommler und Pfeifer durch alle Straßen, Buben und kleine Mädchen jubelnd hinter ihnen her. Die Bursche, welche durch Zahlung eines mäßigen Geldes am Rechte des Königsschusses sich betheiligt hatten, putzten ihre Büchsen und Stutzer und bürsteten die grünwollenen Schützenhüte aus, die nur an diesem Feste getragen werden; die Herzen der Mädchen aber pochten voller Erwartung, ob ihr Schatz oder ein Anderer dießmal den Vogel abschießen möchte.
Um elf Uhr, nach dem Hochamte, begann der Fahnenschwenk. Paarweis zogen die Schützen zur Kirche, und holten die seidene Fahne mit dem Bilde der Maria ab. Der Fähnrich trat gleich hinter die Musikanten, dann folgte der Schützenkönig des vorigen Jahres, dessen Ehrenregiment nun zu Ende ging, und hinter ihm die andern Schützen, deren jeder insgeheim hoffte heut an seine Stelle zu treten. Auf dem Hauptplatz unter der Linde angekommen, stellten sich die Jünglinge in einen Kreis, um welchen die Masse der übrigen Dorfbewohner wogte. Der Fähnrich trat in die Mitte: es war ein stattlicher Bursch mit hübschgekräuseltem Schnurrbart; er trug das blaue Baret mit drei Federn und die breite weißseidene Schärpe. Trommel und Pfeife spielten eine alte muntere Weise: nach ihrem Rhythmus erhub er die Fahne in die Luft, schwang sie über dem Haupte, dann stemmte er den Schaft in die Seite und ließ das flatternde Banner mitten um seinen Leib in weitem Kreise rauschen, dreimal rechts, dreimal links herum. Hierauf erhub er den einen Fuß, und um das Knie des andern beschrieb die Fahne, dicht am Boden herwehend ohne ihn zu berühren, ihre raschen rauschenden Kreise; auch um den rechten Fuß führte sie sodann die andere Hand, während der linke sich erhub sie durchzulassen. Zuletzt noch einmal wogte das Banner, unter dem jauchzenden Zuruf der Massen, in fester Faust hoch in die Lüfte über dem Haupte des Starken, der stolz auf die gelungene Schaustellung mit flammendem Antlitz aufgerichtet stand. Nun ging's wieder in feierlichem Zuge, aber hastiger und ungeduldiger, zur Vogelstange oben am Wald. Die Schützen zogen ihre Loose, während man im Dorf eilfertig die Suppe und das Sonntagsrindfleisch aß, und noch stand die Sonne mitten am Himmel, als gegen den monströsen hölzernen Vogel, dessen Gleichen auch Raff's Naturgeschichte nicht kennt, das muntere Pfeifen der Büchsenkugeln begann.
Glückliche Schüsse fegten den Schwanz, die Flügel und zuletzt auch den Kopf weg; ein lautes Triumphgeschrei der Jugend folgte jedem herabsplitternden Theile, und die kleinen Jungen balgten sich um die Holzspäne. Aber der Rumpf, obwohl am Ende klein wie eine Hand und ganz ungestalt von Streifschüssen, haftete noch auf dem letzten starken Nagel. Die Entscheidung konnte jetzt jeder nächste Schuß bringen, die heiße Spannung der Schützen gab ihnen eine vorher seltene Sicherheit im Zielen, und oft zitterte der Vogel, wenn die Kugeln dicht unter ihm gegen den eisenbeschlagenen Mast prallten. Dem Nikola bebte die Büchse in der Hand; krampfhaft zählte er die Schützen, die noch vor ihm an der Reihe waren, der letzte hatte den Nagel krumm geschossen, an welchem das kleine Holzstück jetzt wie an einem einzigen Splitter im Winde schwankte. Da spannte Nikola den Hahn, trank ein großes Glas des besten Ahrweins, drückte den Hut fester in die Stirne und warf unter der Krempe einen Blick auf Margret herüber, die gerade vor ihm am Waldabhang unter andern Mädchen stand. Alsdann schritt er zum Schützenstand, legte an und wartete einen Augenblick ab, als der Abendwind den Vogel nicht mehr schaukelte. Jetzt schoß er, der Nagel fuhr zerbrochen aus der Spitze des Mastes und in weitem Bogen sprangen die Trümmer des Vogels zerspällt auf die Köpfe der Zuschauer herab.
Wenn bis dahin die Herzen der Männer in Spannung gewesen, so kam nun das Zittern an die Mädchen. Keines hatte mit Nikola ein heimliches Verständniß, keines durfte sich Hoffnung machen, und doch konnte kein Zweifel sein, daß die, welche er zur Königin nähme, auch die Erwählte seines Herzens sei. Aber als wäre das eine längst beschlossene und abgemachte Sache, ging Nikola, die Büchse über die Achsel hängend, drüben zum Waldraum hinauf, umfaßte Margret, gab ihr einen herzhaften Kuß und führte sie als Königin auf den Schützenplatz. Die andern Bursche wählten eben so rasch ihre Dirnen, die Musikanten setzten sich in Marsch, und man zog zu dem eine gute halbe Stunde weiter auf einem schönen Berge aufgeschlagenen Schützenzelt, wo Alles zum Reihentanz eingerichtet war.
Margret ging selig und stolz an der Hand ihres Nikola, und ehe man noch oben anlangte, wurde auch bereits ein festerer Bund zwischen beiden jungen Herzen geschlossen, die ja schon von der Wiege an still mit einander verwachsen waren.
Den Meisten kam es ganz gelegen, daß eben Nikola den Königsschuß gethan hatte. Er war so reich, daß er nicht zu sparen brauchte, und übernahm alsbald die Zeche für die ganze Gesellschaft der Schützen und ihrer Mädchen. Die blanken Thaler, die er in die Mützen der Musikanten springen ließ, der feurige Wein von Altenahr, den er preisgab, und die frische sommerliche Lebensluft des Gebirges entzündeten bald den wildesten Tanz. Nach dem ersten Walzer zog Nikola seine Margret aus dem Zelt, sie gingen unter die Kirschbäume beim Saume des Waldes, umfaßten sich mit Inbrunst und wechselten ihre Küsse. Es waren die ersten Küsse, die sie gaben und empfingen –, die ersten, welche verdienen, Küsse zu heißen. Sie sind gefährlich und verhängnißvoll. Margret fühlte ein leises Beben in allen Gliedern, sie spürte ihr Blut rasch und heiß aus dem Herzen in die Wangen strömen; sie faßte Nikola an der Hand und führte ihn wie im Spiele unter Plaudern und Kosen zu dem Tanzreihen zurück.
Dort unter dem Zelt fanden sie ein wildes Leben: die Mädchen glühten wie Pfingstrosen, die Bursche athmeten tief vom Tanze auf. Als das Paar wieder eintrat, bliesen die Musikanten, wie es verabredet war, Tusch, und Alles rief laut und fröhlich mit erhobenen Gläsern: Unser Herr Bräutigam, des Schultheißen Nikola, soll leben, und sein Bräutchen, des Schöffen Margret, auch daneben! Erröthend nahm Margret, lachend Nikola den Glückwunsch an. Die Bursche wollten ihm ihre Gläser zubringen, er aber rief: Wartet ein wenig, mein Verlöbniß muß in Walporzheimer getrunken werden!
Der dunkelglühende, starke Sohn der Ahrtraube, wie er auf den heißesten schwarzen Schieferfelsen des Thales reift, rann in die Kelchgläser. Nikola trank mit Allen, und auch Margret mußte stärker Bescheid thun, als sie wünschte. Die Mädchen brachten ihr einen Kranz, die Bursche dem Nikola einen Rosenstrauß mit Bändern ins Knopfloch. Der Walzer begann von neuem, von den beiden schlanken, stolzen Gestalten eröffnet. Und nun ergoß sich auch durch ihre Adern die ungebändigte Lebenslust; bis über die Mitternacht hinaus wurden Nikola und Margret nicht müde, in jedem neuen Tanz sich wieder zu umschlingen und Herz an Herz schlagen zu hören.
Als die Hähne aus den Thälern die Mitternacht anzeigten, gingen die meisten Bursche mit ihren Mädchen heim. Nikola, weil er den Wirth machte, mußte der letzte sein, und suchte manches Paar durch Zutrinken noch festzuhalten. Als die Musikanten ihre Geigen in die Ecke gestellt und sich auf die Streu gelegt hatten, als nur der Wirth noch schlaftrunken hinter dem Schenktisch saß, brach auch er mit seiner Braut auf. Vor das Zelt getreten, sahen sie den Himmel von einer plötzlich aufziehenden Wetterwolke dunkel, ein paar schwere Tropfen fielen herab, eine matte Schwüle lag über dem Walde. Nikola meinte, sie sollten den Regen noch unterm Zelt abwarten. Aber Margret war bange wegen des späten Ausbleibens und mochte sich keinem Gerede aussetzen, da man wußte, daß sie mit Nikola allein zurückgeblieben war. Sie drängte also zum Fortgehen; vielleicht, sagte sie, erreichen wir noch vor dem Dorf die letzten Paare, und kommen gar vor Anbruch des Wetters heim.
Dann laß uns den nächsten Weg gehen durch den Busch, antwortete Nikola, dort haben wir auch eher Schutz als auf dem Felde.
Sie schlugen den kleinen Waldweg ein; er ging steil abwärts, und Nikola hielt stützend den Busen Margrets an sein wildes Herz gepreßt, während seine Wange auf ihrer heißen vollen Schulter ruhte. Es war eine furchtbar schwüle Juninacht, Johannisfünkchen gaukelten zwischen den dunkeln Sträuchern, kein Laut klang in diese träumende Stille herüber. Aber die Wetterwolke zog schwarz und schwärzer über ihr Haupt, und fern überm Walde hörten sie schon das laute Platschen des Regens, der auch ihnen rasch näher drang. Es ist unmöglich, sagte Nikola, wir zwingens nicht bis nach Hause. Komm in das Mooshüttchen auf dem Vogelherd, das liegt ganz nahe hierbei in meinem Busch. Damit zog er sie durchs pfadlose Gebüsch, sie zitterte, als sie ihm folgte, und wußte nicht, warum.
Die Hütte nahm sie auf: Moos, Wald und Wetter woben eine dichte undurchdringliche Nacht um sie her. Im Hollunder vor dem Pförtchen saß die Nachtigall und schlug, wie bange vor dem Wetter, ihre tiefsten, bebendsten, erschreckendsten Klänge; durch die kleinen Fenster streckte üppiges Geißblatt seine Blüthensträuße herein und füllte die Hütte mit berauschendem, sinnverwirrendem Duft; ein Johannisfünkchen schwebte hindurch und zeigte mit seinem flüchtigen Glanz dem Mädchen das lodernde Auge des Geliebten. Dazwischen entlud sich der Regen und durchbrach mit wildem Rauschen die stille Nachtschwüle, Müde von Tanz, Glück und Sehnsucht saßen sie auf der weichen Moosbank, die Welt mit all ihren Gedanken lag fern von ihnen, nur ihre Herzen wachten, ihre Lippen fanden sich, ihre Arme umwanden sich.
Oestlich über dem Walde dämmerte ein grauer Schein, im West verzuckte das Gewitter mit rothem Wetterleuchten. Da trat das Paar aus der Hütte. Margret nahm weinend den Kranz aus ihren Haaren und streute seine welken Blumen in den Hollunderbusch, weich und innig an den Geliebten geschmiegt stieg sie durchs Gebüsch zum Dorfe hernieder und achtete es nicht, daß die Tropfen ihr Kleid durchnäßten. Mit Schrecken sah sie in der Stube des Vaters ein Licht brennen; Nikola aber umfaßte sie unter der Hofthür noch einmal mit voller Inbrunst und jauchzender Seligkeit, und ging dann die Gassen des Dorfes hinunter nach dem Schultheißenhause.
Der jüngste Bruder machte der Margret die Hausthür auf. »Aber du bleibst lange,« sagte er, »der Vater liegt oben auf dem Bett; es ist ihm seit gestern Abend nicht recht, und wir haben soeben den Großknecht auf dem Falben nach dem Doktor geschickt. Geh herauf zu ihm, ich mache jetzt in der Küche geschwind Feuer und dann kochst du ihm einen Hollunderthee.
Margret flog die Treppe hinauf: blutroth trat sie vor den Vater, denn sie meinte, Jeder müsse ihre Schuld auf ihrer Stirne lesen, und erwartete vom Vater heftigen Tadel, der aber war weich wie man ihn selten sah, bot ihr die Hand und sagte: »Ich habe es schon gestern Abend von den jungen Gesellen gehört, du bist Braut und hast, das muß ich sagen, einen wackern Burschen mitgekriegt. Sieh, Margret, das freut mich, denn nun hab ich auch dich versorgt, mein letztes Kind – und mein liebstes, setzte er leise hinzu, nun es mit mir auch einmal zu Ende geht.«
Weinend über die Güte des Vaters stürzte Margret an seine Brust und suchte ihm die Todesgedanken auszureden. »Nein,« sagte der Alte, »laß das: mein Lebtage bin ich gesund gewesen, und die starken Bäume brechen am ersten: so wie heut war mir's noch nie zu Muth.«
Nach neun Tagen kniete Margret am Sarg des Vaters: er war an einem hitzigen Fieber verschieden. Neben ihr ging Nikola zum Kirchhof, da er sich nun als zur Familie gehörig ansah. Die beiden Brautleute beschlossen nach der Sitte ein Jahr zu warten, und kamen von jetzt an, da Margret ohnehin wegen ihrer Trauer keinen Tanz besuchte, nur noch in andrer Leute Gesellschaft zusammen, wo sie denn ganz unverholen sich als Braut und Bräutigam küßten und vertraulich unter einander plauderten. Bei der Freiheit, die auf dem Lande im Verkehr der jungen Leute herrscht, dachte über jenen nächtlichen Heimgang aus dem Schützenzelt keine Seele etwas Arges. Margret selbst glaubte ihr Vergehen (denn so erschien es ihrer reinen Seele) abgebüßt durch den Schmerz, daß ihr Vater ins Grab gegangen war mit einer bessern Meinung von ihr als sie es verdiente. An Nikolas Treue zu zweifeln kam ihr gar nicht in den Sinn.
Aber auch die kleine Schuld fordert oft eine große Buße ein. Nach zwei Monaten wurde Nikola vor die Untersuchungskommission gefordert, um sich zum preußischen Militärdienst zu stellen. Als einziger Sohn und Stütze seines alten Vaters war er bereits zweimal zurückgestellt worden und hatte auch jetzt die allersicherste Aussicht vollständig freizukommen. Lustig zog er eines Morgens mit den übrigen Burschen seines Zuges nach einer nahen Stadt aus und nahm lachend von Margret Abschied.
Nun aber war von den höhern militärischen Behörden vor Kurzem Unterschleif bei den Aushebungen bemerkt worden. Einige Regimentsärzte, welche, der Bestechung zugänglich, begüterten Bauersöhnen unredliche Untauglichkeitsscheine ausgestellt hatten, mußten ihre Stellen räumen, größere Strenge und Gleichmäßigkeit des Verfahrens gegen Arm und Reich wurde den Untersuchungskommissionen von neuem eingeschärft. Nikola hatte die Sache zu leicht genommen; die frühern Gründe der Zurückstellung ließ man nicht mehr gelten, man fand, daß er zwar keinen Bruder, aber zwei tüchtige, gesunde, junge Schwäger habe, die dem alten Schultheißen mittlerweil schon in der Wirthschaft durchhelfen könnten. Auch stach der schöne schlanke Junge den Offizieren sehr in die Augen; man fand unter dem Meßstock, daß er die gehörige Größe habe um unter die Garde zu treten, und das Endurtheil war, daß er einem Regiment zugewiesen wurde, das in der großen Hauptstadt des Staates garnisonirte: binnen Monatsfrist mußte er sich, da seine Zurückstellungstermine abgelaufen waren, zum Eintritt stellen. Das war ihm verdrießlich um Margrets willen, aber es reizte ihn auch die Uniform des Gardisten und der Aufenthalt in einer so fernen und so schönen Stadt. Da er doch mit seiner Heirath noch ein Jahr warten sollte und bei guter Aufführung gewiß war, mit höchstens zwei Jahren loszukommen, so kehrte er nicht eigentlich mißvergnügt zu seiner Braut zurück.
Als aber diese den Zettel an seiner Mütze sah und die Sache vernahm, wurde sie leichenblaß und fiel rücklings in den Stuhl zurück. Vergebens tröstete er sie; sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn in den Baumgarten hinter dem Hause, wo sie allein waren. Dort fiel sie wie verzweifelnd an seine Brust und wilde, unerschöpfliche Thränen rannen nieder. Nikola ahnte endlich, was sie so erschüttere, er hob ihren Kopf auf und sah in ihre Augen; sie waren müde und glanzlos. Ist's denn wahr? fragte er, sie antwortete nicht, sie umarmte ihn nur so fest wie noch nie. Nikola wurde blaß, und auch seine Augen flossen; aber mit der innigsten Herzlichkeit küßte er ihr die Thränen weg und sagte: «Dann gehören wir ja erst recht zusammen; sei munter mein Mädchen, nun heirathen wir in vierzehn Tagen.«
»Ach,« sagte Margret, »du willst als Soldat eine Frau haben?«
»Hab' ich ein Kind,« antwortete Nikola, »so will ich auch die Mutter dazu haben.«
»Aber was werden die Leute sagen, wenn ich im Trauerjahr meines Vaters heirathe?«
»Die laß du reden, was sie wollen,« erwiderte der junge Mann. »Besser gegen die Sitte anstoßen als die Ehre verlieren. Und wenn du erst meine Frau bist, so möcht' ich doch Den sehen, der über des Schultheißen Nikola Frau zu mucken wagte. Und nun dürfen wir keine Zeit verlieren. Du mußt deine Papiere schaffen und ich muß meines Vaters Einwilligung haben. Komm!«
Die Papiere! Dieß Wort ist schon manchem jungen Brautpaar ein Schrecken geworden. Die französische Gesetzgebung, welche am Rheine herrscht, hat mit großem Verstande den Eigensinn der Eltern bei Verheirathung ihrer Kinder beschränkt, indem sie dem Volljährigen nach gewissen Formalitäten das Recht gibt auch ohne Einwilligung der Eltern die Ehe zu schließen. Aber auf Einem Punkt schleppt jene Gesetzgebung eine unleidliche und lächerliche Freiheitsbeschränkung nach: sie rückt, wenn die Eltern todt sind, in deren Rechte die Großeltern ein, und fordert, ehe die Trauung gestattet wird, deren Einwilligung oder ihren Todtenschein. In diesem Falle befand sich Margret.
Beide Eltern waren todt; drei Großeltern ruhten auf dem Kirchhof des Dorfes, nur die Großmutter mütterlicher Seite war hoch betagt einer verheiratheten Tochter in ein kleines hessisches Dorf nachgezogen, dessen Namen Margret nicht einmal deutlich mehr wußte. Der Bürgermeister eröffnete dem Nikola, als er zur bürgerlichen Trauung sich meldete, daß er wenigstens ein Attest vom Vorstand jenes Dörfchens beibringen müsse, welches darthue, daß man dort den Namen der Gestorbenen nicht auffinden könne. Noch an demselben Tage ging der Brief dorthin ab: es verflossen zwei angstvolle Wochen, dann kam er uneröffnet zurück mit der Aufschrift auf der Adresse, daß ein Ort dieses Namens in beiden Hessen nicht aufzufinden sei. Augenblicklich machte Nikola sich auf die Reise, sparte Geld und Mühe nicht und fand endlich den Ort. Der alte halbblinde Pfarrer suchte in den nachlässig geschriebenen Sterbelisten wieder mehrere Tage lang, und Nikola half ihm. Endlich fanden sie in einem noch im vorigen Jahrhundert angelegten Register den Namen und den Todestag der alten Frau auf, Nikola erhielt das Attest, und flog auf dem Dampfboot den Rhein hinunter zu seiner Geliebten. Noch war eben Zeit die gesetzlichen Ankündigungen und die Trauung vor dem Tage des Abmarsches vorzunehmen: da aber fand er Margret in Fieberphantasien wieder; die raschen Schicksalsschläge, welche sie seit jener Nacht betroffen hatten, die Angst um das Bekanntwerden ihres Zustandes, die fürchterliche Spannung der letzten Wochen hatten ihr eine heftige Krankheit zugezogen. Der Doktor versicherte: es werde ihr Tod sein, wenn man sie jetzt aufrege, und der Pfarrer, der die Kranke besuchte, mußte auch mit Schmerz erklären, daß weder der Bürgermeister noch er jetzt die Trauung vornehmen dürften, da Margret offenbar ihrer Sinne nicht mächtig und daher unfähig sei eine gerichtlich gültige Erklärung abzugeben. Nikola meinte rasend zu werden: der Doktor aber zog ihn bei Seite und sagte: Halten Sie den Kopf oben, junger Mann. Ich weiß leider warum sie so eilig sind, und ich verspreche Ihnen unserer Kranken auch nach der Genesung zur Seite zu stehen. Jetzt können Sie nichts thun; reisen Sie ruhig ab, und bleiben Sie dem armen Mädchen treu.
Der Abschiedstag kam, Nikola faßte die heiße Hand seiner Braut, die im Fieber ihn laut anlachte und ausrief: Sei lustig, Nikola, morgen heirathen wir ja. Der Brautkranz ist schon fertig, im Fliederbusch liegt er, weißt Du, beim Mooshäuschen oben im Wald. Gestern hab ich auch die Nachtigall gehört; der Bruder sagt, ich wär' närrisch, denn im Herbst schlügen die Nachtigallen nicht. Es ist aber doch wahr, schau da fliegen ja auch die Johannisfünkchen, sieh hier, dort, und da mir dicht vor der Stirn.
Ihre verzehrenden Augen starrten weitgeöffnet in die leere Luft hinaus. Nikola riß sich in Verzweiflung von ihrem schauerlichen Anblick los, drückte noch einen Kuß auf ihre Stirn, und hörte auf der Treppe einen lauten Jammerschrei, den sie ihm nachsandte.
Margrets Krankheit dauerte bei ihrer kräftigen Jugend nicht lange, nach wenigen Wochen konnte sie schon wieder die freie Luft ertragen. Man hatte ihr anfangs Nikolas Abreise verborgen, und ihr eignes Unglück entschwand ihrem Bewußtsein vor der Schwäche ihres Gehirns. Nun aber, wie sie wieder auf dem Stuhle vors Haus getragen wurde, wie sie über die Nachbardächer im Glanz der warmen Herbstsonne den bräunlichen Wald und durchs fallende Laub das Mooshüttchen vorscheinen sah – da legte sich auch die Erinnerung wieder wie eine Centnerlast auf ihr armes Herz. Und als sie nun endlich doch erfahren mußte, daß Nikola nicht ihr Mann vor der Welt geworden sei ehe er abreiste, als sie nun ihre Schmach nahe und näher herankommen sah, da gingen fürchterliche Gedanken und Rathschläge durch ihre Seele.
Aber es kam ihrem bessern Gewissen der Doktor zu Hülfe, als er der Genesenden den letzten Besuch machte; er wollte sein Wort halten, das er dem Nikola gegeben hatte. Schonend lockte er ein Bekenntniß von Margret heraus dessen Inhalt er längst wußte, und bewog sie, um ihrer Seele Ruhe wieder zu geben, gleich in den nächsten Tagen auch dem Pfarrer ihre Beichte abzulegen. Der Letztere übernahm es der Familie das Geheimniß zu eröffnen.
Von jetzt kamen schwere Tage über Margret. Zwar sie selbst, als sie mit Gott sich wieder versöhnt wußte und bei dem sonst fremden Manne, dem Doktor, menschliche Liebe und Theilnahme gefunden hatte, gewann ihre alte Kraft und Entschlossenheit wieder; aber sie brauchte sie auch in dem Kampf mit der Außenwelt, der nun begann.
Die ältern, außer dem Hause verheiratheten Brüder, aufgereizt von ihren Weibern, waren über die Unehre entrüstet, welche die Schwester über die Familie brachte, und wandten sich mit ganz kaltem Herzen von ihr ab. Der jüngste Bruder war ihr wohl gut und blieb es auch, aber er hatte ein schwaches Gemüth und es wurde ihm doch lästig sie im Hause zu behalten. Man nahm die Erbtheilung vor, und die Geschwister glaubten sich völlig berechtigt, bei dieser die Schwester für ihr Vergehen zu bestrafen. Der Vermögensstand fand sich nicht ganz so glänzend wie man erwartet hatte. Der jüngste Sohn, der nach der Anordnung des Vaters das Hauptgut übernahm, mußte doch große Schulden darauf machen, um die andern Brüder abzufinden, und suchte dafür Margrets Antheil, der ihm ja ebenfalls zur Last fiel, möglichst gering anzusetzen. Da die andern Geschwister nicht für sie sprachen, wurde sie hierbei bedeutend verkürzt, und es fiel ihr nur eine Summe zu, die zu ihrer und des Kindes Erhaltung allenfalls hinreichte, aber weit von der Aussteuer abstach, auf die sie bei Lebzeiten ihres Vaters rechnen durfte. Der Doktor rieth ihr dringend Einsprache zu thun, die Sache an die Gerichte zu bringen. Aber dann hätte sie öffentlich vor den Leuten auftreten müssen, und das wurde ihr jetzt zu hart, da ohnehin die unbarmherzigen Zungen der Schwägerinnen bereits Alles an die große Glocke gebracht hatten. So fügte sie sich dem Unrecht das stets den Unglücklichen verfolgt; aber mit Blutsverwandten, die so unbrüderlich an ihr gehandelt hatten, vermochte sie nicht mehr zu leben, und die Vorstellung war ihr unerträglich, daß eine boshafte Hand vielleicht auf derselben Schwelle des Vaterhauses ihr Häcksel streuen könnte, wo einst an jedem ersten Maitag grünes Mailaub für sie geprangt hatte.
An einem frühen, schon kühlen Morgen des Spätherbstes, als noch nirgendwo von den Tennen der Taktschlag der Drescher herklang, schlich sie durch die Gassen des Dorfs, welche sie monatlang vermieden hatte, in den Wald und schlug einen kleinen rauh ansteigenden Buschpfad ein. Nach dem Marsch einer guten Stunde senkte sich der Weg in das kleine Bachthal zu einer Mühle hinab. Die alte Müllersfrau war ihre Tante und Pathe zugleich; eine gutmüthige Seele gleich ihrem Bruder, dem todten Vater Margrets, wenn auch ohne dessen klaren Verstand. Sie traf die Alte noch beim Kaffee, und es that ihr so wohl, als diese, obwohl ebenfalls mit allem Vorgefallenen bekannt, ihr mit herzlicher Freude entgegenkam und sie gleich zum Essen und Trinken nöthigte. Die Pathe erzählte ihr dabei aus ihrer langen Lebenserfahrung ein Dutzend Fälle, wo solche Dinge am Ende doch noch gut abgelaufen und mit einer Hochzeit beschlossen worden seien; die drei Dutzend, welche ein betrübteres Ende genommen hatten, verschwieg sie. Nun rückte Margret mit ihrem Plan hervor. Sie wollte bei der Tante als Magd eintreten ohne Lohn, Garten, Küche und Näharbeit besorgen; dafür sollte ihr dann ein kleiner Nebenbau der Mühle eingeräumt werden, und für die Pflege des Kindes Zeit bleiben. So hoffte Margret durch ihrer Hände Arbeit ihrem Kinde wenigstens das kleine Vermögen als Erbe zu sichern das sie gerettet hatte. Die Tante, der Margrets Tüchtigkeit und Fleiß wohl bewußt war, ging mit Freuden darauf ein und versprach ihr, daß sie wie ein Kind vom Hause gehalten sein sollte. Schon am folgenden Morgen zog Margret ein, nachdem sie vorher an Nikola einen Brief geschrieben und ihm ihren neuen Wohnort angezeigt hatte.
Bis jetzt war sie unter allen diesen Beschäftigungen nur noch wenig ans Grübeln darüber gekommen, daß Nikola von Berlin aus noch immer nichts von sich hören ließ; auf dem Lande ist man ohnehin der Briefe nicht so bedürftig als in der Stadt. Jetzt aber bei dem stillen und gleichmäßigen Arbeiten auf der Mühle stiegen ihr allerlei Gedanken auf, die sie jedoch tapfer abwehrte. Daß er in der Hauptstadt angekommen sei, wußte sie durch seine Verwandten, und ein aus dem Dienst entlassener Kamerad hatte ihr einmal einen Gruß von ihm mitgebracht. Damit beruhigte sie ihr Gemüth, nachdem sie die Welt hinter sich gelassen, erwachte statt der Trauer die süßeste Hoffnung der Mutterfreude, und mit klarem Blicke sah sie wieder ihr Geschick an stark in Muth und Vertrauen.
So kam ihre Stunde. Die Wehmutter trug das Kind, ehe sie die Fensterläden schloß, noch einmal ans Licht und sagte tröstlich zur Mutter: Freut euch Margret, ihr habt einen hübschen Jungen, und blaue Augen kriegt er wie sein Vater, der Nikola kann ihn euch nicht abläugnen. Dann aber winkte sie die alte Müllerin hinter dem Rücken der Mutter zu sich und zeigte im Antlitz des Kindes verstohlen auf eine kleine blaue Ader, die dicht unter der Stirn herlief. Aengstlich neigte die Tante ihr Gesicht über das Köpfchen des Neugebornen, und als ihre Blicke dann der Hebamme begegneten, verriethen die Augen ein stilles bekümmertes Einverständniß; die Hebamme nickte ein Ja, die Tante schüttelte traurig das Haupt; dann legten sie das Kind in den Arm der Mutter. Am folgenden Sonntag wurde es auf den Namen Nikolaus getauft. Margret aber schrieb voller Mutterseligkeit, mit überströmendem Herzen und mit noch zitternden Händen dem Vater einen Brief, der ihm den glücklichen Ausgang meldete, und nun erst, da sie das Gefühl einer unerhörten Freude mit ihm auszutauschen hatte, sah sie mit brennender Sehnsucht einer Antwort von ihm entgegen.
Eines Abends brachte der Mühlknecht, der von Blankenheim Getreide herausgefahren hatte, einen Brief von dem Postamt daselbst mit. Die Tante hatte eben der Margret ein Geschäft in der Küche zugewiesen und schickte ihr den Knecht dorthin. Ueber eine Weile rief sie nach ihr: Margret antwortete nicht und kam nicht. Die Tante eilte zur Küche, das Feuer schlug hoch aus dem Ofen herauf, Margret sah es nicht: sie saß bewußtlos neben der Glut auf der Erde, der Brief lag in ihrem Schooß. Die Alte nahm ihn auf, las ihn und vermochte Margrets Erschrecken nicht zu deuten. Er klang ja so freundlich, er sagte ja daß Nikola seine Hand von dem Kinde nicht abziehen wolle, er fragte an ob er schon jetzt für Margret etwas thun könne. Aber Margret hatte mit tieferem Empfinden zwischen den Zeilen gelesen, und schon die ersten Worte lauteten so, daß sie keinen Widerhall gaben zu ihrer unermeßlichen Mutterfreude: von jener Innigkeit, die einst Nikolas gleichgültigstes Gespräch durchwehte, war in diesem Briefe kein Hauch mehr. In einem Augenblick war es ihr klar geworden, daß sie eine Verlassene und ihr Knabe ein Waisenkind sei.
Dießmal weinte sie nicht, sie nahm den Brief schweigend aus der Hand der Tante, ging mit festem Schritt über den Hof in ihren Nebenbau und hob ihr Kind aus der Wiege, das eben erwachte und die Händchen nach ihr streckte. Mit ihm warf sie sich vor dem Bilde der Maria nieder und in lautlosem Gebete that sie Gott und seiner Mutter ein hohes Gelübde, daß sie hinfort dem Kinde Vater und Mutter zugleich sein wolle. Erst als sie dann den Knaben an ihre Brust legte und er mit den herrlichen blauen Augen seines Vaters zu ihr heraufsah, rannen ihre Thränen über seine Stirn, und sie empfand sein warmes Leben wie ein stillendes Heilkraut, das unmerklich aus der Wunde ihres Herzens den Schmerz hinwegsog. Seit diesem Tage kam Nikolas Name nicht mehr über ihre Lippen, auch schrieb sie ihm nicht wieder: aber ihre Geschäfte vollzog sie wie sonst, das Kind gedieh unter ihren Händen, und die Tante hatte Segen in allem ihrem Hauswesen.
Wie scharf hatte doch der Blick der Liebe in jenem Briefe gelesen!
Als Nikola nach Berlin kam, wurde er anfangs von allen den Mühseligkeiten des ersten Eingewöhnens weggenommen, die keinem Rekruten erspart sind. Seine Eitelkeit auf äußeres Erscheinen und Ansehen machte ihn zum tüchtigsten Soldaten seines Zuges: das viele Geld, das er verschwenden konnte, überhob ihn mancher Belästigung, und er genoß, obwohl er nicht als Freiwilliger eingetreten war, durch die Nachsicht der nächsten Vorgesetzten beinah die Freiheit eines solchen. Er fühlte sich stolz in der schmucken, knappen Uniform, in der er merklich durch seine männliche Schönheit alle Offiziere überbot. Ihm, der bisher nur einfaches Landleben kannte, thaten sich nun plötzlich die mannigfachen Reizungen einer der glänzendsten Städte auf, und die wirklich tüchtigen Kenntnisse, die jene Privatschule ihm gegeben hatte, führten ihn leicht auch in die Kreise des höhern Geisteslebens ein. Er besuchte Theater und bürgerliche Bälle und zog durch reichliches Leben und Lebenlassen junge Kaufmannssöhne in seine Bekanntschaft. Diese fanden es bald nicht ungerathen, den reichen jungen Landbesitzer in ihre Familien einzuführen.
Der Rheinländer hat in der Berliner Gesellschaft einen Vortheil voraus. Man kommt ihm mit günstigem Urtheil entgegen, man liebt das sorglose leichte Blut seines Stammes, man verzeiht ihm seinen Dialekt und manchmal sogar den Mangel feinerer Bildung. Nikola war nicht ungebildet: er sang schön und fertig, er hielt etwas auf sich und besaß auch Empfindung genug, um sich rasch in die Bücher hineinzulesen die eben Mode waren; in politischen Gesprächen wie man sie dort liebt, gab er sogar durch seine genaue Kenntniß der heimathlichen Sachlage einen erwünschten Beitrag zur Unterhaltung her. Schon nach sechs Wochen hatte sich ihm am Wirthstisch wie am Theetisch eine Menge von Kreisen eröffnet, die ihn bezauberten und hinrissen. Ihnen widmete er alle freie Zeit: sonst nahm ihn die Pünktlichkeit des Militärdienstes hin, welche doch auch den Kräftigsten ermüdet, und so blieb ihm kaum Zeit an die arme Margret zu denken, vielweniger an sie zu schreiben.
Auf jenen Brief, der die Geburt des Knaben meldete, hatte Margret in der Freude ihres Herzens ein Eilig zur Adresse gesetzt. Als er dem Kameraden Niklas ausgehändigt wurde, den dieser als Burschen zum Putzen brauchte, meinte der, wegen jenes Wörtchens den Brief rasch abliefern zu müssen, und brachte ihn daher in das Haus eines kleinen Kaufmanns, bei dessen Frau und Töchtern Nikola diesen Abend zu Thee und Musik eingeladen war. Nikola saß eben mit der schönen, vornehm blassen Adelaide im lebhaftesten Gespräch, als das Kammermädchen ihm den Brief übergab. Wohl erkannte er die zitternden Züge der Aufschrift, aber er schämte sich in dieser Gesellschaft an ein Bauernmädchen erinnert zu werden, sein Blick flog über Adelaidens weiße Stirn, über ihre feinen Züge, über das glänzende modisch geschnittene Kleid – und wider seinen Willen trat diesem Bilde gegenüber Margrets verhärmte Gestalt mit dem wirren Blick und zerwühlten Haar, wie er zuletzt auf dem Krankenbette sie gesehen hatte. Adelaidens Mutter bat ihn höflich sich nicht zu geniren und den Brief gleich zu lesen; er aber antwortete frei und leicht, es habe keine Eile, und der Brief, der ihm verkündigte daß ein Sprosse seines Blutes ihm geboren sei, wurde uneröffnet unter die Uniform geknöpft. Heiter führte er sodann seine Nachbarin zum Klavier, heiter sang er zu ihrer Begleitung ihr rheinisches Lieblingslied von dem Mädchen, das um den gestorbenen Geliebten sich im Kloster zu Tode trauert – und selbst bis zur Adelaide von Beethoven verstieg er sich. Die wirkliche Adelaide vernahm diese Huldigung nicht ungern; einer Berlinerin, deren Vater unglücklich in Eisenbahnaktien spekulirt, kommt es sehr romantisch vor, mit einem wohlhabenden Landwirth in ein rheinisches Dorf zu ziehen und eine Idylle mit dem Schäferhut durchzuspielen. Adelaide war sehr gütig an diesem Abend – Nikola küßte beim Abschied mit Feuer ihre schlanke kühle Hand. Erst als er daheim sich auskleidete und Margrets Brief aus der aufgeknöpften Uniform zu Boden fiel, dachte er wieder an diesen. Im Bette brach er das Siegel auf, las den Brief, legte sich auf die Seite und schlief ein.
Als er erwachte ging sein erster Gedanke zu Adelaide, der zweite in die Heimath. Er war nicht verhärtet: zu seinem Kinde fühlte er einen starken Zug, die Mutter war ihm nicht unlieb, aber doch gleichgültig. In dieser Laune schrieb er jenen Brief an sie; zu dem Entschluß sie zu verlassen war er noch nicht gekommen, aber er hatte auch nicht den Muth sie als seine geliebte Frau anzuerkennen. Diese Feigheit gab dem Briefe den Ton; da konnte er freilich nicht so herzlich werden wie vormals. Und als darauf Margret nicht schrieb, legte Nikola es sich so aus als habe nun sie die Schuld des Bruchs: ihr Bild wurde seiner Seele fremd, und wenn es ja sich noch einmal heraufhob, drängte er es höchstens mit einem Seufzer wieder auf die Seite.
Leider wurde er auch Adelaidens und seines ganzen hauptstädtischen Lebens überdrüssig. Das Soldatenleben, nachdem er seine Lehrzeit daran durchgemacht hatte, kam ihm, der an rüstige Arbeit, an Zweck und Erwerb gewöhnt war, wie eine glänzende Spielerei vor. Seine jungen kaufmännischen Freunde waren ihm durch ihre kleinlichen Geldgespräche und theils auch durch die Gemeinheit ihres Lebens und Genießens geradezu widerlich. Mit Adelaide aber hatte er nun etwa hundertmal die rheinischen Volkslieder und eben so oft die Adelaide abgesungen und den Thomas Thyrnau durchgesprochen. In diesem Hause lieh er der Unterhaltung seine eigne Wärme; daher war seine Seele jetzt immer kalt und müde, wenn er Abends wegging. Er mißte fast überall neben dem Reiz die Kraft, und wenigstens in keinem der Kreise, die ihm offen standen, fand er die Tiefe und Unendlichkeit des Gemüthes, ohne welche ein kraftvolles Jünglingsherz sich unglücklich fühlt. Die schweren Steinmassen der prächtigen Stadt im scharfen Strahl der heißern nordischen Sommersonne lagen wie Felsblöcke auf ihm, und schon jetzt am Ende des ersten Jahres, dehnte sich das Zweite, das er hier noch zu verleben hatte, farblos und gestaltlos vor ihm aus. Hatte er früher zu hastig den Kelch der ihm so neuen gesellschaftlichen Genüsse geleert, so versank er jetzt in ein einsames Verzehren seiner Kraft. Liebe war nicht in sein Herz gekommen, und mit seinem ernüchterten Blicke erkannte er, daß kein unter diesen Umgebungen erwachsenes Weib ihm und sich selber zum Frieden in ein rheinisches Dorf ihm folgen könne. Eine zierlich gestochene Karte meldete ihm endlich Adelaidens Verlobung: als er immer und immer eine Erklärung zurückhielt, hatte sie endlich in halbem Verdruß den Antrag eines Wittwers aus Schlesien angenommen, der in ihr nicht eine Frau, sondern eine städtisch gebildete Gouvernante für seine Töchter heirathete.
Aus dieser Gleichgültigkeit, die Nikola's Jugendmuth langsam untergrub, riß ihn denn im Herbst seines ersten Dienstjahres ein starkes Briefpaket von seinem Dorfe heraus. Der alte Schultheiß, sein Vater, war gestorben; ihm fiel ein schuldenfreier großer Landbesitz zu, und seine Gegenwart daheim wurde jetzt, wo er gleich für die Bestellung seines Erbgutes sorgen mußte, ganz unerläßlich. Die Bescheinigungen von Seiten der Behörden lagen gleich bei dem Briefe, und in zwei Tagen hatte er seinen Urlaub, der einer völligen Dienstentlassung gleich stand. Seinen Unterofficieren und dem modischen Pöbel, mit dem er anfangs zusammen gekommen war, gönnte er noch an einem Abende die Freude, für sein Geld in Rheinwein sich zu baden; an Adelaidens Wohnung gab er, da er sie selbst nicht zu Hause fand, sehr ruhig eine Abschiedskarte ab, und warf dann die Visitenkarten (selbst diese Mode hatte er mitgemacht) von der Königsbrücke in die Spree, sammt dem gestickten Täschchen, das er irgendwo als Vielliebchen geschenkt bekommen hatte; mit ihm schwamm sein ganzer städtischer Modetraum auf der schwarzen schlammigen Flut hinunter. Im blauen Kittel setzte er sich auf die Eisenbahn und fuhr seinem Rheine zu.
Und als er ihn nun bei Köln zuerst wieder sah, den grünwogigen stillen Strom, als er, den Stab in der Hand, von Bonn hinaufwanderte und durchs Felsenthor schritt zwischen Drachenfels und Rolandsbogen hindurch, da brach aus seiner befreiten Brust ein lauter heller Jubelschrei; so schön hatte er nie sich das Land, so lieb und traut nicht die klangvolle Sprache der Heimath gedacht. An der Ahr lasen sie Trauben wie damals, als er mit zagem Herzen von Hause auszog; Schlucht und Fels hallten wieder von den langgezogenen Melodien der Volkslieder, und heute sang er sie, unten auf der Straße daher schreitend, aus ganz anderem Herzen mit, als an Adelaidens Klavier. Wie dem Wandervogel war ihm zu Muthe, wenn er zur Zeit, wo der mächtige Zug nach dem Süden ihn ergreift, in Haft gehalten wird und dann entschlüpft, um mit weit gebreiteten Schwingen die Brüder noch über dem Spiegel des Meeres einzuholen.
Aber ganz rein war doch sein Herz noch nicht, Margrets Platz darin blieb leer. Als er nach Hause kam, wurde sein Fehltritt mit ihr als eine leichte Sache genommen; das Mädchen, wie immer, traf die ganze Ungunst der herrschenden Meinung. Ihre eigene Familie redete schlecht von Margret, um den Gedanken an das Unrecht nicht aufkommen zu lassen, das man ihr angethan hatte; die Brüder wünschten nicht einmal, daß ein so kräftiger und entschlossener Mann, wie Nikola, ihrer sich annähme, denn sie mußten besorgen, daß alsdann jene Erbtheilung noch einmal in Frage genommen und ihnen ein sehr böses Spiel bereitet würde. Seit beinahe einem Jahre hatte man Margret im Dorfe nicht mehr gesehen; daß sie kein Wort von Nikola mehr redete, erfuhr er bald, und schloß daraus, daß sie die Hoffnung auf endliche Heirath aufgegeben habe. Wäre Margret ihm auf der Schwelle des elterlichen Hauses wie vor Zeiten sehnsüchtig und liebevoll begegnet, hätte er sie im Walde auf einsamem Stege getroffen, wer weiß, was jetzt noch geschehen wäre. Aber ihrem Stolze sich aufzudringen, war er selber zu stolz, denn er sah nicht ein, daß sie ihm mit Ehren nicht entgegen kommen durfte. So schlug er sich die ganze Sache aus dem Sinne, warf sich in seine neue Thätigkeit für Verwaltung des großen Gutes hinein, das ihm alle Hände voll zu thun gab, und beschloß, in späterer Zeit, wenn der erste Schmerz und Groll verwunden wäre, der Verlassenen Anträge wegen Versorgung des Kindes stellen zu lassen.
So kam der Winter heran, ein langer, grimmig kalter Winter. Margrets Knabe war nun bald ein Jahr alt und lief schon an Einer Hand; es war ein blühendes schönes Kind und der Stolz der Mutter, die der alten Tante manchmal recht böse wurde, wenn diese allerhand Bedenken über sein Aufkommen kund gab. Als nun aber der Winter recht auf seiner Höhe stand, als die Mühle in Schnee und Eis begraben und fast unzugänglich war, da schien doch die Tante mit ihren Besorgnissen Recht zu behalten. Eines Abends wurde das Kind mitten unter seinen Spielsachen unruhig, schrie heftig und bekam in der Nacht starkes Fieber. Reißend nahm in den nächsten Tagen Kraft und Fülle ab, und als der treue Freund Margrets, der Doktor, über gefährliche Pfade voll Glatteis doch zur Mühle durchdrang, fand er schon das Gehirn leidend, die Gefahr bedeutend. Margret zitterte, den letzten und einzigen Zweck zu verlieren, für den sie ihr Leben noch ertrug; mit unerhörter Anstrengung und Pünktlichkeit schaffte sie Alles herbei, was der Arzt zweckdienlich fand; viele Wochen lang kam kein Schlaf in ihre Augen. Draußen im Wald stieg die Kälte und schauerliche Trostlosigkeit des Winters; drinnen sank die Hoffnung der Mutter von Tag zu Tag mehr. Keine Arznei gab dem Kinde Lebenskraft wieder; es war erschreckend hager und leichenhaft anzusehen, und ohne Bewußtsein, ohne Lächeln oder Weinen nahm es die zärtliche Pflege der Mutter hin. Sein Seelchen schien bereits gestorben vor dem Leibe.
So fanden wir Margret an jenem Morgen, als sie endlich, stumpf von Weinen und Jammer, matt von monatlanger Anstrengung und Schlaflosigkeit, Gebet und Pflege aufgab, und an der Grenze des Verzweifelns angelangt, zerwühlt von den Erinnerungen verlornen Glücks, durch die Scheiben ihres Fensters in den Wintermorgen hinaus starrte, der trostlos bleich und trübe über den Schneebergen anbrach.
Im Hof scholl der Huf eines Pferdes, es war der Doktor, der jetzt vor Frost zitternd in ihre Stube trat; die Tante kam mit ihm. Er setzte sich ans Bettchen des Kindes, nahm das Händchen und befühlte Puls und Stirn; mit weitem scharfem Auge blickte die Mutter auf ihn. Es geht endlich auf eine Entscheidung los, sagte er. Margret erbebte. Noch ist nicht Alles verloren, fuhr er fort, an Lebenskraft haben wir nichts verloren seit vorgestern, aber es ist leicht möglich, daß das Fieber in der nächsten Nacht stärker wird. Geschieht dieß, so müssen wir mit einem sehr kräftigen Mittel durchgreifen. Ich will neue Tropfen aufschreiben, merken Sie wohl auf, liebe Margret. Der Tag wird ruhig bleiben, vor Abend thun Sie ja nichts, sondern schlafen heute selbst ein Stündchen. Aber um zehn Uhr in der Nacht richten Sie ein scharfes Auge auf das Kind. Bleibt es wie in den vorigen Nächten, so geben Sie die neue Arznei nicht; spüren Sie aber größere Unruhe und Hitze an ihm, dann rasch zehn Tropfen jede Viertelstunde; ich glaube, daran hängt das Leben des Kindes. Morgen früh komme ich wieder.
Während der Doktor das Recept aufschrieb, sagte die Tante: Das trifft sich gut, unser Paul fährt heut mit dem zweispännigen Wagen nach Blankenheim und bringt hernach Frucht mit herauf, da kann er gleich die Tropfen in der Apotheke holen.
Der Doktor sah vom Papier auf und sagte: Er wird doch ja vor Abend wieder kommen? Ich sage Ihnen, es hängt viel daran.
Sicher, sagte die Alte, er ist treu und gut.
Der Doktor stand auf, bot Margret herzlich die Hand und reichte der Tante das Recept hin. Zu gleicher Zeit, als sein Klepper höher ins Gebirg zu einem andern Kranken trabte, zogen die beiden tüchtigen Braunen den Wagen Pauls durchs große Hofthor auf die Straße nach dem Ahrthal hinaus. Die Tante versprach, in der Stube zu bleiben, und da der Knabe jetzt ganz erquicklich und fest schlief, legte sich auch Margret aufs Bette. Ein gesunder Schlummer ward ihr zu Theil, und sie erwachte erst, als bereits die Sonne ihren kurzen Winterlauf vollendet hatte. Ist Paul zurück? war ihre erste Frage.
Noch nicht, antwortete die alte Frau, aber wir haben auch noch fünf Stunden bis zehn Uhr. Mach Dir keine Sorge, der kommt sicher.
Die beiden Frauen stärkten sich jetzt mit Speise und Trank. Margret, vom Schlafen wie neugeboren, war voller Hoffnung, und in traulichem Plaudern gingen ein paar Stunden beim Spinnrad vorüber. Die Wanduhr schlug acht, draußen wehte pfeifend ein scharfer Nordwind. Die Alte stand auf und sagte: Nun aber begreife ich's doch selber nicht mehr. Ob dem Paul mit den Pferden ein Unglück zugestoßen ist? Jetzt müßte und müßte er hier sein, wenn Alles recht stünde. Ich will einmal in die Mühle hinüber und hören, ob sie da noch nichts von ihm wissen. Mit diesen Worten ging sie fort. Margret blieb mit bösen Ahnungen allein. Das Kind lag noch immer ruhig.
Gegen neun Uhr kam die Tante zurück. Der Michel von der obern Mühle ist eben vorbei gekommen, sagte sie. Es ist ein bös Wetter draußen im Wald, der Nordwind hat den Fahrweg mit Schnee verweht so hoch, daß drei Männer über einander stehen könnten und sähen doch nicht drüber weg. Unser Paul ist bis an die Enge gefahren, da ist ihm der Wagen im Schnee sitzen geblieben; der Michel hat ihn da stecken sehen, der Paul aber muß die Pferde ausgespannt haben und nach Blankenheim in die Herberge zurückgeritten sein.
Margret rang die Hände. Also die Tropfen bekomme ich nicht vor der Nacht? Konnte er denn die nicht durch Jemand zu Fuße heraufschicken?
Ja, sagte die Tante, wenn er einen fände. Aber Michel hat erzählt, daß sie drunten zu Blankenheim von nichts reden, als von den Wölfen. Es ist ein Menschenwolf im Zitterwald, oder gar viele; gestern Morgen in der Frühe haben sie ein Jüngelchen zerrissen, das nach dem Kyllthal in die Schule ging. Die Dörfer haben sich zusammen gethan und wollen nächster Tage eine große Jagd halten.
Während die Alte diesen Bericht gab, zuckte das Kind in seiner Wiege zusammen und schrie laut auf. Margret sprang zu ihm und nahm es auf ihren Schooß, es war heiß und fieberte schon. Mit heftigem Krampf und Gestöhn wand es sich in ihren Armen; die Krisis trat ein, die der Arzt vorausgesehen hatte. Margret mußte es wieder ins Bettchen legen, und die so tröstlich gemeinten Worte des Arztes: Ich sage Ihnen, es hängt viel von dieser Arznei ab, schnitten ihr jetzt wie scharfe Messer durch die Brust. Jede Minute Schlafs, die sie während des Tages im Vertrauen auf Pauls Wiederkehr sich gegönnt hatte, wurde ihr zum innern Vorwurf. Wär' ich doch selber heut am Tage gegangen! sprach sie leise, und plötzlich rief sie laut aus: Aber warum kann ich jetzt nicht noch gehen?
Sie sprang auf und band sich ein großes Tuch um den Kopf. Die Tante griff sie besorgt bei der Hand und sagte: Mädchen, Du bist von Sinnen! Du allein in solcher Nacht durch den Zitterwald? Und Du hast ja das Recept nicht einmal.
Margret stand einen Augenblick überlegend. Doch, sagte sie, das Recept muß ja in der Apotheke liegen, sonst hat es der Paul noch, und dessen Herberge weiß ich zu finden. Zwei Stunden sinds nach Blankenheim auf dem Fußpfad, die laufe ich in anderthalb, um Mitternacht bin ich wieder hier und vielleicht rette ich dann noch mein Kind.
Höre, Margret, sagte jetzt die Alte, darauf darfst Du nicht rechnen. Setz Dich wenigstens noch einen Augenblick her zu mir; ich muß Dir eine Sache eröffnen, die ich bisher verschwiegen habe.
Margret sah erstaunt ihre Tante an. Sieh, sagte diese, ich und die Hebamme haben es gleich bei der Geburt gesehen, daß du das Kind nicht aufbringen kannst. Leise setzte sie hinzu: Es hat ja ein Todesäderchen.
Bei diesem Worte ergriff sie die Lampe und ließ deren stärksten Schein auf das Antlitz des Kindes fallen. Schau her, sagte sie, und wies auf die Stelle unter der Stirn. Wirklich lief dort der dunkelblaue Streif, stark von dem wachsblauen Krankengesicht abgehoben, von einem Auge zum andern hinüber.
Margret erstarrte; sie besann sich erst jetzt auf den allgemein herrschenden Aberglauben, daß diese Ader ein Todesbote sei, der kein mit ihm behaftetes Kind über die ersten Jahre hinüber kommen lasse. So lange der Knabe gesund war, bemerkte man dieß Zeichen wenig, jetzt trat es unverkennbar hervor. Es mag in der That bei manchen Kindern auf Schwäche deuten, und da es im reifen Alter ganz verschwindet, so ist es freilich richtig, daß kein gesunder und erwachsener Mensch dasselbe an sich trägt.
Aber nur einen Augenblick siegte der Aberglaube über das Mutterherz. Tante, sagte sie, es kann sein, daß Ihr Recht habt. Aber ein Jahr hat mein Kind gelebt trotz dem Todesäderchen, und wenn es diese Nacht stirbt, so stirbt es nicht an der Ader, sondern daran, daß ihm das rettende Heilmittel fehlt. Und nun haltet mich nicht mehr, ich gehe.
Sie nahm eine Laterne vom Wandbrett, weil der Mond erst spät aufging, schlug eine Decke um Schultern und Brust und band sie, damit die Arme frei blieben, auf den Rücken zusammen. Dann nahm sie das Kind aus dem Bettchen – ach, sie wußte ja nicht, ob sie es lebend wieder fand! – küßte es und übergab es der Obhut der alten Frau, die gleich wieder mit kalten Umschlägen anzufangen versprach.
So trat Margret vor die Thüre auf den Hof hinaus. Ein leiser Schauder sträubte ihr Haar, als sie zuerst in die furchtbar kalte Sturmnacht hinausblickte. In der Ecke des Hofes sah sie eine große Holzaxt stehen; die ergriff sie, um eine Stütze und zugleich für alle möglichen Fälle eine Waffe zu haben. Am Mühlbach verließ sie den Fahrweg durchs Thal, weil sie ihn vom verwehten Schnee ungangbar wußte, und stieg durch den sausenden Forst auf dem kleinen nähern Fußweg empor. Erst schlug ihr Herz hörbar, aber an alles Grausen gewöhnt sich der Mensch, und oben auf der Bergesplatte angelangt, wo der Weg, von Gebüsch nicht mehr so eng umschlossen, ebener und breiter hinlief, schritt sie zwar langsam und in schwerem Kampfe gegen den Sturm, aber mit muthvoller Seele vorwärts. Der gefrorne Schnee, vom Winde aus allen Sträuchern und kleinen Schluchten aufgefegt, rieselte bis um ihre Füße und füllte mählich die Spuren ihrer Tritte hinter ihr aus.
So kam sie ungefähr in der Mitte ihres Weges auf einer weiten Hochfläche an, wo nur ein einzelner Baum sich erhob, während fern die dunkeln Ränder des Forstes ringsum die weiße Ebene einschloßen. Plötzlich stand Margret hier still, und ihre Knie zitterten. Bei dem flackernden Scheine, den ihre Laterne im Windzug auf den Schnee vor ihr warf, sah sie eine Spur, die schon halb zugeweht war. Gern hätte sie sich überredet, daß sie von Jagdhunden herkäme; aber zu oft hatten alte Leute ihr im Forst diese Stapfen gezeigt und erklärt. Sie sah es mit Grausen, hier waren, es mochte vor einer halben Stunde gewesen sein, die Wölfe gelaufen; ein großer in weiten mächtigen Sätzen, dem dann kleinere in einer Zahl, die sich in den undeutlichen Spuren nicht mehr bestimmen ließ, nachfolgten. Sie mußten nach dem Dorfe ihrer Kindheit auf den Raub gegangen sein, denn dorthin, rechts ins Thal hinunter, liefen die Stapfen quer über Margrets Pfad hinüber. Es war also zu vermuthen, daß sie noch in dieser Nacht auf demselben Wege in ihr gewöhnliches Lager zurückkehren würden.
Das muthige Mädchen ließ durch diese furchtbare Ueberlegung ihren Gang nicht verzögern, und ein kleiner Trost wurde ihr gegönnt als sie ein paar Schritte weiter gekommen war. Hier stieß sie nämlich auf die ganz frischen Spuren eines menschlichen Fußes, welche der Wolfsfährte offenbar folgten: erst vor wenigen Minuten mußte hier ein Mann den Bestien nachgegangen sein.
Dieser unbewußte Gruß eines menschlichen Wesens mitten unter den Schrecken der Natur richtete ihren Geist auf. Bald senkte sich nun ihr Pfad, aber er wurde auch immer mühsamer je tiefer sie kam, weil der Flugschnee vom ganzen Gebirg in die Thäler hinabwehte. Manchmal mußte sie durch knietiefe Massen sich Bahn brechen; immer langsamer drang ihr ermüdender Fuß vorwärts, und als sie endlich die bequeme Landstraße erreichte, die von Trier an der Hülchrather Kapelle vorbei nach Blankenheim führt, hörte sie in dem nun ganz nahen Städtchen schon die Mitternachtsstunde schlagen.
Die Apotheke war erreicht: sie klingelte mehrmals an der verschlossenen Thüre, und nach einer Viertelstunde öffnete der Provisor. Das Recept fand sich vor, Paul hatte es richtig abgegeben und die Arznei erhalten. Indessen war der Provisor, sobald Margret berichtete, warum das Fläschchen nicht in ihre Hände gekommen, gerne willig das Recept neu zu bereiten. Er zündete Feuer an und lud Margret ein mit ins Laboratorium zu kommen und sich zu wärmen. Als er erfuhr, daß sie noch in dieser Nacht zurück wollte, bereitete er ihr, durch solche Muttertreue gerührt, ein heißes stärkendes Getränk und drang ihr auch einen Bissen Brod auf, während er seine Arbeit vollendete. Sie empfing von ihm ein schwarzes Fläschchen, welches sie unter ihr Busentuch steckte, und er empfahl ihr noch, die Tropfen nicht dem Licht auszusetzen, weil das ihre Kraft schwäche. Es schlug zu ihrem Schrecken schon Ein Uhr, als sie, auf die Axt gestützt, von der großen Landstraße wieder in den schmalen Waldpfad einbog.
Die Wärme und Kraft, welche nach der kurzen Ruhe jetzt ihre Glieder durchdrang, gab ihr eine wunderbare Freudigkeit und die Anstrengung des Körpers milderte ihren Seelenschmerz. Die Laterne war erloschen, aber sie konnte ihrer jetzt entbehren, denn das letzte Mondviertel ging auf und warf sein helles Licht auf ihren Pfad. Noch war es bitter kalt, aber der Nordwind hatte sich gelegt, der Himmel wurde wolkenfrei, und die glitzernden Sterne schauten tröstlich herab. Mit der Einsamkeit der Nacht nun schon vertraut, dachte sie an Gefahren nicht, und erst als sie die Hochebene erstieg, fiel ihr plötzlich wieder ein, daß sie die furchtbare Stelle der Wolfsspur noch zu überschreiten habe.
Sie kam jetzt an der Oeffnung einer Thalschlucht vorbei, die nach ihrem Heimathdorf sich öffnete: plötzlich vernahm sie hier, obwohl von Schnee und Wald gedämpft, doch deutlich genug aus dem fernen Grunde herauf das wilde Gebell aller Dorfhunde; es klang heftiger und wüthiger als das Geheul, das diesen Thieren sonst in Winternächten die Kälte auspreßt. Sie ahnte nichts Gutes; mit stürmendem Fuß, mit pochenden Adern flog sie die letzte Höhe hinauf, um so rasch als möglich über die gefahrvolle Ebene hinwegzukommen, die sich in glänzendem Licht vor ihr hinstreckte. Schnee und Mond ließen jeden fernen Busch in scharfem Umriß erscheinen; den einzigen dunklen Fleck bildete mitten auf der Fläche jener einzeln stehende Baum mit dem kargen Schatten seiner laublosen Aeste. Margret, nachdem sie am Waldsaum eine Minute Rast gemacht und mit scharfem Blicke sich überzeugt hatte, daß der Weg noch sicher sei, flog einem Rennthier gleich über die Schneefläche auf den Baum zu, der wohl drei Büchsenschüsse von ihr entfernt war. Hier angelangt, blickte sie von Neuem nach allen Seiten sorglich um, und – war es Täuschung? Nein, jetzt sah sie links aus dem Walde, noch weit von sich entfernt, einen schwarzen Fleck auf die Schneefläche vorrücken. Sie sprang in den Schatten des Baumes, stemmte sich, um nicht in die Knie zu sinken, mit dem Rücken gegen den breiten Stamm und faßte mit beiden Händen den Stiel der Axt. Da mehrten sich die schwarzen Flecke auf dem Schnee und wurden größer. Deutlich erkannte sie jetzt eine große Wölfin mit zwei noch kleinen Jungen: lodernden Auges, mit weiten kühnen Sprüngen und hochgehobenem Schweif, jagten sie genau auf der Fährte zurück, die Margret auf ihrem ersten Gange entdeckt hatte und die ganz nahe an dem Baume vorbeiführte. Margrets Herz stand still in ihrer Brust, sie hielt den Odem an, als könnte sein leiser Zug sie verrathen. Die Thiere liefen neben einander, das eine Junge blieb etwas zurück, alle schienen in banger Eile dem sichernden Walde gegenüber zuzustreben. Jetzt waren sie ganz nahe; Margret hörte das Keuchen ihres Odems. Die alte Wölfin und das eine Junge, das sich dicht an sie hielt, sausten vorüber, das andre suchte winselnd nachzukommen. Plötzlich aber blieb es stehen, schnupperte, schwang den Schweif und bog auf Margret ab, wie neugierig zu sehen was unter dem Baume stecke. Das Mädchen spannte alle seine Sehnen, krampfte ihre Finger um die Waffe, und in dem Augenblicke, als das Thier mit schleichendem Schritt und hochgehobener spürender Nase unter den Hieb kam, ließ sie mit Riesenstärke die mordende Schneide recht mitten zwischen seine Funkelaugen niedersausen. Der furchtbare Schlag schnitt durch den Kopf und das Eisen schlug noch auf den gefrornen Boden auf; das Thier aber stieß einen markdurchschneidenden Schrei aus und verzuckte dann röchelnd zu ihren Füßen. Margret streckte sich rasch in die Höhe und hub die Axt von Neuem über ihr Haupt. Es war nöthig, denn die alte Wölfin, die schon nahe am Waldsaum angekommen war, wandte bei dem Schrei ihres Jungen das Haupt und kehrte mit dem zweiten Wölfchen in wenigen Sprüngen zurück. Als sie das todte Junge am Boden und sein Blut den Schnee berieseln fand, heulte sie laut auf und wollte Margret anspringen; aber da sah sie in des Mädchens weit aufgerissenes Auge, sah die blanke Axt über ihrem Haupte in den Strahlen des Mondes glitzernd, die einzeln durch die Zweige herabfielen. Feig sprang sie zurück, aber bald näherte sie sich wieder, langsam Fuß vor Fuß voransetzend, um den Augenblick des Sprunges abzusehen. Das noch lebende Junge kroch ihr bange nach. So rückte das Unthier bis dicht vor das Mädchen vor, aber ehe es in den Bereich der Waffe kam, blieb es stehen, hockte auf die Hinterfüße nieder und peitschte den Schnee mit seinem wedelnden Schweif, geduldig den Augenblick abwartend, wo Margret mit dem Auge blinzeln oder vor Müdigkeit die Arme niedersenken mußte.
So standen sie sich entgegen, die beiden Todfeindinnen; die wölfische Mutter um den Mord ihres Kindes zu rächen, die menschliche um dem ihrigen den Heiltrank des Lebens zu sichern. Wie lange diese gräßlichen Augenblicke dauerten, wußte Margret nicht. Ihr Denken stand still, und nur den Willen hielt sie in ihrer tiefsten Seele fest, den rechten Augenblick des Hiebes nicht zu versäumen. Aber schon trat der kalte Schweiß der Mattigkeit vor ihre Stirn, die Füße zitterten unter der Last des Körpers, die Arme wurden starr durch die Anspannung, mit der sie die schwere Axt empor hielt, und vor den Augen flirrten ihr auf dem blendenden Schnee schon alle Farben des Regenbogens. Sie gab sich verloren.
Da schlug an der Stelle, wo der Waldsaum am nächsten bei ihr in die Schneefläche verlief, im dunklen Gebüsch ein Blitz auf – ein Pfeifen zischte durch die Luft – dann rollte über das Schneefeld, an der Waldgrenze prächtig wiederhallend, der helle Knall der Büchse. Die Wölfin heulte wild auf, das Junge winselte; beide wandten sich zur Flucht und verschwanden im Walde.
Ueber den Schnee kam ein rascher, leichter Schritt. Der Jäger, der jenen Schuß gethan hatte, trat aus dem Versteck, zog vom Monde beleuchtet, den Hahn des zweiten Laufes auf und schritt vorsichtig dem Baum zu, um zu sehen was dort die Wölfe festgehalten und ihm so trefflich zum Schuß gebracht hatte. Da sah er, vom Monde halb erhellt, die herrliche Gestalt des bleichen Mädchens noch in der Haltung die sie dem Unthier gegenüber behauptet hatte. Noch war der eine Fuß vorgeschoben und trug die Last des übergebeugten Körpers, die runden nervigen Arme huben sich, zum Schwunge ausholend, über das Haupt herauf. Ihr Busen wogte, ihr Mund war mit festem Trotz zusammengepreßt, und das Auge, noch zornfunkelnd und weitgeöffnet, sah den flüchtigen Raubthieren nach. So muß das Weib gewesen sein in jenen ersten Tagen der Welt, als es noch mit dem Manne Haß und Kampf theilte und auf Jagd und Walstatt ihm nachschritt.
Jetzt aber wandte auch sie ihr Auge auf ihren Retter, ein lauter Schrei entfuhr ihr – es war Nikola. Diesen Anblick ertrug sie nicht; vornüber stürzte sie mit der Axt zu Boden und fiel in Ohnmacht über das erschlagene Thier nieder. Nikola hatte anfangs beinahe gemeint eine Erscheinung zu sehen, jetzt sprang er hinzu, legte ihren Kopf auf seinen Schooß und rieb ihr die Schläfe mit Rum aus seiner Jagdflasche. Sie schlug die Augen auf und sah seine Blicke, besorgt und hold wie ehemals, über ihrem Antlitz schweben. Aber auch jetzt wachte nur Ein Gedanke in ihrer Seele; sie zog das Arzneifläschchen aus ihrem Busen, drückte es in seine Hand und sagte matt und leise: Nikola, Dein Kind drunten in der Mühle will sterben, aber diese Tropfen können es vielleicht noch wenden. Bis hieher habe ich sie ihm geholt, ich kann nicht mehr. Gehe um Gottes Barmherzigkeit willen und trage Du sie jetzt ins Mühlenthal; mich laß hier.
Nikola umfaßte sie mit nassem Blick und sagte: Ist das wahr, Margret? Diese Nacht hast Du überstanden um meines Kindes willen? Nun, so sollen alle guten Engel von mir weichen in meiner Todesstunde, wenn ich Dich hier verlasse!
Er nahm die Weigernde auf beide Arme und trug sie über das Schneefeld. In Margrets Adern begann das Blut wieder seinen vollen warmen Lauf. Nach wenigen Schritten sagte sie: Laß mich auf die Füße, ich kann wieder auftreten. Sie lehnte sich auf seinen Arm, und ging anfangs schwer, dann immer flinker, der Heimath zu. Nur sprechen konnte sie nicht: je näher sie dem Lager ihres Kindes kam, desto ängstlicher drückte sie die neue Entscheidung über Leben und Tod, der sie nun entgegen ging. Nikola erzählte ihr unterwegs mit freundlichen Worten, was ihrer wunderbaren Rettung Ursache gewesen sei. Er hatte, da auch schon in der vorigen Nacht die Wölfe bei seinem Heimathsorte sich blicken ließen, einige gute Schützen bewogen mit ihm Wache zu halten. Er selbst ging nur mit Einem Gefährten in den Forst, entdeckte jene Wolfsspur und schloß daraus, daß die Thiere denselben Weg zurückkommen würden. Seine Tritte waren es, welche Margret neben der Fährte im Schnee angetroffen hatte. Während nun sein Genosse nach der entgegengesetzten Seite der Spur folgte und einen guten Posten zum Schießen aufsuchte, hatte sich Nikola unweit der Ebene über einer engen Schlucht auf die Lauer gelegt. Hier vernahm er nach zwei Stunden Büchsenschüsse aus der Nähe seines Dorfes, die ihm anzeigten, daß man auch unten die bösen Gäste entdeckt und übel empfangen habe. Allein die flüchtigen Wölfe mochten ihn in seinem Versteck gewittert haben, sie waren in einem Bogen an ihm vorbeigeschlüpft und erst der Todesschrei des einen ganz in seiner Nähe verrieth ihm die Richtung ihrer Flucht. Rasch machte er die paar Schritte durch den Busch hinauf und kam eben zu rechter Zeit auf die Hochebene, um der auf Margret lauernden Alten eine Kugel zuzuschicken.
Kurz vor der Mühle begegnete ihnen jetzt auch mit dem Spürhund jener Jagdgenosse Nikola's, der noch etwas tiefer in den Forst hinein auf dem Anstand gelegen hatte, und meldete, daß die große Wölfin, von Nikola's Schusse wirklich getroffen, nahe bei seinem Posten gestürzt sei. Ihr Junges war allein entwischt.
Mit beflügeltem Fuße stürmte Margret den letzten Abhang zur Mühle herunter, schon sahen sie die brennende Lampe im Krankenzimmer; Nikola konnte kaum folgen, Margret klopfte heftig, die Tante öffnete. Du hättest den Gang nicht nöthig gehabt, sagte sie freundlich, dein Kind lebt und ist glücklich durch. Ich habe eben nachgefühlt, es sind ihm zwischen vorgestern und heut zwei Augenzähnchen durchgebrochen, die haben es so mitgenommen. Sieh hier.
Margret schob die Tante bei Seite und sprang durch die Thür ins Gemach, da saß wieder mit hellen klaren Augen der kleine Junge im Bett und hielt sich, schwach wie er war, aber lustig, aufrecht, um der Mutter die Aermchen entgegen strecken zu können. Das kleine Gesichtchen war noch blaß, aber die dunkelblaue Ader sah man schon nicht mehr.
Jetzt schritt auch Nikola durch die Stubenthür, gebeugt und wie eines schweren Frevels schuldig. Er kniete an der Wiege nieder und sah seinem Kinde in das große schöne, blaue Auge, das ein so treuer Spiegel des seinigen war. Dann lehnte er sein Haupt an die Knie der Mutter und sagte leise: Margret ich habe gesündigt an dir vor Gottes Angesicht, und wäre dieß keine Glücksstunde, ich dürfte ja nicht meine Augen aufschlagen zu Dir. Jetzt aber habe ich erkannt was für ein goldnes Herz Du bist, und weiß, Du kannst auch mir vergeben. Sieh, meine Hände lege ich auf die Stirn Deines und meines Kindes, und nun frage ich Dich: Willst Du verzeihen, willst Du noch jetzt meine Frau werden in alter rechter Liebe?
Er wagte nicht sie anzuschauen bei dieser Frage, aber er fühlte ihre heißen Thränen auf sein Haupt rinnen und empfand den Druck ihrer Hände, die ihn an das geliebte Herz emporzogen. Noch immer blieb er auf den Knien, da nahm Margret das Kind aus der Wiege und legte es in seine Arme. Jauchzend sprang er auf, und inniger als in dem glühendsten Rausch der Leidenschaft, fester als je in den Stunden ihres tiefsten Wehes, hielt Margret ihn in ihren Armen umschlossen. Ein Augenblick hatte ihrer Treue das Leben ihres Kindes und den verlornen Gatten wiedergeschenkt.
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